Charles Dickens
David Copperfield - Zweiter Teil
Charles Dickens

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Einundsechzigstes Kapitel.

Zwei interessante Büßer.

Eine Zeitlang – jedenfalls bis ich mit meinem Buche fertig war, was noch mehrere Monate in Anspruch nahm – wohnte ich bei meiner Tante in Dover und schrieb dort ruhig und eifrig weiter an dem Fenster, aus dem ich so oft nach dem Mond auf dem Meere geblickt hatte, als dieses Dach mir zuerst eine Zuflucht gewährte.

Nach meiner Absicht, meine Schriftstellereien nur zu erwähnen, wenn sie wirklich mit dem Verlauf meiner Geschichte in Zusammenhang kommen, will ich hier nicht von den Bestrebungen, den Wonnen, den Ängsten und den Triumphen meiner Kunst sprechen. Daß ich mich ihr mit aufrichtigem Ernst und ganzer Kraft widmete, habe ich schon gesagt. Wenn meine Bücher irgend einen Wert haben, so können sie das übrige sagen. Sonst hätte ich ziemlich nutzlos geschrieben, und das übrige wird niemand interessieren.

Zuweilen besuchte ich London, um mich in dem dortigen Lebensgewühl zu verlieren oder mit Traddles über eine Geschäftssache zu sprechen. Er hatte meine Angelegenheiten während meiner Abwesenheit mit der größten Einsicht verwaltet, und meine Vermögensverhältnisse waren sehr gut. Da mir mein Ruf als Schriftsteller einen ausgedehnten Briefwechsel mit mir unbekannten Leuten zuzog – ihre Briefe handelten meistens von nichts und waren sehr schwer zu beantworten – kam ich mit Traddles überein, an seine Tür meinen Namen anschlagen zu lassen. Hier gaben die unglücklichen Briefträger diesen ganzen Scheffel von Briefen an mich ab; hier saß ich zuzeiten und arbeitete mich durch die Papiermassen, gleich einem Staatssekretär des Innern, nur ohne seinen Gehalt.

Unter diesen Briefen fand sich dann und wann ein verbindliches Anerbieten von einem der zahllosen Winkelkonsulenten, die sich immer in den Commons herumtreiben, und die sich freundlich erboten unter dem Schutze meines Namens – wenn ich Proktor geworden wäre – zu praktizieren und mir einen Gewinnanteil zu bezahlen. Ich schlug aber diese Anerbietungen aus; denn ich wußte, daß schon viele derartige Praktikanten vorhanden waren, und meinte, die wären schlecht genug, ohne daß ich noch etwas hinzutäte.

Die Schwägerinnen waren wieder nach Hause gereist, als mein Name an Traddles' Tür erschien, und der Bursche mit dem pfiffigen Gesicht sah den ganzen Tag aus, als ob er nicht das mindeste von Sophie wüßte, die in einem Hofzimmer saß, und von ihrer Arbeit auf ein rauchgeschwärztes Streifchen Garten, mit einem Brunnen darin, herabsah. Aber dort fand ich sie immer unverändert, die muntere Hausfrau. Und oft summte sie ihre Devonshirer Balladen, wenn kein fremder Fuß die Treppe heraufkam. Der schlaue Bursche in der Expedition wurde dadurch ganz zahm gemacht.

Ich wunderte mich anfangs, warum ich so oft Sophie mit Schreiben beschäftigt fand, und warum sie immer, wenn ich kam, das Buch zumachte und es hurtig in den Tischkasten legte. Aber das Geheimnis löste sich bald. Eines Tages nahm Traddles – der eben durch einen feinen kalten Regen aus dem Gericht gekommen war – ein Papier aus seinem Pulte und fragte mich, was ich von dieser Handschrift halte?

»Ich bitte dich, Tom!« rief Sophie, die seine Hausschuhe vor dem Feuer wärmte.

»Aber warum denn nicht, liebe Sophie,« entgegnete Tom ganz erfreut, »was meinst du zu dieser Hand, Copperfield?«

»Es ist eine sehr gut ausgeschriebene Advokatenhand«, sagte ich. »Ich glaube kaum, daß ich jemals eine so feste Hand gesehen habe.«

»Nicht wie eine Damenhand?« fragte Traddles.

»Eine Damenhand!« wiederholte ich. »Mauersteine und Kalk sind einer Damenhand ähnlicher.«

Traddles brach in ein frohes Gelächter aus und sagte mir, daß es Sophies Handschrift sei; daß Sophie erklärt habe, er werde bald einen Kopisten brauchen, und dieser Kopist werde sie sein, daß sie diese Handschrift nach Vorschriften gelernt, und daß sie, ich weiß nicht mehr wieviel Folioseiten die Stunde schreiben könnte. Sophie wurde sehr verlegen, als er mir das erzählte, und sagte, wenn »Tom« erst Richter wäre, werde er es nicht so bereitwillig ausplaudern. Das leugnete »Tom«, und er behauptete, er werde unter allen Umständen stolz darauf sein.

»Wie durch und durch gut und liebenswürdig deine Frau ist, lieber Traddles«, sagte ich lachend, als sie fort war.

»Lieber Copperfield,« gab Traddles zurück, »sie ist ohne Ausnahme das beste Mädchen von der Welt; wie sie hier wirtschaftet, ihre Pünktlichkeit, ihre häuslichen Kenntnisse, ihre Sparsamkeit und ihre Ordnung, ihr heiterer Sinn, Copperfield!«

»Du hast alle Ursache sie zu loben!« entgegnete ich ihm, »du bist ein glücklicher Mensch. Ich glaube, Ihr macht einander zu den beiden glücklichsten Menschen auf der Welt.«

»Ich bin überzeugt, wir beide gehören unter die glücklichsten Leute«, sagte Traddles. »Ich gebe das unter allen Umständen zu! Du mein Gott, wenn ich sie früh, wenn es noch dunkel ist, bei Lichte aufstehen, und sich mit den Anordnungen für den Tag beschäftigen sehe, wie sie dann auf den Markt geht, ehe die Schreiber kommen, sich um kein Wetter kümmert, die allerdelikatesten kleinen Mittagessen aus den einfachsten Sachen bereitet, Puddings und Pasteten macht, alles an seiner rechten Stelle läßt, und dabei immer selbst so schmuck und hübsch aussieht, auf mich abends wartet, und wenn es noch so spät ist, und immer bei guter Laune, frohen Muts, und alles meinetwegen, so gestehe ich offen, kann ich es manchmal nicht glauben, Copperfield.«

Er tat sogar zärtlich mit den Hausschuhen, die sie gewärmt hatte, wie er sie anzog und im Genuß ihrer Wärme die Füße auf das Kamingitter stützte.

»Ich gestehe offen, ich kann es manchmal nicht glauben«, sagte Traddles. »Und dann unsere Vergnügungen! Gott, sie sind so wenig kostspielig, aber sie sind köstlich! Wenn wir abends zu Hause sitzen und die Stubentür zumachen, und die Vorhänge zuziehen – die sie selbst gemacht hat – wo kann es da gemütlicher sein? Wenn schönes Wetter ist, und wir gehen abends spazieren, so bieten sich uns in den Straßen tausenderlei Genüsse. Wir stehen vor den blitzenden Fenstern der Juwelierläden, und ich zeige Sophie die Schlangen mit den Diamantenaugen, um einen kleinen Hügel von weißem Atlas geschlungen, die ich ihr schenken würde, wenn ich das Geld dazu hätte; Sophie zeigt mir die goldene Uhr mit vier Steinen und wer weiß was noch alles, die sie mir kaufen würde, wenn sie das Geld dazu hätte. Und wir suchen uns die Löffel und Gabeln, die Fischkellen, Buttermesser und Zuckerzangen aus, die wir am liebsten kauften, wenn wir das Geld dazu hätten, und wir gehen wirklich mit dem Gefühl fort, daß wir sie schon hätten! Dann, wenn wir auf die freien Plätze und in die großen Straßen kommen und sehen, daß ein Haus zu vermieten ist, so betrachten wir es uns manchmal und sprechen zueinander: ›Wie würde sich das machen, wenn ich Richter würde?‹ Und wir teilen es ein – dies Zimmer für uns, diese Zimmer für die Mädchen usw., bis wir zu unserer Befriedigung sehen, daß es passen oder nicht passen würde, wie es nun gerade ist. Manchmal gehen wir um den halben Preis ins Theater, ins Parterre – dessen Geruch schon meiner Meinung nach für das Geld billig ist – und da genießen wir wahrhaftig das Stück, von dem Sophie jedes Wort glaubt, und ich auch. Auf dem Nachhauseweg kaufen wir vielleicht eine kleine Delikatesse bei dem Garkoch, oder einen kleinen Hummer beim Fischhändler und nehmen's mit nach Hause, und bereiten uns ein glänzendes Abendessen, wobei wir über das, was wir gesehen haben, plaudern. Nun wirst du zugeben, Copperfield, wenn ich Lordkanzler wäre, könnte ich das nicht tun!«

»Du würdest in jeder Stellung etwas Angenehmes und Liebenswürdiges tun, mein lieber Traddles«, dachte ich. – »Apropos,« sagte ich dann laut, »ich vermute, du zeichnest jetzt keine Gerippe mehr?«

»O doch,« entgegnete Traddles mit Lachen und Erröten, »ich kann es nicht leugnen, lieber Copperfield, Denn wie ich neulich in einer der hinteren Reihen in Kingsbench mit der Feder in der Hand saß, kam ich auf den Einfall, zu versuchen, ob ich in der Kunst noch etwas könnte. Und ich fürchte, es ist ein Gerippe, mit einer Perücke dort auf dem Rande des Pultes zu sehen.«

Nachdem wir uns beide herzlich ausgelacht hatten, fertigte Traddles die Sache damit ab, daß er mit einem Lächeln ins Feuer sah, und mit seiner milden verzeihenden Weise sagte: »Der alte Creakle!«

»Ich habe hier einen Brief von diesem alten – Schurken«, sagte ich. Denn ich konnte ihm niemals weniger die Art, wie er Traddles seinerzeit geprügelt hatte, vergeben, als wenn ich Traddles so bereitwillig sah, ihm zu vergeben.

»Von Creakle, unserm Lehrer?« rief Traddles. »Nein!«

»Unter den Personen, die mein wachsender Ruf an mich heranzieht,« sagte ich, und blätterte meine Briefe durch, »und die jetzt entdecken, daß sie mich immer sehr geliebt haben, ist dieser selbige Creakle. Er ist jetzt nicht mehr Schuldirektor, Traddles. Er hat sich zurückgezogen. Er ist Friedensrichter in Middlessex.«

Ich glaubte, Traddles würde über diese Nachricht verwundert sein, aber er war es durchaus nicht.

»Wie, meinst du wohl, mag er es zum Friedensrichter gebracht haben?« fragte ich.

»Ach Gott!« gab Traddles zur Antwort, »diese Frage wäre wohl schwer zu beantworten. Vielleicht hat er für jemand gestimmt, oder jemand Geld geborgt, oder jemand etwas abgekauft, oder auf andere Weise jemand verpflichtet, eine schmutzige Sache für jemand übernommen, der jemand kannte, der den Lordleutnant der Grafschaft veranlaßte, ihn mit auf die Liste zu setzen.«

»Auf der Liste steht er jedenfalls, sagte ich. »Und er schreibt mir hier, daß er mir mit Vergnügen das einzig wahre System der Gefangenenbehandlung in der Praxis zeigen werde; den einzigen untadelhaften Weg, Verbrecher auf richtige und dauernde Weise zur bessern Erkenntnis und zur Reue zu bringen – wie du wohl weißt, durch Einzelhaft. Was meinst du dazu?«

»Zu dem System?« fragte Traddles, und machte ein ernstes Gesicht.

»Nein. Ob ich die Einladung annehmen soll, und ob du mitkommen willst?«

»Ich habe nichts dagegen«, sagte Traddles.

»Dann will ich es ihm schreiben. Du erinnerst dich – von unsrer Behandlung ganz zu schweigen, – glaube ich, daß dieser selbe Creakle seinen Sohn verstieß, und wie er seiner Frau und seiner Tochter das Leben verbitterte?«

»Ganz genau«, sagte Traddles.

»Und doch, wenn du seinen Brief liest, wirst du finden, daß er der zärtlichste Mensch Gefangenen gegenüber ist, die der schwersten Verbrechen überführt sind, während ich nicht wüßte, daß er seine Zärtlichkeit je auf irgend eine andre Klasse von Geschöpfen erstreckt hat.«

Traddles zuckte die Achseln und war ganz und gar nicht überrascht. Ich hatte das von ihm auch nicht erwartet und war selbst nicht überrascht, oder meine Beobachtung ähnlicher im praktischen Leben sich ereignenden Widersprüche hätte nur eine geringe gewesen sein müssen. Wir besprachen die Zeit unseres Besuches, und ich schrieb demzufolge abends an Mr. Creakle.

An dem bestimmten Tage begaben Traddles und ich uns nach dem Gefängnisse, wo Mr. Creakle allmächtig war. Es war ein weitläufiges und festes Gebäude, das unendlich viel Geld gekostet hatte.

Ich mußte, als wir uns dem Tore näherten, unwillkürlich daran denken, welches Geschrei sich im Lande erhoben hätte, wenn es sich ein betörter Mann hätte einfallen lassen, vorzuschlagen, die Hälfte dieses Geldes auf die Errichtung einer Gewerbeschule für die Jugend oder ein Asyl für alte verdienstvolle Leute zu verwenden.

In seinem Amtszimmer, das im Erdgeschoß des babylonischen Turmes hätte sein können, so fest war es aufgetürmt, wurden wir unserm alten Schuldirektor vorgestellt. Er stand in einer Gruppe von zwei oder drei der geschäftseifrigen Friedensrichter und einigen Gästen, die sie mitgebracht hatten. Er empfing mich wie ein Mann, der meinen Geist in längst vergangenen Tagen gebildet und mich immer zärtlich geliebt hatte. Als ich Traddles vorstellte, sprach es Mr. Creakle in ähnlicher Art, aber in geringerem Grade aus, daß er immer Traddles' Führer, Ratgeber und Freund gewesen sei. Unser ehrwürdiger Lehrer war viel älter geworden, sah aber nicht besser aus. Sein Gesicht war noch so feuerrot wie früher; die Augen waren noch ebenso klein und lagen etwas tiefer. Das dünne, feucht aussehende graue Haar, dessen ich mich noch von früher her erinnerte, war fast verschwunden, und die dicken Adern auf seinem kahlen Kopfe sahen dadurch nicht angenehmer aus.

Nachdem sich diese Herren eine Weile untereinander besprochen hatten, und aus der Unterhaltung hätte ich glauben sollen, daß es auf der Welt nichts Beachtenswerteres gebe, als eine gute Pflege der Gefangenen ohne Rücksicht auf noch so hohe Kosten, und daß auf der ganzen weiten Erde außerhalb der Gefängnisse nichts zu tun sei, begannen wir unsere Besichtigung. Da es jetzt gerade Mittagszeit war, gingen wir zuerst in die große Küche, wo eben das Essen eines jeden Gefangenen besonders angerichtet wurde, um ihm in seine Zelle gebracht zu werden, und zwar mit der Regelmäßigkeit und Genauigkeit eines Uhrwerks. Ich sagte leise zu Traddles, ob es wohl irgend jemand auffallen möchte, welch ein schlagender Gegensatz bestände zwischen diesen reichlichen und sorgfältig zubereiteten Mahlzeiten und dem Essen, nicht etwa der Armen, aber der Soldaten, Seeleute, Arbeiter, der großen Masse der ehrlichen, arbeitenden Gemeinde, von denen nicht einer von fünfhundert Männern je halb so gut speiste. Aber ich wurde belehrt, daß das »System« gute Kost verlangte, und kurz und gut, um mit dem »System« ein für allemal fertig zu werden, fand ich, daß hierbei und bei allem andern das »System« allen Zweifeln ein Ende machte und mit allen Mißständen aufräumte. Niemand schien im geringsten eine Ahnung zu haben, daß noch irgend ein anderes System als »das« System in Betracht kommen könnte.

Als wir durch die prächtig gewölbten Gänge schritten, fragte ich Mr. Creakle und seine Freunde, was die Hauptvorzüge dieses alles übertreffenden Systems seien. Die Vorzüge waren die vollständige Isolierung der Gefangenen, so daß keiner der hier Befindlichen das geringste von dem andern wußte, und die allmähliche Erziehung der Gefangenen zu einem gesunden Gemütszustande, der zu aufrichtiger Zerknirschung und Reue führte. Als wir aber einzeln ihre Zellen besichtigten und durch die Gänge schritten, an denen diese Zellen lagen, und uns erklären ließen, wie sie dem Gottesdienst beiwohnten, da kam es mir sehr wahrscheinlich vor, daß die Gefangenen ziemlich viel voneinander wüßten und ziemlich vollständig miteinander im Verkehr standen. Das ist seitdem, glaube ich, nachgewiesen worden; da aber die bloße Erwähnung eines solchen Zweifels entschiedene Ketzerei gewesen wäre, sah ich mich so fleißig wie nur möglich nach der Buße um.

Und auch hier konnte ich mich nicht von Mißtrauen freimachen. Ich fand in der Form der Buße eine Mode so vorherrschend, wie draußen an den Röcken und Westen in den Schneiderläden. Ich fand sehr viel Zurschautragen von Reue, das sich überall fast ganz gleich blieb und selbst in den Worten nur sehr wenig voneinander abwich, was mir außerordentlich verdächtig vorkam. Ich fand sehr viel Füchse, die ganze Weinberge von unerreichbaren Trauben verschmähten; aber ich fand sehr wenig Füchse, denen ich im Bereich einer einzigen Traube getraut hätte. Vor allem fand ich, daß jene, die ihre Reue am meisten zur Schau trugen, die allergrößte Teilnahme erweckten, und daß ihre Eitelkeit, der Mangel an Unterhaltung, und ihre Liebe zur Heuchelei – die viele von ihnen in fast unglaublichem Maße besaßen, wie ihre Verbrechergeschichte zeigte – sie zu diesem Zurschautragen antrieben, und daß sie darin Befriedigung fanden.

Doch ich hörte im Verlauf unserer Besichtigung so oft eine gewisse Nummer 27 erwähnen, die ein Liebling war und ein Mustergefangener zu sein schien, daß ich mein Urteil verschob, bis ich Nummer 27 gesehen. Nummer 28 war, wie ich hörte, ebenfalls ein ganz besonders glänzender Stern; aber er hatte das Unglück, daß seine Pracht neben dem außerordentlichen Glanze von Nummer 27 etwas erblich. Ich hörte so viel von Nummer 27, von seinen frommen Ermahnungen an alle, die in seine Nähe kamen, und von den schönen Briefen, die er beständig an seine Mutter schrieb – die er für eine große Sünderin zu halten schien, – daß ich seinen Anblick wirklich mit Ungeduld erwartete.

Ich mußte jedoch meiner Ungeduld noch einige Zeit Zügel anlegen, weil Nummer 27 als Schlußeffekt vorbehalten war. Aber endlich standen wir vor der Tür seiner Zelle, und Mr. Creakle, der durch ein kleines Loch hineingeblickt hatte, berichtete uns mit der größten Bewunderung, daß er in einem Gesangbuch lese.

So viele Köpfe stürzten sofort vor, um Nummer 27 im Gesangbuch lesen zu sehen, daß das kleine Loch von mindestens sechs Köpfen auf einmal besetzt war. Um diesem Übelstande abzuhelfen, und uns eine Gelegenheit zu geben, mit Nummer 27 in ihrer ganzen Reinheit zu sprechen, ließ Mr. Creakle die Tür der Zelle aufschließen und Nummer 27 auf den Gang herauskommen. Das geschah, und wen anders sollten Traddles und ich zu unserm größten Erstaunen in dieser bekehrten Nummer 27 erblicken, als Uriah Heep!

Er erkannte uns sogleich, und sagte, wie er heraustrat, mit der alten kriechenden Bewegung: »Wie geht es Ihnen, Mr. Copperfield? Wie geht es Ihnen, Mr. Traddles?«

Diese Bekanntschaft erregte die Bewunderung aller Anwesenden. Mir schien es fast, als wunderten sie sich, daß er nicht stolz war und uns beachtete.

»Nun,« fragte Mr. Creakle, und bewunderte ihn mit melancholischer Teilnahme, »wie befinden Sie sich heute?«

»Ich bin sehr demütig, Sir!« entgegnete Uriah Heep.

»Das sind Sie immer, Nummer 27«, sagte Mr. Creakle.

Hier fragte ein anderer Herr außerordentlich angelegentlich: »Sind Sie auch wirklich mit allem zufrieden?«

»Ja, ich danke Ihnen, Sir!« sagte Uriah Heep, und blickte dahin, wo der Herr stand. »Ich befinde mich hier viel besser als jemals draußen. Ich erkenne jetzt meine Torheiten, Sir. Und deshalb befinde ich mich wohl.«

Mehrere der Herren waren sehr gerührt, und ein dritter Herr drängte sich vor, und fragte mit außerordentlichem Gefühl: »Und wie finden Sie denn das Rindfleisch?«

»Ich danke Ihnen, Sir,« entgegnete Uriah, und blickte jetzt nach dieser Seite, »es war gestern zäher als mir lieb war; aber es war meine Pflicht, still zu dulden. Ich habe Torheiten begangen, meine Herren,« sagte Uriah, und sah sich mit demütigem Lächeln um, »und muß nun die Folgen ohne Murren tragen.«

Es erhob sich ein Gemurmel, halb zusammengesetzt aus Befriedigung über Siebenundzwanzigs himmlischen Gemütszustand, und halb aus Entrüstung über den Lieferanten, der ihm Ursache zur Klage gegeben hatte – was Mr. Creakle sofort notierte – stand Nummer 27 in unserer Mitte, als ob er sich als das schönste Stück in einem sehr schönen Museum fühlte. Damit uns Neulinge auf einmal ein Übermaß von Licht blenden sollte, wurde auch Nummer 28 herausbefohlen.

Ich war schon so sehr erstaunt, daß ich es nur bis zu einer Art resignierter Verwunderung bringen konnte, als Mr. Littimer heraustrat, in der Hand ein gutes Buch!

»Achtundzwanzig«, sagte ein Herr mit einer Brille, der noch nicht gesprochen hatte, »Sie beklagten sich vorige Woche über den Kakao. Wie ist er seitdem gewesen?«

»Ich danke Ihnen, Sir«, entgegnete Mr. Littimer, »er war besser. Wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, es zu erwähnen, Sir, so glaube ich nicht, daß die Milch, mit der er gekocht wird, ganz rein ist; aber ich weiß recht gut, Sir, daß man in London die Milch sehr verfälscht, und daß reine Milch nur sehr schwer zu erlangen ist.«

Es schien mir, daß der Herr mit der Brille seine Achtundzwanzig gegen Mr. Creakles' Siebenundzwanzig ausspielte, denn jeder von den beiden ritt seinen Mann vor.

»Wie ist Ihr Seelenzustand, Achtundzwanzig?« fragte der Herr mit der Brille.

»Ich danke Ihnen, Sir,« entgegnete Mr. Littimer, »ich erkenne jetzt meine Torheiten, Sir, es macht mir sehr viel Kummer, wenn ich an die Sündhaftigkeit meiner frühern Genossen denke; aber ich hoffe, sie werden Vergebung finden.«

»Und Sie selbst sind ganz glücklich?« fragte der Herr, und nickte ihm ermutigend zu.

»Ich danke Ihnen recht sehr, Sir,« entgegnete Mr. Littimer, »vollkommen glücklich.«

»Haben Sie ein Anliegen auf dem Herzen,« sagte jetzt der Herr, »dann sprechen Sie es aus, Achtundzwanzig?«

»Sir,« sagte Mr. Littimer, ohne aufzublicken, »wenn mich meine Augen nicht getäuscht haben, so ist ein Herr hier, der mich in meinem frühern Leben gekannt hat. Es kann diesem Herrn von Nutzen sein, wenn er weiß, Sir, daß ich meine frühern Torheiten ganz dem Umstande zuschreibe, daß ich ein leichtsinniges Leben im Dienste junger Herren verbracht, und mich von ihnen zu Schwächen habe hinreißen lassen, denen zu widerstehen ich nicht stark genug war. Ich hoffe, der Herr wird das als Warnung annehmen, und mir es nicht als Anmaßung auslegen. Es geschieht zu seinem besten. Ich bin mir meiner frühem Torheiten bewußt. Er wird alle Sünde und Unrecht bereuen, an dem er teilgenommen hat.«

Ich bemerkte, daß mehrere Herren sich eine Hand vor die Augen hielten, als ob sie eben in eine Kirche getreten wären.

»Das macht Ihnen Ehre, Achtundzwanzig«, entgegnete der Herr mit der Brille. »Ich hatte es von Ihnen erwartet. Haben Sie sonst noch etwas?«

»Sir,« gab Mr. Littimer zur Antwort, und zog ein wenig die Augenbrauen in die Höhe, ohne aber die Augen aufzuschlagen, »ich kannte ein Mädchen, das in einen schlechten Lebenswandel verfiel, und das ich zu retten versuchte, was mir aber nicht gelang. Ich bitte diesen Herrn, wenn es in seiner Macht steht, diesem Mädchen von mir zu sagen, daß ich ihr schlechtes Benehmen gegen mich verzeihe, und daß ich sie zur Reue ermahne – wenn er so gut sein will.«

»Ich bezweifle nicht, Achtundzwanzig,« sagte jetzt der Herr, »daß der Herr, von dem Sie sprechen, so tief wie wir alle fühlen, was Sie so angemessen ausgedrückt haben. Wir wollen Sie nicht länger stören.«

»Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Mr. Littimer. »Meine Herren, ich wünsche Ihnen guten Tag, und hoffe, daß Sie und Ihre Familien ebenfalls Ihre Sünden einsehen und sich bessern!«

Damit entfernte sich Nummer 28, nachdem er noch einen Blick mit Uriah gewechselt hatte, als ob sie nicht so ganz und gar unbekannt miteinander wären, und ein Gemurmel ging durch die Versammelten, als die Tür hinter ihm geschlossen wurde, daß er ein sehr achtbarer Mann und ein wahres Prachtexemplar sei.

»Nun, Siebenundzwanzig,« fragte Mr. Creakle, der jetzt mit seinem Mann auf die freie Bahn kam, »kann jemand etwas für Sie tun? Dann sagen Sie es nur.«

»Ich wollte in aller Demut um Erlaubnis bitten, wieder einmal meiner Mutter schreiben zu dürfen«, entgegnete Uriah, und verzerrte sein tückisches Gesicht.

»Das soll Ihnen gewiß gestattet werden«, erwiderte Mr. Creakle.

»Ich danke Ihnen, Sir! Ich bin in großer Sorge wegen der Mutter. Ich fürchte, sie ist nicht sicher.«

Jemand fragte unvorsichtigerweise: »Sicher, wovor?« Aber als Antwort darauf ertönte ein entrüstetes »scht! scht!«

»Sicher im ewigen Leben, Sir«, gab Uriah zur Antwort, und krümmte sich nach der Richtung der Stimme hin, »Ich wollte, die Mutter wäre in meinem Zustande. Ich hätte nie meinen gegenwärtigen Zustand erreicht, wenn ich nicht hierher gekommen wäre. Ich wollte, die Mutter käme hierher. Es wäre für alle besser, wenn sie eingesteckt und hierher gebracht würden.«

Diese Äußerung erregte unbegrenzte Befriedigung – wie mir schien, größere Befriedigung als jede andere an diesem Tage vernommene.

»Ehe ich hierher kam,« sagte Uriah, und warf uns einen Seitenblick zu, als ob er die äußere Welt, zu der wir gehörten, vergiften wollte, wenn er könnte, »beging ich Torheiten; aber jetzt erkenne ich meine Torheiten. Es ist viel Sünde draußen. Es ist viel Sünde in meiner Mutter. Es ist nichts als Sünde überall – außer hier.«

»Also, Sie haben sich sehr verändert!« sagte Mr. Creakle.

»O Gott, ja, Sir!« rief der hoffnungsvolle Büßende.

»Würden Sie nicht rückfällig werden, wenn Sie wieder herauskämen?« fragte jemand.

»O mein Gott, nein, Sir!«

»Es freut uns sehr, das zu hören«, sagte Mr. Creakle. »Sie haben vorhin Mr. Copperfield begrüßt, Siebenundzwanzig. Wünschen Sie ihm noch etwas zu sagen?«

»Sie kannten mich lange Zeit, bevor ich hierher kam und ganz anders wurde, Mr. Copperfield«, sagte Uriah und sah mich mit einem so tückisch lauerndem Blick an, wie ich ihn selbst an ihm noch nicht gesehen hatte. »Sie kannten mich, als ich trotz meiner Torheiten demütig war unter den Stolzen und sanft unter den Gewalttätigen. Sie waren selbst gewalttätig gegen mich, Mr. Copperfield. Einmal schlugen Sie mich ins Gesicht, Sie wissen es noch.«

Allgemeines Mitleid. Verschiedene zornige Blicke wurden auf mich geworfen.

»Aber ich verzeihe Ihnen, Mr. Copperfield«, sagte Uriah, und benutzte, um seine zur Verzeihung geneigte Natur ins rechte Licht zu stellen, einen gotteslästerlichen Vergleich, den ich hier nicht niederschreiben will. »Ich vergebe allen. Es würde mir selbst schlecht anstehen, Groll im Herzen zu hegen. Ich vergebe Ihnen vollständig und freiwillig und hoffe, Sie werden in Zukunft Ihre Leidenschaften bezähmen. Ich hoffe, Mr. W. wird bereuen, und Miß W. und die ganze sündhafte Rotte dort. Sie sind mit großem Leid heimgesucht worden, und ich hoffe, daß es Ihnen gut tun möge; aber besser wäre es, Sie kämen hierher. Mr. W. sollte lieber hierher kommen und auch Miß W. Das beste, was ich Ihnen wünschen kann, Mr. Copperfield, und allen diesen Herren, ist, daß man sie einstecke und hierher brächte. Wenn ich an meine früheren Torheiten denke und an meinen gegenwärtigen Zustand, fühle ich, daß dies das beste für Sie wäre. Ich bedaure alle, die nicht hierher kommen!«

Er schlurfte wieder in seine Zelle zurück, begleitet von einem Chor unterdrückten Beifalls, und sowohl Traddles als ich fühlten uns sehr erleichtert, als die Tür hinter ihm wieder geschlossen war.

Es war ein charakteristisches Zeichen dieser Besserungsanstalt, daß ich erst nach der Ursache des Hierseins dieser beiden Verbrecher fragen mußte. Wie es schien, war das das letzte, von dem die Rede sein konnte. Ich wendete mich daher an einen der beiden Gefangenenwärter, die, wie ich nach einigen leisen Andeutungen in ihren Gesichtern argwöhnte, recht wohl wußten, wie sie mit den beiden Prachtexemplaren daran waren.

»Wissen Sie vielleicht,« sagte ich, als wir durch den Gang schritten, »aus welchem Verbrechen Nummer 27 letzte ›Torheit‹ bestand?«

Die Antwort war, es sei eine Banksache gewesen.

»Eine Betrügerei gegen die Bank von England?« fragte ich.

»Ja, Sir. Betrug, Fälschung, Komplott. Er und noch ein paar andere. Er leitete die andern an. Es war ein tief angelegter Plan und galt einer bedeutenden Summe. Das Urteil lautete auf lebenslängliche Deportation. Siebenundzwanzig war der Schlaueste von der Bande und hätte sich beinahe herausgelogen; aber nicht ganz. Die Bank war gerade noch imstande, ihm Salz auf den Schwanz zu streuen – aber auch nur mit knapper Not.«

»Wissen Sie, was Achtundzwanzig verbrochen hat?«

»Achtundzwanzig«, sagte mir der Mann in leisem Tone und mit einem vorsichtigen Blick über die Achsel, um nicht bei so statutenwidrigen Äußerungen über die Unbefleckten von Creakle und den übrigen belauscht zu werden; »Achtundzwanzig – ebenfalls Deportation – erhielt einen Dienst und stahl einem jungen Herrn so an 250 Pfund in Geld und Wertsachen am Tage vor einer Reise ins Ausland. Ich erinnere mich deshalb des Falles noch sehr deutlich, weil der Verbrecher von einer Zwergin gefaßt wurde.«

»Von wem?«

»Von einer Zwergin. Ich habe den Namen vergessen.«

»Doch nicht Mowcher?«

»Ja, ja, so hieß sie. Er war allen seinen Verfolgern entgangen und war im Begriff, sich mit einer falschen Perücke und falschem Bart, und unerkennbar verkleidet, nach Amerika einzuschiffen, als ihn die kleine Frau, die gerade in Southampton war, zufällig auf der Straße traf – und ihn mit ihrem scharfen Blick unverzüglich erkannte – ihm zwischen die Beine lief, um ihn umzuwerfen – und ihn festgepackt hielt, wie der Tod.«

»Bravo, wackre kleine Miß Mowcher!« rief ich.

»Das hätten Sie auch gesagt, wenn Sie die kleine Frau während der Verhandlungen in der Zeugenloge auf einem Stuhl hätten stehen sehen«, sagte mein Freund. »Er schlug ihr das Gesicht blutig und hämmerte ihr auf die gräßlichste Weise auf dem Kopf herum, als sie ihn gepackt hielt; aber sie ließ nicht eher los, als bis er eingesperrt war. Sie hielt ihn so fest, daß die Polizeibeamten beide festnehmen mußten. Sie gab ihre Zeugenaussagen in der bestimmtesten und unerschütterlichsten Weise ab, erhielt große Lobsprüche von den Richtern und wurde mit beifälligem Hurra nach Hause geleitet. Sie sagte vor Gericht, sie hätte ihn ganz allein angegriffen – wegen der Schändlichkeiten, die sie von ihm wußte, – und wenn er so stark wie Simson gewesen wäre. Und das glaube ich ihr wahrhaftig.«

Ich glaubte es auch, und hielt Miß Mowcher deshalb in hoher Achtung.

Wir hatten jetzt alles gesehen, was zu sehen war. Es wäre vergebliche Mühe gewesen, einem Mann wie dem ehrenwerten Mr. Creakle vorzustellen, daß Siebenundzwanzig und Achtundzwanzig noch ganz dasselbe wären, was sie früher gewesen: daß die heuchlerischen Schurken gerade die Leute seien, die an einem solchen Ort eine solche Maske vornehmen würden, daß sie ihren Marktpreis durch die sofortigen Dienste, die sie ihnen nach ihrer Deportation leisten würde, mindestens so gut kennten, wie wir, mit einem Worte, daß es eine faule, hohle, höchst widerwärtige Gedanken erregende Sache sei. Wir überließen sie ihrem System und sich selber und gingen, höchlich verwundert, nach Hause.

»Vielleicht ist es gut, Traddles,« sagte ich, »wenn anfangs schlechte Steckenpferde scharf geritten werden; um so eher werden sie zu Tode geritten.«

»Das hoffe ich«, entgegnete Traddles.


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