Charles Dickens
Nikolas Nickleby
Charles Dickens

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45. Kapitel

Eine große Überraschung

»Da wir morgen abend von London abfahren und ich Tag meines Lebens noch net so vergnügt g'wesen bin, Mr. Nickleby, sapperment, so will ich noch a Glas auf unser fröhliches Wiedersehen trinken«, sagte John Browdie, rieb sich entzückt die Hände und blickte aufgeräumt umher. Der wackere Yorkshirer befand sich in diesem beneidenswerten Gemütszustand am selben Abend, an dem sich das eben erwähnte Ergebnis abgespielt hatte. Der Schauplatz war das Häuschen der Gebrüder Cheeryble und die handelnden Personen Nikolas, Mrs. Nickleby, Mrs. Browdie, Kate und Smike.

Sie waren sehr heiter und fröhlich gewesen. Mrs. Nickleby, die ihres Sohnes Verpflichtungen gegenüber dem ehrlichen Yorkshirer kannte, hatte sich nach einigem Zögern entschlossen, Mr. und Mrs. Browdie zum Tee einzuladen. Anfangs waren da allerdings einige Hindernisse gewesen, die daraus resultierten, daß Mrs. Nickleby vorher noch nicht Gelegenheit gehabt hatte, Mrs. Browdie einen Besuch zu machen. Denn obgleich sie wie die meisten allzu pünktlichen Leute oft mit großer Selbstgefälligkeit versicherte, daß sie jeder Förmlichkeit abhold sei, so hielt sie doch ungemein viel auf Würde und gesellschaftliche Formen, und es lag daher auf der Hand, daß sie, ehe ein Besuch gemacht worden, nach allen Regeln der Etikette und des guten Tons nicht einmal wissen durfte, daß es überhaupt eine Mrs. Browdie gab. Die Lage war daher begreiflicherweise außerordentlich delikat und schwierig.

»Der erste Besuch muß unbedingt von mir ausgehen«, sagte sie; »das ist unerläßlich. Wie könnte sonst die junge Frau wissen, daß ich bereit bin, von ihr Notiz zu nehmen? Es erinnert mich das an einen sehr respektabel aussehenden Herrn«, fügte sie nach kurzem Nachsinnen hinzu, »nämlich an den Schaffner eines hier vorbeifahrenden Omnibusses, der einen lackierten Hut trägt – deine Schwester und ich haben ihn oft gesehen, Nikolas –, er hat eine Warze auf der Nase, genau so, wie es die Lakaien von Gentlemen haben – erinnerst du dich, Kate?«

»Haben denn alle Lakaien von Gentlemen Warzen auf der Nase, Mama?« fragte Nikolas.

»Ach, wie albern du wieder sprichst, Nikolas«, rief Mrs. Nickleby, »ich meine doch, daß der lackierte Hut der eines Lakaien ist und nicht, daß die Warze mit dazugehört, trotzdem auch das nicht so lächerlich wäre, wie es dir vorkommen mag, denn wir hatten einmal einen Laufburschen, der nicht bloß eine Warze, sondern sogar eine Balggeschwulst und sogar eine sehr große hatte und auf Grund dessen einen höheren Lohn forderte, weil ihm dieser Auswuchs viel Unkosten verursachte. Aber, was wollte ich nur sagen? – Ja richtig, jetzt erinnere ich mich wieder. Ich denke, es ist wohl am besten, wir schicken durch diesen jungen Menschen, der es bestimmt für einen Krug Porter besorgen wird, eine Karte mit meiner Empfehlung nach dem ›Mohren mit den zwei Hälsen‹, und wenn ihn der Kellner für einen Lakai hält, so ist's nur um so besser. Mrs. Browdie braucht dann nichts weiter zu tun, als dem Überbringer ihre Karte zu geben, der sie hierauf in aller Form mit einem Doppelschlag bei uns abwerfen könnte, und damit wäre alles in Ordnung.«

»Liebe Mutter«, wendete Nikolas ein, »ich glaube, daß du bei diesen einfachen Leuten vergeblich eine Visitenkarte suchst.«

»Ah – so? Das ist freilich etwas anderes«, entgegnete Mrs. Nickleby. »Wenn die Sache so steht, habe ich weiter nichts zu sagen, als daß diese Leute ohne Zweifel sehr brave Menschen sind und ich durchaus nichts dagegen habe, daß sie zum Tee kommen, wenn sie Lust haben. Ich werde sie mit aller nur möglichen Höflichkeit empfangen.«

Nachdem die Angelegenheit auf diese Weise glücklich in Ordnung gebracht und Mrs. Nickleby gebührendermaßen in die nötige Gönnerstellung eingesetzt war, die ihrem Rang und ihren Jahren geziemte, wurden Mr. und Mrs. Browdie eingeladen. Sie nahmen sofort an, und da sie sich ungemein ehrerbietig gegenüber der Frau vom Hause benahmen, ihrer Überlegenheit die höchste Anerkennung zuteil werden ließen und ihrer Freude entsprechend Ausdruck verliehen, gab die treffliche alte Dame Kate mehr als einmal flüsternd zu verstehen, die Browdies kämen ihr als die wackersten Leute vor, die sie je gesehen, und benähmen sich tadellos.

So war es also gekommen, daß John Browdie nach dem Abendessen, das heißt zwanzig Minuten vor elf, erklärte, er sei Tag seines Lebens noch nicht so fröhlich gewesen.

Mrs. Browdie blieb in dieser Hinsicht nicht hinter ihrem Gatten zurück, und sie konnte nicht genug das liebenswürdige und gewinnende Benehmen der jungen Dame und die einnehmende Leutseligkeit der älteren anerkennen. Überdies verstand es Kate vortrefflich, die Unterhaltung auf Themen zu lenken, bei denen sich die in einer fremden Gesellschaft ziemlich verlegene junge Frau vom Lande heimisch fühlte. Wenn auch Mrs. Nickleby in der Wahl ihrer Gespräche bisweilen nicht ganz so glücklich war oder, wie Mrs. Browdie es bezeichnete, »etwas zu gebildet sprach«, so war sie doch die Freundlichkeit selbst und zeigte dem jungen Paar, wie lebhaft sie sich für sie interessierte, indem sie es sich angelegen sein ließ, die junge Frau mit langen Vorträgen über Hauswirtschaft zu unterhalten, die sie an verschiedenen Beispielen und ihrer eigenen Hausfrauenkunst erläuterte und in der sie ungefähr ebenso in punkto Theorie und Praxis beschlagen war, wie etwa einer der zwölf Apostel, deren Statuen die St.-Pauls-Kirche schmücken.

»Mr. Browdie«, sagte Kate zu der jungen Frau, »ist der heiterste, fröhlichste und herzlichste junge Mann, den ich je gesehen habe. Wenn ich noch so von Sorgen bedrückt wäre, er würde mich aufheitern, wenn ich ihn nur ansähe.«

»Wahrhaftig, Kate«, fiel Mrs. Nickleby ein, »er scheint ein höchst vortrefflicher Gatte zu sein, und es wird mir zu jeder Zeit ein Vergnügen bereiten, Mrs. Browdie, Sie beide bei uns zu sehen. Es geht sehr einfach bei uns her«, fuhr sie mit einer Miene fort, die anzudeuten schien, daß sie ganz gut Aufwand treiben könnte, wenn sie nur wollte. – »Wir machen nicht viel Wesens, denn ich wollte das nicht zugeben. Nein, liebe Kate, sagte ich, das würde Mrs. Browdie nur bedrücken, und das wäre doch höchst töricht und unüberlegt.«

»Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden, Madame«, erwiderte Mrs. Browdie anerkennend, »aber es ist jetzt fast elf Uhr, John; ich fürchte, wir haben Sie schon allzulange aufgehalten, Madame.«

»Zu lang?« rief Mrs. Nickleby mit einer gewissen vornehmen Verwunderung, »das ist noch eine sehr frühe Stunde für uns! Wir sind an eine solche Zeit gewöhnt. Zwölf, eins, zwei, drei Uhr machen uns nichts aus. Bälle, Soireen, Teezirkel drängten sich an unserm frühern Wohnort jahraus, jahrein. Jetzt begreife ich oft allerdings gar nicht mehr, wie es nur möglich war, daß wir alles das aushielten, allein in solchen Fällen läßt sich nicht viel ändern. Es ist das eben die Folge, wenn man zahlreiche Bekannte hat und viel besucht wird. Ich kann jedem jungen Ehepaar nur dringend raten, solche Gelegenheiten zu meiden, obwohl ich andererseits sagen muß, daß zum Glück nur wenige Leute solchen Versuchungen ausgesetzt sind. Ich erinnere mich da speziell an eine Familie, die ungefähr eine Meile von uns entfernt lebte – nicht auf der Straße gemessen, sondern links vom Schlagbaum ab, wo die Plymouther Kutsche einmal einen Esel überfuhr –, es waren wirklich ganz außerordentliche Leute, und sie gaben die glänzendsten Gesellschaften mit künstlichen Blumen, Champagner, farbigen Lampions, kurz, allem, was sich der leckerste Gaumen an Essen und Trinken nur wünschen kann. Ich glaube wirklich nicht, daß es je Leute wie diese Peltirogus gab. Du erinnerst dich doch der Familie Peltirogus?«

Kate merkte, daß es höchste Zeit war, im Interesse des Besuchs die Erinnerungsflut ihrer Mutter zu hemmen, und erwiderte, daß sie sich der Familie Peltirogus sehr gut entsinne. Dann fügte sie rasch hinzu, Mr. Browdie habe doch versprochen, heute abend noch ein kleines Yorkshirer Liedchen zu singen. Sie würde sich sehr darüber freuen, wenn er es täte, da sie überzeugt sei, es werde ihrer Mutter ein unbeschreibliches Vergnügen machen. Mrs. Nickleby stimmte ihrer Tochter lebhaft bei, denn es lag etwas Gönnerhaftes und ein stillschweigendes Anerkenntnis darin, daß sie in dergleichen Dingen einen hervorragenden Kunstgeschmack besäße.

John Browdie forderte seine Gattin auf, ihm gelegentlich beizuspringen, falls ihn sein Gedächtnis verlassen sollte, rückte dann ein paarmal verlegen auf seinem Stuhl hin und her, betrachtete die an der Decke schlummernden Fliegen und stimmte endlich ein sentimentales Lied, das die Empfindungen eines vor Liebe und Verzweiflung vergehenden zartsinnigen Schäfers schilderte, mit Donnerstimme an.

Noch war die erste Strophe nicht vorüber, als ein lautes Klopfen an der Haustür ertönte, so laut und heftig, daß sämtliche Damen bestürzt emporfuhren und John betroffen innehielt.

»Es muß wahrscheinlich ein Irrtum sein«, sagte Nikolas ruhig, »wir kennen niemand, der uns zu dieser Stunde besuchen würde.« Madame Nickleby mutmaßte natürlich sofort, es sei wahrscheinlich im Bureau Feuer ausgebrochen, oder vielleicht hätten die Herrn Cheeryble herübergeschickt, um Nikolas zu ihrem Kompagnon zu ernennen – was zu dieser nächtlichen Stunde höchst wahrscheinlich war; vielleicht sei auch Mr. Linkinwater mit der Kasse durchgebrannt oder Miss La Creevy krank geworden, oder vielleicht –

Ein hastiger Ausruf Kates hemmte plötzlich ihren Redestrom, und gleich darauf trat Ralph Nickleby ins Zimmer.

»Halt«, rief er, als Nikolas aufstand und Kate sich an seine Seite flüchtete. »Ehe dieser Knabe noch ein Wort sagt, hören Sie mich an.«

Nikolas biß sich in die Lippen und schüttelte drohend den Kopf, schien aber für den Augenblick unfähig zu sein, auch nur ein Wort hervorzubringen. Kate umklammerte seinen Arm, Smike flüchtete sich hinter beide, und John Browdie, der bereits von Ralph gehört und ihn sofort erkannte, trat zwischen den alten Mann und seinen jungen Freund, um nötigenfalls eingreifen zu können.

»Hört mich an, sage ich«, fuhr Ralph fort, »und nicht ihn.«

»Sie, alter Herr«, rief John, »legen Sie Ihre Worte gefälligst auf die Goldwaage.«

»Sie sollte ich an Ihrem Dialekt erkennen, und den da« – Ralph deutete auf Smike – »nach seinem Aussehen«, war die Antwort.

»Lassen Sie ihn gefälligst aus dem Spiel«, fuhr Nikolas auf, »ich dulde es nicht. Ich kenne Sie nicht, ich kann die Luft nicht atmen, die Sie verpesten. Ihre bloße Gegenwart ist eine Beleidigung für meine Schwester, Ihr Anblick ist eine Schmach für uns, und Sie dürfen hier nicht bleiben, so wahr –«

»Ruhig«, rief John und legte seine schwere Hand auf Nikolas' Schulter.

»Er soll sich sofort entfernen«, rief Nikolas und machte sich los. »Ich will mich nicht an ihm vergreifen, aber fort muß er; ich dulde ihn nicht hier. John – John Browdie, dies hier ist meine Wohnung, und ich bin kein Kind. – Wie er so dasteht«, rief er rasend vor Wut, »und uns ruhig ansieht, die wir doch seine ganze Niedertracht kennen, so könnte ich wahnsinnig werden.«

John Browdie erwiderte keine Silbe, hielt Nikolas aber beständig fest und sagte, als dieser schwieg:

»Es gibt da, glaube ich, mehr zu sagen und zu hören, als du vielleicht denkst. I merk scho, um was sichs dreht. Was is denn das für a Schatten da draußen vor der Tür? Aha, der Schulmeister! Brauchst dich net verstecken. Alter Herr, lassen S' ihn nur a bissel herein.«

Mr. Squeers hatte draußen gewartet, bis er mit Aplomb würde auftreten können, aber die herzhafte Aufforderung hereinzukommen, verdarb ihm den ganzen Plan. Er schlich sich ziemlich bedrückt herein und war so betreten, daß John Browdie in ein herzliches Lachen ausbrach, in das selbst Kate trotz ihrer Angst, Überraschung und der Tränen in ihren Augen halb und halb mit einstimmen mußte.

»Sind Sie mit Ihren Scherzen jetzt bald zu Ende, Sir?« fragte Ralph nach einer Weile.

»Ja, augenblicklich so ziemlich«, versetzte John.

»Ich kann auch warten«, höhnte Ralph, »lassen Sie sich nur Zeit.« Er wartete, bis vollkommene Stille eingetreten war, und wendete sich sodann an Mrs. Nickleby, dabei Kate nicht aus den Augen lassend, als wolle er den Eindruck beobachten, den seine Worte auf sie machten.

»Also, hören Sie mich an, Madame!« begann er. »Ich will nicht annehmen, daß Sie Anteil genommen haben an dem Brief, den mir Ihr Sohn neulich zugeschickt hat. Ich glaube nicht, daß Ihr Rat und Ihre vieljährige Erfahrung irgendwelchen Einfluß auf ihn haben.«

Mrs. Nickleby schüttelte den Kopf und seufzte, als ob ihr Schwager damit leider nur zu sehr die Wahrheit gesprochen habe.

»Und aus diesem Grunde wende ich mich an Sie, Madame«, nahm Ralph seine Rede wieder auf. »Aus diesem Grunde und lediglich deshalb bin ich heute abend hier. Ich wünsche nicht einen Schimpf seitens dieses jungen Burschen da auf mir sitzen zu lassen, den ich verstoßen mußte und der hinterdrein in seiner knabenhaften Aufgeblasenheit – ha ha – so tat, als stoße er mich von sich. Außerdem habe ich noch einen andern Beweggrund: Menschenliebe. Ich komme«, er sah sich mit einem triumphierenden Lächeln um und legte auf seine Worte so viel Nachdruck, wie er nur irgend konnte, »um einem Vater sein Kind wieder zuzuführen. Jawohl, Bürschchen«, wendete er sich an Nikolas, der sich verfärbte, »um einem Vater sein Kind wieder zuzuführen. Denselben Knaben, den du entführt hast in der niederträchtigen Absicht, ihn des kleinen Erbteils, das er seinerzeit zu gewärtigen hat, zu berauben.«

»Sie wissen selbst gut genug, daß das alles nur Lügen sind«, sagte Nikolas stolz.

»Ich weiß nur zu gut, daß ich die Wahrheit spreche, denn der Vater steht hier«, erwiderte Ralph.

»Jawohl, hier«, höhnte Squeers vortretend. »Verstehen Sie? Hier! Habe ich Ihnen nicht immer gesagt, Sie sollten sich in acht nehmen und daß sein Vater plötzlich hervortreten und ihn mir zurückschicken werde? Sein Vater ist mein Freund, und der Junge hat mir sofort wieder übergeben zu werden. Was sagen Sie jetzt? – Was? Es tut Ihnen wahrscheinlich leid, sich umsonst so viel Mühe gegeben zu haben. Haha.«

»Sie tragen gewisse Denkzettel an Ihrem Körper«, sagte Nikolas ruhig, »die ich Ihnen versetzt habe, und Sie können reden, solange Sie wollen. Sie werden lange schwätzen müssen, bis Sie die Erinnerung daran austilgen, Mr. Squeers.«

Der Pädagog warf einen hastigen Blick nach dem Tisch, offenbar in der Absicht, Nikolas einen Krug oder eine Flasche an den Kopf zu werfen, aber Ralph vereitelte seine Absicht, stieß ihn mit dem Ellbogen an und forderte ihn auf, Smikes Vater hereinzurufen.

Mr. Squeers paßte das sehr in den Kram, und er gehorchte ohne Zögern. Fast unmittelbar darauf kehrte er in Begleitung des dicken Herrn mit dem glatt gescheitelten Haar, der niemand anders war als Mr. Snawley, zurück. Sofort fuhr dieser auf Smike zu, drückte den Kopf des Ärmsten mit einer höchst ungeschickten und plumpen Herzlichkeit unter seinen Arm, lüftete seinen breitkrempigen Hut zum Zeichen frommen Dankes und rief: »Ach, wie wenig hoffte ich auf ein so freudiges Wiedersehen, als ich ihn das letzte Mal sah – ach, wie wenig!«

»Mäßigen Sie sich, Sir«, sagte Ralph in einem rauhen Ton, der offenbar Mitgefühl andeuten sollte, »Sie haben ihn ja jetzt wieder.«

»Hab' ich ihn? Oh, hab' ich ihn wirklich? Ist es kein Traum?« rief Mr. Snawley, offenbar unfähig, seinen Augen zu trauen. »Ja, da steht er, wie er leibt und lebt; mein Fleisch und Blut!«

»Ja, aber sehr wenig Fleisch«, warf John Browdie hin.

Mr. Snawley war durch seine väterlichen Gefühle viel zu sehr in Anspruch genommen, als daß er auf diese spöttische Bemerkung hätte achten können, um aber um so vollständiger das Glück, sein Kind wiedergefunden zu haben, zu genießen, klemmte er Smikes Kopf abermals unter seinen Arm und behielt ihn dort.

»Was war es«, rief er, »das mir ein so lebhaftes Interesse für ihn einflößte, als ihn dieser würdige Pädagog in mein Haus brachte! Was war es nur, das mich mit einem so brennenden Verlangen erfüllte, ihm eine wohltätige strenge Züchtigung dafür angedeihen zu lassen, daß er seinem besten Freunde entlaufen war, seinem Seelenhirten und Lehrer.«

»Es war die Stimme der Natur! Der väterliche Instinkt, Sir!« sagte Squeers.

»Ja, das muß es wohl gewesen sein«, versetzte Snawley. »Das erhabene Gefühl – das Gefühl der alten Römer und Griechen, das der Tiere des Feldes und der Vögel der Luft – mit Ausnahme der Kaninchen und Kater, die bisweilen ihre Nachkommen auffressen sollen. Mein Herz sehnte sich nach ihm, ich hätte ihm, ich weiß nicht was, in meinem väterlichen Zorn antun können.«

»Ja, ja, es ist eine wunderliche Sache um die Natur«, sagte Mr. Squeers andächtig.

»Es ist etwas Heiliges, Sir!« bemerkte Snawley.

»Ach, wie wahr, Sir«, fügte Mr. Squeers mit einem moralischen Stoßseufzer hinzu. »Ich möchte überhaupt wissen, wie wir ohne Natur auskommen könnten. Die Natur«, betonte er feierlich, »läßt sich leichter begreifen als beschreiben. Wie herrlich ist es doch, in einem natürlichen Zustande zu leben, Sir.« Die Umstehenden hatten diese philosophischen Betrachtungen mit namenlosem Erstaunen angehört, während Nikolas mit Gefühlen des Abscheus, des Zweifels und der Überraschung bald Snawley, bald Squeers, bald Ralph scharf ins Auge faßte. Als der Pädagog mit seinen Tiraden glücklich zu Ende war, riß sich Smike von seinem Vater los, flüchtete sich zu Nikolas und flehte ihn an, ihn bei sich zu behalten und in seinem Hause leben und sterben zu lassen.

»Wenn Sie wirklich der Vater dieses jungen Menschen sind«, rief Nikolas »so sehen Sie sich einmal dieses unglückliche, verwahrloste Geschöpf an und wiederholen Sie dann, wenn Sie es wagen, daß Sie noch immer die Absicht haben, ihn in die Verbrecherhöhle zurückzuschicken, aus der ich ihn befreit habe.«

»Abermals eine Injurie«, frohlockte Squeers, »Sie sind zwar keinen Schuß Pulver wert, aber ich werde es Ihnen doch eintränken.«

»Halt«, fiel Ralph ein, als Snawley abermals eine Rede schwingen wollte, »machen wir die Sache kurz und verschwenden wir nicht soviel Worte an diesen albernen Taugenichts. Sie können beweisen, daß dies hier Ihr Sohn ist, Mr. Snawley, und Sie, Mr. Squeers, erkennen Sie in ihm denselben jungen Menschen, der viele Jahre bei Ihnen unter dem Namen Smike lebte?«

»Wie sollte ich nicht!« entgegnete Squeers.

»Gut«, sagte Ralph, »wir werden hier bald fertig sein. – Sie hatten einen Sohn aus erster Ehe, Mr. Snawley?«

»Allerdings. Denselben, der hier steht«, versetzte der Ehrenmann.

»Das wird sich bald ermitteln lassen«, fuhr Ralph fort. »Sie wurden von Ihrer ersten Frau geschieden, und sie nahm den Knaben zu sich, als er ein Jahr alt war? Nach zweijähriger Trennung erhielten Sie von ihr die Nachricht, der Knabe sei gestorben, und Sie glaubten es?«

»Natürlich glaubte ich es«, rief Snawley. »Oh, die Freude, daß ich ihn wiederhabe –«

»Bitte, bleiben Sie bei der Sache, Sir«, mahnte Ralph. »Es handelt sich hier lediglich um eine Geschäftssache, und Freudeausbrüche haben nichts mit einer solchen zu schaffen. Die Frau starb ungefähr vor anderthalb Jahren auf dem Lande als Haushälterin in einer Familie, nicht wahr?«

»Jawohl.«

»Sie schrieb Ihnen auf dem Sterbebette einen Brief oder, besser gesagt, ein Bekenntnis hinsichtlich dieses Knaben, das, da die Adresse nur Ihren Namen enthielt und sonst nichts, erst vor wenigen Tagen, nachdem es durch viele Hände gegangen war, an Sie gelangte?«

»Sehr richtig«, versetzte Snawley, »wahr bis aufs i-Tüpfelchen.«

»Und dieses Bekenntnis«, sprach Ralph weiter, »enthielt die Versicherung, daß der Tod des Kindes nur eine Erfindung von ihr war, um Sie zu verwunden – mit einem Wort, es war ein Teil des Quälsystems, das sie Ihnen gegenüber in Anwendung brachte. Auch setzte sie hinzu, daß der körperlich und geistig zurückgebliebene Junge durch eine zuverlässige Person einer Schule in Yorkshire übergeben worden sei? Ferner, daß sie einige Jahre hindurch die Erziehungskosten bezahlt, dann aber wegen Armut und allzu weiter Entfernung ihres Wohnortes allmählich die Hand von ihm abgezogen habe – was ihr Gott verzeihen möge?«

Snawley nickte und wischte sich die Augen, ersteres leicht, letzeres heftig.

»Es war Mr. Squeers' Schule«, fuhr Ralph fort. »Der Junge blieb dort unter dem Namen Smike. Die übrigen Angaben stimmen genau mit Mr. Squeers' Büchern überein. Ihre zwei andern Knaben sind ebenfalls dort in der Schule, und Mr. Squeers wohnt zur Zeit hier bei Ihnen? Sie teilten ihm die ganze Entdeckung mit, und er brachte Sie zu mir, und ich führte Sie hierher? Ist's nicht so?«

»Sie sprechen Wort für Wort nichts als die Wahrheit, Sir«, schluchzte Snawley.

»Und diese Ihre Brieftasche hier«, Ralph zog eine solche hervor, »enthält Ihren ersten Eheschein, das Taufzeugnis des Jungen, die zwei Briefe Ihrer Frau und weitere Dokumente, die Ihre Angaben direkt und indirekt bewahrheiten können, nicht wahr?«

»Jawohl, Sir.«

»Und Sie haben nichts dagegen, wenn man hier Einsicht davon nimmt, damit man sich überzeugen kann, daß es in Ihrer Macht steht, Ihre Ansprüche vor Gericht geltend zu machen und sofortige Zurückgabe Ihres Sohnes zu erzwingen? Habe ich Sie recht verstanden?«

»Silbe für Silbe.«

»Also gut«, schloß Ralph und warf die Brieftasche auf den Tisch, »so, man mag sich überzeugen, wenn's gefällig ist. Falls es aber Originaldokumente sind, so möchte ich Ihnen empfehlen, Mr. Snawley, gut darauf achtzugeben, damit Ihnen nicht etwa eins abhanden kommt.«

Mit diesen Worten ließ sich Ralph uneingeladen nieder, kniff die Lippen zusammen, die er für einen Augenblick zu einem leichten Lächeln verzogen hatte, verschränkte die Arme und sah jetzt zum erstenmal seinem Neffen ins Gesicht.

Nikolas, erbittert durch den perfiden Ausfall in Ralphs Schlußworten, warf ihm einen entrüsteten Blick zu, nahm sich aber, so gut er konnte, zusammen und untersuchte die Dokumente aufs sorgfältigste, wobei ihm John Browdie über die Schulter sah. Sie enthielten nichts, was man hätte beanstanden können. Die kirchlichen Dokumente waren beglaubigte Auszüge aus den Kirchenbüchern, der erste Brief hatte ganz das Aussehen, als sei er vor Jahren geschrieben und lange aufbewahrt worden, und die Handschrift des zweiten stimmte genau mit dem ersten überein, sofern man den Umstand, daß er auf einem Sterbebette geschrieben worden, mit in Anschlag brachte. Und schließlich waren auch noch andere die Tatsachen bekräftigende Papiere und Notizen vorhanden, die ebenfalls nicht gut in Zweifel gezogen werden konnten. »Lieber Nikolas«, flüsterte Kate, die ängstlich zugesehen, wie ihr Bruder alles geprüft hatte, »verhält es sich wirklich so? Sind die Angaben wahr?«

»Ich fürchte«, erwiderte Nikolas. »Was sagen Sie dazu, John?«

Mr. Browdie kratzte sich hinter den Ohren, schüttelte den Kopf und schwieg.

»Sie werden bemerken, Madame«, wendete sich Ralph zu Mrs. Nickleby, »daß wir das Gesetz für uns haben, da der junge Mensch minderjährig und schwachsinnig ist. Ich würde sofort zu energischen Maßregeln geschritten sein, Madame, wenn ich nicht Ihre Gefühle und die Ihrer Tochter berücksichtigt hätte.«

»Sie haben Ihre Gefühle bereits sehr klar an den Tag gelegt«, sagte Nikolas und zog seine Schwester näher an sich.

»Ich danke dir«, versetzte Ralph, »dein Lob, Monsieur, ist eine große Empfehlung.«

»Also«, fiel Squeers ein, »was tun wir jetzt? Das Droschkenpferd wird sich erkälten, wenn wir nicht bald aufbrechen. Einmal hab' ich's schon niesen hören, daß die Haustüre fast aufgeflogen wäre. Also wie steht die Sache? He? Wird der junge Mr. Snawley mitgehen?«

»Nein, nein, nein«, jammerte Smike und klammerte sich an Nikolas. »Nein, ich bitte, nein. Ich will nicht von Ihnen fort. Nein, nein.«

»Ach, das ist herzzerbrechend«, stöhnte Snawley und forderte seine Freunde durch Blicke zum Beistand auf. »Dazu schenken Eltern ihren Kindern das Leben?!«

»Vielleicht dazu, daß sie sie nachher solchen Leuten übergeben?« versetzte John Browdie derb und deutete auf Squeers.

»Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten«, rief der Pädagog und griff sich höhnisch an die Nase.

»Ja, das möcht' Ihnen passen, daß sich niemand um Ihr Treiben kümmert«, zürnte Mr. Browdie. »Eben grad, weil sich niemand um derlei Sachen kümmert, kommts, daß solche Schweinehunde wie du ihr Wesen treiben können. Ha, wohin denn so geschwind? Was? Donnerwetter, renn mich nicht gleich um, Mensch!«

Der Yorkshirer ließ seinen Worten eine entsprechende Handlung folgen und versetzte Mr. Squeers, der auf Smike losfahren wollte, einen so geschickten Stoß vor die Brust, daß dieser auf Ralph Nickleby zurücktaumelte, darüber das Gleichgewicht verlor, den Wucherer beim Sturz mit sich riß und schwerfällig niederstürzte.

Das gab das Signal zu sehr scharfen Maßregeln. Inmitten des Tumultes, das durch Smikes Flehen und Bitten, das Weinen und Schreien der Frauen und das Ungestüm der Männer veranlaßt wurde, versuchten die drei Verbündeten einigemal, Smike mit sich zu ziehen. Squeers war bereits im Begriff, ihn hinauszuzerren, aber Nikolas, der bisher unschlüssig dagestanden und nicht wußte, was er tun sollte, erwischte seinen alten Feind am Kragen und rüttelte ihn so durch, daß ihm sämtliche Zähne im Munde klapperten. Dann stieß er ihn in den Flur hinaus und machte die Tür hinter ihm zu.

»So, und jetzt haben Sie die Güte, Ihrem Freunde gefälligst zu folgen«, wendete er sich an die beiden andern.

»Ich will meinen Sohn zurückhaben!« rief Snawley.

»Ihr Sohn hat für sich selbst gewählt«, erklärte Nikolas. »Er zieht vor hierzubleiben, und das soll er auch.«

»Sie wollen mir ihn also nicht zurückgeben?«

»Wenigstens nicht gegen seinen eigenen Willen«, sagte Nikolas. »Solang' ich's verhindern kann, soll er nicht wieder das Opfer der tierischen Behandlung werden, der Sie ihn schon einmal preisgaben – nein, nicht einmal, wenn er ein Hund wäre oder eine Ratte.«

»Schlagen Sie den Burschen mit dem Leuchter nieder!« rief Mr. Squeers durch das Schlüsselloch herein, »und bringen Sie mir meinen Hut heraus, damit er mir nicht abhanden kommt!«

»Ich bin wirklich aufs tiefste bekümmert«, klagte Mrs. Nickleby, die mit Mrs. Browdie weinend in der Ecke gestanden hatte, während Kate zwar äußerlich blaß, aber vollkommen ruhig, ihrem Bruder so nahe wie möglich geblieben war, »wirklich, ich bin über alles das, was hier vorgefallen ist, aufs tiefste bekümmert. Ich weiß mir wirklich gar keinen Rat mehr. Natürlich wird es einem nicht leicht, anderer Leute Kinder zu ernähren, trotzdem der junge Mr. Snawley so außerordentlich dienstbereit ist, wie nur irgend jemand, aber wenn sich die Sache in Frieden beilegen ließe – wenn zum Beispiel der alte Mr. Snawley eine feste Summe für Kost und Wohnung auswerfen wollte und man in der Weise übereinkäme, daß man allenfalls zweimal in der Woche Fisch und zweimal in der Woche einen Pudding oder etwas derart gäbe –, so würde das, wie ich glaube, für alle Teile gleich befriedigend und angenehm sein.«

Ihr unter vielen Tränen und Seufzern vorgebrachter Vermittlungsversuch wurde natürlich von niemand berücksichtigt, und sie schickte sich daher an, Mrs. Browdie die Vorteile eines solchen Entwurfs unter vier Augen in der Ecke in aller Form auseinanderzusetzen und auf die unglücklichen Folgen aufmerksam zu machen, die jedesmal daraus erwuchsen, daß man ihrem Rate nie folge.

»Du bist ein unnatürliches undankbares Kind, das keine Liebe verdient«, rief Mr. Snawley dem verängstigten Smike zu, »du stößt das Vaterherz zurück, das deiner begehrt. Du willst nicht mit mir gehen, was?«

»Nein, nein, nein«, jammerte Smike zurückweichend.

»Er hat überhaupt nie jemand geliebt«, brüllte Squeers durch das Schlüsselloch, »weder mich noch Wackford, der doch gewiß ein Engel ist. Wie können Sie erwarten, daß er seinen Vater lieben sollte? Er wird ihn nie lieben; er weiß nicht, was es heißt, einen Vater haben; er hat keinen Begriff davon. Er hat keine Spur von kindlichem Gefühl in sich.«

Eine Minute lang blickte Mr. Snawley fest auf seinen Sohn, bedeckte dann die Augen mit der Hand, lüftete seinen Hut und beklagte innerlich den Undank seines Sprößlings. Dann wischte er sich mit dem Ärmel die Augen, nahm Mr. Squeers' Hut in die eine und den eigenen in die andere Hand und ging langsam und traurig hinaus.

»Ich denke, dein Roman ist zu Wasser geworden«, wendete sich Ralph, der noch eine Weile zurückblieb, an Nikolas. »Du hast es nicht mit einem unbekannten verfolgten Sohne eines Mannes von hohem Range, sondern mit einem geistesschwachen Sprößling eines simpeln Gewerbetreibenden zu tun. Wir werden schon sehen, wie dein Mitgefühl gegenüber dieser einfachen Tatsache in nichts zusammenschmilzt.«

»Ja, das werden Sie sehen«, sagte Nikolas und deutete zur Tür.

»Ich habe mir auch keinen Augenblick träumen lassen«, fuhr Ralph fort, »daß du ihn heute abend herausgeben würdest. Dein Stolz, dein Hochmut und dein sogenannter edler Sinn lassen dies nicht zu. Aber wir werden dich schon herunterstimmen und dich demütigen, Bürschchen. Und zwar sehr bald. Ich werde dich heimsuchen mit den Aufregungen und den unerschwinglichen Kosten eines Prozesses in seiner bedrückendsten Form, mit seiner stündlichen Folter, mit seinen langen Tagen und seinen schlaflosen Nächten; ich werde dich schon brechen, so stark du dir auch vorkommen magst. Wenn du dieses Haus dann zur Hölle gemacht hast und deinen Verdruß und deinen Ärger an dem Burschen dort und an denen, in deren Augen du jetzt als junger makelloser Held dastehst, auslassen wirst, dann wird die Zeit da sein, wo wir miteinander abrechnen. Dann werden wir sehen, wer der Schuldner ist und wer am besten besteht – selbst vor der Welt.«

Ralph Nickleby ging, aber Squeers, der einen Teil dieser Rede noch mit angehört und mittlerweile vor ohnmächtiger Wut fast außer sich geraten war, konnte sich nicht enthalten, nochmals für einen Augenblick in das Zimmer zurückzukehren und dort mit scheußlichen Gesichtsverzerrungen und Grimassen ein paar Dutzend Bocksprünge zu machen, um seine Zuversicht auf Nikolas' Niederlage und Verderben damit auszudrücken.

Nachdem er seinen Kriegstanz beendet, wobei sich seine zu kurzen Hosen und weiten Stiefel in ihrem besten Lichte gezeigt hatten, folgte er seinen Freunden, und der Familie blieb nunmehr Muße, über alles, was vorgefallen war, nachzudenken.


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