Charles Dickens
David Copperfield - Zweiter Teil
Charles Dickens

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Einundfünfzigstes Kapitel.

Der Beginn einer längeren Reise.

Es war noch früh am Morgen des folgenden Tages; ich ging gerade mit meiner Tante im Garten spazieren, – wir machten uns kaum eine andere Bewegung, da wir wegen meiner geliebten Dora viel zu Hause waren – als man meldete, daß Mr. Peggotty mit mir zu sprechen wünsche. Er trat in den Garten, als ich nach der Tür ging, und nahm den Hut ab, wie stets, wenn er meine Tante sah, die er in hoher Achtung hielt. Ich hatte ihr alles erzählt, was gestern geschehen war. Ohne ein Wort zu sprechen, trat sie mit herzlichem Gesicht auf ihn zu, schüttelte ihm die Hand und klopfte ihm auf den Arm. Das geschah in so ausdrucksvoller Weise, daß sie kein Wort zu sagen brauchte. Mr. Peggotty verstand sie so gut, als ob sie tausend Worte gesprochen hätte.

»Ich will jetzt hineingehen, Trot«, sagte meine Tante, »und nach Maßliebchen sehen, denn es wird gleich aufstehen.«

»Sie gehen doch nicht etwa meinetwegen, Madame«, sagte Mr. Peggotty. »Wenn ich nicht ganz konfus geworden bin, so wollen Sie meinetwegen gehen?«

»Sie haben meinem Neffen etwas zu erzählen, guter Freund,« entgegnete meine Tante, »und es wird ohne mich besser gehen.«

»Wenn Sie erlauben, Madame,« entgegnete Mr. Peggotty, »so würde ich lieber haben, daß Sie hier bleiben, Sie müssen es aber schon mit in Kauf nehmen, wenn meine Rederei etwas weitschweifig ist.«

»Wirklich?« sagte meine Tante gutmütig. »Dann will ich recht gern dableiben.«

Damit gab sie Mr. Peggotty den Arm und ging mit ihm nach einer kleinen Laube im Hintergrunde des Gartens, wo sie sich auf eine Bank setzte und ich neben ihr Platz nahm. Auch für Mr. Peggotty war ein Sitz da, aber er wollte lieber stehen und stützte die Hand auf das hölzerne Tischchen.

Wie er so dastand und erst eine Weile seine Mütze ansah, bevor er zu sprechen anfing, konnte ich nicht umhin, die gewaltige Kraft zu bemerken, die sich in seinem sehnigen Arm zu erkennen gab, und wie gut sie zu seiner ehrlichen Stirn und zu seinem graumelierten Haar paßte.

»Ich nahm mein geliebtes Kind gestern abend mit in meine Wohnung,« fing Mr. Peggotty an, wie er seine Blicke wieder zu uns erhoben hatte, »wo ich sie seit langer Zeit erwartet und alles für sie eingerichtet hatte. Stunden vergingen, ehe sie mich ordentlich kannte; und als das der Fall war, kniete sie nieder vor mir und sagte mir in einem Tone, als ob sie betete, wie alles gekommen sei. Sie können mir glauben, als ich ihre Stimme hörte, wie ich sie zu Hause so kindlich gehört hatte, und als ich sah, wie sie sich beugte, wie in dem Staube, in den unser Heiland mit seiner gesegneten Hand schrieb, da fühlte ich, wie eine Wunde durch mein Herz ging inmitten seiner seligen Dankbarkeit.«

Er fuhr mit dem Rockärmel über das Gesicht, ohne zu versuchen, seine Bewegung zu verbergen, und räusperte sich dann.

»Aber das dauerte bei mir nicht lange, denn ich hatte sie ja gefunden! Ich brauchte ja nur dran zu denken, daß ich sie gefunden hätte, da war das andre fort. Ich weiß auch gar nicht mal, warum ich es jetzt noch erwähne. Ich hatte noch vor einer Minute nicht die Absicht, davon zu reden, aber es kam so von selbst, daß ich es gar nicht merkte.«

»Sie sind ein Herz voll Selbstverleugnung«, sagte meine Tante, »und werden Ihren Lohn bekommen.«

Mr. Peggotty, über dessen Antlitz die Schatten der Blätter spielten, verbeugte sich überrascht gegen meine Tante in Anerkennung ihrer Lobsprüche, und fuhr dann in seiner Erzählung fort.

»Als meine Em'ly aus dem Hause floh, wo sie von dem schlechten Kerl wie 'ne Gefangene gehalten wurde,« sagte er, und ein finsterer Zorn übermannte ihn für einen Augenblick, »war es finstere Nacht. Mas'r Davy, was die giftige Schlange Ihnen von dem Einsperren gesagt hatte war richtig und Gott wolle ihn strafen. Es war eine dunkle Nacht, und viele Sterne schienen. Sie war wie wahnsinnig. Sie lief am Ufer hin und glaubte, das alte Boot sei dort, und rief uns zu, unsere Augen wegzuwenden, denn sie komme vorüber. Sie hörte sich selbst rufen, als ob sie eine andere Person sei, und verwundete sich an den scharfen Steinen und Klippen, und fühlte es nicht mehr, als ob sie selbst Stein wäre. Und sie lief weit, weit, immer weiter und weiter, und Feuer stand ihr vor den Augen, und es brauste ihr in den Ohren. Auf einmal – oder sie dachte so, wissen Sie – brach der Tag regnerisch und windig an; sie lag neben einem Stein am Strande, und eine Frau redete sie an und fragte in der Sprache jenes Landes, was ihr fehle.«

Mr. Peggotty sah alles, was er erzählte. Wie er sprach, schwebte es so lebendig an ihm vorüber, daß er in seiner Lebhaftigkeit alles, was er beschrieb, mit größerer Deutlichkeit darstellte, als ich erzählen kann. Jetzt, wo ich es nach so langer Zeit niederschreibe, ist es mir immer noch, als ob ich dabei gewesen wäre; mit so lebendiger Treue stehen diese Szenen vor mir.

»Als Emilie – deren Augen schwer und halb blind geworden waren vom Weinen – diese Frau besser ansah,« fuhr Mr. Peggotty fort, »da erkannte sie in ihr eine, mit der sie oft am Strande gesprochen hatte. Denn obgleich sie die Nacht hindurch eine große Strecke geflohen war, so war sie doch oft früher schon lange Strecken gegangen und gefahren, und kannte die ganze Umgegend auf mehrere Meilen. Die Frau hatte selbst keine Kinder und war noch sehr jung; aber sie erwartete eins. Und möchte Gott meine Bitte erhören, daß es ihr ganzes Leben lang ein Glück und ein Trost und eine Ehre für sie wird! Möge es die Mutter in ihrem Alter lieben und pflichtgetreu sein; ihr immer eine Hilfe bleiben, und hier und droben ein Engel sein.«

»Amen!« sagte meine Tante.

»Sie war anfangs etwas schüchtern gewesen«, fuhr Mr. Peggotty fort, »und hatte abseits bei ihrem Spinnrocken oder andrer Arbeit gesessen, wenn Emilie mit den Kindern sprach. Aber Emilie hatte sie wohl beachtet, war zu ihr gegangen und hatte sie angeredet, und da die Frau selbst die Kinder lieb hatte, so wurden sie bald gute Freunde, so sehr, daß sie Emilie einen Strauß schenkte, wenn sie sich begegneten. Das war die Frau, die jetzt fragte, was ihr begegnet sei. Emilie erzählte ihr alles, und sie nahm sie mit nach Hause. Das tat sie. Sie nahm sie mit nach Hause«, sagte Mr. Peggotty und hielt sich die Hände vor das Gesicht.

Er war von dieser menschenfreundlichen Handlung mehr gerührt, als ich ihn seit dem Abend, wo sie entflohen war, bewegt gesehen hatte. Meine Tante und ich versuchten nicht, ihn zu stören.

»Es war nur ein kleines Hüttchen, können Sie sich denken,« fuhr er gleich darauf fort, »aber sie fand für Emilie einen Platz darin – denn ihr Mann war auf der See – und sie hielt sie versteckt, und bewog auch ihre Nachbarn, – sie hatte nicht viele – sie nicht zu verraten. Emilie bekam ein schlimmes Fieber, und was mir sehr wunderbar vorkommt – vielleicht ist es aber den gelehrten Leuten nicht wunderbar – sie vergaß die Sprache jenes Landes und konnte nur die Muttersprache reden, die niemand verstand. Sie erinnert sich's wie im Traum, daß sie dagelegen hat und immer in ihrer Muttersprache redete und immer glaubte, das alte Boot stehe hinter der nächsten Spitze in der Bucht und bat und flehte, hinzuschicken und zu melden, sie liege im Sterben, und Verzeihung zurückzubringen, wenn es auch nur ein Wort sei. Fast die ganze Zeit über glaubte sie, daß er, den ich eben genannt hatte, unter ihrem Fenster horche, oder daß er, der sie soweit gebracht habe, im Zimmer sei – und bat die gute Frau flehentlich, sie nicht auszuliefern, und wußte doch auch zu gleicher Zeit, daß diese sie nicht verstehen konnte, und fürchtete, sie müßte fortgebracht werden. Und Feuer war vor ihren Augen, noch immer und noch immer brauste es ihr in den Ohren, und es gab für sie kein Heute und kein Gestern und kein Morgen, sondern alles in ihrem Leben, was jemals vorgefallen war oder jemals vorfallen konnte, und alles, was nie dagewesen war und nie kommen konnte, stürmte auf einmal auf sie ein, und nichts war ihr klar und wohltuend, und doch sang und lachte sie darüber! Wie lange dies dauerte, weiß ich nicht; aber dann verfiel sie in einen Schlaf, und in diesem Schlafe war sie viel stärker, als ihrer natürlichen Kraft nach möglich war, aber hinterher wurde sie so schwach wie das kleinste Kind.«

Hier hielt er inne, als wollte er sich von den Schreckbildern seiner eigenen Beschreibung erholen. Nachdem er einige Augenblicke geschwiegen hatte, fuhr er in seiner Erzählung fort:

»Es war ein wunderschöner Nachmittag, als sie erwachte, und so still, daß man nichts hörte als das leise Rauschen des blauen Meeres. Anfangs glaubte sie, sie sei zu Hause, und es sei Sonntag morgen; aber die Weinreben vor dem Fenster und die Berge dahinter waren nicht ihre Heimat und belehrten sie eines andern. Dann kam ihre gute Freundin herein, um neben ihrem Bette zu wachen; und da wußte sie, daß das alte Boot nicht mehr hinter der nächsten Spitze der Bucht stehe, sondern weit entfernt sei, und wußte wo sie war und warum; und fing an zu weinen an dem Busen der guten Frau, wo, wie ich hoffe, jetzt ihr Säugling liegt und sie mit seinen hübschen Äugelchen anlächelt!«

Er konnte diese Freundin Emilies nicht ohne eine Flut von Tränen erwähnen. Er versuchte es vergebens. Er fing wieder an zu schluchzen, indem er über sie einen Segenswunsch aussprechen wollte.

»Das tat meiner Emilie gut,« fing er an nach einer Bewegung, die ich nicht sehen konnte, ohne sie zu teilen; und auch meine Tante weinte aus vollem Herzen; »das tat Emilie gut, und es wurde besser mit ihr. Aber sie hatte die Sprache jenes Landes ganz vergessen und sah sich genötigt, durch Zeichen zu reden. So ging es fort, und sie wurde besser jeden Tag, langsam, aber sicher, und sie versuchte, die Namen der gewöhnlichen Gegenstände zu lernen – es kam ihr vor, als ob sie diese nie in ihrem Leben gehört hätte – bis ein Abend kam, wo sie am Fenster saß und einem kleinen Mädchen zusah, das am Strande spielte. Und plötzlich hielt ihr das Kind etwas entgegen und sagte, was auf Englisch heißen würde: ›Fischerstochter, hier ist eine Muschel‹ – denn Sie müssen wissen, daß sie sie erst schöne Dame nannten, wie das dort so Sitte ist, und daß sie sie gelehrt hatte, sie dafür Fischerstochter zu nennen. Das Kind sagte plötzlich: ›Fischerstochter, hier ist eine Muschel!‹ Und da verstand sie Emilie, und sie antwortete und brach in Tränen aus, und es fiel ihr alles wieder ein.«

»Als Emilie wieder genesen war,« sagte Mr. Peggotty abermals nach einer kurzen Pause, »so sann sie auf Mittel, die gute junge Frau zu verlassen und nach ihrem Vaterlande zu gelangen. Der Mann war jetzt wieder nach Hause zurückgekehrt, und beide brachten sie auf einen kleinen Kauffahrer, der nach Livorno fuhr und von dort nach Frankreich. Sie hatte noch etwas Geld bei sich, aber sie wollten nur eine ganze Kleinigkeit nehmen für alles, was sie an ihr getan haben. Das freut mich, wenn sie auch sehr arm waren, denn was sie getan haben, ist dort aufbewahrt, wo weder Motten noch Rost schaden und wo Diebe nicht einbrechen oder stehlen. Master Davy, es währet länger als alle Schätze der Welt! –

Emilie erreichte Frankreich und trat in Dienst, um in einem Wirtshause am Hafen reisenden Damen aufzuwarten. Da kam eines Tages dorthin jene Schlange. – Möge er mir niemals vor Augen kommen. Ich weiß nicht, was ich ihm Böses antun würde! – Sobald sie ihn erblickte, ohne daß er sie sah, kehrte ihre ganze Furcht und ihr Schrecken zurück, und sie entfloh schon vor der Luft, die er einatmete. Sie begab sich nach England und stieg zu Dover an Land.

Ich weiß nicht, wo ihr der Mut zu sinken anfing; aber auf der ganzen Reise nach England hatte sie beabsichtigt, ihr liebes Vaterhaus aufzusuchen. Sowie sie England erreichte, machte sie sich dahin auf. Aber die Furcht, keine Verzeihung zu finden, die Furcht, daß mit Fingern auf sie gedeutet würde, die Furcht, daß von uns einige ihretwegen gestorben sein könnten, die Furcht vor vielen Sachen machte sie unterwegs fast mit Gewalt andern Sinnes.

›Onkel, Onkel‹ sagte sie zu mir, ›die Furcht, nicht würdig zu sein, das zu tun, wonach sich meine zerrissene und blutende Brust so sehr sehnte, war meine ärgste Furcht! Ich kehrte um, als mein Herz voll war von Gebeten, daß ich nachts nach der alten Schwelle kriechen, sie küssen, mein sündiges Gesicht auf sie legen oder dort morgen tot gefunden werden könnte.‹ –

So kam sie denn nach London«, sagte Peggotty, und dämpfte seine Stimme zu einem bangen Flüstern herab. »Sie, die es nie in ihrem Leben gesehen hatte – allein – ohne einen Penny – jung – so hübsch – kam nach London! Fast in dem Augenblick, wo sie so ganz verlassen dort ankam, fand sie, wie sie glaubte, eine Freundin, eine anständige Frau, die ihr von Näharbeit vorredete, die sie ihr verschaffen wollte; von einer Unterkunft für die Nacht, und von geheimen Nachforschungen über mich und uns alle, die sie morgen anstellen wollte. Als mein Kind«, sagte er laut und mit einem Ausdruck der Dankbarkeit, der seinen ganzen Körper durchzitterte, »vor einem tiefern Abgrund stand, als ich sagen oder denken kann, da rettete sie Martha, getreu ihrem Versprechen!«

Ich konnte einen Ausruf der Freude nicht unterdrücken.

»Master Davy!« sagte er und packte meine Hand mit seiner starken Hand, »Sie haben sie zuerst gegen mich erwähnt. Ich danke Ihnen dafür, Sir; sie meinte es ernstlich! Sie hatte aus eigner bitterer Erfahrung gelernt, wo sie zu wachen und was sie zu tun hatte. Sie hat es getan. Und der Herr wacht über alle! Blaß und hastig kam sie zu Emilie, als diese schlief. Sie sagte zu ihr: ›Flieh vor etwas schlimmerem als der Tod ist, und komm mit mir!‹ Die in dem Haus wollten es ihr verwehren, aber sie hätten ebensogut das Meer aufhalten können. ›Tretet zurück‹, sagte sie, ›ich bin ein Geist, der sie von ihrem offenen Grabe zurückruft!‹

Dann erzählte sie Emilien, sie habe mich gesehen und wisse, daß ich sie liebe und ihr verziehen habe. Sie hüllte sie hastig in ihre Kleider ein. Sie nahm sie halb ohnmächtig und zitternd auf ihren Arm. Sie achtete nicht mehr auf das, was sie sagten, als ob sie keine Ohren hätte. Sie wandelte unter ihnen mit meinem Kinde, achtete nur auf dieses und brachte sie in tiefer Nacht aus dieser schwarzen Höhle des Verderbens!

Dann pflegte sie meine Emilie,« sagte Mr. Peggotty, der meine Hand losgelassen und seine auf die wogende Brust legte; »sie pflegte meine Emilie, die abgemattet und einmal phantasierend bis zum nächsten Tage dalag. Dann suchte sie mich auf, und dann Sie, Master Davy. Sie sagte Emilien nicht, weshalb sie ausgegangen sei, damit sie nicht wieder den Mut sinken lassen sollte und sich verstecken möchte. Wie die grausame Dame erfuhr, daß sie dort war, weiß ich nicht. Ob vielleicht der, von dem ich so viel gesprochen habe, sie zufällig dorthin gehen sah, oder ob er es – was meiner Ansicht nach wahrscheinlicher ist – von der Frau gehört hatte, das kümmert mich wenig. Ich habe meine Nichte gefunden. Die ganze Nacht sind wir beide, Emilie und ich, beisammen gewesen. Sie hatte in der langen Zeit wenig mit Worten gesagt, aber viel durch bittere Tränen. Noch weniger habe ich von ihrem lieben Gesichtchen gesehen, das unter meinem Dache so schön geworden war. Aber die ganze Nacht lang hielt sie ihre Arme um meinen Hals geschlungen, und ihr Kopf lag hier, und wir wissen recht gut, daß wir uns ewig aufeinander verlassen können.«

Er hörte auf zu sprechen; seine Hand lag auf dem Tisch in voller Ruhe, mit einer Entschlossenheit darin, die einen Löwen hätte bezwingen können.

»Trot,« sagte meine Tante und trocknete ihre Augen, »es war mir damals wie ein Lichtblick, als ich den Entschluß faßte, Pate von deiner Schwester Betsey Trotwood zu werden, die mich hinterher so enttäuscht hat; aber nächstdem hätte mir nichts ein größeres Vergnügen gemacht, als bei dem Kindchen der guten jungen Frau Pate zu stehen!«

Mr. Peggotty nickte, daß er die Gefühle meiner Tante verstände, aber er getraute sich nicht, von dem Gegenstande ihrer Anerkennung zu reden, aus Furcht, wieder von seiner Rührung übermannt zu werden.

Wir schwiegen alle, beschäftigt mit unsern Gedanken – meine Tante wischte sich die Augen und schluchzte bald krampfhaft, und lachte dann wieder und nannte sich eine Närrin, bis ich wieder zu sprechen anfing. –

»Sie sind in bezug aus die Zukunft ganz einig mit sich?« sagte ich zu Mr. Peggotty; »ich brauche sie kaum zu fragen.«

»Ganz einig, Master Davy,« entgegnete er; »ich habe Emilie gesagt, es sind große Länder, weit weg von hier. Unsere Zukunft ist über dem Meere drüben.«

»Sie wollen zusammen auswandern, Tante«, fügte ich hinzu.

»Ja«, erwiderte Mr. Peggotty mit einem hoffnungsvollen Lächeln. »Keiner kann meinem Liebling in Australien etwas vorwerfen. Wir wollen dort ein neues Leben anfangen!«

Ich fragte ihn, ob er schon etwas über die Zeit seiner Abreise bestimmt habe.

»Ich war heut morgen ganz früh in den Docks, Sir,« entgegnete er, »um mich nach den Schiffen zu erkundigen. In sechs oder acht Wochen segelt eins – ich bin an Bord gewesen und habe es mir heute früh besehen, – und wir werden mit ihm fahren!«

»Nur Sie beide?« fragte ich.

»Ja, Master Davy!« entgegnete er. »Sehen Sie, meine Schwester, die so sehr an Ihnen hängt und gewohnt ist, nur an ihr Vaterland zu denken, kann ich nicht gut mitgehen lassen. Außerdem, Master Davy, hat sie einen zu pflegen, der nicht vergessen werden darf.«

»Der arme Ham!« sagte ich.

»Meine gute Schwester besorgt seine Wirtschaft, Madame, und der hat sich an sie gewöhnt«, erklärte Mr. Peggotty meiner Tante. »Er sitzt bei ihr und spricht mit ihr ganz ruhig, während er nicht leicht einem andern sein Herz auftun würde. – Der arme Junge!« sagte Mr. Peggotty und schüttelte den Kopf. »Es ist ihm sowieso nicht viel übrig geblieben vom Leben, da soll man ihm von dem bißchen nichts fortnehmen, das er noch hat.«

»Und Mrs. Gummidge?« fragte ich.

»Ja, die hat mir zuerst viel Sorge gemacht, muß ich Ihnen sagen«, entgegnete Mr. Peggotty mit einem verlegenen Blick, der sich aber allmählich etwas aufhellte. »Sehen Sie, wenn Mrs. Gummidge an den Alten zu denken anfängt, ist sie gerade keine gute Gesellschaft. Unter uns, Master Davy – und Ihnen Madame – wenn Mrs. Gummidge zu flennen anfängt, so kann sie für die unangenehm werden, die den Alten nicht gekannt haben. Aber ich habe den kreuzbraven Alten gekannt, kannte seine Verdienste und verstehe sie daher, aber das ist nicht ganz so mit andern Leuten – es kann natürlich nicht so sein.«

Meine Tante und ich stimmten bei.

»Meiner Schwester – ich will nicht sagen, daß es so sein müßte, aber es könnte doch so sein – könnte Mrs. Gummidge manchmal ein wenig beschwerlich fallen. Deshalb will ich Mrs. Gummidge nicht bei ihnen verankern, sondern für sie ein Unterkommen suchen, wo sie für sich allein schäftern kann. Darum«, sagte Mr. Peggotty, »will ich ihr vor meiner Abreise etwas Bestimmtes aussetzen, damit sie ihr gutes Auskommen hat. Sie ist das treueste Geschöpf von der Welt. Aber in ihrem Alter und da sie ganz allein und verlassen ist, kann man nicht erwarten, daß die gute alte Mutter das beschwerliche Leben auf dem Meere und in den Wäldern und Wüsteneien eines neuen und fernen Landes mitmacht.«

Er vergaß niemand. Er dachte an jedermanns Ansprüche und Bedürfnisse außer an seine eigenen.

»Emilie bleibt bei mir«, fuhr er fort, »bis wir unsere Reise antreten; das arme Kind, sie hat des Friedens und der Ruhe sehr nötig! Sie verfertigt die nötigen Kleidungsstücke, und ich hoffe, ihr Mißgeschick wird ihr länger vergangen erscheinen, als es wirklich der Fall ist, wenn sie sich wieder bei ihrem rauhen Onkel befindet, der ihr aber von Herzen gut ist.«

Meine Tante nickte zustimmend, was Mr. Peggotty sehr zur Befriedigung gereichte.

»Noch etwas habe ich zu besorgen, Master Davy« – er steckte die Hand in die Brusttasche und nahm mit ernstem Gesicht das kleine Paket heraus, das ich früher schon gesehen hatte, und machte es auf. »Hier sind die Banknoten – fünfzig Pfund und zehn. Dazu soll noch das Geld kommen, das sie mit sich fortnahm. Ich habe mich bei ihr danach erkundigt – ohne ihr zu sagen, warum – und habe es zusammengerechnet. Ich bin darin nicht so bewandert. Wollen Sie so gut sein und nachsehen, ob es richtig ist?«

Er übergab mir einen Zettel und beobachtete mich, während ich ihn ansah. Alles war richtig.

»Ich danke Ihnen, Sir«, sagte er, als ich es ihm wiedergab. »Das Geld, wenn Sie nichts dawider haben, Master Davy, werde ich vor meiner Abreise in einen Umschlag tun, seinen Namen darauf setzen und es dann in einem Brief an seine Mutter adressieren. Ich werde ihr dann in so wenig Worten wie möglich sagen, was das Geld bedeutet, und daß ich fort bin, und es unmöglich wäre, es mir wieder zurückzuschicken.«

Ich sagte ihm, daß ich dies für ratsam halte – daß ich vollkommen überzeugt sei, es wäre recht, da er es dafür halte.

»Ich sagte, es wäre nur noch eins zu besorgen,« fuhr er mit einem ernsten Lächeln fort, als er das Paketchen wieder zugemacht und in die Tasche gesteckt hatte, »aber es war doch zweierlei. Als ich diesen Morgen ausging, war ich noch nicht mit mir einig, ob ich das, was sich so glücklich ereignet hat, persönlich Ham sagen sollte. So schrieb ich denn nachher einen Brief und erzählte ihm alles, was geschehen war; daß ich morgen bei ihm sein würde, um mein Herz auszuschütten, und daß ich morgen nach Yarmouth kommen würde, um zu besorgen, was ich dort noch zu besorgen habe, und höchstwahrscheinlich mein letztes Lebewohl von der Stadt mit wegzunehmen.«

»Und Sie möchten gern, daß ich Sie begleitete?« fragte ich, da ich bemerkte, daß er noch etwas verschwieg.

»Wenn Sie mir diese große Freundlichkeit erweisen wollten, Mr. Davy,« entgegnete er, »so weiß ich wohl, daß Ihr Anblick sie alle etwas erheitern würde.«

Da meine kleine Dora bei guter Laune war und sehr wünschte, daß ich gehen möchte, – wie sie mir selbst sagte – so versprach ich gern, ihn zu begleiten. Daher saßen wir schon am nächsten Morgen auf der Postkutsche nach Yarmouth und reisten wieder den alten Weg.

Als wir abends durch die längstbekannte Straße gingen – Mr. Peggotty trug allen meinen Vorstellungen zum Trotz meinen Reisesack – blickte ich in Omer und Jorans Laden, und sah dort meinen alten Freund Mr. Omer, der seine Pfeife rauchte. Ich wollte nicht gern dabei sein, wenn Mr. Peggotty zuerst seine Schwester und Ham sah, und benutzte Mr. Omer, um zurückzubleiben.

»Wie geht es, Mr. Omer, nach so langer Zeit?« fragte ich, hereintretend.

Er fächelte den Rauch seiner Pfeife beiseite, damit er mich besser sehen konnte, und erkannte mich bald zu seiner großen Freude.

»Ich würde aus Anerkennung für die Ehre dieses Besuches aufstehen,« sagte er, »aber meine Glieder sind nicht so ganz in Ordnung, und ich werde umhergefahren. Mit Ausnahme meiner Glieder und meines Atems befinde ich mich indessen so wohl, wie sich nur ein Mensch befinden kann, und bin dankbar, das sagen zu können.«

Ich wünschte ihm Glück zu seinem zufriedenen Aussehen und seiner guten Laune und bemerkte nun, daß sein Lehnstuhl auf Rädern ging.

»Es ist ein sinnreiches Ding, nicht wahr?« fragte er, während er der Richtung meines Blickes folgte und die Armlehne mit seinem Arme polierte. »Er bewegt sich leicht wie eine Feder und kann so geschickt umbiegen wie ein Postwagen. Denken Sie, meine kleine Minnie, – mein Enkelkind, wissen Sie, Minnies Kind – drückt mit ihrer zarten Kraft gegen die Rückseite, gibt ihm einen Stoß, und fort geht's, so sicher und lustig wie nur irgend etwas! Und ich will Ihnen noch etwas sagen – um eine Pfeife darin zu rauchen, ist der Stuhl ganz ungewöhnlich gut.«

Ich habe nie einen so lieben alten Burschen gesehen, der es so verstand, jeder Sache das Gute abzugewinnen und seine Freude daran zu haben, wie Mr. Omer. Er strahlte nur so, als ob sein Stuhl, seine Engbrüstigkeit und das Versagen seiner Gliedmaßen verschiedene Teile einer großen Erfindung wären, um den Luxus einer Pfeife zu erhöhen.

»In diesem Stuhle sehe ich mehr von der Welt, versichere ich Sie,« bemerkte Mr. Omer, »als ich jemals früher sah. Sie würden erstaunen über die Anzahl von Leuten, die über Tag hereinkommen, um ihren Schwatz zu machen. Sie würden es wirklich! In der Zeitung steht zweimal soviel wie sonst, seit ich in diesem Stuhle sitze. Und was das Leben überhaupt betrifft, du meine Güte, durch was alles arbeite ich mich hindurch! Das ist's, was ich so lebhaft fühle, wissen Sie! Wenn es meine Augen gewesen wären, was hätte ich angefangen? Hätte es mit den Ohren gehapert, wie schlecht hätte ich's dann gehabt! Da es meine Beine sind, was schadet's? Mein Atem wurde nur kürzer, wenn ich meine Beine brauchte. Und jetzt, wenn ich auf die Straße oder hinunter auf den Strand gehen will, brauche ich nur Dick, Jorams jüngsten Lehrling zu rufen, und dahin fahre ich in meinem eigenen Wagen wie der Lord-Mayor von London.«

Er erstickte fast vor Lachen darüber.

»Gott behüte!« sagte Mr. Omer, während er seine Pfeife wieder vornahm, »man muß die Feste feiern, wie sie fallen, das ist's, wozu man sich in diesem Leben entschließen muß. Joram macht gute Geschäfte. Ausgezeichnete Geschäfte!«

»Das freut mich sehr zu hören«, antwortete ich.

»Das wußte ich«, sagte Mr. Omer. »Und Joram und Minnie sind wie Liebesleute. Was kann ein Mensch mehr erwarten? Was sind seine Beine dagegen?«

Die erhabene Verachtung für seine eigenen Gliedmaßen, wie er so dasaß und rauchte, war eine der erheiterndsten Wunderlichkeiten, die mir je vorgekommen sind.

»Und seitdem ich mich an das Lesen im allgemeinen gemacht habe, haben Sie sich an das Schriftstellern im allgemeinen gemacht, nicht, Sir?« fragte Mr. Omer und betrachtete mich bewundernd. »Was für ein reizendes Buch haben Sie geschrieben! Wie gefühlvoll! Ich las es Wort für Wort, Wort für Wort ohne was zu überspringen! Und daß ich etwa dabei eingeschlafen wäre! Kein Gedanke daran!«

Ich gab lachend meiner Genugtuung Ausdruck, aber ich muß gestehen, daß ich die Zusammenstellung dieser Begriffe bezeichnend fand.

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, Sir,« sagte Mr. Omer, »wenn ich jenes Buch auf den Tisch lege und sehe es von außen an, vollständig in drei einzelnen, besondern Teilen – eins – zwei – drei – so bin ich stolz wie Punch, wenn ich denke, daß ich einst die Ehre hatte, mit Ihrer Familie in Verbindung zu treten. Und, du lieber Himmel, es ist jetzt eine lange Zeit her, nicht wahr? Drüben in Blunderstone. Das hübsche kleine Wesen lag neben der andern Person. Und Sie selbst damals noch eine kleine Person. Ja, ja!«

Ich wechselte den Gesprächsstoff, indem ich Emmie erwähnte. Nachdem ich ihm versichert hatte, nicht vergessen zu haben, wie er sich immer für sie interessiert hätte, und wie gütig er sie immer behandelt habe, berichtete ich im allgemeinen, wie sie mit Marthas Hilfe ihrem Onkel wiedergegeben sei, denn ich wußte, das würde den alten Mann erfreuen. Er hörte mit größter Aufmerksamkeit zu, und als ich geendet hatte, sagte er voll Gefühl:

»Ich freue mich darüber, Sir! Das sind die besten Nachrichten, die ich seit vielen Tagen gehört habe. Ja, ja, ja! Und was wird nun mit der unglücklichen jungen Person, der Martha, geschehen?«

»Sie berühren da einen Punkt, Mr. Omer, mit dem sich meine Gedanken seit gestern beschäftigt haben,« sagte ich, »über den ich Ihnen aber noch nichts sagen kann. Mr. Peggotty hatte ihn noch nicht erwähnt, und ich wage nicht, danach zu fragen. Ich bin überzeugt, er hat es nicht vergessen. Er vergißt nichts, was gut und selbstlos ist.«

»Denn Sie müssen wissen,« sagte Mr. Omer, den Faden wieder aufnehmend, wo er ihn fallen gelassen hatte, »was auch getan wird, ich möchte mich daran beteiligen. Schreiben Sie mich auf mit soundsoviel, wie Sie es für richtig halten, und lassen Sie es mich dann wissen. Ich konnte das Mädchen nie für ganz schlecht halten, und ich freue mich, daß es so ist. Meine Tochter wird sich auch freuen. Junge Frauensleute sind in manchen Dingen voller Widerspruch – ihre Mutter war gerade so wie sie – aber ihre Herzen sind sanft und gut. Was nun Martha anbetrifft, so tut Minnie nur so böse. Warum sie das für nötig hält, darauf will ich mich nicht einlassen. Es sind alles nur Flausen, du lieber Himmel! Sie würde ihr im geheimen jede Wohltat erweisen. Darum schreiben Sie mir nur soviel auf Konto, wie Sie für richtig halten, wollen Sie so gut sein? Und lassen Sie mich mit ein paar Zeilen wissen, wohin ich's schicken kann. Du meine Güte!« sagte Mr. Omer, »wenn ein Mensch in das Alter kommt, wo die beiden Lebensenden sich begegnen, und er so weit gekommen ist, daß er, wie gesund er auch noch ist, zum zweitenmal in einer Art von Kinderwagen herumgefahren wird, so sollte er überselig sein, wenn er noch eine Wohltat erweisen kann. Er selbst braucht gar viele. Und ich spreche nicht von mir im besondern,« sagte Mr. Omer, »denn, Sir, ich sehe die Sache so an, daß wir alle hügelabwärts gehen, welches Alter wir auch haben, denn die Zeit steht nicht einen einzigen Augenblick still. So wollen wir immer etwas Gutes tun und überglücklich sein. Das ist meine Meinung!«

Er klopfte die Asche aus seiner Pfeife und legte sie auf ein Brettchen an der Lehne seines Stuhles, das besonders dafür angebracht worden war.

»Da ist nun Emmies Vetter, er, den sie hat heiraten sollen,« sagte Mr. Omer und rieb sich leise die Hände, »ein so braver Bursche, wie es nur einen in Yarmouth gibt! Der kommt manchmal abends auf eine Stunde, um mich zu unterhalten oder mir vorzulesen. Das ist eine Wohltat, muß ich wahrhaftig sagen. Sein ganzes Leben ist Wohltun!«

»Ich bin jetzt im Begriff, ihn aufzusuchen«, erwiderte ich.

»Ja?« fragte Mr. Omer. »Dann sagen Sie ihm, ich wäre ganz munter und ließe ihn grüßen. Minnie und Joram sind auf einem Balle; wenn sie zu Hause wären, würden sie ebenso stolz sein, wie ich, Sie zu sehen. Minnie will überhaupt kaum noch ausgehen, wissen Sie, ›wegen Vater‹, wie sie sagt. So habe ich heute abend geschworen, daß ich um sechs Uhr schlafen ginge, wenn sie nicht ginge. Infolgedessen«, sagte Mr. Omer und sein Stuhl bebte, so lachte er über den Erfolg seiner List, »ist sie und Joram auf den Ball gegangen.«

Ich schüttelte ihm die Hand und wünschte ihm Gute Nacht.

»Noch eine halbe Minute, Sir«, sagte Mr. Omer. »Wenn Sie gingen, ohne meinen kleinen Elefanten gesehen zu haben, verlören Sie einen entzückenden Anblick. Sie haben einen solchen Anblick niemals gehabt! Minnie!«

Ein musikalisches Stimmchen antwortete irgendwoher von oben: »Ich komme, Großvater!« Und ein hübsches, kleines Mädchen mit langem, lockigem Flachshaar kam bald darauf in den Laden gelaufen.

»Dies ist mein kleiner Elefant, Sir«, sagte Mr. Omer und streichelte das Kind! »Siamesische Rasse, Sir. Nun, kleiner Elefant!«

Der kleine Elefant öffnete die Türe zur Wohnstube, wobei ich sehen konnte, daß sie in letzter Zeit in eine Schlafstube für Mr. Omer verwandelt worden war, der nicht leicht hinaufgeschafft werden konnte; dann drückte die Kleine ihre hübsche Stirn gegen die Lehne von Mr. Omers Lehnstuhl, wobei sie ihr Haar in Verwirrung brachte.

»Der Elefant stößt mit dem Kopfe, Sir, wissen Sie, wenn er auf einen Gegenstand losgeht«, sagte Mr. Omer und zwinkerte mir bedeutsam zu. »Nun, Elefant, zeige deine Dressur: eins, zwei, drei!«

Bei diesem Zeichen drehte der kleine Elefant mit einer Geschicklichkeit, die beinahe wunderbar bei einem so kleinen Geschöpfchen war, den Stuhl mit Mr. Omer darin herum, und rasselte mit ihm hurre, hurre, hurre, in die Wohnstube, ohne den Türpfosten zu berühren, während Mr. Omer von dieser Vorstellung unbeschreiblich entzückt war und sich nach mir umsah, als wäre sie der triumphierende Abschluß seiner Lebensbemühungen.

Nach einem Spaziergange in der Stadt ging ich zu Ham. Peggotty war jetzt zu ihm gezogen, und hatte ihr Haus dem Nachfolger des Mr. Barkis im Fuhrmannsgeschäft vermietet, der ihr die Kundschaft, den Wagen und das Pferd sehr gut bezahlt hatte. Ich glaube, dasselbe langsame Pferd, das Mr. Barkis fuhr, war immer noch im Dienst.

Ich fand sie in der reinlichen Küche und bei ihnen Mrs. Gummidge, die Mr. Peggotty selbst aus dem alten Boot abgeholt hatte. Ich glaube kaum, daß sie jemand anders hätte bewegen können, ihren Posten zu verlassen. Er hatte ihnen augenscheinlich schon alles berichtet, denn meine Peggotty und Mrs. Gummidge trockneten sich mit den Schürzen die Augen, und Ham war eben hinausgegangen, »um sich ein bißchen auf dem Strande umzusehen.« Er kehrte gleich darauf wieder zurück und freute sich sehr, mich zu sehen, und ich hoffe, meine Anwesenheit tat ihnen allen wohl. In einem Tone, den man hätte etwas gezwungen heiter nennen können, sprachen wir davon, wie Mr. Peggotty in dem neuen Lande reich werden und was für Wunder er in seinen Briefen beschreiben würde. Emilies Namen nannten wir nicht, aber spielten mehr als einmal auf sie an. Ham war der ruhigste von der ganzen Gesellschaft.

Aber als mir Peggotty nach der kleinen Kammer hinauffolgte, wo das Krokodilenbuch noch immer auf dem Tische lag, sagte sie mir, daß er immer so sei. Sie glaube (äußerte sie weinend), daß sein Herz gebrochen sei, obgleich er soviel Mut und Milde zeige und angestrengt und besser arbeite, als irgendein anderer Schiffszimmermann im Orte. Manchmal des Abends spreche er mit ihr von ihrem alten Leben in dem Boothause, und dann erwähnte er Emilie als Kind. Aber als erwachsenes Mädchen erwähnte er sie nicht.

Ich glaubte auf seinem Gesichte gelesen zu haben, daß er mich gern allein sprechen möchte. Ich beschloß daher, es nächsten Abend, wenn er von der Arbeit nach Hause käme, so einzurichten, daß er mir begegnete. Sobald ich darüber mit mir einig war, schlief ich ein. Zum ersten Male seit so vielen Abenden wurde diesmal das Licht aus dem Fenster genommen. Mr. Peggotty schlief in seiner alten Hängematte in dem alten Boote, und der Wind seufzte mit dem alten Tone um sein Haupt.

Den ganzen folgenden Tag war er damit beschäftigt, sein Fischerboot und sein Fischerzeug zu verkaufen, alles, was er von seinem Hausgerät mitnehmen wollte, einzupacken und mit dem Wagen nach London zu schicken und das übrige zu verkaufen, oder Mrs. Gummidge zu schenken. Sie verließ ihn den ganzen Tag nicht. Da mich ein schmerzlicher Wunsch erfüllte, das alte Haus zu sehen, bevor es zugeschlossen wurde, so versprach ich ihm, noch einmal abends hinzukommen. Aber ich richtete es so ein, daß ich Ham zuerst sprechen konnte.

Ich traf ihn auf einer einsamen Stelle der Dünen, über die er kommen mußte, und kehrte mit ihm um, damit er mit mir in aller Ruhe sprechen konnte, wenn er es wirklich wünschte. Ich hatte den Ausdruck seines Gesichtes nicht mißverstanden. Wir waren nicht lange miteinander gegangen, als er anfing, ohne mich anzusehen: »Master Davy, haben Sie sie gesehen?«

»Nur auf einen Augenblick, als sie in Ohnmacht lag«, antwortete ich halblaut. Wir gingen eine Strecke weiter, und er sagte:

»Master Davy, glauben Sie wohl, daß Sie sie noch sehen werden?«

»Es wäre ihr vielleicht zu schmerzlich«, sagte ich.

»Ich habe auch daran gedacht«, gab er zur Antwort. »Es würde ihr gewiß zu schmerzlich sein.«

»Aber Ham,« sagte ich zu ihm, »wenn Sie etwas haben, das ich ihr schreiben könnte, im Fall ich nicht Gelegenheit hätte, es ihr zu sagen, wenn Sie durch mich sie etwas wissen lassen wollen, so würde ich es als einen geheiligten Auftrag betrachten.«

»Des bin ich gewiß. Ich danke Ihnen recht sehr dafür, Sir! Ich glaube, ich möchte ihr etwas zu wissen tun.«

»Was ist es?«

Wir gingen noch eine Strecke stillschweigend nebeneinander her, und dann fing er wieder an:

»Nicht, daß ich ihr verziehen habe. Das will nicht viel sagen. Eher sollte ich sie um Verzeihung bitten, daß ich ihr meine Liebe aufgedrungen habe. Manchmal habe ich gedacht, wenn ich es mir nicht von ihr hätte versprechen lassen, mich zu heiraten, so hätte sie mir gewiß gesagt – denn sie vertraute auf mich wie auf einen Freund – was ihr auf dem Herzen lag und hätte mich um Rat gefragt, und ich hätte sie vielleicht gerettet,«

Ich drückte ihm die Hand. »Ist das alles?«

»Noch etwas,« entgegnete er, »wenn ich es nur herausbringen kann, Mr. Davy.«

Wir gingen weiter, weiter als wir bis jetzt gegangen waren, ehe er wieder zu sprechen anfing. Er weinte nicht, wenn er die Pausen machte, die ich durch Striche ausdrücken werde. Er sammelte sich nur, um sich recht deutlich auszusprechen.

»Ich liebte sie – und ich liebe die Erinnerung an sie – zu tief – als daß ich imstande sein sollte, ihr glauben zu machen, ich sei glücklich. Ich könnte nur glücklich sein – wenn ich sie vergesse – und fürchte, ich könnte es nicht ertragen, wenn es ihr gesagt würde. Aber wenn Sie, Mr. Davy, der Sie ein so gelehrter Mann sind, einmal etwas erfinden könnten, was sie glauben machen könnte, ich sei nicht so sehr unglücklich, ich liebe sie immer noch und betraure sie – etwas, was sie glauben machen könnte, ich sei des Lebens nicht müde, und hoffe sie dereinst fleckenlos zu sehen, wo die Bösen nicht mehr schaden und die Müden gehn zur Ruh – etwas, was ihr das schwere Herz erleichtern könnte und sie doch nicht glauben machte, daß ich jemals heiraten könnte, oder daß es möglich sei, daß eine andere mir jemals sein könnte, was sie mir war – das möchte ich Sie bitten, ihr zu sagen – und daß ich für sie bete – die mir so lieb war.«

Ich drückte ihm wieder die Manneshand und sagte ihm, ich wollte es ausrichten, so gut ich könnte.

»Ich danke Ihnen, Sir«, gab er zur Antwort. »Es war freundlich von Ihnen, daß Sie mich aufsuchten, es war auch freundlich von Ihnen, daß Sie ihn herbegleitet haben. Mas'r Davy, sehen Sie, meine Tante fährt noch mal nach London herüber, ehe sie absegeln, und sie sehen sich dann alle noch einmal, aber ich werde ihn wohl nicht wiedersehen. Mir ist ganz so zumut. Wir reden nicht davon, aber so wird's kommen, und 's ist auch besser so. Wenn sie ihn zuletzt sehen, wollen Sie ihm im letzten Augenblicke sagen, daß ihm der verwaiste Neffe, dem er immer mehr als Vater war, noch einmal seinen tiefsten Dank und seine Sohnespflicht zusichert.«

Auch das versprach ich treulich auszurichten.

»Ich danke noch einmal, Sir«, sagte er, und schüttelte mir herzlich die Hand. »Ich weiß, wo Sie hingehen. Leben Sie wohl!«

Mit einer leichten Handbewegung, als wollte er mir andeuten, daß er das alte Haus nicht betreten könnte, wandte er sich rückwärts; ich sah ihm nach, wie er über die öde Düne im Mondenschein dahin schritt, und sah, wie er sein Gesicht auf einen Streifen silbernen Lichts auf dem Meere wendete und das Auge darauf haften ließ, bis er als Schatten in der Ferne verschwand. Die Tür des Bootshauses stand offen, als ich es erreichte, und als ich eintrat, sah ich, daß alles Hausgerät fort war, mit Ausnahme einer alten Schiffskiste, auf der Mrs. Gummidge mit einem Korbe auf dem Knie saß und Mr. Peggotty ansah. Er lehnte den Ellbogen auf den Kaminsims und blickte in die verlöschende Asche im Roste, aber er erhob hoffnungsvoll das Haupt, als ich eintrat, und sprach im heitern Tone:

»Na, Sie halten Wort und kommen, um Abschied von dem alten Hause zu nehmen, Master Davy«, und hielt das Licht in die Höhe. »Es ist jetzt ziemlich kahl, nicht wahr?«

»Sie haben wirklich die Zeit gut benutzt«, sagte ich.

»Nun ja, wir sind nicht faul gewesen, Sir! Mrs. Gummidge hat gearbeitet wie – ich weiß nicht wie Mrs. Gummidge gearbeitet hat«, und Mr. Peggotty sah sie an, da er ein genügend lobendes Beispiel nicht finden konnte.

Ms. Gummidge, auf ihren Korb gestützt, sagte nichts.

»Das ist noch dieselbe Kiste, auf der sie immer mit Emilie saßen!« sagte Mr. Peggotty langsam. »Ich will sie als letztes Stück mit mir fortnehmen. Und da ist ihr ehemaliges kleines Schlafzimmer, Master Davy! Jetzt fast ebenso kahl und öde, als es sich ein trauriges Herz nur wünschen kann.«

Wirklich hatte der Wind, obgleich nur schwach, etwas Feierliches und wehte um das verlassene Haus mit leiser trauervoller Klage. Alles war fort, bis herunter zu dem kleinen Spiegel mit dem Rahmen von Austerschalen. Ich dachte an mich selbst, wie ich an jenem ersten Abende hier geruht hatte. Ich dachte an das Kind mit den blauen Augen, das mich bezaubert hatte. Ich dachte an Steerforth, und eine törichte, schreckliche Einbildung kam über mich, daß er nicht weit von uns sei, und daß wir ihm jeden Augenblick begegnen könnten.

»Es wird lange dauern, ehe das Boot neue Mietsleute findet«, sagte Mr. Peggotty mit leiser Stimme. »Die Leute halten es jetzt für ein unglückliches Haus!«

»Gehört es jemand in der Nachbarschaft?« fragte ich.

»Einem Mastenmacher in der Stadt drin«, erwiderte Mr. Peggotty. »Ich will ihm heute die Schlüssel übergeben.«

Hier warf er einen flüchtigen Blick in das andere Zimmer und kehrte zu Mrs. Gummidge zurück, die noch immer auf der Schiffskiste saß. Mr. Peggotty setzte das Licht auf den Kaminsims und bat sie, aufzustehen, damit er die Kiste, bevor er das Licht auslöschte, hinaustragen konnte.

»Daniel,« sagte Mrs. Gummidge, die ihren Korb rasch hinsetzte, und sich an seine Arme hing, »lieber Daniel, die Abschiedsworte, die ich in diesem Hause spreche, sind: ›Ihr dürft mich nicht hier lassen.‹ Denkt nicht daran, mich hier zu lassen, Daniel! O tut es nicht!«

Ganz überrascht sah Mr. Peggotty erst Mrs. Gummidge und dann mich an, als ob er aus einem Traum erwache.

»Tut es nicht, liebster Daniel, tut es nicht!« bat Mrs. Gummidge voll Innigkeit, »nehmt mich mit, Daniel, nehmt mich mit Euch fort und mit Emilie, ich will Eure fleißige und treue Magd sein. Wenn es in dem Lande, wo ihr hingeht, Sklaven gibt, so will ich Euer Sklave sein, und glücklich, aber laßt mich nicht hier, Daniel, lieber, guter Daniel.«

»Gute Seele,« sagte Mr. Peggotty, schüttelte aber den Kopf, »Ihr wißt nicht, was eine lange Seereise und ein angestrengtes Farmerleben ist!«

»O ja, Daniel, ich kann es mir vorstellen«, rief jetzt Mrs. Gummidge, »Aber meine letzten Worte unter diesem Dache sind: Ich gehe in das Haus zurück und sterbe, wenn Ihr mich nicht mitnehmt. Ich kann graben, Daniel! Ich kann arbeiten. Ich kann unter Entbehrungen leben. Ich kann jetzt gut und geduldig sein – mehr vielleicht als Ihr denkt, Daniel, wenn Ihr es nur versucht. Das Geld, das Ihr mir hier laßt, werde ich nicht anrühren, und sollte ich vor Hunger sterben, Daniel Peggotty, aber mit Euch und Emilie ging ich bis an der Welt Ende, wenn Ihr es zulassen wollt! Ich weiß, wie es ist; ich weiß, Ihr glaubt, ich sei eine einsame und verlassene Kreatur; aber lieber, guter Daniel, das ist nicht mehr so! Ich habe nicht so lange hier gesessen und Euern Prüfungen zugesehen und darüber nachgedacht, ohne daß es Gutes in mir gewirkt hätte. Master Davy, legt Euer Wort für mich ein! Ich kenne Emiliens Art, und kenne ihre Sorgen und ihre Schmerzen und kann sie manchmal trösten, und für sie arbeiten! Daniel, lieber, guter Daniel nehmt mich mit!«

Und Mrs. Gummidge nahm seine Hand – küßte sie mit einem Pathos der Einfachheit und mit einem schlichten Entzücken der Hingebung und Dankbarkeit, die er wohl verdiente.

Wir trugen die Kiste hinaus, löschten das Licht aus, verschlossen die Tür und ließen das alte Boot hinter uns, einen dunkeln Fleck in trüber Nacht. Am nächsten Morgen, als wir draußen auf der Landkutsche nach London zurückkehrten, befand sich Mrs. Gummidge mit ihrem Korb auf dem Rücksitze – und Mrs. Gummidge war ganz glücklich.


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