Charles Dickens
Nikolas Nickleby
Charles Dickens

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12. Kapitel

Der weitere Verlauf der Liebesgeschichte Miss Fanny Squeers'

Es war ein Glück für Miss Fanny Squeers, daß ihr würdiger Papa, als er abends spät nach Hause kam, zu stark angesäuselt war, um die zahlreichen Merkmale höchsten Verdrusses zu gewahren, die sich unverhüllt in ihren Zügen aussprachen. Da er gewöhnlich, wenn er zuviel »geladen« hatte, ziemlich heftig und streitsüchtig zu sein pflegte, so war die junge Dame klugerweise darauf bedacht gewesen, zur Ableitung des ersten Unwetters einen Zögling parat zu halten. Als der Ehrenmann seine Fußtritte und Fauststöße denn auch glücklich angebracht hatte, beruhigte er sich allmählich so weit, daß er sich gestiefelt und mit seinem Regenschirm unter dem Arm ins Bett legen konnte.

Das ausgehungerte Dienstmädchen begleitete Miss Squeers wie gewöhnlich nach dem Schlafgemach, um ihr daselbst das Haar aufzustecken, sonstige kleine Toilettendienste zu erweisen und ihr soviel Schmeicheleien zu sagen, als sie in der Geschwindigkeit auszudenken vermochte, denn Miss Squeers war träge und überhaupt eitel und leichtfertig genug, um eine vornehme Dame zu spielen, zu der ihr allerdings die übrigen Eigenschaften stark abgingen.

»Wie schön sich Ihr Haar heut abend kräuselt, Miss«, begann die Zofe. »Es is wirklich jammerschad, es zu kampeln.«

»Halt's Maul«, fuhr Miss Squeers sie zornig an.

Dem Mädchen waren dergleichen Ausbrüche nichts Neues, als daß sie darüber hätte überrascht sein können, und da sie halb und halb eine Vermutung hinsichtlich der stattgefundenen Vorfälle des Abends hatte, so änderte sie ihren Operationsplan, mit dem sie sich angenehm zu machen gedachte, und schlug einen indirekten Weg ein.

»Ach, Miss«, sagte sie daher, »i kann mir nöt helfen, aber es muß raus, und wann i dersticken sollt. In mein ganzen Lebn is mir noch nie a so a gemeines Aufsehen vorkommen als heut abend beim Fräulein Price.«

Miss Squeers seufzte und spitzte die Ohren.

»I weiß, es is unrecht von mir, daß i a so sprich«, fuhr das Mädchen fort, hocherfreut, daß ihre Worte Eindruck machten, »denn's Fräulein Price geht mir über alls, aber sich a so rausputzen! – O mei, wann sich halt die Leut selber segn kunnten!«

»Wie meinst du das, Phib?« fragte Miss Squeers mit einem Blick in den Handspiegel, wo sie natürlich nicht sich selbst, sondern ein anmutiges Bild ihrer Einbildungskraft erblickte. »Wie kannst du nur so sprechen?«

»Wie i a so sprechen kann, Fräul'n, Grund gnua is do, daß drüber sogar a alter Kater französisch sprechen kunnt«, versetzte die »Zofe« bilderreich. »Bloß oschaug'n braucht mer's, wias den Kopf hin und her schlenkert.«

»Sie trägt allerdings den Kopf hoch«, murmelte Miss Squeers scheinbar zerstreut.

»So eitel und doch is so gar nix an ihr.«

»Arme Tilda!« seufzte Miss Squeers.

»Und wia tief s' ausg'schnitten is! Daß sie sich nöt schamt!«

»Ich darf solche Äußerungen nicht gestatten, Phib«, verwies Miss Squeers, »Tildas Verwandte sind ordinäre Leute, und wenn sie es nicht besser weiß, so ist es die Schuld ihrer Familie und nicht die ihrige.«

»Jawoll«, sagte Phöbe, auch Phib genannt. »Aber könnt sie sich nöt a Freundin zum Muster nemman? Was für a artiges Frauenzimmer kunnt nöt mit der Zeit aus ihr werden, wann so sich zum Beispiel nach Ihna richten möcht!«

»Phib!« versetzte Miss Squeers mit würdevoller Miene. »Es ziemt sich nicht, daß ich solche Vergleiche mit anhöre. Du setzest Tilda herab, und es könnte als unfreundlich von mir ausgelegt werden, wenn ich es weiter dulden würde. Sprich daher von etwas anderm, Phib, denn, wenn ich auch zugeben muß, daß Tilda Price, wenn sie sich irgend jemand zum Muster nehmen wollte – ich meine nicht gerade mich –«

»O ja, grad Ihna, Fräul'n.«

»Also meinetwegen mich, wenn du es schon haben willst«, fuhr Miss Squeers fort. »Ich gebe zu, daß sie, wenn sie es tun wollte, weit besser dabei fahren würde.«

»Ja, und i müßt mich sehr irren, wann nöt jemand anderer a no der gleichen Meinung war«, versetzte das Mädchen geheimnisvoll.

»Was willst du damit sagen?« fragte Miss Squeers neugierig.

»Nix B'sonders, Fräul'n. Aber was i weiß, weiß i.«

»Phib!« entgegnete Miss Squeers theatralisch. »Ich bestehe darauf, daß du dich näher erklärst. Was sollen diese geheimnisvollen Worte? Sprich!«

»No, wann S's grad haben wollen, Fräul'n, so muß i halt mit der Farb außer. Der Herr Bräutigam von ihr is der gleichen Meinung mit Ihna. Und wann er nöt schon so weit gangen wäre, um nöt guat zrucktreten z'könna, so möcht er s' mit Freuden laufen lassen und bei Ihna, Fräul'n, anz'kommen suchn.«

»Gott im Himmel!« rief Miss Squeers, überwältigt die Hände zusammenschlagend. »Was sagst du da?«

»Die Wahrheit, Fräul'n, nix als die Wahrheit«, beteuerte die schlaue Phöbe.

»Welche Lage!« rief Miss Squeers. »So bin ich also, ohne es zu ahnen, in Gefahr, das Glück und den Frieden meiner lieben Tilda zu zerstören! Was ist doch nur der Grund, daß die Männer, ich mag wollen oder nicht, sich so rasend in mich verlieben und um meinetwillen ihren Bräuten abtrünnig werden?!«

»So könnan halt nöt anders; zum Verwundern is dös net«, erklärte das Mädchen.

»Rede mir nie wieder so!« verwies Miss Squeers streng. »Nie wieder, hörst du? Tilda hat Fehler – viele Fehler, aber ich will ihr Bestes und wünsche vor allem, daß sie unter die Haube kommt. Gerade wegen der Beschaffenheit ihrer Mängel ist es ihr zu wünschen, daß sie, je eher, desto besser, einen Mann kriegt. – Nein, Phib, sie soll nur ihren Browdie nehmen. Der arme Bursche dauert mich zwar, aber ich betrachte Tilda noch immer als meine Freundin und hoffe nur, daß sie sich als Ehefrau besser macht, als es wahrscheinlich der Fall sein wird.«

Nach diesem Gefühlserguß schlüpfte Miss Squeers in die Federn.

Sie wußte innerlich natürlich ganz genau, daß alles, was dieses armselige Geschöpf von einem Dienstmädchen gesagt hatte, nichts als faustdicke Lügen und Schmeicheleien war. Aber schon die Gelegenheit, ein bißchen Bosheit gegen ihre Freundin loslassen und ihren Mängeln und Schwächen gegenüber Mitleid heucheln zu können, und wäre es auch nur in Gegenwart eines armseligen Dienstmädchens, gewährte ihr eine fast ebenso große Erleichterung, als wenn alles, was zur Sprache gekommen, Evangelium gewesen wäre. Die Macht der Selbstbelügung geht überdies in den Stunden der Aufregung so weit, daß Miss Squeers in edelmütigem Verzicht auf John Browdies Hand sich außerordentlich großmütig und erhaben dünkte und im Geiste auf ihre Nebenbuhlerin mit einer Art göttlich-erhabenen Ruhe herabsehen konnte, die nicht wenig zur Besänftigung ihres Unmutes beitrug.

Als daher, ebenfalls in versöhnlichen Absichten, am andern Morgen die Müllerstochter gemeldet wurde, begab sich Miss Squeers im höchsten Grade christlich gestimmt in das Besuchszimmer.

»Du siehst, Fanny«, begann Tilda, »ich komme wieder zu dir, trotzdem wir uns gestern ein wenig gezankt haben.«

»Ich bedaure dich wegen deiner Leidenschaftlichkeit, Tilda«, erwiderte Miss Squeers, »aber ich bin darüber erhaben, dir etwas nachzutragen –«

»Also, dann maule jetzt nicht weiter, Fanny!« sagte Miss Price. »Ich bin hergekommen, um dir eine Mitteilung zu machen, über die du dich, wie ich hoffe, sehr freuen wirst.«

»Was könnte das sein, Tilda?« fragte Miss Squeers, warf die Lippen auf und machte ein Gesicht, als ob nichts in Feuer, Wasser, Luft und Erde imstande wäre, in ihr auch nur eine Spur des angedeuteten Gefühls zu erzeugen.

»Als wir gestern fortgingen, hatte ich mit John einen schrecklichen Streit.«

»Das kann mir doch keine Freude machen!« entgegnete Miss Squeers, konnte jedoch dabei ein wohlgefälliges Lächeln nicht unterdrücken.

»Lieber Gott, wie könnte ich auch so schlecht von dir denken? Das ist doch noch nicht alles.«

»So?« sagte Miss Squeers und legte ihr Gesicht wieder in düstere Falten. – »Also, was weiter?«

»Nachdem wir uns lange herumgezankt und erklärt hatten, uns nie wieder sehen zu wollen«, fuhr Miss Price fort, »vertrugen wir uns wieder, und John ging heute aufs Pfarramt, um für den nächsten Sonntag das erste Aufgebot zu bestellen. Wir feiern daher in drei Wochen unsere Hochzeit, und ich teile es dir mit, damit du rechtzeitig dein Brautjungfernkleid bestellen kannst.«

Das war Galle und Honig in einem Becher für Fanny Squeers. Galle insofern, als ihre Freundin schon so bald verheiratet sein würde, und Honig, weil daraus hervorging, daß sie keine ernsthaften Absichten auf Nikolas hatte. Im Ganzen wurde jedoch das Bittere durch das Süße so weit überwogen, daß Miss Squeers sich bereit erklärte, sich das Brautjungfernkleid unverzüglich machen zu lassen, und zugleich der Hoffnung Ausdruck gab, Tilda möge glücklich werden. Freilich könne man so etwas nie mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, und sie möchte ihr auch raten, nicht allzusehr darauf zu bauen, denn die Männer wären sämtlich höchst unbeständige Geschöpfe, und viele verheiratete Frauen wünschten sich in der Ehe von ganzem Herzen die schöne Zeit ihrer Mädchenjahre zurück. Diesen bittersüßen Trostsprüchen fügte Miss Squeers noch einige andere hinzu, die nicht minder edel erdacht waren, ihrer Freundin Lebensmut zu erhöhen.

»Um auf etwas anderes zu kommen«, brach denn auch Miss Price sogleich das Thema ab, »möchte ich gern ein paar Worte betreffs des jungen Nickleby mit dir sprechen.«

»Er ist mir vollkommen Luft«, erklärte Miss Squeers und kämpfte mühsam gegen einen Weinkrampf an, »ich verachte ihn zu sehr.«

»Das kann unmöglich dein Ernst sein. Sei aufrichtig, Fanny, du liebst ihn noch immer?«

Als Erwiderung brach Miss Squeers in einen Strom von Wuttränen aus und rief, daß sie ein elendes, vernachlässigtes, unglückliches, mit Füßen getretenes Wesen sei.

»Ich hasse die ganze Welt«, schloß sie ihren Gefühlserguß. »Ich wollte, alle Menschen wären tot.«

»Gott im Himmel, Fanny!« rief Miss Price, nicht wenig entsetzt über dieses freimütige Geständnis menschenfreundlicher Gesinnung. »Sag, daß das nicht dein Ernst ist.«

»Es ist mein voller Ernst«, beteuerte Miss Squeers, knirschte mit den Zähnen und knüpfte Knoten um Knoten in ihr Taschentuch, »und ich wollte, daß ich auch tot wäre.«

»Du wirst in fünf Minuten ganz anders denken«, tröstete die Müllerstochter. »Wäre es nicht viel besser, du würdest ihn wieder in Gnaden aufnehmen, als dich in dieser Weise selbst zu quälen? Und wäre es nicht viel hübscher, du verlobtest dich in aller Form und scharmiertest nach Herzenslust mit ihm?«

»Ich weiß nicht, wie das alles sein würde«, schluchzte Miss Squeers. »Ach Tilda, wie hast du nur so ehrlos und niederträchtig sein können? Ich würde es nie geglaubt haben, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.«

»O je, o je«, gluckste Miss Price, »man sollte ja rein glauben, ich hätte zum mindesten einen Mord begangen.«

»Es war fast ebenso schlecht«, versetzte Miss Squeers leidenschaftlich.

»Und alles das, bloß weil ich zufällig hübsch genug aussehe, um die Leute höflich gegen mich zu stimmen?« spöttelte Miss Price. »Ich will dir was sagen, Fanny. Niemand gibt sich sein Gesicht selber, und es ist ebensowenig meine Schuld, wenn das meinige hübsch ist, als es die Schuld anderer Leute ist, wenn man das ihnen nicht nachsagen kann.«

»Halt's Maul!« schrie Miss Squeers in ihren schrillsten Tönen.

»Oder du hast dir's selbst zuzuschreiben, wenn ich dir eine herunterhau', Tilda – was mir hinterdrein doch wieder leid tun würde.«

Durch diese Wortwendung bekam der Ton der Unterhaltung fast einen beinahe persönlichen Anstrich; die Heftigkeit der jungen Damen steigerte sich zusehends und artete schließlich derart aus, daß beide Teile in Tränen ausbrachen und gleichzeitig ausriefen, sie hätten es nie und nimmer gedacht, je eine solche Behandlung erfahren zu müssen. Das führte naturgemäß zu Erörterungen und Gegenvorstellungen, und der Schluß war, daß sie sich in die Arme fielen und einander aufs neue ewige Freundschaft schwuren. Nebenbei bemerkt, war diese ergreifende Zeremonie nicht die erste, sondern bereits die zweiundfünfzigste in diesem Jahr.

Als das gute Einvernehmen wieder völlig hergestellt war, kamen die jungen Damen auf die Anzahl und Beschaffenheit der Kleider zu sprechen, die Miss Price für ihren Eintritt in den heiligen Stand der Ehe notwendigerweise haben müsse, und Miss Squeers wies unwiderleglich nach, daß in dieser Hinsicht bedeutend mehr getan werden müsse, als der Müller aufwenden konnte oder wollte, wenn man nicht jede Standesrücksicht außer acht zu lassen beabsichtigte. Die junge Dame leitete dann das Gespräch durch eine geschickte Wendung auf ihre eigene Garderobe und führte, nachdem sie deren Hauptfinessen eingehend beleuchtet, ihre Freundin in ihr Zimmer hinauf, damit sie sich persönlich überzeugen könne. Hier wurden die Schätze von zwei Kommoden und einem Wandschrank ausgekramt und so lange hin und her probiert, bis es für Miss Price allmählich Zeit wurde, nach Hause zu gehen. Da sie über die gesehene Pracht ganz entzückt und von einer rosa Schärpe förmlich hingerissen war, erklärte sich Miss Squeers, versöhnlich gestimmt, bereit, sie noch eine Strecke begleiten zu wollen, um noch länger das Vergnügen ihrer Gesellschaft zu genießen. Sie verließen daher beide Arm in Arm das Haus, und während des Spazierganges erging sich Miss Squeers des längeren über die hohen Eigenschaften ihres Vaters, wobei sie zugleich, um ihrer Freundin einen schwachen Begriff von dem hohen Rang ihrer Familie zu geben, sein Einkommen mit zehn multiplizierte.

Es war gerade um die Zeit zwischen Mittagessen und dem Beginne des Unterrichtes, und Nikolas benützte die freie Stunde wie gewöhnlich zu einem Spaziergang. Niedergedrückt schlenderte er durch das Dorf. Miss Squeers wußte dies sonst recht gut, mußte es aber diesmal vergessen haben, denn als sie den jungen Mann auf sich zukommen sah, war sie aufs äußerste überrascht und bestürzt und flüsterte ihrer Freundin zu, ihr sei, als müsse sie in die Erde sinken.

»Sollen wir umkehren oder geschwind in ein Bauernhaus flüchten?« fragte Miss Price besorgt. »Er hat uns noch nicht gesehen.«

»Nein, Tilda«, hauchte Fanny. »Es ist die Pflicht jedes Menschen, sich zu überwinden. Daher auch die meinige.«

Miss Squeers sagte dies mit allen Anzeichen heftigsten Seelenkampfes, und da sie überdies krampfhaft nach Luft schnappte, erlaubte sich ihre Freundin keine weitere Widerrede. Sie gingen daher geradewegs auf Nikolas zu, der, die Augen niedergeschlagen, einherschlenderte und der beiden jungen Damen erst ansichtig wurde, als sie bereits ganz in seiner Nähe waren.

»Guten Morgen«, grüßte er mit einer kühlen Verbeugung und schritt vorüber.

»Er geht!« ächzte Miss Squeers. »Ich ersticke, Tilda.«

»Ach, Mr. Nickleby«, rief Miss Price und tat, als beunruhige sie der Zustand ihrer Freundin, während ihr in Wirklichkeit der boshafte Wunsch, zu hören, was Nikolas sagen würde, keine Ruhe ließ, »ach, Mr. Nickleby – Mr. Nickleby!«

Nikolas kam sofort zurück und fragte einigermaßen verwirrt, womit er den Damen dienen könne.

»Reden Sie nicht lange«, drängte Miss Price, »sondern unterstützen Sie sie auf der anderen Seite. – Wie ist dir jetzt, liebe Fanny? Schon besser?«

»Besser«, seufzte Miss Squeers und lehnte ihren rötlichbraunen, mit einem grünen Schleier geschmückten Hut an Nikolas' Schulter. »Ach, diese törichte Schwäche.«

»Nenne sie nicht töricht, liebe Fanny«, sagte Mathilde Price, deren Augen vor Vergnügen über die Verwirrung des Hilfslehrers strahlten, »du hast keinen Grund, dich ihrer zu schämen. – Es sollten sich vielmehr die schämen, die zu stolz sind, etwas wiedergutzumachen, was sie angestellt haben.«

»Sie sind, wie ich sehe, willens, mich noch weiter zu necken«, sagte Nikolas lächelnd, »trotzdem ich Ihnen bereits gestern gesagt habe, daß ich mir keiner Schuld bewußt bin.«

»Hörst du es? Er sagt, er sei sich keiner Schuld bewußt, meine Liebe!« wiederholte die gottlose Miss Price boshaft. »Vielleicht warst du zu eifersüchtig oder zu vorschnell gegen ihn. Er sagt, er sei unschuldig. Ist das nicht Entschuldigung genug?«

»Es scheint, Sie wollen mich absichtlich falsch verstehen«, fiel ihr Nikolas hastig ins Wort. »Ich bitte Sie wirklich recht sehr, mich bei Ihren Scherzen aus dem Spiel zu lassen. Ich habe wahrhaftig keine Zeit dazu und bin auch nicht in der Laune, in dem gegenwärtigen Augenblicke die Zielscheibe Ihres Witzes abzugeben.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Miss Price mit geheucheltem Erstaunen.

»Frage ihn nicht, Tilda!« flehte Miss Squeers. »Ich verzeihe ihm.«

»Um Himmels willen«, rief Nikolas, als der braune Hut abermals auf seine Schulter sank, »die Sache scheint ernsthafter zu werden, als ich vermutete. Erlauben Sie, möchten Sie nicht die Güte haben, mich anzuhören?«

Mit diesen Worten hob er den braunen Hut in die Höhe. Als er jedoch zu seinem unverhohlenen Erstaunen einem Blicke zärtlichen Vorwurfs von Seiten Miss Squeers' darunter begegnete, wich er bestürzt einige Schritte zurück, um aus dem Bereich seiner schönen Bürde zu kommen.

»Es tut mir leid, gewiß aufrichtig leid«, stieß er dabei hervor, »daß ich gestern abends zu einer Mißhelligkeit zwischen Ihnen Anlaß gab. Ich habe mir selbst schon die bittersten Vorwürfe darüber gemacht, daß ich so ungeschickt war, dieses Zerwürfnis zu veranlassen, kann aber versichern, daß es unwissentlich und gegen meinen Willen geschah.«

»Gut, gut, aber das ist gewiß nicht alles, was Sie zu sagen haben«, rief Miss Price, als Nikolas innehielt.

»Ich fürchte es selber auch«, gab Nikolas mit einem gezwungenen Lächeln und einem Blick auf Miss Squeers zu. »Es ist allerdings höchst peinlich, aber –, gewiß, schon die bloße Andeutung einer solchen Vermutung setzt mich in Verlegenheit – aber, darf ich vielleicht fragen, ob die Dame annimmt, daß ich irgendwie – kurz, glaubt sie, daß ich vielleicht in sie verliebt bin?«

»Er sitzt köstlich in der Klemme«, frohlockte Miss Squeers, »endlich habe ich ihn soweit. – Antworte für mich, liebe Tilda«, flüsterte sie ihrer Freundin zu.

»Ob sie das glaubt?« rief Miss Price. »Natürlich glaubt sie es!«

»Sie glaubt es?« platzte Nikolas heraus mit einem Ungestüm, das der Laie vielleicht einen Augenblick sogar für Entzücken halten konnte.

»Gewiß«, versicherte Miss Price.

»Wenn es Mr. Nickleby bezweifelt hat, Tilda«, stammelte Fanny errötend, »so mag er sich beruhigen. – Seine Gefühle werden erwidert –«

»Um Gottes willen, halten Sie ein!« unterbrach sie Nikolas hastig. »Ich bitte, hören Sie mich an. Es waltet hier offenbar das seltsamste Mißverständnis ob, das man sich nur denken kann. Ich habe das Fräulein kaum ein halbes dutzendmal gesehen. Aber wäre es auch sechzigmal der Fall gewesen oder wenn ich sie noch sechzigtausendmal sehen würde, so würde das für mich gewiß nichts ändern. Es ist mir nicht im entferntesten jemals ein Gedanke, ein Wunsch oder eine Hoffnung in Verbindung mit ihr aufgestiegen, außer höchstens die – ich sage dies gewiß nicht etwa, um ihre Gefühle zu verletzen, sondern um ihr die wahre Beschaffenheit der meinigen zu erklären –, außer höchstens die, diesem Orte eines Tages den Rücken kehren zu können und nie wieder einen Fuß hierherzusetzen oder daran zurückzudenken, – ja nicht einmal anders daran zurückdenken zu dürfen als mit Abscheu und Entrüstung.«

Nach dieser wohl nicht mehr mißzuverstehenden offenherzigen Erklärung, die sich mit dem ganzen Ungestüm eines empörten und aufgeregten Herzens Bahn brach, verbeugte sich Nikolas leicht und entfernte sich, ohne eine Erwiderung abzuwarten. Miss Squeers war geradezu vernichtet. Ihr Ärger, ihr Zorn, ihre Wut und die rasche Aufeinanderfolge bitterster leidenschaftlicher Gefühle, die ihr Innerstes durchwühlten, spotteten einfach jeder Beschreibung. Zurückgewiesen von einem Hilfslehrer, den man durch eine Zeitungsannonce und gegen ein Jahresgehalt von fünf Pfund, zahlbar in unbestimmten Raten, aufgelesen hatte und hinsichtlich Kost und Wohnung ganz wie die Zöglinge selbst hielt! – Und dies noch obendrein in Gegenwart eines unreifen Gelbschnabels von Müllerstochter, die ihre achtzehn Jahre zählte und sich in drei Wochen mit einem Manne verheiraten sollte, der sie auf den Knien um ihr Jawort angefleht! Ersticken hätte Fanny Squeers mögen bei dem Gedanken an eine solche Demütigung.

Aber ungeachtet des Sturmes in ihrem Innern blieb ihr doch das eine klar, daß sie Nikolas mit der ganzen Engherzigkeit und Erbärmlichkeit eines Abkömmlings des Hauses Squeers haßte und verabscheute. Auch blieb ihr noch ein Trost übrig, nämlich, daß sie ja jede Stunde des Tages seinen Stolz verwunden und ihn durch kleine Gehässigkeiten, Kränkungen und Verkürzungen verletzen konnte – um so leichter, als diese von einem so feinfühligen Manne wie Nikolas doppelt bitter empfunden werden mußten. Durch diese Aussicht innerlich gestärkt, suchte Miss Squeers die Sache zu ihrem Vorteile zu drehen, indem sie zu ihrer Freundin bemerkte, Mr. Nickleby sei ein so wunderlicher Mensch und von so unüberlegtem Wesen, daß sie glaube, es sei wirklich das beste, ihn ganz aufzugeben. Und damit trennten sich die beiden jungen Damen.

»Er soll sich hüten«, knirschte sie aufgebracht, als sie wieder in ihrem Zimmer war und ihren Gefühlen durch einen Ausfall auf Phib ein wenig Erleichterung verschafft hatte. »Wenn die Mama zurückkommt, werde ich sie schon gegen ihn aufhetzen.«

Das war wohl kaum mehr nötig. Der arme Nikolas wurde auch sowieso, abgesehen von der schlechten Kost, der schmutzigen Wohnung und dem grausigen Elend, dessen Zeuge er unablässig sein mußte, mit jeder Art Herabwürdigung, die Bosheit und der niedrigste Haß zu ersinnen vermochte, behandelt.

Aber das war noch nicht alles. Es wurde noch ein anderes, tiefer einschneidendes Peinigungssystem erdacht, das ihn fast zur Verzweiflung brachte.

Der arme Smike nämlich folgte ihm, seit er im Schulzimmer so freundlich mit ihm gesprochen, in unermüdlicher Dienstbeflissenheit fast wie ein Hund nach, suchte ihm jeden kleinen Wunsch an den Augen abzulesen und fühlte sich glücklich, wenn er nur in seiner Nähe war. Stundenlang konnte er neben ihm sitzen und ihm stumm ins Gesicht sehen, während gar ein Wort aus Nikolas' Mund seine kummervollen Züge erhellte und ihn selig machte. Er war ein ganz anderes Wesen jetzt, denn sein Leben hatte einen Zweck bekommen – nämlich den, der einzigen Person, die ihn, wenn nicht gerade mit Liebe, so doch wie einen Menschen behandelt hatte, seine Anhänglichkeit zu beweisen.

An diesem armen Wesen wurde nun von früh bis spät abends jede erdenkliche Bosheit verübt, die man an Nikolas selbst nicht ausüben konnte. Die härtesten Arbeiten und Ohrfeigen hätte Smike nicht als etwas Absonderliches empfunden, denn viele schwere und gramvolle Jahre hatte er nichts anderes gekannt. Kaum hatte man aber bemerkt, wie er an Nikolas hing, als es Peitschenhiebe und Faustschläge nur so regnete. Squeers war eifersüchtig auf den Einfluß, den sein Hilfslehrer so bald erworben, die Familie haßte ihn, und Smike mußte beides entgelten. Nikolas mußte das alles untätig mit ansehen, wenn er auch mit den Zähnen knirschte, sooft sich ein solcher feiger und unmenschlicher Angriff auf den armen Smike wiederholte.

Er hatte gewisse regelmäßige Lehrstunden für die Zöglinge eingeführt, und eines Abends, als er in der wieder wie gewöhnlich ungastlichen Schulstube auf und ab ging und ihm das Herz bei dem Gedanken, daß sein Schutz und sein Wohlwollen das Elend eines so tief beklagenswerten Wesens nur noch vermehrte, fast brechen wollte, blieb er auf einmal unwillkürlich vor der dunklen Ecke stehen, in der Smike kauerte.

Der arme Junge saß mit rotgeweinten Augen emsig über einem zerrissenen Heft und mühte sich vergeblich ab, mit einer Aufgabe zustande zu kommen, die ein mit Durchschnittsfähigkeiten begabtes Kind von neun Jahren mit Leichtigkeit hätte lösen können, die aber für das verwirrte Gehirn des zertretenen neunzehnjährigen Burschen ein Buch mit sieben Siegeln bedeutete. Dessenungeachtet saß er da, die Seite geduldig wieder und wieder durchbuchstabierend, von dem krankhaft eifrigen Wunsche beseelt, seinem einzigen Freunde auf der Welt zu gefallen.

Nikolas legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Ich komme nicht damit zustande«, jammerte Smike niedergeschlagen und sah mit einem Schmerzensblick auf. »Es geht wirklich nicht.«

»Du sollst dich nicht so anstrengen«, tröstete Nikolas.

Smike schüttelte den Kopf, klappte das Heft mit einem Seufzer zu, stierte ausdruckslos um sich her, legte dann das Gesicht auf den Arm und weinte.

»Um Gottes willen hör auf«, sagte Nikolas erregt, »es zerreißt mir das Herz.«

»Man ist schlimmer gegen mich als je«, schluchzte der Junge.

»Leider, leider«, seufzte Nikolas.

»Aber für Sie könnte ich in den Tod gehen. – Ich weiß gewiß, sie haben es darauf abgesehen, mich unter die Erde zu bringen.«

»Du wirst es besser haben, armer Junge«, tröstete Nikolas und schüttelte traurig den Kopf, »wenn ich fort bin.«

»Fort?!« rief Smike und starrte Nikolas erregt ins Gesicht.

»Pst! Sprich leise«, warnte Nikolas.

»Sie wollen fort?« flüsterte Smike, außer sich.

»Ich kann es noch nicht bestimmt sagen. Ich habe mehr zu mir selbst gesprochen als zu dir.«

»Sagen Sie mir«, flüsterte der Junge, »Um Gottes willen, sagen Sie mir, wollen Sie wirklich gehen? – Wirklich?«

»Sie werden mich schließlich dazu zwingen«, murmelte Nikolas. »Und die Welt liegt offen vor mir.«

»Sagen Sie mir«, drängte Smike, »ist die Welt auch so furchtbar und grauenhaft wie dieser Ort?«

»Gott sei vor! Ihre schwerste und sauerste Arbeit wäre ein Glück gegen hier.«

»Würde ich Sie dort je wiedersehen?« fragte der Junge ungewöhnlich schnell und leidenschaftlich.

»Ja. – Sicherlich«, versetzte Nikolas, in der Absicht, ihn zu beschwichtigen.

»Nein, nein – nicht so«, keuchte Smike und ergriff Nikolas' Hand. »Würde ich – würde ich – es wirklich –? Sagen Sie mir es noch einmal. Geben Sie mir die Versicherung, daß ich Sie gewiß dort treffen würde.«

»Ja, du würdest es«, erwiderte Nikolas mit derselben wohlwollenden Absicht, »und ich könnte dir beistehen und müßte nicht neue Leiden über dich bringen, wie ich es hier getan habe.«

Smike drückte leidenschaftlich die Hände des jungen Mannes an seine Brust und murmelte einige abgerissene unverständliche Worte.

In diesem Augenblick trat Squeers ein.


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