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Ich bekam Uriah Heep bis zu dem Tag, wo Agnes die Stadt verließ, nicht mehr zu Gesicht. Ich hatte mich an der Station eingefunden, um Abschied von ihr zu nehmen und sie wegfahren zu sehen, und er war richtig auch da, um mit demselben Wagen nach Canterbury zurückzukehren. Es gewährte mir eine kleine Befriedigung, seinen an den Ärmeln und an der Taille ausgewachsenen, hochschultrigen, maulbeerfarbenen Überrock mit einem Regenschirm, so groß wie ein Zelt, zusammengeschnallt auf dem Eckplatz des Hintersitzes auf dem Wagenverdeck liegen zu sehen, während Agnes natürlich innen in der Kutsche fuhr.
Die Qualen, die ich während meiner Bemühungen, freundlich zu ihm zu sein, solang Agnes zusah, ausstand, verdienten vielleicht diese kleine Belohnung. Auch jetzt wieder umlauerte er uns wie ein großer Geier und verschlang jede Silbe, die Agnes und ich miteinander sprachen. Während der unruhigen Stunden, die ich seinen Enthüllungen verdankte, hatte ich viel an die Worte denken müssen, die Agnes damals zu mir gesagt: »Hoffentlich tat ich recht. Ich fühlte, daß das Opfer eine Notwendigkeit für den Frieden meines Vaters war, und bat ihn, es zu bringen.«
Eine quälende Ahnung, daß sie demselben Gefühl auch noch andere Opfer bringen könnte, hatte mich seitdem nie wieder verlassen. Ich wußte, wie sehr sie ihren Vater liebte, wußte, wie opferfähig ihr Charakter war. Ich hatte von ihren eignen Lippen gehört, daß sie sich für die unschuldige Ursache seiner Irrungen hielt und überzeugt war, sie schulde ihm unendlich viel und müsse alles tun, um das Geschehne wiedergutzumachen. Der Gedanke, daß sie so außerordentlich abstach von dem rothaarigen Scheusal in seinem maulbeerfarbenen Überzieher, war für mich kein Trost, denn ich fühlte, daß gerade in dem Unterschied, in der Selbstverleugnung ihrer reinen Seele und der gemeinen Niedrigkeit der seinen, die Hauptgefahr lag. Zweifellos wußte auch Uriah alles das recht gut und hatte sich in seiner List alles vortrefflich ausgerechnet.
Ich war so fest überzeugt, daß die bloße Aussicht auf ein solches Opfer Agnes' Glück zerstören mußte, und erkannte so sicher aus ihrem Wesen, sie ahne noch nichts, daß ich es nicht übers Herz bringen konnte, sie vor dem ihr drohenden Schicksal zu warnen. So schied ich ohne weitere Erklärung.
Sie winkte mir mit der Hand und lächelte mir ein Lebewohl aus dem Wagenfenster zu, während ihr böser Geist auf dem Dache kauerte, als hätte er sie schon frohlockend in seinen Klauen.
Lange Zeit konnte ich die Abschiedsszene nicht vergessen. Als Agnes mir ihre Ankunft meldete, fühlte ich mich so unglücklich, als ob ich sie eben erst abreisen sähe. Sooft ich nachgrübelte, verdoppelten sich meine Sorge und Unruhe. Kaum eine Nacht verging, ohne daß ich davon träumte.
Ich hatte Muße genug, mich meiner Unruhe zu überlassen, denn Steerforth weilte in Oxford, und ich war, außer in der Kanzlei, meistens allein. Ich glaube, ich hegte damals schon einen unbewußten Argwohn gegen Steerforth. Ich beantwortete einen Brief von ihm höchst freundschaftlich, empfand aber angenehm, daß er nicht nach London kam. Ich glaube, Agnes hatte einen großen Einfluß auf mich ausgeübt, der um so mächtiger auf mich wirkte, als er durch Steerforths Anblick nicht gestört wurde.
Unterdessen vergingen Tage und Wochen. Ich wurde in aller Form bei Spenlow & Jorkins inskribiert. Meine Tante gab mir außer dem Hauszins, und was dazu gehörte, neunzig Pfund jährlich. Meine Zimmer wurden für zwölf Monate gemietet, und obgleich sie mir abends immer noch sehr ungemütlich vorkamen und sich mir die Abende sehr lang gestalteten, so gewöhnte ich mich doch allmählich an die gleichmäßige gedrückte Stimmung und den Kaffee, von dem ich täglich, glaube ich, eine Gallone verzehrte.
In dieser Zeit machte ich auch drei Entdeckungen: Erstens, daß Mrs. Crupp von einer Krankheit gequält wurde, die sie die »Krämpf« nannte und die sich dadurch auszeichnete, daß sie stets mit einer geröteten Nase Hand in Hand ging und mit Pfefferminz behandelt werden mußte. Zweitens, daß eine sonderbare Temperatur meiner Vorratskammer alle Brandyflaschen zum Zerspringen brachte. Drittens, daß ich ganz allein in der Welt stand und diesen Umstand in Verse brachte.
An dem Tag, als ich in der Kanzlei eingeschrieben wurde, gab ich kein Fest mehr. Ich bewirtete bloß die Schreiber mit etwas kalter Küche und Sherry und ging abends allein ins Theater. Ich sah dort das Stück »Der Fremdling« und war so abgespannt, daß ich mich kaum in meinem eignen Spiegel erkannte, als ich nach Hause kam.
Als mein Kontrakt unterzeichnet war, meinte Mr. Spenlow, er hätte sich glücklich geschätzt, mich zur Feier des Tags in seinem Haus in Norwood zu sehen, wenn nicht seine Wirtschaft infolge der angekündigten Rückkehr seiner Tochter aus einer Erziehungsanstalt in Paris etwas in Unordnung geraten wäre. Aber er würde sich ein Vergnügen daraus machen, mich sofort nach ihrer Ankunft bei sich zu sehen. Ich wußte, daß er Witwer war und nur eine einzige Tochter hatte, und drückte ihm meinen Dank aus.
Mr. Spenlow hielt Wort. In ein oder zwei Wochen kam er auf sein Versprechen zurück und sagte, wenn ich ihm die Ehre erweisen wollte, ihn nächsten Samstag zu besuchen und bis Montag zu bleiben, würde er sich sehr glücklich schätzen. Natürlich nahm ich an, und er versprach mir, mich in seinem Phaeton mitzunehmen und wieder zurückzufahren.
Als der Tag kam, bildete sogar mein Reisesack bei den Schreibern, denen das Haus in Norwood ein geheiligtes Geheimnis war, einen Gegenstand der Verehrung. Einer von ihnen erzählte mir, er habe gehört, Mr. Spenlow speise nur von Silber und Porzellan, und Champagner werde beständig vom Faß geschenkt wie Tischbier. Der alte Schreiber mit der Perücke, der Mr. Tiffey hieß, war im Verlauf seines Lebens mehrmals in Geschäften dort gewesen und dann stets bis ins Frühstückszimmer vorgedrungen. Er beschrieb es als ein Gemach von überwältigender Pracht und sagte, daß er dort braunen ostindischen Sherry getrunken hätte, so kostbar, daß ihm die Augen davon übergegangen seien.
Wir wohnten an diesem Tag einer Verhandlung im Konsistorium bei, – es drehte sich um die Exkommunikation eines Bäckers, der sich in einer Kirchenratsitzung gegen eine Pflastersteuer gesträubt hatte, und da das Material nach meiner Berechnung gerade doppelt so lang war wie Robinson Crusoes Abenteuer, wurde es ziemlich spät. Zuletzt erlebten wir aber doch, den Mann zu sechswöchentlicher Exkommunikation und zu einer Unmasse von Kosten verurteilt zu sehen, und dann verließen der Proktor des Bäckers und der Richter und die Advokaten der beiden Parteien – alle sehr nahe miteinander verwandt – zusammen die Stadt, und Mr. Spenlow und ich fuhren im Phaeton davon.
Der Phaeton war ein sehr hübscher Wagen; die Pferde beugten ihren Hals und hoben die Beine, als wüßten sie, daß sie zu Doctors' Commons gehörten.
In den Commons wurde viel Wetteifer in allem, wo es zu glänzen galt, entfaltet, und es gab viele schöne Equipagen dort, obgleich ich immer dafürgehalten habe, daß zu meiner Zeit der Hauptpunkt des Wettstreites in der Wäschestärke lag, die von den Proktoren in solchen Unmassen verbraucht wurde, wie es nur die Natur des Menschen vertragen kann.
Wir unterhielten uns auf der Hinfahrt sehr angenehm, und Mr. Spenlow gab mir mancherlei Winke. Er sagte, Proktor zu sein sei der vornehmste Beruf von der Welt und dürfe durchaus nicht mit dem eines einfachen Anwalts verwechselt werden. Er sei etwas ganz anderes, unendlich exklusiver, weniger mechanisch und viel gewinnreicher. »Wir machen es uns in den Commons viel leichter, als es anderswo geschehen könnte«, bemerkte er, »und das allein erhebt uns schon zu einer privilegierten Klasse.« Allerdings könne man sich die unangenehme Tatsache nicht verhehlen, daß man eigentlich von den Advokaten angestellt sei, aber er gab mir zu verstehen, daß sie eine untergeordnete Klasse Menschen wären und von allen Proktoren von nur einigermaßen Selbstgefühl von oben herab angesehen würden.
Ich fragte Mr. Spenlow, was er für die beste Art Geschäfte halte.
Er entgegnete, daß ein guter Prozeß um ein bestrittenes Testament, wobei es sich um ein hübsches, kleines Gut von dreißig- oder vierzigtausend Pfund handle, so ziemlich die beste Sache sei. Bei einem solchen Prozeß, sagte er, falle nicht nur ziemlich viel ab durch die Rechtseinwände in jedem Stadium des Verfahrens und bei den Bergen von Zeugenbeweisen, bei der Einvernahme und Wiedereinvernahme, gar nicht zu sprechen von der ersten Appellation an die Delegierten und von einer zweiten an das Herrenhaus, – sondern, weil die Kosten schließlich doch auf das Grundstück fielen, gingen die beiden Parteien mit gleicher Lebhaftigkeit an den Prozeß, und um die Kosten mache man sich keine Sorge. Was er besonders bewunderte, sagte er, seien die Commons, die stets geschlossen vorgingen. Es herrsche eine Organisation wie nirgends auf der Welt. Es sei das vollendete Bild der Gemütlichkeit. »Zum Beispiel: Es läuft eine Scheidungsklage ein oder eine Klage auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand an das Konsistorium. Sehr gut. Sie wird im Konsistorium verhandelt. Man macht ein hübsches, ruhiges Familienspiel daraus und wickelt es ganz nach seiner Bequemlichkeit ab. Ist die Partei mit dem Konsistorium nicht zufrieden, dann geht sie an den Archescourt. Was ist der Archescourt? Derselbe Gerichtshof im selben Lokal mit demselben Barreau und denselben Advokaten, nur mit einem andern Richter. Denn es kann der Konsistorialrichter bei jeder Tagfahrt als Advokat plädieren. Man spielt also die Partie noch einmal durch; aber immer noch ist man nicht recht zufrieden. Sehr gut. Was geschieht dann? Man geht zu den Delegierten. Wer sind die Delegierten? Nun, die Delegierten sind die Advokaten, die unbeschäftigt bei der Partie die beiden ersten Male zugesehen, die Karten gemischt, abgehoben und mit ins Spiel hineingeredet haben. Sie kommen jetzt als Richter dran, um die Sache zu jedermanns Zufriedenheit abzumachen. Unzufriedene Leute gebe es immer, die von der Korruption in den Commons redeten und von der Notwendigkeit, sie zu reformieren«, sagte Mr. Spenlow feierlich zum Schluß. Aber als der »Weizenpreis am höchsten stand«, hätten die Commons das meiste zu tun gehabt. Man könne ruhig die Hand aufs Herz legen und der ganzen Welt sagen: Rührt an die Commons, und das ganze Land kommt herunter.
Ich hörte dem allen mit großer Aufmerksamkeit zu, und obgleich ich einigermaßen zweifelte, ob das Land, wie Mr. Spenlow behauptete, den Commons wirklich so sehr zu Dank verpflichtet sein müßte, so beugte ich mich doch ehrerbietig vor seiner Autorität. Was den Weizenpreis betraf, überstieg dies meine Verstandeskräfte, und ich unterdrückte jeden Zweifel. Ich habe bis heute noch nicht mehr von diesem Weizenpreis begriffen. Ich bin bis zu dieser Stunde niemals über diesen Weizen hinweggekommen.
Jedenfalls war ich nicht der Mann, um die Axt an die Commons anzulegen und das Land zugrunde zu richten. Durch mein Schweigen drückte ich meine ehrerbietige Zustimmung zu allem aus, was mein an Jahren und Kenntnissen mir überlegener Begleiter erzählte. Dann unterhielten wir uns über den »Fremdling« und das Theater und das Gespann, bis wir bei Mr. Spenlows Besitz ankamen.
Vor dem Hause lag ein wundervoller Garten und trotz der ungünstigen Jahreszeit sah er so vortrefflich gehalten aus, daß ich ganz bezaubert war. Ein entzückender Rasenplatz, Baumgruppen und Gebüsche, Laubengänge, an denen Blumen und Gesträuch schon die ersten Blätter zeigten, konnte ich noch im Halbdunkel unterscheiden. Hier wandelt Miss Spenlow allein, dachte ich. O Gott.
Wir traten in das hell erleuchtete Haus, und in der Vorhalle hingen alle Arten Hüte, Mützen, Überröcke, Mäntel, Handschuhe, Reitpeitschen und Spazierstöcke.
»Wo ist Miss Dora?« fragte Mr. Spenlow den Bedienten.
Dora! dachte ich, was für ein schöner Name.
Wir traten in das nächste Zimmer, – wahrscheinlich das durch den braunen ostindischen Sherry denkwürdig gewordene Frühstückszimmer, – und ich hörte eine Stimme sagen: »Mr. Copperfield – meine Tochter Dora und ihre vertraute Freundin.« Offenbar war es Mr. Spenlows Stimme, aber ich wußte es nicht genau und kümmerte mich auch nicht mehr darum. In einem Augenblick war alles vorbei. Mein Schicksal hatte sich erfüllt. Ich war ein Gefangener und ein Sklave. Ich liebte Dora Spenlow bis zum Wahnwitz.
Sie war für mich ein überirdisches Wesen, eine Fee, eine Sylphe, ich weiß nicht, was sonst noch alles, etwas, was noch niemand gesehen, und alles, wonach sich jeder sehnen mußte. Ich versank in einen Abgrund von Liebe im Augenblick. Von einem Zaudern am Rande, von einem Hinabsehen oder Zurückblicken konnte nicht die Rede sein. Ich war kopfüber hinabgestürzt, ehe ich noch ein Wort sprechen konnte.
»Ich habe Mr. Copperfield schon früher gesehen«, bemerkte eine mir wohlbekannte Stimme, während ich, etwas vor mich hinmurmelnd, mich tief verbeugte.
Das hatte nicht Dora gesprochen, – nein. Aber ihre vertraute Freundin, – Miss Murdstone.
Ich glaube, ich war gar nicht sonderlich überrascht. Ich hatte die Fähigkeit, mich zu wundern, offenbar verloren. In der Welt des Stoffes gab es nichts des Erstaunens wertes, außer Dora Spenlow.
Ich sagte: »Wie geht es Ihnen, Miss Murdstone? Ich hoffe, Sie befinden sich wohl.« Sie erwiderte: »Sehr wohl.« Ich fragte: »Was macht Mr. Murdstone?« Sie antwortete: »Mein Bruder ist wohlauf. Ich danke Ihnen recht sehr.«
Mr. Spenlow, den wahrscheinlich unser Bekanntsein überraschte, mischte sich jetzt ins Gespräch.
»Es freut mich zu erfahren, Copperfield, daß Sie und Miss Murdstone einander bereits kennen.«
»Mr. Copperfield und ich«, sagte Miss Murdstone mit großer Fassung, »sind Verwandte. Wir waren einmal flüchtig bekannt. Damals in seinen Kinderjahren. Die Verhältnisse haben uns seitdem getrennt. Ich würde ihn nicht wiedererkannt haben.«
Ich entgegnete, daß ich sie unter allen Umständen wiedererkannt hätte. Und das war wahr genug.
»Miss Murdstone hatte die Güte«, sagte Mr. Spenlow, »das Amt – wenn ich mich so ausdrücken darf – einer vertrauten Freundin meiner Tochter Dora anzunehmen. Da meine Tochter Dora leider keine Mutter mehr hat, war Miss Murdstone so gütig, ihre Gefährtin und Beschützerin zu werden.«
Mir schoß der Gedanke durch den Kopf, daß Miss Murdstone ähnlich der Taschenwaffe, die man gewöhnlich Lebensretter nennt, sich besser zum Angriff als zur Verteidigung eigne. Aber da ich keine Minute lang an etwas anderes als an Dora denken konnte, so warf ich einen Blick auf sie und dachte mir, daß dieses hübsche, übermütige Gesicht nicht sehr geeignet sein dürfte, besonders zutraulich zu ihrer Gefährtin und Beschützerin zu werden.
Als das erste Mal zum Diner geläutet wurde, führte mich Mr. Spenlow zum Umkleiden in sein Zimmer. Der Gedanke, mich umzuziehen, oder sonst irgend etwas zu tun in diesem Zustand von Verliebtheit, war denn doch zu lächerlich. Ich konnte mich nur vor den Kamin hinsetzen, den Schlüssel meines Reisesacks zerbeißen und an die entzückende, jugendfrische, lebhafte Dora mit den blitzenden Augen denken. Diese Gestalt, dieses Gesicht und dieses anmutige, bezaubernde Wesen!
Die Glocke läutete so bald wieder, daß ich mich in aller Hast anziehen mußte, statt diesem Geschäft die wünschenswerte Aufmerksamkeit zuwenden zu können. Dann ging ich die Treppen hinunter. Ich fand bereits Gesellschaft vor. Dora sprach mit einem alten, grauköpfigen Herrn. Obgleich er fast weiß war und Urgroßvater dazu, wie er selbst sagte, war ich doch fürchterlich eifersüchtig auf ihn.
In welcher Gemütsstimmung ich mich befand! Ich war auf jeden eifersüchtig. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß jemand Mr. Spenlow besser kannte als ich. Es bereitete mir Qualen, von Vorfällen sprechen zu hören, von denen ich nichts wußte. Als ein sehr liebenswürdiger Herr mit einem lebhaft glänzenden kahlen Kopf mich über den Tisch fragte, ob ich das erste Mal hier sei, hätte ich die fürchterlichste Rache an ihm nehmen mögen. Ich kann mich kaum an jemand aus der Gesellschaft erinnern, außer an Dora. Ich hatte keine Ahnung, was ich aß. Ich genoß nur Dora und ließ ein halbes Dutzend Schüsseln unberührt weitergehen. Ich saß neben ihr. Ich plauderte mit ihr. Sie hatte das lieblichste Stimmchen, das heiterste Lachen, die anmutigsten und entzückendsten kleinen Launen, die jemals einen verlorenen Jüngling in hoffnungslose Sklaverei schmiedeten. Sie war niedlich in allem. Um so kostbarer, dachte ich.
Als sie mit Miss Murdstone das Speisezimmer verließ – sie waren die einzigen Damen –, verfiel ich in ein träumerisches Brüten, das nur von der quälenden Angst, Miss Murdstone möchte mich in Doras Augen herabsetzen, gestört wurde. Der liebenswürdige Herr mit dem kahlen, glänzenden Kopf erzählte mir eine lange Geschichte, – wie ich vermute, von Gartenpflege. Ich glaubte, er sagte mehrere Male: mein Gärtner. Ich tat, als ob ich ihm mit tiefster Aufmerksamkeit zuhörte, wandelte aber die ganze Zeit hindurch mit Dora in dem Garten des Paradieses.
Meine Befürchtung, dem Gegenstand meiner alles verzehrenden Neigung nachteilig geschildert zu werden, wurde wieder wach, als wir in den Salon traten und ich das strenge und kalte Gesicht der Miss Murdstone sah. Aber sie wurde bald in sehr unerwarteter Weise zerstreut.
»Mr. Copperfield«, sagte Miss Murdstone und winkte mir in ein Fenster: »Auf ein Wort!«
Ich stand Auge in Auge mit Miss Murdstone.
»David Copperfield«, sagte sie. »Ich brauche mich nicht über Familienverhältnisse zu verbreiten. Sie sind kein verlockendes Thema.«
»Keineswegs, Ma'am.«
»Keineswegs«, stimmte Miss Murdstone bei. »Ich wünsche nicht die Erinnerung an alte Streitigkeiten aufzufrischen. Ich bin von einer Person beleidigt worden – einer Frau, muß ich leider zur Unehre meines Geschlechtes gestehen –, deren Namen ich nicht ohne Zorn und Entrüstung erwähnen kann, und deshalb will ich sie lieber nicht nennen.«
Diese Anspielung auf meine Tante machte mich wütend, aber ich sagte nur, es wäre wirklich besser, wenn ihr Name nicht erwähnt würde. Ich vertrüge es nicht, in respektloser Weise von ihr sprechen zu hören, fügte ich hinzu, ohne meine Meinung in sehr entschiedener Weise auszudrücken.
Miss Murdstone schloß die Augen und senkte voller Verachtung den Kopf. Dann sah sie langsam wieder auf und sagte: »David Copperfield, ich versuche nicht die Tatsache zu verhehlen, daß ich in Ihrer Kindheit eine sehr ungünstige Meinung von Ihnen gefaßt hatte; ich mag mich damals geirrt haben oder Sie haben aufgehört, mein Urteil zu rechtfertigen. Aber darum handelt es sich jetzt nicht zwischen uns. Ich gehöre einer Familie an, die sich, wie ich glaube, durch eine gewisse Festigkeit des Charakters auszeichnet, und ich bin kein Geschöpf der Verhältnisse und der Umstände. Ich kann meine Meinung von Ihnen haben, Sie können Ihre Meinung von mir haben.«
Die Reihe, sich zu verbeugen, war jetzt an mir.
»Damit ist noch nicht gesagt, daß wir wegen Meinungsverschiedenheit hier in Kollision zu kommen brauchten. Unter den obwaltenden Umständen ist es sogar besser, wenn es nicht geschieht. Da die Wechselfälle des Lebens uns wieder zusammengeführt haben und uns auch noch öfter zusammenführen können, möchte ich Ihnen vorschlagen, daß wir uns gegenseitig wie entfernte Bekannte behandeln. Die Familienverhältnisse rechtfertigen es vollkommen, wenn wir uns auf solchen Fuß stellen, und es ist ganz unnötig, daß einer von uns den andern zum Gegenstand von Klatschereien macht. Sind Sie damit einverstanden?«
»Miss Murdstone«, erwiderte ich, »ich bin der Ansicht, daß Sie und Mr. Murdstone mich aufs grausamste behandelt haben und meiner Mutter das Leben verbitterten. Dieser Ansicht werde ich sein, so lange ich lebe. Im übrigen bin ich mit Ihrem Vorschlag einverstanden.«
Miss Murdstone schloß wieder die Augen und neigte den Kopf. Dann berührte sie mit den Spitzen ihrer kalten, steifen Finger meinen Handrücken und verließ mich, sich die kleinen Fesseln an ihrem Handgelenk und ihrem Hals ordnend. Sie schienen mir noch die alten und genau im selben Zustand zu sein wie damals. Zusammengehalten von Miss Murdstones Charakter machten sie mir den Eindruck von Ketten an einer Kerkertür, die dem Beobachter schon an der Außenseite sagen, was drinnen zu erwarten ist.
Ich weiß weiter nichts mehr von dem Abend, als daß ich die Königin meines Herzens entzückende Balladen in französischer Sprache singen hörte, zu denen wir immer tanzen sollten; tarala, tarala; und dabei begleitete sie sich mit einem herrlichen Instrument, das einer Gitarre ähnlich sah.
Ich schwelgte in seligem Entzücken. Ich wies alle Erfrischungen zurück. Einen besonderen Widerwillen empfand ich gegen Punsch. Sie lächelte mich an und gab mir ihre entzückende Hand, als Miss Murdstone sie unter ihre Obhut nahm und hinausbegleitete. Einmal sah ich mein Gesicht im Spiegel. Es sah vollständig vertrottelt aus. In höchst sentimentaler Stimmung legte ich mich zu Bett und befand mich in der Krisis eines Liebesfiebers, als ich wieder aufwachte.
Es war ein schöner Morgen und noch so frühzeitig, daß ich auf den Einfall kam, in den Laubengängen einen kleinen Spaziergang zu machen, um dabei von ihrem Bild zu träumen. In der Vorhalle begegnete ich ihrem kleinen Hund namens Jip. Ich näherte mich ihm zärtlich, denn ich liebte selbst ihn, aber er zeigte mir grimmig die Zähne, lief unter einen Stuhl, um zu knurren, und wollte nichts von Vertraulichkeit wissen.
Der Garten war frisch und einsam.
Ich ging auf und ab und sagte mir, wie unendlich glücklich ich mich fühlen müßte, wenn ich mich jemals mit diesem Himmelswunder verloben könnte. An Heirat, Vermögen und dergleichen Dinge dachte ich in meiner Unschuld ebenso wenig wie damals, als ich die kleine Emly liebte. Sie Dora nennen, ihr schreiben, sie anbeten und glauben zu dürfen, daß sie in Gesellschaft andrer Leute doch noch an mich denke, erschien mir als der Gipfel menschlicher Sehnsucht, – sicher war es der Gipfelpunkt der meinigen. Zweifellos ein sentimentaler junger Gimpel, empfand ich doch so herzensrein, daß ich selbst heute nicht verächtlich darauf zurückblicken kann, wenn es mir auch noch so lächerlich vorkommt.
Ich war noch nicht lange spazierengegangen, als ich an einer Ecke mit ihr zusammenstieß. Jetzt noch durchzuckt es mich vom Scheitel bis zur Sohle, wenn ich an diese Ecke denke, und die Feder zittert mir in der Hand.
»Sie – sind – früh auf, Miss Spenlow«, stotterte ich.
»Es ist so dumm zu Haus«, sagte sie, »und Miss Murdstone ist so lächerlich. Sie redet solchen Unsinn von der Notwendigkeit, daß die Erde erst trocken sein müsse, ehe man ausgehen kann. Trocken!« sie lachte melodisch. – »Sonntagmorgens, wenn ich drinnen nichts zu tun habe, muß ich doch irgend etwas anfangen. Deshalb sagte ich Papa gestern abends, ich müßte spazierengehen. Außerdem ist es die schönste Zeit des ganzen Tages. Meinen Sie nicht auch?«
Ich nahm allen meinen Mut zusammen und sagte, ein bißchen stotternd, daß mir alles jetzt sehr herrlich vorkäme, wenn es mir auch eine Minute vorher noch sehr dunkel geschienen hätte.
»Wollen Sie mir damit ein Kompliment machen?« fragte Dora, »oder hat sich das Wetter wirklich geändert?«
Ich stotterte noch schlimmer als vorher heraus, daß es durchaus kein Kompliment, sondern volle Wahrheit sei, daß ich aber von einer Wetterveränderung nichts bemerkt hätte. »Es war ein innerlicher Vorgang«, fügte ich errötend hinzu, um es vollends zu erklären.
Noch nie sah ich solche Locken. Wie hätte das auch sein können, da es bis dahin noch nie solche gab. Sie schüttelte sie, um ihr Erröten zu verbergen. Und der Strohhut mit den blauen Bändern, der auf diesen Locken saß, welch unbezahlbarer Schatz wäre es für mich gewesen, hätte ich ihn in meiner Stube in der Buckingham-Straße aufhängen dürfen!
»Sie sind eben von Paris zurückgekehrt?« fragte ich.
»Ja. Waren Sie schon einmal dort?«
»Nein.«
»O, dann müssen Sie bald hingehen. Es wird Ihnen ungemein gefallen!«
Tiefster Schmerz ergriff mich; daß sie mein Fortgehen wünschen, ja, nur für möglich halten konnte, war unerträglich. Ich verabscheute Paris. Ich verabscheute Frankreich. Ich sagte, ich würde England jetzt um keiner irdischen Rücksicht willen verlassen. Nichts könnte mich dazu bewegen. Kurz, sie schüttelte schon wieder ihre Locken, als zu unserer Erlösung das Hündchen den Gang heruntergelaufen kam. Es benahm sich entsetzlich eifersüchtig gegen mich und bellte mich heftig an.
Sie nahm Jip auf ihren Arm – o mein Gott – und liebkoste ihn. Aber er fuhr fort zu bellen. Er litt es nicht, daß ich ihn anfaßte, und bekam deshalb Schläge von ihr. Meine Leiden wurden nur noch größer, als ich sah, wie sie ihn auf seine Nase tätschelte, während er mit den Augen zwinkernd ihr die Hände leckte und innerlich immer noch murrte wie ein kleiner Brummbaß. Endlich war er still – er hatte gut still sein mit ihrem niedlichen Kinn auf seinem Kopf –, und wir gingen weiter, um uns das Gewächshaus anzusehen.
»Sie sind nicht sehr genau bekannt mit Miss Murdstone oder doch?« fragte Dora. »Mein Liebling.«
Die beiden letzten Worte galten leider dem Hund.
»Nein, keineswegs.«
»Sie ist eine langweilige Person«, sagte Dora schmollend. »Ich kann gar nicht begreifen, woran Papa gedacht hat, als er mir das fade Ding zur Beschützerin wählte. Wer braucht denn Schutz? Ich gewiß nicht. Jip kann mich viel besser beschützen als Miss Murdstone, – nicht wahr, guter Jip?« Er zwinkerte bloß schläfrig, als sie ihn auf den runden Kopf küßte.
»Papa nennt sie meine vertraute Freundin, aber das ist sie ganz und gar nicht, nicht wahr, Jip? Wir schenken solchen grämlichen Leuten unser Vertrauen gewiß nicht, Jip und ich. Wir suchen uns schon aus, wen wir gerne haben, anstatt uns jemand zuweisen zu lassen, nicht wahr, Jip?«
Jip brummte bejahend. Es hörte sich an wie ein Teekessel.
Für mich war jedes Wort Doras ein neues Glied zu meiner Sklavenkette.
»Es ist sehr hart, weil wir keine liebe Mama haben, an ihrer Stelle ein brummiges, altes Geschöpf wie Miss Murdstone immer auf den Fersen zu haben, nicht wahr, Jip? Aber das ist uns gleichgültig, Jip. Wir wollen nicht mit ihr vertraut sein und werden uns schon selbst so glücklich machen, wie wir können. Wir werden sie schon gallig machen, nicht wahr, Jip.«
Wenn das noch länger gedauert hätte, wäre ich wahrscheinlich vor ihr auf die Knie gefallen, was mir alle weiteren Aussichten sofort abgeschnitten hätte. Aber zum Glück war das Gewächshaus nicht weit. Es enthielt eine wahre Ausstellung von schönen Geranien. Wir gingen an ihnen entlang, und Dora blieb oft stehen, um diese oder jene Blüte zu bewundern. Ich folgte ihrem Beispiel und bewunderte auch immer die gleiche, und schließlich hielt Dora scherzend das Hündchen in die Höhe, damit es an den Blumen rieche. Und wenn wir uns vielleicht auch nicht alle drei im Feenland befanden, ich war bestimmt darin. Wenn ich heute noch an einem Geranium rieche, wundere ich mich über die plötzliche Veränderung, die mit mir vorgeht. Es erscheint ein Strohhut mit blauen Bändern, eine Menge Locken, ein kleiner, schwarzer Hund, den zwei zarte Arme an eine Wand von Blumen und frischen Blättern halten, vor meinen Blicken. Miss Murdstone hatte uns gesucht. Sie fand uns hier und bot ihre unliebenswürdige Wange, deren kleine Runzeln mit Puder gefüllt waren, Dora zum Kuß. Dann nahm sie Doras Arm und ging so steif zum Frühstück wie zu einem Soldatenbegräbnis.
Wie viele Tassen Tee ich trank, bloß weil Dora ihn bereitete, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur, daß ich solche Mengen hinuntergoß, daß mein ganzes Nervensystem hätte zugrunde gehen müssen, wenn ich damals schon eins besessen hätte. Später gingen wir in die Kirche. Miss Murdstone saß zwischen Dora und mir, aber trotzdem hörte ich die Angebetete singen, und die Gemeinde verschwand vor meinen Augen. Ich hörte eine Predigt – natürlich über Dora –; das ist leider alles, was ich von dem Gottesdienst weiß.
Der Tag verging sehr still. Keine Gesellschaft, ein Spaziergang, ein Familiendiner für vier und am Abend Ansehen von Büchern und Bildern. Miss Murdstone hatte ein Predigtbuch vorgenommen und hielt scharf Wache über uns. Ach, wie wenig ahnte Mr. Spenlow, als er nach dem Diner das Taschentuch übers Gesicht gedeckt mir gegenüber ein wenig nickte, wie sehnsüchtig ich ihn in meiner Einbildung als Schwiegervater umarmte. Er ahnte nicht, als wir uns gute Nacht sagten, daß er soeben seine volle Einwilligung zu meiner Verlobung mit Dora gegeben hatte und ich den Segen des Himmels auf sein Haupt herabrief.
Wir fuhren frühmorgens nach der Stadt, denn unser harrte ein Bergungsfall im Admiralitätsgericht, der eine ziemlich genaue Kenntnis der Schiffahrt verlangte und zu dem, da wir in den Commons von solchen Sachen nicht viel verstehen konnten, der Richter zwei alte Mitglieder vom Schiffahrtsbureau himmelhoch gebeten hatte, ihm aus der Klemme zu helfen. Doch saß Dora wieder am Frühstückstisch, den Tee zu bereiten, und ich hatte das traurige Vergnügen, vor ihr im Phaeton den Hut ziehen zu dürfen, während sie, Jip auf den Armen, in der Türe stand.
Es ist unbeschreiblich, wie mir an jenem Tag der Admiralitätsgerichtshof erschien. Ein unglaublicher Wirrwarr herrschte in meinem Kopf, als ich den Verhandlungen zuhörte. Ich las den Namen Dora auf dem silbernen Ruder, das als Emblem des hohen Gerichtshofs auf dem grünen Tisch lag, und als Mr. Spenlow ohne mich nach Hause fuhr – ich hatte mich mit der ungesunden Hoffnung getragen, er werde mich noch einmal mitnehmen –, kam ich mir wie ein Seemann vor, der von seinem Schiff auf einer wüsten Insel zurückgelassen worden ist. Wenn der schläfrige alte Gerichtshof aufwachen und meine Träume von Dora sichtbar machen könnte, die mich in seinen Räumen erfüllten, würde die Aufrichtigkeit meines Berichts an den Tag kommen. Aber nicht nur die Träume, die ich an diesem Tag hatte, sondern Woche für Woche, Monat um Monat. Ich ging zum Gericht, nicht um zuzuhören, sondern um an Dora zu denken. Wenn ich einmal aufpaßte, so geschah es nur bei Ehesachen mit einer Erinnerung an Dora und mit der Frage, wieso verheiratete Leute sich überhaupt scheiden lassen könnten.
In der ersten Woche meines Verliebtseins kaufte ich vier prachtvolle Westen; – nicht meinetwegen, ich machte mir nichts aus ihnen, – aber für Dora. Ich trug gelbe Glacehandschuhe auf der Straße und legte den Grundstein zu all meinen Hühneraugen. Man hätte nur meine damaligen Stiefel mit der natürlichen Größe meiner Füße zu vergleichen brauchen, um sich über den Zustand meines Herzens klarzuwerden.
Und trotzdem ich mich auf diese Art zum Krüppel machte, ging ich doch täglich meilenweit, um Dora zu begegnen. Ich war nicht nur auf der Landstraße nach Norwood so bekannt wie der Briefträger, sondern ich durchstreifte auch London. Ich wanderte in den Straßen umher, wo sich die besten Läden für Damen befanden, ich spukte im Basar herum wie ein ruheloser Geist und schleppte mich immer und immer wieder durch den Park, wenn ich mich auch noch so abgehetzt fühlte. Zuweilen nach langen Zwischenräumen und zu seltnen Gelegenheiten sah ich sie, zuweilen winkte mir ihr kleiner Handschuh hinter einem Wagenfenster zu, manchmal traf ich sie und begleitete sie und Miss Murdstone ein kleines Stück und sprach mit ihr. In einem solchen Fall fühlte ich mich nachher immer höchst unglücklich, weil mir nichts Gescheites eingefallen war oder weil sie keinen Begriff von der Tiefe meiner Liebe hatte oder sich nicht darum kümmerte. Wie man sich leicht denken kann, erwartete ich immer eine neue Einladung von Mr. Spenlow, aber ich täuschte mich jedesmal.
Mrs. Crupp muß eine sehr scharfblickende Frau gewesen sein, denn als ich kaum ein paar Wochen verliebt war, aber noch nicht den Mut fand, an Agnes etwas anderes zu schreiben, als daß ich Mr. Spenlow und seine Familie, die aus einer Tochter bestünde, in seinem Hause besucht habe –, hatte sie es schon herausgekriegt.
Als ich eines Abends sehr schwermütig zu Hause saß, kam sie herauf zu mir und fragte mich, ob ich ihr nicht gegen ihre »Krämpf« mit etwas Kardamom, Rhabarber und sieben Tropfen Nelkenessenz oder, wenn es das nicht sein könnte, mit ein klein wenig Brandy, dem nächstsichersten Mittel, aushelfen möchte. Da ich von der ersten Arznei nie gehört, die zweite jedoch in der Vorratskammer stehen hatte, schenkte ich Mrs. Crupp ein Glas Brandy ein, das sie, um jeden Verdacht, es könnte unrecht verwendet werden, zu beseitigen, in meiner Gegenwart austrank.
»Kopf hoch, Sir!« sagte sie. »Ich kann Sie nicht so sehen, Sir. Ich bin selbst eine Mutter.«
Ich sah nicht recht ein, was dieser Umstand mit mir zu tun hatte, aber ich lächelte Mrs. Crupp, so gütig ich konnte, an.
»Schauen S«, sagte sie. »Entschuldigen S. Ich weiß schon, was is. Es betrifft eine Damö.«
»Mrs. Crupp«, sagte ich und wurde rot.
»Gott segne Ihna. Nur frischen Mut! Reden S nix vom Sterben. Wenns Ihnen nicht anlächelt, gibts genug andere. Sie sind ein junger Herr, wo das Anlächeln schon wert is, und Sie müssens Ihnern Wert kennenlernen, Mr. Copperfull.«
Mrs. Crupp nannte mich immer Mr. Copperfull, erstens, weil es nicht mein Name war, und zweitens, weil sie offenbar immer an ein Portemonnaie »full Kupper« dabei dachte.
»Wieso vermuten Sie, daß eine junge Dame im Spiel ist, Mrs. Crupp?«
»Mr. Copperfull«, sagte Mrs. Crupp mit Gefühl, »ich bin selbst eine Mutter.«
Eine Zeitlang konnte sie nur ihre Hand auf ihren Nankingbusen legen und sich gegen die Wiederkehr des Schmerzes mit kleinen Schlückchen ihrer Medizin wehren. Endlich ergriff sie wieder das Wort.
»Als Ihner liebe Tante diese Zimmer mietete, Mr. Copperfull, war meine Red, ich hätt jetzt jemand, um den ich mich kümmern könnt. Dem Himmel sei Dank! sagte ich. Jetzt hab ich einen gefunden, wo ich mich drum kümmern kann. Sie essen nicht genug und trinken nix.«
»Gründen Sie darauf Ihre Vermutungen, Mrs. Crupp?«
»Wissen S«, sagte Mrs. Crupp in bestimmtem Ton, »ich hab schon für andere junge Herrn gewaschen, als für Ihnen. Ein junger Herr kann zu viel auf sich halten oder zu wenig auf sich halten. Er kann sich das Haar zu regelmäßig bürsten oder zu unregelmäßig bürsten. Er kann viel zu große Stiefel tragen oder was die viel zu kleinen sind. Das kommt drauf an, wie der junge Herr sich seinen Originalcharakter gformt hat. Aber mag er tun, was er will, jedenfalls ist eine junge Damö im Spiel.«
Sie schüttelte den Kopf so bedeutsam, daß ich mir ganz aus dem Sattel gehoben vorkam.
»Ich will nur den Herrn anführen, der was vor Ihnen hier starb. Er verliebte sich in eine Kellnerin und ließ sich die Westen enger machen, obgleich er vom Trinken ganz aufgschwolln gewesen is.«
»Mrs. Crupp«, sagte ich, »ich muß Sie ersuchen, gefälligst die junge Dame, von der in meinem Fall die Rede ist, nicht mit einer Kellnerin in einem Atem zu nenn.«
»Mr. Copperfull, ich bin selbst eine Mutter, und so etwas möcht mir niemals nicht einfallen. Ich bitt Ihna um Entschuldigung, wenn ich zudringlich bin. Es fällt mir niemals nicht ein, zudringlich zu sein, wo ich nicht willkommen bin. Aber Sie sind noch ein junger Herr, Mr. Copperfull, und was mein Rat is, fassens Ihna ein Herz und lernens Ihnern eignen Wert kennen. Wenns Ihna schon zur Zerstreuung auf etwas legen wollen, legens Ihna aufs Kegelschieben, was Ihna zerstreuen und guttun möcht.«
Bei diesen Worten dankte sie verbindlichst für den Brandy – der vollkommen ausgetrunken war – mit einer majestätischen Verbeugung und verließ mich. Als ihre Gestalt im Dunkel des Vorzimmers verschwand, erschien mir ihr Rat allerdings wie eine Zudringlichkeit, aber ich ließ mir ihn zur Warnung dienen, ein Geheimnis in Zukunft besser zu verbergen.