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Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Erziehungsresultate.

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Mr. Pocket sagte, er freue sich, mich zu sehen, und hoffe, daß es mir nicht unlieb sei, seine Bekanntschaft zu machen. Denn, sagte er, mit dem Lächeln seines Sohnes, ich bin wirklich keine Furcht einflößende Persönlichkeit. Er war ungeachtet der häuslichen Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hatte, und seines sehr grauen Haares, ein jugendlich aussehender Mann, und sein Wesen schien sehr natürlich. Ich gebrauche das Wort natürlich hier in seiner Bedeutung als unaffectirt; es lag in seinem verstörten Wesen etwas Komisches, das geradezu lächerlich gewesen wäre, wenn er sich nicht bewußt gewesen wäre, daß es eben dem Lächerlichen sehr nahe war. Als er ein paar Worte mit mir gewechselt, sagte er – und zwar ein wenig ängstlich, wie es mir schien – zu Mrs. Pocket: »Belinda, ich hoffe, Du hast Mr. Pip bewillkommt?« Worauf sie von ihrem Buche aufblickte und »Ja« sagte. Darauf lächelte sie mir zerstreut zu und fragte mich, ob ich Orangeblütenwasser gern habe? Da die Frage nicht im entferntesten mit irgend etwas, das vorangegangen war oder möglicher Weise noch folgen konnte, in Verbindung stand, so bin ich der Ansicht, daß sie dieselbe nur, wie ihre früheren Bemerkungen, in allgemeiner, conversationeller Gastfreundschaft hinwarf.

Ich machte innerhalb weniger Stunden die Entdeckung, und darf der Sache gleich hier Erwähnung thun, daß Mrs. Pocket die Tochter irgend eines ganz zufällig verstorbenen Ritters war, der seinerseits in der strengen Ueberzeugung gelebt hatte, daß sein Vater, falls sich nicht irgend ein gewisser Jemand aus durchaus persönlichen Beweggründen entschieden dagegen aufgelehnt hätte – ich habe vergessen, wer dies war, d. h. falls ich es je gewußt habe, ob der Monarch, der Premierminister, der Lordkanzler, der Erzbischof von Canterbury oder wer sonst – Baronet geworden wäre, und daß er (Mrs. Pockets Vater) kraft dieser durchaus muthmaßlichen Thatsache dem Adel dieser Erde angehörte. Ich glaube, man hatte ihn zum Ritter gemacht, weil er in einer verzweifelten Rede auf starkem Velinpapier mit der Feder die englische Grammatik gestürmt hatte, als er bei Gelegenheit der Ecksteinlegung irgend eines beliebigen Gebäudes, dieser oder jener königlichen Personnage entweder den Mörtel oder die Maurerkelle überreichte. Sei dem wie ihm wolle, er hatte befohlen, Mrs. Pocket von ihrer Wiege an als ein Wesen zu erziehen, welches nach dem natürlichen Laufe der Dinge einen Titel erheirathen und deshalb vor der Erlernung plebejischer, häuslicher Kenntnisse bewahrt werden müsse. Und zwar war es diesem verständigen Vater gelungen, die Erziehung seiner Tochter nach dieser Richtung hin so vollständig zu überwachen und zu leiten, daß sie zu einer höchst eleganten, aber durchaus nutz- und hülflosen Dame herangewachsen war. Nachdem ihr Charakter auf diese vielversprechende Weise gebildet, hatte sie in der ersten Blüte ihrer Jugend Mr. Pocket kennen gelernt, welcher damals ebenfalls in der ersten Blüte der Jugend stand, und sich nur noch nicht bestimmt entschieden hatte, ob er den Wollsack besteigen, oder sich mit dem Bischofshut bedachen solle. Da dies einzig und allein eine Sache der Zeit war, hatten er und Mrs. Pocket vor der Hand und zwar ohne Wissen des verständigen Vaters einander geheirathet.

Da der höchst verständige Vater nichts als seinen Segen zu geben, oder zu versagen hatte, so mochte er ihnen, nach einem kurzen Kampfe, diese Mitgift großmüthiger Weise nicht länger vorenthalten, und hatte Mr. Pocket unterrichtet, seine Frau sei »ein Schatz für einen Prinzen«. Mr. Pocket hatte den Schatz seitdem nach der Weise der Welt angelegt, und man vermuthete, daß derselbe ihm nur mittelmäßige Zinsen eingetragen habe. Bei alledem war aber Mrs. Pocket der Gegenstand eines sonderbaren mit Achtung gepaarten Mitleids, weil sie keinen Titel erheirathete, während Mr. Pocket, nicht minder sonderbar, sich mit mild verzeihendem Tadel betrachtet sah, weil er nie einen bekommen hatte.

Mr. Pocket führte mich ins Haus und zeigte mir mein Schlafzimmer; dasselbe war höchst gemüthlich und so meublirt, daß ich es mit Bequemlichkeit als mein Privatwohnzimmer benutzen konnte. Dann klopfte er an die Thüren zweier ähnlichen Zimmer und stellte mich den Bewohnern derselben, den Herren Drummle und Startop vor. Drummle, ein ältlich aussehender junger Mann von schwerfälligem Bau, war beschäftigt, sich etwas vorzupfeifen. Startop, jünger den Jahren und dem Aussehen nach, las und hielt sich den Kopf dabei, als ob er sich in Gefahr glaube, denselben durch eine zu starke Ladung Wissenschaft zu sprengen.

Mr. Pocket sowohl wie seine Gemahlin hatten auf so auffallende Weise das Aussehen, als ob sie sich in anderer Leute Händen befänden, daß ich mich in Muthmaßungen erging, wer wohl eigentlich Herr im Hause sei und ihnen gestatte, in demselben zu wohnen, bis ich die Entdeckung machte, daß das Dienstpersonal diese unbekannte Gewalt sei. Es war dies vielleicht eine bequeme Art fortzukommen, da es Mühe ersparte; aber es sah aus, als ob es theuer sein müsse, denn die Dienerschaft betrachtete es als eine Pflicht gegen sich selbst, in ihrem Essen und Trinken eigen zu sein und viele Gesellschaft bei sich zu sehen. Sie gestatteten Mr. und Mrs. Pocket einen sehr wohl besetzten Tisch, dennoch aber schien es mir stets, daß man als Kostgänger in diesem Hause in der Küche am besten fahren würde – vorausgesetzt, daß man im Stande sei, sich selbst zu vertheidigen, denn ehe ich noch eine Woche dort gewesen war, schrieb eine Dame der Nachbarschaft, mit der die Familie keine persönliche Bekanntschaft hatte, sie habe gesehen, wie Millers das kleinste Kind geschlagen. Dies betrübte Mrs. Pocket außerordentlich; sie brach in Thränen aus und sagte, es sei höchst sonderbar, daß die Nachbarn sich nicht um ihre eigenen Angelegenheiten bekümmern könnten.

Allmälig erfuhr ich, und zwar hauptsächlich von Herbert, daß Mr. Pocket in Harrow und Cambridge studirt und sich sehr ausgezeichnet hatte; daß er aber, da er in seinen sehr jungen Jahren so glücklich gewesen sei, sich mit Mrs. Pocket zu vermählen, seine Lebensaussichten beeinträchtigt und sich genöthigt gesehen habe, sich der Beschäftigung eines Einpaukers zu widmen. Nachdem er Kenntnisse in eine Anzahl leerer Köpfe hineingepaukt – wobei es bemerkenswerth war, daß die Väter derselben, falls sie Einfluß besaßen, ihm stets eine Stelle versprachen, dies jedoch stets vergaßen, sobald er die Schüler entlassen hatte – war er dieser kümmerlichen Beschäftigung überdrüssig geworden und nach London gekommen. Hier hatte er, nachdem seine höheren Hoffnungen eine nach der andern gesunken, mit verschiedenen jungen Leuten, welchen es an Gelegenheit gefehlt, etwas zu lernen, oder welche dieselbe möglicher Weise vernachlässigt hatten, »gelesen«, und Andere für besondere Gelegenheiten aufpolirt und seine Kenntnisse zu literarischer Compilation und Correctur verwandt, und mit solchen Erwerbsmitteln, zu denen ein sehr geringes Privatvermögen hinzukam, führte er immer noch das Haus, welches ich sah.

Mr. und Mrs. Pocket hatten eine Nachbarin von kriechender Liebedienerei; dieselbe war eine Witwe von so außerordentlich sympathetischen Naturanlagen, daß sie mit allen Leuten übereinstimmte, alle Leute segnete, und allen Leuten sowohl Lächeln wie Thränen spendete, je nachdem die Umstände waren. Der Name dieser Dame war Mrs. Coiler, und ich hatte die Ehre, sie am Tage meiner Installirung zu Tische zu führen. Sie gab mir auf der Treppe zu verstehen, daß es ein harter Schlag für die liebe Mrs. Pocket sei, daß Mr. Pocket darauf angewiesen wäre, junge Herren als Kostgänger zu sich ins Haus zu nehmen. Sie wolle hiermit nicht mich gemeint haben, sagte sie mir in einem Ergusse der Zärtlichkeit und des Vertrauens (ich hatte sie zu der Zeit etwas weniger als fünf Minuten gekannt); es würde ganz etwas Anderes sein, wenn sie Alle wie ich wären.

»Aber die liebe Mrs. Pocket«, sagte Mrs. Coiler, »bedarf nach der bittern Enttäuschung, die sie in der Jugend betroffen hat – nicht daß der liebe Mr. Pocket deshalb zu tadeln wäre – doch so vielen Luxus und so viele Eleganz –«

»Ja wohl, Madam,« sagte ich, um sie zum Schweigen zu bringen, denn ich fürchtete, sie sei im Begriffe, in Thränen auszubrechen.

»Und sie ist von so aristokratischen Neigungen –«

»Ja wohl, Madam,« sagte ich in derselben Absicht, wie vorher.

»Daß es wirklich hart ist,« sagte Mrs. Coiler, »daß des lieben Mr. Pockets Zeit und Aufmerksamkeit so von der lieben Mrs. Pocket abgezogen wird.«

Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß es noch härter sein würde, falls des Fleischers Zeit und Aufmerksamkeit von der lieben Mrs. Pocket abgezogen würden; aber ich sagte nichts, und hatte in der That auch genug zu thun, daß ich auf schüchterne Weise meine Gesellschaftsmanieren beobachtete.

Während ich meine Aufmerksamkeit meinem Messer, meiner Gabel, meinem Löffel, meinen Gläsern und anderen tödtlichen Werkzeugen widmete, erfuhr ich durch die Unterhaltung zwischen Mrs. Pocket und Drummle, daß letzterer, dessen Taufname Bentley war, nichts Geringeres als zweiter Erbe einer Baronetschaft war. Es ergab sich ferner, daß das Buch, welches ich Mrs. Pocket im Garten hatte lesen sehen, über nichts als Titel handelte, und daß sie das Datum kannte, wo ihr Großvater einen Platz in diesem Buche gefunden haben würde, falls ihm dies überhaupt bestimmt gewesen. Drummle sagte nicht viel (er schien mir ein mürrischer Bursche zu sein), aber in seiner wortkargen Weise sprach er, wie einer der Auserwählten, und erkannte in Mrs. Pocket ein Weib und eine Schwester an. Außer ihnen Beiden und Mrs. Coiler, der schmeichlerischen Nachbarin, zeigte Niemand Interesse an dieser Unterhaltung und für Herbert schien sie geradezu peinlich; doch gab sie Hoffnung sich lange fortzuspinnen, als der Bediente eintrat, um ein häusliches Mißgeschick anzukündigen. Dasselbe bestand in der That darin, daß die Köchin das Rindfleisch »verlegt« hatte.

Zu meinem unaussprechlichen Erstaunen sah ich Mr. Pocket hier sein Gemüth durch eine Pantomime erleichtern, die mir ganz außerordentlich merkwürdig erschien, jedoch auf Niemand sonst weiter Eindruck machte, und mit der ich in der Folge bald ebenso vertraut wurde, wie die Uebrigen. Er legte – da er in dem Augenblicke gerade mit Tranchiren beschäftigt war – das Tranchirmesser und die Gabel hin, griff sich mit beiden Händen in sein wüstes Haar, und schien eine sonderbare Anstrengung zu machen, sich bei demselben in die Höhe zu ziehen. Hierauf, und nachdem er sich nicht im geringsten in die Höhe gezogen, nahm er ruhig seine Beschäftigung wieder auf.

Mrs. Coiler wechselte dann den Unterhaltungsgegenstand, und fing an, mir zu schmeicheln. Es gefiel mir auf eine kleine Weile, aber sie schmeichelte mir auf so grobe Weise, daß mein Vergnügen daran bald vorbei war. Sie hatte eine schlangenhafte Art und Weise, sich mir zu nähern, wenn sie sich stellte, als ob sie sich auf das lebhafteste für meine Familie und bisherigen Wohnort interessire, die wirklich ganz und gar natternhaft und gabelzüngig war; und wenn sie gelegentlich ein Mal auf Startop zuschoß (der sehr wenig sagte), oder auf Drummle (der noch weniger sagte), so beneidete ich die Beiden eigentlich darum, daß sie auf der andern Seite des Tisches saßen.

Nach Tische wurden die Kinder hereingebracht, und Mrs. Coiler machte bewundernde Bemerkungen über ihre Augen, Nasen und Beine – eine höchst verständige Art und Weise, ihren Geist zu bilden. Es waren vier kleine Mädchen und zwei kleine Knaben da, außerdem das jüngste Kind, welches das Eine oder das Andere hätte sein können, und des Jüngsten nächster Nachfolger, der bis jetzt weder das Eine noch das Andere war. Sie wurden von Flopson und Millers hereingebracht, und machten sehr den Eindruck, als ob diese beiden Unterofficiere irgendwo auf Kinderrecrutirung ausgewesen und Diese hier angeworben hätten, während Mrs. Pocket die jungen verfehlten Aristokraten ansah, als ob es ihr eigentlich scheine, wie wenn sie dieselben bereits früher schon ein Mal in Augenschein genommen, jedoch nicht recht wisse, was sie aus ihnen zu machen habe.

»Hier! Geben Sie mir Ihre Gabel, Madam, und nehmen Sie das Kleine,« sagte Flopson. »So müssen Sie es nicht anfassen, oder Sie werden seinen Kopf unter den Tisch stecken.«

Auf diese Weisung hin faßte Mrs. Pocket es anders an, so daß sein Kopf auf den Tisch kam, welches Factum sich allen Anwesenden durch einen sehr hörbaren dumpfen Schlag ankündigte.

»O du meine Güte! Geben Sie mirs wieder her, Madam,« sagte Flopson; »und Miß Jane, kommen Sie her und tanzen dem Kleinen etwas vor, bitte!«

Eines der kleinen Mädchen, ein wahres kleines Atom, das vor der Zeit eine Art Aufsicht über die Anderen übernommen zu haben schien, trat von ihrem Platze neben mir hervor und tanzte vor dem Kleinen hin und zurück, bis dasselbe zu weinen aufhörte und zu lachen anfing. Hierauf lachten alle Kinder und Mr. Pocket (der inzwischen zwei Mal versucht hatte, sich beim Haare in die Höhe zu ziehen) lachte, und wir Alle lachten und waren fröhlich.

Darauf gelang es Flopson, indem sie das Kind wie eine Gelenkpuppe zusammenklappte, dasselbe auf Mrs. Pockets Schooß zu setzen; und dann gab sie ihm einen Nußknacker zum Spielen, wobei sie es jedoch Mrs. Pocket zur Beachtung empfahl, daß das Kind die Griffe desselben nicht in die Augen bekommen möchte, und Miß Jane den strengen Befehl ertheilte, aufzupassen. Dann verließen die beiden Wärterinnen das Zimmer, und hatten auf der Treppe ein lebhaftes Scharmützel mit dem unordentlichen Bedienten, welcher offenbar die Hälfte der Knöpfe an seiner Jacke im Spiele verloren hatte.

Ich fing an, mich außerordentlich zu ängstigen, als Mrs. Pocket mit Drummle eine Erörterung über die Data zweier Baronetschaften begann, während sie Apfelsinenschnittchen in Zucker und Wein aß und gänzlich das Kind auf ihrem Schooße vergaß, welches die furchtbarsten Sachen mit dem Nußknacker ausführte. Endlich aber verließ die kleine Jane, da sie sein junges Gehirn in Gefahr sah, leise ihren Platz, und schmeichelte ihm die gefährliche Waffe durch viele kleine Kunstgriffe ab. Mrs. Pocket, die gerade in diesem Augenblicke mit ihrer Apfelsine fertig war und dieses Verfahren von Janes Seite nicht billigte, sagte:

»Du unartiges Kind, wie kannst Du Dich das unterstehen? Geh augenblicklich und setze Dich wieder an Deinen Platz!«

»Liebe Mama,« lispelte das kleine Mädchen, »das Kind hätte sich die Augen ausgestochen.«

»Wie kannst Du Dich unterstehen, mir so etwas zu sagen!« entgegnete Mrs. Pocket. »Geh augenblicklich und setze Dich wieder an Deinen Platz!«

Mrs. Pockets würdevolles Wesen hatte etwas so Zermalmendes, daß ich mich ganz beschämt fühlte, als ob ich selbst etwas gethan gehabt, um ihren Zorn zu erregen.

»Belinda,« sagte Mr. Pocket in vorstellendem Tone vom andern Ende des Tisches, »wie kannst Du nur so ungerecht sein? Jane legte sich zu des Kindes Schutze ins Mittel.«

»Ich erlaube Niemand, sich darein zu mischen,« sagte Mrs. Pocket. »Es nimmt mich Wunder, Matthew, daß Du mich einem solchen Schimpfe preisgeben kannst.«

»Guter Gott!« rief Mr. Pocket in einem Ausbruche aufs äußerste getriebener Desperation. »Sie will die Säuglinge sich ins Grab nußknackern lassen, und es nicht dulden, daß es Jemand verhindert!«

»Ich will es nicht dulden, daß Jane sich darein mischt,« sagte Mrs. Pocket mit einem majestätischen Blicke auf diese unschuldige kleine Frevlerin. »Ich hoffe, daß ich mir Dessen bewußt bin, was ich meines lieben Großpapas Stellung schulde, Jane, wahrhaftig!«

Mr. Pocket fuhr sich wieder mit den Händen ins Haar und zog sich dies Mal wirklich einige Zoll von seinem Stuhle empor. »Hört sie an!« rief er, hülflos zu den Elementen gewendet. »Säuglinge müssen um der Stellung von anderer Leute lieben Großpapas willen zu Tode genußknackert werden!« Worauf er sich wieder herunterließ und still wurde.

Wir schauten Alle in peinlicher Verlegenheit auf das Tischtuch, während dies vorging. Es erfolgte eine Pause, während welcher das ehrliche Kleine, unfähig länger an sich zu halten, der kleinen Jane zujubelte und nach ihr haschte, und es mir schien, daß Jane (abgesehen von der Dienerschaft) das einzige Mitglied der Familie war, mit dem es eine entschiedene Bekanntschaft hatte.

»Mr. Drummle,« sagte Mrs. Pocket, »wollen Sie die Güte haben, Flopson zu schellen? Jane, Du ungehorsames kleines Ding, geh zu Bette. Jetzt, Herzchen, komm zur Mama!«

Das Kindchen war der Inbegriff der Ehrlichkeit und protestirte daher mit aller Macht. Es klappte sich über Mrs. Pockets Arm rückwärts zusammen, zeigte der Gesellschaft anstatt seiner Bausbacken ein Paar kleine gestrickte Schuhe und fette Beinchen, und wurde in einem Zustande der höchsten Rebellion hinausgetragen. Und es hatte dennoch zuletzt seinen Willen, denn als ich wenige Minuten später durchs Fenster schaute, sah ich die kleine Jane es warten und mit ihm spielen.

Da Flopson zufällig Privatgeschäfte hatte und die Sache Niemand anders anging, geschah es, daß die anderen fünf Kinder am Speisetische sitzen blieben. Auf diese Weise wurde ich mit den gegenseitigen Verhältnissen zwischen ihnen und Mr. Pocket bekannt, welche sich auf folgende Weise herausstellten. Mr. Pocket, dessen normale Verdutztheit des Gesichtsausdruckes sich noch entschiedener aussprach und dessen Haar wüster denn je aussah, schaute sie einige Minuten lang an, als wisse er nicht recht, wie sie dazu kämen, in diesem Hause Kost und Logis zu genießen, und warum die Natur sie nicht anderswo einquartiert habe. Dann legte er ihnen auf eine umständliche, missionarhafte Weise gewisse Fragen vor, wie z. B. warum der kleine Joe das Loch in seiner Halskrause habe, und Joe antwortete: Papa, Flopson wollte es ausbessern, sobald sie Zeit fände – und wie die kleine Fanny zu jenem Nagelgeschwüre komme, und Fanny antwortete: Papa, Millers wollte einen Umschlag drauf thun, wenn sie es nicht vergäße. Dann erweichte er zu väterlicher Zärtlichkeit und gab Jedem einen Schilling und sagte ihnen, sie möchten hinausgehen und spielen; und dann, als sie hinausgingen, gab er mit einem letzten verzweifelten Versuche, sich beim Haare empor zu ziehen, den hoffnungslosen Gegenstand auf.

Abends wurde auf dem Flusse gerudert. Da Drummle sowohl als Startop ein Boot besaßen, beschloß ich, mir ebenfalls eines anzuschaffen und sie Beide auszustechen. Ich war ziemlich vertraut mit den meisten Körperübungen, in welchen Landjungen excelliren: da ich mir aber für die Themse – anderer Gewässer nicht zu gedenken – eines Mangels an Eleganz im Style bewußt war, begab ich mich sofort bei dem Gewinner einer Preisjolle in die Lehre, welcher von unserer Wassertreppe abruderte und dem meine Gefährten mich vorstellten. Dieser gewiegte Fachmann setzte mich durch die Aeußerung in große Verlegenheit, ich hätte den Arm eines Schmieds. Hätte er wissen können, wie nahe er daran war, durch das Compliment seinen Schüler zu verlieren, so bezweifle ich sehr, daß er es mir gemacht haben würde.

Als wir Abends nach Hause kamen, wurde ein kleines Nachtessen aufgetragen, und ich glaube, daß wir uns Alle sehr gut unterhalten haben würden, hätte sich nicht abermals ein häusliches Mißgeschick ereignet. Mr. Pocket war in fröhlichster Laune, als das Stubenmädchen hereinkam und sagte:

»Bitte, Sir, ich möchte gern mit Ihnen sprechen,«

»Mit Deinem Herrn sprechen?« sagte Mrs. Pocket, die sich wieder in ihrer Würde verletzt sah. »Wie kannst Du Dir so etwas einfallen lassen? Sag es Flopson. Oder mir, – aber jetzt nicht.«

»Ich bitte um Verzeihung, Madam,« sagte das Stubenmädchen, »ich möchte sogleich sprechen, und zwar mit dem Herrn.«

Hierauf verließ Mr. Pocket das Zimmer, und wir unterhielten uns nach Kräften, bis er zurückkam.

»Dies ist eine schöne Geschichte, Belinda!« sagte Mr. Pocket, der, Kummer und Verzweiflung im Gesichte wieder eintrat. »Unten in der Küche liegt die Köchin wie ein ›Stock‹ betrunken auf der Diele, und in dem Schranke ein großes Paquet frischer Butter, die sie als Talg verkaufen wollte!«

Mrs. Pocket verrieth augenblicklich große und liebenswürdige Gemüthsbewegung, und sagte:

»Das rührt wieder von dieser unausstehlichen Sophie her!«

»Was willst Du damit sagen, Belinda?« fragte Mr. Pocket.

»Die Sophie bat es Dir gesagt,« entgegnete Mrs. Pocket. »Habe ich es nicht mit meinen eigenen Augen gesehen und mit meinen eigenen Ohren gehört, wie sie soeben in die Stube kam und mit Dir zu sprechen verlangte?«

»Aber hat sie mich nicht hinunter in die Küche geführt, Belinda,« entgegnete Mr. Pocket, »und mir sowohl das Frauenzimmer, wie das Paquet gezeigt?«

»Und kannst Du, Matthew,« sagte Mrs. Pocket, »sie noch dafür vertheidigen, daß sie Uneinigkeit stiftet?«

Mr. Pocket stöhnte verzweifelt.

»Gelte ich, Großpapas Enkelin, für nichts im Hause?« sagte Mrs. Pocket. »Die Köchin war stets eine anständige, respectable Person, und sagte, als sie kam, um sich bei mir zu vermiethen, auf die allernatürlichste Weise, sie fühle, daß ich geboren sei, eine Herzoginnenkrone zu tragen.«

An der Stelle, wo Mr. Pocket stand, befand sich ein Sopha, und er sank in der Stellung des »sterbenden Fechters« auf dasselbe nieder. In dieser Stellung sagte er mit hohler Stimme: »Gute Nacht, Mr. Pip,« worauf ich es für rathsam hielt, ihn zu verlassen und zu Bette zu gehen.

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