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Dreiunddreißigstes Kapitel

Das einzig und allein einem ausführlichen und wahrheitsgetreuen Bericht über die denkwürdige Gerichtsverhandlung in Sachen Bardell kontra Pickwick gewidmet ist.


»Ich möchte nur wissen, was der Obmann der Geschworenen heute gefrühstückt hat«, sagte Mr. Snodgraß an dem verhängnisvollen Morgen des vierzehnten Februar, um ein Gespräch anzuknüpfen.

»Hoffentlich etwas Gutes«, meinte Perker. »Das ist nämlich sehr wichtig, mein lieber Mr. Pickwick, sehr wichtig. Nur von einem wohlgesättigten zufriedenen Geschwornen läßt sich etwas Tüchtiges erwarten. Mißvergnügte oder hungrige Geschworne aber, mein lieber Herr, sind schon im voraus für den Kläger eingenommen. Aber es ist zehn Minuten über neun«, fügte der kleine Mann, auf seine Uhr sehend, hinzu. »Es ist Zeit, aufzubrechen, mein lieber Herr; ein gebrochenes Eheversprechen – bei solchen Fällen ist der Gerichtssaal gewöhnlich überfüllt. Sie sollten nach einem Wagen schicken, mein lieber Herr, sonst kommen wir zu spät.«

Mr. Pickwick klingelte; der Wagen kam, die drei Jünger und Mr. Perker schlüpften hinein und fuhren nach Guildhall; Sam Weller, Mr. Lowten und der blaue Aktenbeutel folgten in einem Cab.

»Lowten«, sagte Perker, als sie in die Vorhalle des Gerichtshofs traten, »führen Sie Mr. Pickwicks Freunde in die Studentenloge; Mr. Pickwick selbst bleibt besser bei mir. Hierher, wenn ich bitten darf, mein lieber Herr, hierher.« Dabei faßte der kleine Mann Mr. Pickwick am Rockärmel und führte ihn zu einer niedrigen Bank gerade unter dem Pult des königlichen Prokurators, das zur Bequemlichkeit der Advokaten angebracht ist, damit sie von hier aus dem Hauptanwalt ins Ohr flüstern können, wenn sie während der Verhandlung noch einige Instruktionen für nötig erachten. Der großen Menge der Zuschauer sind die hier Sitzenden unsichtbar, da die Bank viel niedriger ist als der Platz für die Anwälte oder für das Publikum.

»Dies ist wohl die Zeugenloge?« fragte Mr. Pickwick, und zeigte auf eine Art Katheder mit messingenem Geländer.

»Ja, mein lieber Herr«, erwiderte Perker und zog eine Menge Dokumente aus dem blauen Beutel hervor, den Lowten soeben zu seinen Füßen niedergelegt hatte.

»Und dort sitzen wohl die Geschworenen?«

»Erraten, mein lieber Herr«, erwiderte Perker, auf den Deckel seiner Schnupftabakdose klopfend.

Mr. Pickwick stand in großer Unruhe auf und überschaute den ganzen Saal. Es hatten sich bereits eine bunte Schar von Zuschauern auf der Galerie und zahlreiche Exemplare von Herren mit Perücken auf der Anwaltsbank eingefunden, die, als Körperschaft betrachtet, jene lustige und reiche Mannigfaltigkeit an Backenbärten und Nasen darboten, durch die der englische Advokatenstand mit Recht so berühmt ist. Diejenigen von den Herren, die einen Prozeß zu führen hatten, trugen die Aktenstücke so ostentativ wie möglich zur Schau und kratzten sich gelegentlich die Nasen damit, um auf die beobachtenden Blicke der Zuschauer den Eindruck nach Möglichkeit zu verstärken. Andere, die nicht mit Prozeßvollmachten versehen waren, trugen gewaltige Bände unter dem Arm, die unter dem technischen Namen »Juristen-Kalbsleder« bekannt sind. Die, die weder Akten noch Bücher bei sich hatten, steckten die Hände in die Taschen und blickten möglichst weise um sich oder liefen mit großer Unruhe und unendlicher Wichtigtuerei hin und her, zufrieden, die Bewunderung und das Erstaunen des Laien zu erregen. Zu Mr. Pickwicks großem Befremden hatte sich die ganze Zunft in kleine Gruppen zerteilt, in denen man so gleichgültig wie möglich über die Tagesneuigkeiten plauderte, als wenn gar kein Rechtsstreit verhandelt werden sollte.

Eine Verbeugung Mr. Phunkys, als dieser eintrat und sich hinter die für den königlichen Anwalt bestimmte Bank setzte, zog Mr. Pickwicks Aufmerksamkeit auf sich, und er hatte sie kaum erwidert, als Prokurator Snubbin erschien, gefolgt von Mr. Mallard, der einen gewaltigen karmesinroten Beutel auf den Tisch legte und, nachdem er Perker die Hand gedrückt, sich entfernte. Es kamen dann noch zwei oder drei Prokuratoren herein und unter ihnen einer mit einem dicken Bauch und einem roten Gesicht, der Sergeant Snubbin freundlich zunickte und zu ihm sagte: »Ein schöner Morgen heute.«

»Wer ist der Herr mit dem roten Gesicht, der unserm Anwalt zunickte und sagte, es sei ein schöner Morgen?« flüsterte Mr. Pickwick.

»Das ist der Herr Prokurator Buzfuz«, erwiderte Perker, »der erste Sachverwalter der Gegenpartei. Der Herr hinter ihm heißt Skimpin und ist sein Assistent.«

Mr. Pickwick war eben im Begriff, mit großer Empörung zu fragen, wie Prokurator Buzfuz, der gegnerische Anwalt, die Unverschämtheit haben könne, zu Prokurator Snubbin, seinem eigenen Sachwalter, zu sagen, es sei ein schöner Morgen, als er durch ein allgemeines Aufstehen der Anwälte und eine laute Aufforderung zum Schweigen von Seiten der Gerichtsdiener daran verhindert wurde. Er sah sich um und bemerkte, daß soeben der Richter eingetreten war.

Mr. Stareleigh, der an diesem Tage die Stelle des wegen Krankheit abwesenden Lord-Oberrichters einnahm, war ein auffallend kurz geratener Mann und dabei so kugelrund, daß man nichts als Gesicht und Bauch zu sehen glaubte. Er watschelte auf zwei kleinen krummen Beinen herein, und nachdem er sich gravitätisch gegen die Advokaten und die Advokaten sich gegen ihn verbeugt hatten, steckte er die kurzen Beine unter das Pult und legte seinen kleinen dreispitzigen Hut auf die Tischplatte, so daß man nichts mehr von ihm sehen konnte, als zwei wässerige Äuglein und ein breites rosenfarbiges Gesicht, das zur Hälfte unter einer großen, höchst possierlichen Perücke hervorblickte.

Kaum hatte er seinen Sitz eingenommen, als die Gerichtsdiener mit gebieterischem Ton im Saale und auf der Galerie Schweigen geboten. Als dies geschehen war, rief ein schwarz gekleideter, etwas niedriger als der Richter sitzender Gentleman die Namen der Geschworenen auf, und nach langem Geschrei, daß nur zehn Mitglieder der Spezial-Jury zugegen seien, beantragte der Prokurator Buzfuz die Wahl von Ersatzmännern. Der schwarz gekleidete Herr preßte daraufhin kurzerhand zwei Mitglieder der allgemeinen Jury in das Spezial-Geschworenengericht und bestimmte einen Gewürzkrämer und einen Apotheker.

»Geben Sie Antwort auf den Namensaufruf, meine Herren, damit man Sie vereidigen kann«, sagte er. »Richard Upwitch!«

»Hier!« meldete sich der Gewürzkrämer.

»Thomas Groffin!«

»Hier!« erwiderte der Apotheker.

»Nehmen Sie das Buch, meine Herren. Sie sollen also treulich und gewissenhaft untersuchen+…«

»Ich bitte den Gerichtshof um Nachsicht«, unterbrach der Apotheker, ein langer hagerer Mann von gelber Gesichtsfarbe, »aber ich hoffe, der Gerichtshof wird mich für diesmal entschuldigen.«

»Aus was für Gründen, Sir?« fragte der Richter Stareleigh.

»Ich habe keinen Gehilfen im Geschäft, Mylord.«

»Da kann ich Ihnen nicht helfen, Sir«, erwiderte Mr. Stareleigh. »Sie sollten sich einen anschaffen.«

»Ich kann die Kosten nicht erschwingen, Mylord.«

»Dann sollten Sie sich eben Mühe geben, sie erschwingen zu können, Sir!« sagte der Richter und wurde feuerrot, denn er war äußerst reizbarer Natur und konnte keinen Widerspruch ertragen.

»Ich würde es auch können, wenn es mir nach Verdienst erginge; aber das ist leider nicht der Fall, Mylord«, antwortete der Apotheker.

»Vereidigen Sie den Herrn!« befahl der Richter gebieterisch.

Der Beamte kam mit der Verlesung der Eidesformel nicht weiter als vorhin, denn der Apotheker unterbrach ihn aufs neue.

»Ich soll also vereidigt werden, Mylord?« fragte er.

»Allerdings, Sir«, erwiderte der eigensinnige kleine Richter.

»Nun gut, Mylord«, sagte der Apotheker ergeben. »Dann wird es noch vor Ende der Sitzung einen Unfall mit tödlichem Ausgang geben. Bitte vereidigen Sie mich nur, Sir, wenn's gefällig ist.«

»Ich wollte nur noch bemerken, Mylord«, sagte er, als er unter Eid genommen worden und mit großer Fassung seinen Sitz einnahm, »daß ich niemand als einen Laufburschen in meinem Laden zurückgelassen habe. Es ist ein recht wackerer Junge, Mylord, der sich aber auf die Arzneimittel noch nicht ganz versteht und mit Vorliebe Oxalsäure mit Epsomsalz und Laudanum mit Sennesblättersirup verwechselt.«

Mit diesen Worten setzte sich der lange Apotheker behaglich zurecht, nahm eine zufriedene Miene an und schien auf das Schlimmste gefaßt zu sein.

Mr. Pickwick betrachtete ihn eben mit Gefühlen des tiefsten Abscheus, als im Hintergrund des Saales eine Bewegung entstand, und unmittelbar darauf wurde Mrs. Bardell, gestützt auf Mrs. Cluppins, in schmachtendem Zustande hereingeführt, und ihr am andern Ende derselben Bank, auf der Mr. Pickwick saß, ein Platz angewiesen. Mr. Dodson trug ihr einen Schirm von ungewöhnlicher Größe, Mr. Fogg ein Paar Überschuhe nach, und beide Herren hatten für die Sitzung höchst mitleidsvolle und melancholische Gesichter aufgesetzt. Sodann erschien Mrs. Sanders und führte den jungen Master Bardell herein. Beim Anblick ihres Kindes fuhr Mrs. Bardell auf, faßte sich aber schnell wieder und küßte es wie wahnsinnig. Sofort versank sie dann aufs neue in einen Zustand hysterischen Traumwachens und fragte, wo sie denn eigentlich sei? Statt aller Antwort wandten Mrs. Cluppins und Mrs. Sanders die Köpfe von ihr ab und weinten, indes die Herren Dodson und Fogg die Klägerin baten, sie möge sich doch beruhigen. Prokurator Buzfuz rieb sich mit einem großen weißen Sacktuch die Augen beinahe wund und warf einen appellierenden Blick auf die Geschworenen; der Richter schien sichtlich ergriffen zu sein und mehrere der Zuschauer husteten laut, um ihre Rührung zu verbergen.

»Ein fein ausgedachter Plan«, flüsterte Perker Mr. Pickwick zu. »Kapitalburschen das, diese Dodson und Fogg; wirklich, eine vortreffliche Effektberechnung, mein lieber Herr.«

Allmählich begann Mrs. Bardell wieder zu sich zu kommen, indes Mrs. Cluppins den jungen Master Bardell nach sorgfältiger Musterung, ob seine Knöpfe auch nicht schief geknöpft seien, gerade vor seine Mutter stellte, so daß er nicht verfehlen konnte, das volle Erbarmen und Mitgefühl sowohl des Richters als der Geschworenen zu erwecken. Es ging dies freilich nicht ohne beträchtliche Widersetzlichkeiten und eine Menge Tränen von seiten des jungen Herrn vonstatten, der offenbar fürchtete, seine Zurschaustellung vor den Augen der Richter sei bloß ein formelles Vorspiel zu einer alsbaldigen Hinrichtung oder zumindest Deportation über das Meer für Lebenszeit.

»Bardell kontra Pickwick!« las der schwarz gekleidete Gentleman laut von der Liste ab.

»Ich vertrete die Klägerin, Mylord«, meldete sich der Prokurator Buzfuz.

»Wer assistiert Ihnen, Kollega Buzfuz?« fragte der Richter.

Mr. Skimpin verbeugte sich, zum Zeichen, daß er es sei.

»Ich bin für den Beklagten erschienen, Mylord«, sagte Prokurator Snubbin.

»Und wer ist Ihr Assistent, Kollega Snubbin?«

»Mr. Phunky, Mylord.«

»Prokurator Buzfuz und Mr. Skimpin für die Klägerin«, diktierte der Richter und schrieb sich die Namen in sein Notizbuch, »für den Beklagten Prokurator Snubbin und Mr. – Monkey.«

»Bitte um Verzeihung, Mylord: – Phunky.«

»Ah, sehr gut«, sagte der Richter, »ich hatte noch nie das Vergnügen, den Namen des Herrn zu hören.«

Mr. Phunky verbeugte sich und lächelte, der Richter verbeugte sich ebenfalls und lächelte, und Mr. Phunky, rot bis in das Weiße seiner Augen, suchte sich das Ansehen zu geben, als wisse er nicht, daß alle Augen auf ihn gerichtet seien.

»Also beginnen wir«, sagte der Richter.

Die Gerichtsdiener geboten abermals Stillschweigen, und Mr. Skimpin schritt zur Darstellung der Vorgeschichte, die aber sehr wenig Redestoff zu bieten schien, denn er behielt die ihm bekannten besonderen Umstände gänzlich für sich, setzte sich nach drei Minuten wieder und ließ die Geschworenen ganz auf derselben hohen Stufe der Erleuchtung wie zuvor.

Prokurator Buzfuz erhob sich gleich nach ihm mit all der Majestät und Würde, die die ernste Natur der Verhandlung erheischte, und nachdem er Dodson einige Worte zugeflüstert und auch mit Fogg ein wenig konferiert hatte, zupfte er seinen Mantel und seine Perücke zurecht und begann seine Rede an die Geschworenen.

Es fing mit der Erklärung an, daß ihm während seiner ganzen Praxis, ja, vom ersten Augenblick an, als er sich auf das Studium und die Ausübung des Rechtes verlegt, noch nie ein Fall vorgekommen sei, der ihn so im Innersten ergriffen oder mit einem solch klaren Bewußtsein der auf ihm lastenden Verantwortlichkeit erfüllt habe – einer Verantwortlichkeit, unter deren Gewicht er erlegen wäre, hätte ihn nicht die feste, ja einer positiven Gewißheit gleichkommende Überzeugung aufrechterhalten, daß die Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit, oder mit andern Worten, die Sache seiner schwer verletzten und auf eine schmähliche Art getäuschten Klientin bei den edelgesinnten und einsichtsvollen zwölf Herren, die er vor sich sehe, obsiegen müssen.

Sogleich begannen denn auch mehrere Geschworene mit dem größten Eifer, sich lange Notizen zu machen.

»Sie haben von meinem gelehrten Kollegen vernommen«, fuhr Prokurator Buzfuz fort, sich gar wohl bewußt, daß die Herren von der Jury von seinem gelehrten Kollegen soviel wie nichts vernommen hatten, »Sie haben von meinem gelehrten Kollegen vernommen, meine Herren, daß es sich hier um den Bruch eines Eheversprechens handelt und ein Schadenersatz von fünfzehnhundert Pfund beansprucht wird, aber die näheren Tatsachen und Umstände haben Sie von meinem gelehrten Kollegen nicht vernommen, wie es meinem gelehrten Kollegen auch nicht zukam, sie Ihnen mitzuteilen. Diese Tatsachen und Umstände, meine Herren, werde ich Ihnen nunmehr ausführlich auseinandersetzen und Ihnen eine einwandfreie Zeugin vorführen, die sie beweisen wird.«

Um dem Wort »beweisen« einen kraftvollen Nachdruck zu geben, schlug Prokurator Buzfuz auf den Tisch und blickte die Herren Dodson und Fogg an, die ihm voll Bewunderung ob seiner Rednergabe zuzwinkerten.

»Die Klägerin, meine Herren«, fuhr Prokurator Buzfuz mit sanfter, melancholischer Stimme fort, »die Klägerin ist Witwe. Ja, meine Herren, Witwe. Der selige Mr. Bardell schlummerte, nachdem er sich viele Jahre lang als Wächter der königlichen Einkünfte der Achtung und des Vertrauens seines Souveräns erfreut, sanft in eine andere Welt hinüber, um sich im Jenseits die Ruhe und den Frieden zu suchen, die ein Zollhaus hienieden nimmermehr gewähren kann.«

Bei dieser pathetischen Beschreibung vom Hinscheiden Mr. Bardells, der in einem Wirtshauskeller mit einer Bierkanne erschlagen worden war, bebte die Stimme des Anwalts.

»Kurze Zeit vor seinem Tode erblickte er noch sein Ebenbild in einem Söhnlein, und mit diesem Söhnlein, dem einzigen Liebespfand von ihrem entschlafenen Gatten, zog sich Mrs. Bardell von der Welt zurück, suchte die Abgeschiedenheit und Ruhe der Goswellstreet und hängte dort an ihrem Fenster eine Anzeige aus des Inhalts: ›Möblierte Zimmer für einen ledigen Herrn zu vermieten. Zu erfragen im Hause.‹«

Prokurator Buzfuz hielt hier inne, indes mehrere Herren von der Jury sich diese wichtige Tatsache notierten.

»Hatte die Anzeige kein Datum?« fragte einer der Geschworenen.

»Nein, Sir«, erwiderte Prokurator Buzfuz, »aber ich bin ermächtigt zu sagen, daß sie gerade vor drei Jahren ans Fenster der Klägerin gesteckt wurde. Ich muß die Aufmerksamkeit der Herren Geschworenen auf die wörtliche Abfassung dieses Dokuments lenken: ›Möblierte Zimmer für einen ledigen Herrn zu vermieten.‹ Mrs. Bardells Ansichten über das andre Geschlecht gründeten sich auf eine lange Beobachtung der unschätzbaren Eigenschaften ihres verstorbenen Gatten. Sie war frei von Mißtrauen – hegte keinen Verdacht – kurz, war voll argloser Zuversicht. ›Mr. Bardell‹, sagte sich die Witwe, ›Mr. Bardell war ein Mann von Ehre – Mr. Bardell war ein Mann von Wort – Mr. Bardell war kein Betrüger – Mr. Bardell war auch einst ein lediger Herr und bei ledigen Herren will ich daher Schutz, Beistand, Hilfe und Trost suchen – in ledigen Herren werde ich beständig etwas sehen, was mich daran erinnert, wie Mr. Bardell war, als er das erste Mal die Neigung meines jungen, unerfahrenen Herzens gewann. An einen ledigen Herrn will ich also meine Wohnung vermieten.‹ Beseelt von diesem schönen rührenden Beweggrund – einer der besten Beweggründe unsrer unvollkommnen Natur – trocknete die einsame verlassene Witwe ihre Tränen, möblierte ihren untern Stock, drückte ihren unschuldigen Knaben an den mütterlichen Busen und hängte die Anzeige an das Fenster. Blieb sie lange dort? frage ich. Nein. Die Schlange lag bereits auf der Lauer, die Zündschnur war gelegt, die Mine gegraben, der Sappeur und der Mineur waren in voller Tätigkeit. Kaum hing die Anzeige drei Tage am Fenster – drei Tage, meine Herren –, als ein Individuum, das ganz die äußre Gestalt eines Mannes, nicht etwa die eines Ungeheuers hatte, an Mrs. Bardells Haustür anklopfte. Er erkundigte sich, mietete die Wohnung und nahm am nächstfolgenden Tage Besitz davon. Dieser Mann war Pickwick – Pickwick, der Beklagte.«

Prokurator Buzfuz hatte mit solcher Zungenfertigkeit gesprochen, daß sein Gesicht ganz blaurot geworden war und er innehalten mußte, um Atem zu schöpfen. Sein Schweigen erweckte den Richter Stareleigh, der sogleich mit einer uneingetunkten Feder etwas schrieb und ganz außerordentlich vertieft aussah, um die Geschworenen glauben zu machen, er habe mit geschlossenen Augen der Sache bis in ihre heimlichsten Tiefen nachgeforscht. Prokurator Buzfuz fuhr fort: »Von diesem Pickwick werde ich nicht viel sagen; das Thema bietet nicht sehr viel Anziehendes, und ich, meine Herren, bin nicht der Mann, sowenig wie Sie, meine Herren, bei der Betrachtung empörender Herzlosigkeit und systematischer Verworfenheit mit Lust zu verweilen.«

Hier fuhr Mr. Pickwick, der sich seit einiger Zeit ruhig Notizen aufgeschrieben hatte, heftig auf, wie wenn sich ihm der Wunsch aufgedrängt hätte, in Gegenwart des versammelten hohen Gerichtshofs dem Prokurator Buzfuz zu Leibe zu gehen. Eine abratende Gebärde von Perker hielt ihn jedoch zurück, und er hörte den ferneren Vortrag des gelehrten Herrn mit einer Entrüstung an, die den stärksten Gegensatz zu den von Bewunderung strahlenden Gesichtern der Damen Cluppins und Sanders bildete.

»Ich sage ›systematische Verworfenheit‹, meine Herren«, fuhr Prokurator Buzfuz fort und schien Mr. Pickwick mit seinen Blicken durchbohren zu wollen, »und wenn ich ›systematische Verworfenheit‹ sage, so lassen Sie mich dem beklagten Pickwick, wenn er sich, wie ich gehört habe, im Saale befindet, erklären, daß es weit anständiger und schicklicher, weit gescheiter und vernünftiger gewesen wäre, er wäre hier fern geblieben. Lassen Sie mich ihm sagen, meine Herren, daß alle Zeichen von Meinungsverschiedenheit oder Mißbilligung, die er sich im Gerichtssaale erlauben könnte, bei Ihnen nichts fruchten werden und daß Sie sich sie wohl zu deuten wissen werden. Lassen Sie mich ihm ferner sagen, wie Seine Lordschaft Ihnen, meine Herren, bestätigen wird, daß ein Anwalt in Erfüllung seiner Pflichten gegen seinen Klienten sich weder einschüchtern noch beirren oder zum Schweigen bringen läßt und daß jeder Versuch, das eine oder das andere, das erste oder das letztere zu tun, auf das Haupt dessen zurückfällt, der den Versuch wagt, sei er nun Kläger oder Beklagter, möge er nun Pickwick oder Noakes, Stoakes oder Stiles, Brown oder Thompson heißen.«

Diese kleine Abschweifung von der Sache konnte die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlen, aller Augen auf Mr. Pickwick zu lenken. Nachdem Prokurator Buzfuz der moralischen Entrüstung, zu der er sich hatte hinreißen lassen, wieder einigermaßen Meister geworden, fuhr er fort:

»Ich werde Ihnen nachweisen, meine Herren, daß Pickwick zwei Jahre lang fortwährend ohne Unterbrechung im Hause Mrs. Bardells gewohnt hat. Ich werde Ihnen nachweisen, daß ihn Mrs. Bardell diese ganze Zeit über bediente, auf jede Art für seine Behaglichkeit sorgte, für ihn kochte, sein Weißzeug zur Wäscherin schickte, es flickte, in Ordnung hielt und wieder instand setzte, mit einem Wort, daß sie sich seines vollkommensten Vertrauens erfreute. Ich werde Ihnen nachweisen, daß er ihrem kleinen Knaben manchmal einen halben Penny, einige Male sogar sechs Pence schenkte, und ich werde Ihnen durch eine Zeugin, deren Aussagen mein gelehrter Herr Kollega weder zu entkräften noch zu bestreiten imstande sein wird, dartun, daß er einmal den Knaben auf den Kopf tätschelte, und, nachdem er ihn gefragt, ob er viele Murmeln – wie ich höre, eine besondere Art von Steinkugeln, die von der Jugend unsrer Stadt sehr geschätzt wird – gewonnen habe, sich der bemerkenswerten Äußerung bediente: ›Würde es dich freuen, wenn du wieder einen Vater bekämest?‹ Ich werde Ihnen ferner nachweisen, meine Herren, daß Pickwick zwar vor etwa einem Jahre plötzlich mehrere Male auf längere Zeit verreiste, wie wenn er im Sinn gehabt hätte, allmählich mit meiner Klientin zu brechen; aber ich werde Ihnen auch dartun, daß er sich in seinem Entschluß damals noch nicht gehörig befestigt hatte oder daß seine besseren Gefühle, wenn er überhaupt deren fähig ist, obsiegten oder daß die Reize und Vorzüge meiner Klientin seinen unwürdigen Plan über den Haufen warfen. Ich werde Ihnen schließlich beweisen, daß er eines Tages, als er vom Lande zurückkehrte, ihr in nicht mißzuverstehenden Worten und Ausdrücken einen Heiratsantrag machte, wobei er freilich die besondre Vorsicht gebraucht hatte, bei dem feierlichen Versprechen Zeugen auszuschließen. Ja, ich bin imstande, durch das Zeugnis von dreien seiner eignen Freunde – höchst unfreiwillige Zeugen, meine Herren, höchst unfreiwillige Zeugen – zu erhärten, daß man ihn an demselben Morgen antraf, wie er eben die Klägerin in seinen Armen hielt und ihre Aufregung durch Schmeicheleien und Liebkosungen zu beschwichtigen suchte.«

Besonders der letzte Teil der Rede brachte einen sichtlichen Eindruck auf das Publikum hervor. Der Prokurator zog zwei schmale Papierstreifen aus der Tasche und fuhr fort:

»Und nun, meine Herren, nur noch ein Wort: Es sind zwischen den Parteien zwei Briefe gewechselt worden, Briefe, deren Handschrift der Beklagte als die seinige anerkennen muß und deren Inhalt von höchster Wichtigkeit ist. Diese Briefe werfen ein helles Licht auf den Charakter des Mannes. Es sind nicht etwa offene, feurige, beredte Episteln, die die Sprache leidenschaftlicher Liebe atmen; nein, es sind versteckte, schlaue zweideutige Mitteilungen, die aber glücklicherweise mehr Aufschlüsse geben, als wären sie in der glühendsten Sprache und in den poetischsten Bildern abgefaßt – Briefe, die man mit vorsichtig argwöhnischem Auge betrachten muß – Briefe, durch die Pickwick offenbar etwaige dritte Personen, denen sie vielleicht in die Hände hätten geraten können, hinters Licht zu führen und auf eine falsche Spur zu leiten beabsichtigte. Lassen Sie mich den ersten vorlesen:

 

›Garraway, um 12 Uhr.

Liebe Frau B.!

Kotelettes und Tomatensauce.

Ihr
Pickwick.‹

 

Was soll man davon denken, meine Herren? ›Kotelettes und Tomatensauce. Ihr Pickwick!‹ – Kotelettes! Gütiger Gott! Und Tomatensauce! Meine Herren, darf das Glück einer gefühlvollen und arglosen Frau durch so elende Chiffrierkunststücke mit Füßen getreten werden? – Das zweite Billett hat gar kein Datum, wodurch es schon von vornherein verdächtig wird:

›Liebe Frau B. Ich werde erst morgen nach Hause kommen. Eile mit Weile.‹ Und dann folgt noch der sehr bemerkenswerte Zusatz: ›Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Wärmflasche.‹ – Die Wärmflasche! Wie, meine Herren? Wer macht sich denn Sorgen wegen einer Wärmflasche? Wann wurde je der Seelenfrieden eines Mannes oder einer Frau durch eine Wärmflasche gestört oder vernichtet, die an sich selbst ein harmloses nützliches, und, meine Herren, ich möchte noch hinzufügen, ein komfortables Hausgerät ist? Warum wird Mrs. Bardell so angelegentlich ersucht, sich wegen der Wärmflasche keine Sorgen zu machen, wenn diese nicht (wie es hier offenbar der Fall ist) ein heimliches Liebesfeuer bedeuten soll – wenn sie nicht bloß die Stelle eines zärtlichen Wortes oder Versprechens vertritt, gemäß einem verabredeten Korrespondenzsystem, das Pickwick behufs längst beabsichtigter Treulosigkeit mit Vorbedacht ausgeheckt hat und das ich nicht näher erklären kann? Und was soll diese Anspielung: ›Eile mit Weile‹ bedeuten? Soweit ich die Sache zu durchschauen vermag, bezieht es sich auf Pickwick selbst, der in der Tat während dieses ganzen Verhältnisses sehr ›Eile mit Weile‹ hat walten lassen. Na, vielleicht wird er sich künftig, wie er auf seine Kosten erfahren wird, von Ihnen zu größrer Eile anspornen lassen.«

Prokurator Buzfuz machte eine Pause, um zu sehen, ob die Geschworenen zu seinem Witz lächelten; da dies aber niemand tat als der Gewürzkrämer, dessen Empfänglichkeit dafür höchstwahrscheinlich dadurch hervorgerufen wurde, daß er erst diesen Morgen noch hatte eine Droschke nehmen müssen, um nicht zu spät zu Gericht zu kommen, so hielt es der gelehrte Redner für ratsam, vor Schluß seines Vortrags noch ein wenig auf die Rührung der Geschworenen einzuwirken.

»Doch genug hiervon, meine Herren«, lenkte er ein, »es ist schwer, mit blutendem Herzen zu lächeln, es scherzt sich nicht leicht, wenn unser tiefstes Mitgefühl erregt ist. Alle Hoffnungen und Aussichten meiner Klientin sind vernichtet, und es ist keine bloße Redewendung, wenn ich sage, daß es um ihr Fortkommen geschehen ist. Die Anzeige hängt nicht mehr am Fenster, und noch wohnt kein Herr im Hause. Es kommen ledige Herren, unter denen man auswählen könnte, genug am Hause vorüber – aber es ist keine Aufforderung mehr da, einzuziehen. Düsteres Schweigen herrscht jetzt in dieser Wohnung; selbst die Stimme des Knaben ist verhallt; seine kindlichen Spiele machen ihm kein Vergnügen mehr, da seine Mutter beständig weint; seine Murmeln sind ihm gleichgültig, geworden; er überhört die Aufforderung seiner Kameraden zum ›schwarzen Mann‹, und wollen sie ›Grad oder ungrad‹ mit ihm spielen, so rührt er keine Hand. Aber Pickwick, meine Herren, Pickwick, der mitleidslose Zerstörer dieser häuslichen Oase in der Wüste der Goswellstreet – Pickwick, der die Quelle versiegen gemacht und auf den grünen Rasen Asche gestreut hat – Pickwick, der mit seiner herzlosen Tomatensauce und seiner Wärmflasche heute vor Ihnen erscheint – Pickwick erhebt noch immer mit frecher Schamlosigkeit sein Haupt und blickt ohne Reue auf die Verwüstung hin, die er angerichtet hat. Eine Geldentschädigung, meine Herren, eine bedeutende Geldentschädigung ist die einzige Strafe, womit Sie ihn belegen, der einzige Ersatz, den Sie meiner Klientin gewähren können. Um diese Geldentschädigung nun wende ich mich hiermit an eine erleuchtete, großherzige, gewissenhafte, leidenschaftslose, mitfühlende und einsichtsvolle Jury von gebildeten Mitbürgern.«

Mit dieser schönen Wendung setzte sich Prokurator Buzfuz nieder, und Richter Stareleigh erwachte zum zweiten Male. Nach einer Minute erhob sich Prokurator Buzfuz wieder mit frischer Kraft und verlangte, daß Elisabeth Cluppins vorgerufen werde.

Der zunächststehende Gerichtsdiener rief Elisabeth Tuppkins, ein andrer in einiger Entfernung fragte nach Elisabeth Juppkins und ein dritter rannte atemlos in die Kingstreet und schrie sich heiser nach einer Elisabeth Muffins.

Mittlerweile wurde Mrs. Cluppins durch die vereinigte Hilfe der Damen Bardell und Sanders sowie der Herren Dodson und Fogg in die Zeugenloge gebracht, und als sie die oberste Stufe erklommen, stellte sich Mrs. Bardell an die unterste, mit dem Taschentuch und den Überschuhen in der einen und einer Flasche, die ungefähr eine Viertelpinte Riechsalz enthalten mochte, in der andern Hand, um für alle Fälle gewappnet zu sein. Mrs. Sanders, deren Augen unverwandt am Gesicht des Richters hingen, pflanzte sich mit dem großen Regenschirm dicht neben ihr auf und hielt mit ernster Miene ihren rechten Daumen an das Schloß ihrer Tasche gedrückt, um nötigenfalls sogleich ein Stärkungsmittel hervorholen zu können.

»Mrs. Cluppins«, redete Prokurator Buzfuz ihr zu, »ich bitte Sie, beruhigen Sie sich, Madam.«

Die Erinnerung daran war keineswegs unnötig, denn Mrs. Cluppins schluchzte und seufzte, daß es einen Stein hätte erweichen können; ja, es stellten sich sogar beunruhigende Symptome einer herannahenden Ohnmacht ein, denn sie konnte, wie sie später sagte, ihre Gefühle kaum bewältigen.

»Erinnern Sie sich, Mrs. Cluppins«, fragte Prokurator Buzfuz nach einigen unwichtigen Präliminarien, »erinnern Sie sich, an einem gewissen Morgen des vergangenen Juli in einem Hinterstübchen Mrs. Bardells gewesen zu sein, als sie eben das Zimmer Mr. Pickwicks abstaubte?«

»Ja, Mylord und meine Herren Geschworenen, ich erinnere mich«, erwiderte Mrs. Cluppins.

»Aber Mr. Pickwicks Wohnzimmer war doch, wie ich glaube, im ersten Stock und liegt nach der Straße hinaus?«

»Allerdings, Sir.«

»Was hatten Sie denn im Hinterstübchen zu schaffen, Ma'am?« fragte der kleine Richter.

»Mylord und meine Herren Geschworenen«, begann Mrs. Cluppins in rührender Aufregung, »ich will Ihnen nicht täuschen+…«

»Sie würden auch nicht gut daran tun«, bemerkte der kleine Richter.

»Ich war dorten«, erzählte Mrs. Cluppins, »ohne daß Mrs. Bardell es gewußt hat. Ich war gerade mit ein'm klein'n Korb ausgegangen, meine Herren, um drei Pfund rote Kartoffeln einzuholen, was im ganzen dritthalb Pence ausmacht, als ich die Haustür von der Mrs. Bardell halb offen gesehen habe, und da bin ich also reingegangen, meine Herren, um ihr einen guten Morgen zu wünschen, aber ich bin in Gedanken die Treppe rauf und in das Hinterzimmer gegangen. Meine Herren, da habe ich im Vorderzimmer mehrere Stimmen gehört, und+…«

»Sie haben also gehorcht, Mrs. Cluppins?« unterbrach Prokurator Buzfuz.

»Bitt um Verzeihung, Sir«, erwiderte Mrs. Cluppins in majestätischem Ton, »so was tu ich niemals nicht. Ich nicht, bitte! Die Stimmen sind sehr laut gewesen und haben sich mir mit Gewalt aufgedrängt.«

»Nun gut, Mrs. Cluppins, Sie horchten also nicht, hörten aber dennoch die Stimmen. War eine derselben die Mr. Pickwicks?«

»Ja, Sir.« Und Mrs. Cluppins trug jetzt, nachdem sie aufs bestimmteste angegeben, daß Mr. Pickwick mit Mrs. Bardell gesprochen habe, langsam und mit vielen Umschweifen die damalige verhängnisvolle Unterhaltung vor.

Die Geschworenen sahen bedenklich drein, und Prokurator Buzfuz setzte sich lächelnd nieder. Noch düsterer wurden aber die Mienen, als Prokurator Snubbin erklärte, er habe die Zeugin weiter nichts zu fragen, da Mr. Pickwick zugebe, daß ihre Aussagen im wesentlichen richtig seien.

Da nun Mrs. Cluppins einmal im Zuge war, hielt sie die Gelegenheit für günstig, sich auf eine kurze Darstellung ihrer eigenen häuslichen Verhältnisse einzulassen. Sie klärte daher den Gerichtshof auf, daß sie gegenwärtig Mutter von acht Kindern sei und die zuversichtliche Hoffnung nähren dürfe, nach etwa sechs Monaten Mr. Cluppins mit einem neunten zu beschenken. Bei dieser interessanten Mitteilung legte sich der kleine Richter voll Zorn ins Mittel, und die Folge davon war, daß sowohl die würdige Dame, als auch Mrs. Sanders unter Begleitung Mr. Jacksons kurzerhand aus dem Gerichtssaal geführt wurden.

»Nathaniel Winkle!« rief sodann Mr. Skimpin.

»Hier!« meldete sich eine schüchterne Stimme, und Mr. Winkle trat in die Zeugenloge und verbeugte sich, nachdem er den vorgeschriebenen Eid geleistet, ehrfurchtsvollst gegen das Richterpult.

»Sehen Sie nicht mich an, Sir«, verwies Mr. Stareleigh, statt für den Gruß zu danken, in strengem Tone, »sehen Sie nur auf die Geschworenen!«

Mr. Winkle gehorchte, sah nach dem Platze, wo seiner Wahrscheinlichkeitsberechnung nach die Geschworenen sitzen mußten, denn in seinem verwirrten Geisteszustand war es ihm schlechterdings unmöglich, etwas genau zu erkennen, und wurde sofort von Mr. Skimpin, einem vielversprechenden jungen Manne von zweiundvierzig bis dreiundvierzig Jahren, verhört, dem natürlich alles daran gelegen sein mußte, einen bekanntermaßen für die Gegenpartei eingenommenen Zeugen möglichst aus dem Konzept zu bringen.

»Nun, Sir«, begann Mr. Skimpin, »haben Sie die Güte, Seine Lordschaft und die Jury Ihren Namen wissen zu lassen« – dabei warf er den Geschworenen einen Seitenblick zu, der deutlich genug sagte, bei Mr. Winkles natürlichem Hange zur Lüge könne man von ihm auch die Angabe eines falschen Namens gewärtigen.

»Winkle«, antwortete der Zeuge.

»Ihr Taufname, Sir?« fragte der kleine Richter ärgerlich.

»Nathaniel, Sir.«

»Daniel. – Vielleicht noch andre Taufnamen?«

»Nathaniel, Sir – Mylord, wollte ich sagen.«

»Nathaniel Daniel oder Daniel Nathaniel?«

»Nein, Mylord, bloß Nathaniel, nicht Daniel.«

»Warum sagten Sie denn vorhin, Sie hießen Daniel, Sir?« fragte der Richter.

»Das habe ich nicht gesagt, Mylord«, rechtfertigte sich Mr. Winkle.

»Freilich haben Sie es gesagt, Sir«, erwiderte der Richter mit strengem Stirnrunzeln, »wie hätte ich denn Daniel aufschreiben können, wenn Sie es nicht gesagt hätten, Sir?«

Gegen diesen Beweisgrund ließ sich natürlich nichts erwidern.

»Mr. Winkle hat ein kurzes Gedächtnis, Mylord«, fiel Mr. Skimpin mit einem abermaligen bedeutsamen Blick nach den Geschworenen ein, »ich denke aber, wir werden Mittel finden, es aufzufrischen.«

»Also nehmen Sie sich in acht, Sir!« warnte der kleine Richter mit einem finstern Blick.

Der arme Mr. Winkle verneigte sich und gab sich alle Mühe, unbefangen zu erscheinen, gewann aber in seiner Verlegenheit weit eher das Aussehen eines in flagranti ertappten Taschendiebes.

»Jetzt, Mr. Winkle«, fing Mr. Skimpin wieder an, »geben Sie gefälligst auf meine Fragen acht, Sir, und folgen Sie um Ihrer selbst willen meinem Rat, der Ermahnungen Seiner Lordschaft eingedenk zu sein. Soviel ich weiß, sind Sie ein vertrauter Freund Mr. Pickwicks, des Angeklagten, nicht wahr?«

»Wenn ich mich in diesem Augenblick recht erinnere, so kenne ich Mr. Pickwick beinahe+…«

»Ich muß bitten, Mr. Winkle, daß Sie keine ausweichende Antworten geben. Sind Sie wirklich ein vertrauter Freund des Angeklagten, oder sind Sie es nicht?«

»Ich wollte soeben sagen, daß+…«

»Wollen Sie meine Frage beantworten, Sir, oder nicht?«

»Wenn Sie nicht antworten, so laß ich Sie einsperren, Sir«, fiel der kleine Richter ein mit einem Blick über sein Notizenbuch herüber.

»Nun also, Sir? Ja oder nein.«

»Ja, ich bin's«, antwortete Mr. Winkle.

»Natürlich sind Sie es! Warum haben Sie es nicht gleich gesagt, Sir? Vielleicht kennen Sie auch die Klägerin? – Wie, Mr. Winkle?«

»Nein, ich kenne Sie nicht; das heißt, gesehen habe ich sie schon.«

»So, Sie kennen sie nicht, haben sie aber gesehen? Nun, so haben Sie die Güte, den Herren Geschworenen zu erklären, was Sie damit meinen, Mr. Winkle.«

»Ich meine damit, daß ich nicht genauer mit ihr bekannt bin, sie aber gesehen habe, wenn ich Mr. Pickwick in der Goswellstreet besuchte.«

»Wie oft haben Sie sie gesehen, Sir?«

»Wie oft?«

»Ja, Mr. Winkle, wie oft? Ich will Ihnen die Frage ein dutzendmal wiederholen, Sir, wenn Sie es wünschen, Sir.« – Dabei stemmte der gelehrte Mr. Skimpin mit Stirnrunzeln die Hände in die Seite und lächelte den Geschworenen verdächtig zu.

Diese Frage zog das erbauliche Geschraube nach sich, das bei solchen Gelegenheiten üblich ist. Zuvörderst gab Mr. Winkle an, es sei ihm rein unmöglich zu sagen, wie oft er Mrs. Bardell gesehen habe. Dann fragte man ihn, ob er sie vielleicht zwanzigmal gesehen, und auf seine Antwort: »Gewiß – auch noch öfter«, wollte man genau wissen, ob er sie hundertmal gesehen – ob er nicht schwören könne, daß er sie mehr als fünfzigmal gesehen – ob er nicht angeben könne, daß er sie mehr als fünfundsiebzigmal gesehen, und so fort, bis man endlich zu dem befriedigenden Schlusse gelangte, ihn nochmals zu ermahnen, er solle sich wohl in acht nehmen und bedenken, was er aussage. Nachdem er auf diese Art so verwirrt geworden, daß er kaum mehr wußte, wo ihm der Kopf stand, wurde das Verhör folgendermaßen fortgesetzt:

»Erinnern Sie sich, Mr. Winkle, an einem gewissen Morgen im vergangenen Juli den Beklagten Pickwick in seiner Wohnung bei der Klägerin in der Goswellstreet besucht zu haben?«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Hatten Sie damals einen Freund namens Tupman und einen andern namens Snodgraß bei sich?«

»Ja.«

»Sind sie hier?«

»Ja«, erwiderte Mr. Winkle, sehr angelegentlich nach dem Platze blickend, wo seine Freunde saßen.

»Sehen Sie gefälligst mich an, Mr. Winkle, und nicht Ihre Freunde«, ermahnte Mr. Skimpin mit neuerlichem ausdrucksvollem Lächeln auf die Jury. »Die Herren müssen ihre Aussagen ohne vorherige Beratung mit Ihnen ablegen, falls solche etwa nicht schon stattgefunden hat (abermals ein Blick auf die Jury). Nun, Sir, sagen Sie jetzt den Herren Geschworenen, was Sie am selbigen Morgen beim Eintritt ins Zimmer des Beklagten gesehen haben? Nur heraus damit, Sir, wir müssen es früher oder später doch erfahren.«

»Der Beklagte, Mr. Pickwick, hielt die Klägerin in seinen Armen und hatte ihren Leib umschlungen«, erwiderte Mr. Winkle mit begreiflichem Zögern, »und die Klägerin schien in Ohnmacht gefallen zu sein.«

»Hörten Sie den Beklagten etwas sprechen?«

»Ja, ich hörte, daß er Mrs. Bardell ›liebe Frau‹ nannte und sie bat, sich zu beruhigen; dann, was man denn glauben müßte, wenn jemand käme, und ähnliche Redensarten.«

»Jetzt, Mr. Winkle, habe ich nur noch eine einzige Frage an Sie zu richten, und ich bitte Sie, hierbei der Ermahnung Seiner Lordschaft wohl eingedenk zu sein. – Wollen Sie beschwören, daß beklagter Pickwick bei dieser Gelegenheit nicht gesagt hat: ›Meine gute Bardell, Sie sind eine liebe Frau; beruhigen Sie sich, es wird schon noch dazu kommen‹, oder dem ähnliche Redensarten?«

»Ich – ich habe es wahrhaftig nicht so verstanden«, sagte Mr. Winkle, erstaunt über die listige Verdrehung der wenigen Worte, die er angegeben. »Ich war noch auf der Treppe und konnte es nicht deutlich hören; aber der Eindruck, den es auf mich machte, ist+…«

»Die Herren Geschworenen wollen nichts von den auf Sie gemachten Eindrücken wissen, Mr. Winkle, die, fürchte ich, ohnehin ehrlichen und rechtschaffenen Leuten wenig nützen würden«, unterbrach ihn Mr. Skimpin. »Sie waren also auf der Treppe und hörten es nicht deutlich, wollen aber nicht beschwören, daß Pickwick sich der von mir erwähnten Ausdrücke nicht bedient hat? Habe ich es so zu verstehen?«

»Nein, ich will es nicht beschwören«, erwiderte Mr. Winkle, und Mr. Skimpin setzte sich mit triumphierender Miene.

Mr. Pickwicks Sache hatte bis jetzt keinen so überaus günstigen Verlauf genommen, daß sie noch neue Verdachtsgründe hätte ertragen können. Da sie jedoch möglicherweise noch in ein besseres Licht zu stellen war, so erhob sich Mr. Phunky, um seinerseits Mr. Winkle noch einige wichtige Aufschlüsse zu entlocken.

»Ich glaube, Mr. Winkle«, begann er, »Mr. Pickwick ist kein junger Mann mehr?«

»O nein«, erwiderte Mr. Winkle, »er könnte mein Vater sein.«

»Sie haben meinem wertgeschätzten Kollegen gesagt, Sie kennen Mr. Pickwick schon lange. Hatten Sie jemals Grund zu vermuten oder zu glauben, er beabsichtige, sich zu verheiraten?«

»Nein, niemals«, antwortete Mr. Winkle mit solchem Eifer, daß ihn Mr. Phunky am liebsten so schnell wie möglich aus der Zeugenloge entfernt hätte. In den Augen der Rechtsgelehrten gibt es zwei Arten besonders schlechter Zeugen; solche, die gar nichts, und solche, die zuviel aussagen. Das Schicksal wollte, daß Mr. Winkle beide Arten trefflich in sich vereinigte.

»Ich will sogar noch weitergehen, Mr. Winkle«, fuhr Phunky mit freundlichem und einschmeichelndem Tone fort. »Bemerkten Sie in Mr. Pickwicks Benehmen gegen das andere Geschlecht je etwas, das Sie hätte auf den Glauben bringen können, er hege in den letzten Jahren überhaupt Heiratsgedanken?«

»O nein, nicht das mindeste«, versicherte Mr. Winkle.

»War sein Benehmen in Gesellschaft von Damen nicht das eines Mannes, der, an Jahren schon ziemlich vorgerückt, nur noch an seine Geschäfte oder Vergnügungen denkt und sie bloß behandelt wie ein Vater seine Töchter?«

»Daran ist kein Zweifel«, antwortete Mr. Winkle in der Fülle seines Herzens. »Das heißt – ja – hm, o ja –«

»Sie haben also in seinem Benehmen gegen Mrs. Bardell oder sonst gegen eine Frau nie etwas auch nur im mindesten Verdächtiges wahrgenommen?« fragte Mr. Phunky und wollte sich niedersetzen, denn Prokurator Snubbin hatte ihm einen Wink gegeben.

»Nein, nein«, erwiderte Mr. Winkle, »außer in einem einzigen unbedeutenden Fall, der sich aber, wie ich nicht bezweifle, leicht wird aufklären lassen.«

Hätte sich der unglückliche Mr. Phunky sofort gesetzt, als Prokurator Snubbin ihm zuzwinkerte, oder wäre Prokurator Buzfuz gleich im Anfang gegen dieses unstatthafte Zeugenverhör aufgetreten (er hatte sich gehütet, es zu tun, da er Mr. Winkles Ängstlichkeit bemerkte und Hoffnung hatte, dieselbe zu seinem Vorteil ausbeuten zu können), so wäre dieses unglückselige Geständnis Mr. Winkle nicht entschlüpft. Kaum aber waren die Worte seinen Lippen entflohen, so setzte sich Phunky, und Prokurator Snubbin rief Mr. Winkle im größten Eifer zu, er solle die Zeugenloge verlassen, wozu er sich auch mit aller Bereitwilligkeit anschickte, als Prokurator Buzfuz es mit dem Ruf verhinderte:

»Bleiben Sie, Mr. Winkle. Bleiben Sie. Wollen Euer Lordschaft die Güte haben, den Zeugen zu fragen, worin der einzige Fall bestand, wo ihm das Benehmen dieses Herrn, der sein Vater sein könnte, gegen Frauen verdächtig vorkam?«

»Sie hören, was der Herr Anwalt sagt«, nahm der Richter das Wort, sich an den unglücklichen, von neuem Schreck ergriffenen Mr. Winkle wendend. »Erklären Sie sich näher über den Fall, den Sie angedeutet haben.«

»Mylord«, stotterte Mr. Winkle zitternd vor Verlegenheit, »ich – ich möchte es lieber nicht sagen.«

»Das ist wohl möglich«, knurrte der kleine Richter, »aber Sie müssen.«

Und unter dem tiefsten Stillschweigen der ganzen Versammlung erklärte Mr. Winkle mit stockender Stimme: Der einzige unbedeutende Vorfall, der Verdacht erregen könne, sei, daß man Mr. Pickwick einmal um Mitternacht im Schlafzimmer einer Dame gefunden habe, und soviel er wisse, sei infolge dieser Entdeckung die projektierte Heirat besagter Dame rückgängig gemacht worden. Auch wisse er bestimmt, daß damals alle dabei Beteiligten mit Gewalt vor George Nupkins, Esquire, den Friedensrichter und Bürgermeister von Ipswich, geführt worden seien.

»Jetzt können Sie die Zeugenloge verlassen, Sir«, sagte Prokurator Snubbin.

Mr. Winkle tat es und rannte wie besessen nach dem »Georg und Geier«, allwo der Kellner ihn einige Stunden nachher jammervoll stöhnend und ächzend, den Kopf in die Sofakissen begraben, entdeckte.

Tracy Tupman und Augustus Snodgraß wurden hierauf nacheinander in die Zeugenloge gerufen. Beide bestätigten die Aussage ihres unglücklichen Freundes, und beide wurden durch verfängliche Fragen aus der Fassung gebracht.

Als vorletzter Zeuge wurde Susanna Sanders aufgerufen und zuerst von Prokurator Buzfuz und dann von Prokurator Snubbin befragt. Sie habe, erklärte sie, immer gesagt und geglaubt, Mr. Pickwick werde Mrs. Bardell heiraten; sie wisse, daß nach der Ohnmachtsgeschichte im Juli die ganze Nachbarschaft von nichts gesprochen habe, als von dem Verlöbnisse zwischen Mrs. Bardell und Mr. Pickwick; sie habe es Mrs. Muderry, die eine Mangel besitze, und Mrs. Bunkin, die Weißnäherin, mehr als einmal sagen hören, obgleich sie keine von beiden hier im Saale erblicke. Sie habe gehört, wie Mr. Pickwick das Kind gefragt, ob es sich freuen würde, wenn es wieder einen Vater bekäme. Sie wisse absolut nichts davon, daß Mrs. Bardell in vertraulichen Beziehungen zu dem Bäcker gestanden, nur soviel könne sie sagen, daß der Bäcker damals ledig gewesen sei, sich aber inzwischen verheiratet habe. Sie könne nicht darauf schwören, daß Mrs. Bardell nicht sehr verliebt in den Bäcker gewesen sei, glaube aber, der Bäcker müsse nicht sehr verliebt in Mrs. Bardell gewesen sein, weil er sonst gewiß nicht eine andere geheiratet hätte. Sie glaube, Mrs. Bardell sei an jenem Julimorgen in Ohnmacht gefallen, weil Mr. Pickwick in sie gedrungen sei, den Hochzeitstag zu bestimmen; sie erinnere sich noch, daß sie (die Zeugin) wie tot niedergefallen sei, als ihr jetziger Gatte sie seinerzeit gebeten, den Hochzeitstag festzusetzen, und sie glaube, daß es jedem anständigen Frauenzimmer unter ähnlichen Umständen ebenso ergehen müsse. Sie habe ferner gehört, wie Mr. Pickwick den Knaben wegen seiner Murmeln gefragt habe, sie könne aber nicht einmal unter Eid den Unterschied zwischen einem Stein und einer Murmel angeben.

Auf weitere Fragen des Richters erzählte sie noch, sie habe während ihres Brautstandes mit Mr. Sanders auch Liebesbriefe von ihm erhalten wie andre Frauen. Mr. Sanders habe sie in seiner Korrespondenz zwar oft »Ente« genannt, niemals aber Kotelettes oder Tomatensauce. Er habe aber Enten für sein Leben gern gegessen. Vielleicht würde er, wenn er ebensogern Kotelettes und Tomatensauce gegessen hätte, sie in seiner Zärtlichkeit auch so geheißen haben.

Prokurator Buzfuz erhob sich schließlich mit womöglich noch größerer Wichtigkeit als vorher und rief laut nach Mr. Samuel Weller.

Es war höchst unnötig, so laut zu schreien, denn Samuel Weller befand sich in der Zeugenloge, als sein Name kaum ausgesprochen war. Er legte seinen Hut neben sich auf den Boden, die Arme auf das Geländer, besah sich die Anwälte aus der Vogelperspektive und ließ mit merkwürdiger Unbefangenheit und Heiterkeit seinen Blick über die Herren schweifen.

»Wie heißen Sie?« fragte der Richter.

»Sam Weller, Mylord.«

»Schreibt man Sie mit einem V oder mit einem W?« fragte der Richter weiter.

»Kommt ganz auf den Geschmack und das Belieben des Schreibenden an, Mylord«, erwiderte Sam, »ich selbst habe bloß 'n paarmal in meinem Leben Veranlassung gehabt, meinen Namen zu schreiben, aber ich mache immer 'n V.«

Hier rief eine Stimme von der Galerie herab:

»Ganz recht, Samuel, ganz recht; machen Sie 'n V, Mylord, machen Sie 'n V.«

»Wer untersteht sich da, den Gerichtshof anzureden?« rief der kleine Richter, in die Höhe blickend. – »Gerichtsdiener!«

»Hier, Mylord!«

»Führen Sie diese Person sogleich vor.«

»Sehr wohl, Mylord.«

Da aber der Gerichtsdiener die Person nicht fand, so führte er sie auch nicht vor, und unter großem Geräusch setzten sich die Leute alle wieder, die aufgestanden waren, um den Verbrecher zu sehen. Das Richterlein wandte sich aufs neue an den Zeugen, sobald seine Entrüstung ihm zu sprechen erlaubte, und fragte:

»Wissen Sie, wer das war?«

»Mylord«, antwortete Sam, »ich vermute fast, mein Vater war's.«

»Sehen Sie ihn jetzt noch?«

»Nein, Mylord«, antwortete Sam und starrte unverwandt auf die Laterne, die an der Decke des Gerichtssaales hing.

»Wenn Sie ihn mir hätten zeigen können, so hätte ich ihn sogleich verhaften lassen«, sagte der Richter. Sam verbeugte sich dankbar und wandte sich dann mit unverminderter Heiterkeit wieder zu dem Prokurator Buzfuz.

»Nun, Mr. Weller?« begann der Prokurator Buzfuz.

»Nun, Sir?«

»Ich glaube, Sie stehen im Dienst Mr. Pickwicks, der hier der Beklagte ist. Sprechen Sie gefälligst unumwunden, Mr. Weller.«

»Werde schon unumwunden sprechen«, erwiderte Sam. »Ich stehe allerdings im Dienst dieses Gentleman, und es is 'n sehr guter Dienst.«

»Wenig zu tun und recht viel zu kriegen – was?« meinte der Prokurator Buzfuz scherzend.

»Hm, gerade genug zu kriegen, Sir, wie der Soldat sagte, als man ihm dreihundertfünfzig Stockprügel zumaß.«

»Sie brauchen uns nicht zu sagen, was der Soldat oder sonst jemand gesagt hat«, schnauzte der Richter Sam an, »das ist keine Zeugenaussage.«

»Sehr wohl, Mylord«, antwortete Sam.

»Erinnern Sie sich irgendeines besondern Umstandes von dem Morgen her, wo der Beklagte Sie in seine Dienste nahm, Mr. Weller?« fragte der Prokurator Buzfuz wieder.

»Jawohl, Sir.«

»Haben Sie die Güte, den Geschworenen zu sagen, was es war.«

»Ich bekam an diesem Morgen 'n ganz neuen Anzug, meine Herren Geschworenen«, sagte Sam, »und das war für mich in den Tagen 'n sehr einschneidendes Ereignis.«

Ein allgemeines Gelächter brach los. Der kleine Richter blickte zornentbrannt über seinen Schreibtisch hinüber und sagte:

»Nehmen Sie sich in acht, Sir!«

»So sagte damals auch Mr. Pickwick, Mylord«, antwortete Sam, »und ich nahm mir mit dem Anzug auch sehr in acht; sehen Sie nur, wie ich 'n geschont habe, Mylord.«

Zwei Minuten lang blickte der Richter Sam streng an; aber Sams Züge waren so vollkommen ruhig und heiter, daß er nichts zu sagen wußte und daher den Prokurator Buzfuz aufforderte, weiter fortzufahren.

»Mr. Weller«, nahm der Prokurator Buzfuz das Verhör wieder auf, verschränkte würdevoll die Arme und wandte sich halb gegen die Geschworenen, als wollte er ihnen stumm versichern, er werde diesen Zeugen schon noch fangen. »Wollen Sie damit wirklich sagen, Mr. Weller, daß Sie nichts davon gesehen haben, wie die Klägerin ohnmächtig in den Armen des Beklagten lag, was die Zeugen vorhin bereits ausführlich zugegeben haben?«

»Habe wirklich nischt gesehen«, erwiderte Sam. »Ich war im Gang, bis man mir rief, und dann war die alte Dame schon nich mehr da.«

»Merken Sie wohl auf, Mr. Weller«, ermahnte der Prokurator Buzfuz, eine große Feder in das vor ihm stehende Tintenfaß tauchend, damit Sam Angst bekommen und glauben solle, er wolle seine Antwort niederschreiben. »Sie waren im Gang und haben nichts von dem gesehen, was vorging? Haben Sie nicht ein paar Augen im Kopf, Mr. Weller?«

»Jawoll habe ich 'n paar Augen«, erwiderte Sam. »Eben drum. Wenn ich 'n paar Patent-Doppelmillionen-Vergrößerungsgläser von Extragüte hätte, wär's mir 'n leichtes gewesen, durch 'ne eichene Tür zu sehen; aber da es bloß 'n paar einfache Augen sin, is mein Gesichtskreis leider beschränkt.«

Bei dieser Antwort, die ohne den geringsten Anschein von Aufregung und mit der vollkommensten Unbefangenheit und Gleichmütigkeit gegeben wurde, kicherten die Zuschauer, der kleine Richter schmunzelte, und Prokurator Buzfuz schaute ausnehmend albern drein. Nach einer kurzen Beratung mit Dodson und Fogg wandte sich der Rechtsgelehrte abermals an Sam und sagte, mit Mühe seinen Ärger verbeißend:

»Jetzt, Mr. Weller, werde ich Ihnen, wenn Sie gestatten, eine Frage über einen andern Punkt vorlegen.«

»Ganz wie's Ihnen beliebt«, erwiderte Sam mit der besten Laune von der Welt.

»Erinnern Sie sich noch, im vergangenen November einmal bei Nacht zu Mrs. Bardell gegangen zu sein?«

»O ja, recht gut.«

»So, Sie erinnern sich dessen also, Mr. Weller?« sagte Prokurator Buzfuz, frischen Mut fassend. »Ich dachte mir doch, wir würden am Ende noch etwas von Ihnen erfahren.«

»Habe ich mir auch gedacht, Sir«, entgegnete Sam.

Die Zuschauer kicherten aufs neue.

»Gut. Sie gingen ohne Zweifel zu ihr, um mit ihr ein bißchen über den Prozeß zu sprechen, was, Mr. Weller?« fragte Prokurator Buzfuz, den Geschworenen bedeutsame Blicke zuwerfend.

»Ich ging hin, um die Miete zu bezahlen; aber wir haben allerdings auch über den Prozeß gesprochen«, erwiderte Sam.

»Aha, Sie sprachen auch über den Prozeß!« rief Buzfuz, strahlend im Vorgenuß einer wichtigen Entdeckung. »Nun, und was wurde denn über den Prozeß gesprochen? Wollen Sie die Güte haben, es uns zu sagen, Mr. Weller?«

»Mit dem größten Vergnügen, Sir. Nach 'n paar unwichtigen Bemerkungen, wo die zwei tugendfesten Frauenzimmer, wo Sie vorhin befragt haben, also gemacht haben, ließen sich die Damen mit große Bewunderung über das ehrenwerte Benehmen von die Herren Dodson und Fogg aus, die wo da neben Ihnen sitzen.«

Das zog natürlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf Dodson und Fogg, die möglichst tugendhafte Gesichter schnitten.

»Die Sachwalter der Klägerin? Die Damen haben also mit großem Lob von dem ehrenhaften Benehmen der Herren Dodson und Fogg, den Sachwaltern der Klägerin, gesprochen?«

»Ja. Sie meinten, daß es doch sehr schön von denen is, daß sie den Prozeß bloß auf Spekulation übernommen haben und daß sie sich nichts für die Unkosten bezahlen lassen wollen, wenn Mr. Pickwick nicht verurteilt wird.«

Bei dieser höchst unerwarteten Antwort kicherten die Zuschauer abermals. Die Herren Dodson und Fogg wurden feuerrot, beugten sich zu Prokurator Buzfuz und flüsterten ihm hastig etwas ins Ohr.

»Sie haben vollkommen recht«, sagte Prokurator Buzfuz laut mit erzwungener Ruhe. »Es ist durchaus nutzlos, Mylord, von der unverbesserlichen Dummheit dieses Zeugen irgendeinen Aufschluß zu erwarten. Ich will den Gerichtshof nicht länger damit aufhalten, daß ich noch mehr Fragen an ihn richte. Sie können gehen, Sir.«

»Hat einer von den Herren vielleicht Lust, mir noch was zu fragen?« sagte Sam, nahm seinen Hut und blickte bedächtig um sich.

»Ich nicht, Mr. Weller, danke Ihnen«, antwortete Prokurator Snubbin lachend.

»Sie können sich entfernen, Sir«, sagte Prokurator Buzfuz, ungeduldig mit der Hand winkend.

Sam trat demgemäß ab, nachdem er der Sache der Herren Dodson und Fogg den größtmöglichen Schaden zugefügt, über Mr. Pickwick aber so wenig wie möglich ausgesagt hatte, was beides von Anfang an seine Absicht gewesen war.

Prokurator Snubbin hielt jetzt eine sehr lange und nachdrucksvolle Rede zugunsten des Beklagten an die Geschworenen, worin er dem Lebenswandel und Charakter Mr. Pickwicks das größte Lob angedeihen ließ. Er versuchte klarzulegen, daß die vorgelegten Billette sich lediglich auf Mr. Pickwicks Mittagessen oder auf die Vorbereitungen zu seinem Empfang bezogen, als er von einer ländlichen Exkursion zurückkehrte. Kurz, er tat für Mr. Pickwick sein möglichstes, und mehr kann man bekanntlich auch vom Besten nicht verlangen.

Richter Stareleigh resümierte in der althergebrachten und üblichen Form. Er las den Geschworenen so viel von seinen Notizen vor, als er bei der Schnelligkeit, mit der er sie niedergeschrieben, entziffern konnte, und ließ allgemeine Bemerkungen mit einfließen, wie zum Beispiel, wenn Mrs. Bardell recht habe, so sei es sonnenklar, daß Mr. Pickwick unrecht habe, und wenn die Geschworenen die Aussagen der Mrs. Cluppins glaubwürdig fänden, so müßten sie ihnen Glauben schenken, wo nicht, so würden sie es nicht tun; wenn sie überzeugt seien, daß ein Eheversprechen nicht gehalten worden sei, so würden sie der Klägerin eine angemessene Entschädigung zuerkennen, wenn sie dagegen glaubten, das Eheversprechen habe überhaupt nicht stattgefunden, so würden sie den Beklagten vollkommen freisprechen. Die Geschworenen zogen sich hierauf in ihr Beratungszimmer zurück, und der Richter begab sich auf sein Privatbüro, um sich an einer Hammelkeule und einem Glas Champagner zu laben.

Es verstrich eine ängstliche Viertelstunde; die Jury kam zurück, und der Richter wurde hereingeholt. Mr. Pickwick setzte seine Brille auf und starrte mit unruhevollem Gesicht und heftig klopfendem Herzen nach dem Vorsitzenden hin.

»Meine Herren«, fragte das schwarzgekleidete Individuum, »haben Sie sich über Ihren Ausspruch geeinigt?«

»Ja«, antwortete der Vorsitzende.

»Für wen haben Sie entschieden, meine Herren, für die Klägerin oder den Beklagten?«

»Für die Klägerin.«

»Welche Entschädigung erkennen Sie ihr zu?«

»Siebenhundertundfünfzig Pfund.«

Mr. Pickwick nahm seine Brille ab, wischte die Gläser sorgfältig ab, steckte sie ins Futteral und dieses in die Tasche; dann zog er mit großer Sorgfalt seine Handschuhe an, und nachdem er die ganze Zeit über den Vorsitzenden unverwandt angestarrt, folgte er mechanisch Mr. Perker und dem blauen Aktenbeutel zum Saale hinaus.

Sie begaben sich in ein Seitenzimmer, wo Perker die Gebühren bezahlte und wohin bald darauf auch Mr. Pickwicks Freunde kamen. Hier trafen sie auch die Herren Dodson und Fogg, die sich mit allen Zeichen größter Zufriedenheit die Hände rieben.

»Nun, meine Herren?« fragte Mr. Pickwick.

»Nun, Sir?« sagte Mr. Dodson für sich und seinen Associe.

»Sie bilden sich wahrscheinlich ein, daß Sie Ihre Kosten bekommen werden, meine Herren?«

Fogg erwiderte, sie zweifelten nicht daran, und Dodson meinte, sie wollten es auf einen Versuch ankommen lassen.

»Versuchen Sie es, solange Sie wollen, meine Herren Dodson und Fogg«, sagte Mr. Pickwick heftig, »von mir bekommen Sie keinen Heller, und wenn ich mein ganzes noch übriges Leben im Schuldgefängnis zubringen müßte.«

»Haha!« lachte Dodson. »Sie werden sich noch vor dem nächsten Gerichtstag eines Bessern besinnen, Mr. Pickwick.«

»Hihihi«, grinste Fogg, »das wollen wir doch mal sehen, Mr. Pickwick.«

Sprachlos vor Entrüstung ließ sich Mr. Pickwick von seinem Anwalt und seinen Freunden hinausführen und stieg in eine Mietkutsche, die der allzeit aufmerksame Sam Weller flink zu diesem Behufe herbeigeholt hatte.

Sam hatte den Tritt hinaufgeschlagen und wollte eben auf den Bock springen, als ihm jemand auf die Schulter klopfte. Er sah sich um, und sein Vater stand vor ihm. Das Gesicht des alten Herrn trug den Ausdruck tiefer Betrübnis; er schüttelte ernsthaft sein Haupt und sagte in vorwurfsvollem Tone:

»Siehste wohl, Sammy. Warum habt ihr kein Alibi nachgewiesen! – Sammy, Sammy!«


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