Charles Dickens
David Copperfield - Zweiter Teil
Charles Dickens

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Siebenundvierzigstes Kapitel.

Martha.

Wir waren jetzt in Westminster angelangt. Wir waren umgekehrt, als wir ihr zuerst begegneten, denn sie war uns entgegengekommen, und bei der Westminsterabtei hatte sie das Geräusch der helleren Hauptstraßen verlassen. Sie ging so rasch, als sie aus den beiden Menschenströmen heraus war, die von der Brücke kamen und nach der Brücke gingen, daß wir sie erst in der engen Straße am Flusse bei Millbank erreichten. In demselben Augenblick ging sie über die Straße, als ob sie vor den Tritten fliehen wollte, die sie so dicht hinter sich hörte, und beschleunigte noch ihre Schritte, ohne sich umzusehen.

Durch einen finstern Torweg, wo einige Frachtwagen standen, hatte ich einen Blick auf den Fluß, und es war mir, als ob er meinem Fuße Halt geböte. Ich legte die Hand auf den Arm meines Gefährten, ohne zu sprechen; wir blieben auf der andern Seite der Straße und hielten uns so viel wie möglich in ihrer nächsten Nähe, aber im Schatten der Häuser.

Zu jener Zeit stand am Ende dieser tief am Flusse liegenden Straße ein halbverfallenes, kleines hölzernes Haus, wahrscheinlich ein altes Fährhaus. Es stand gerade dort, wo die Straße aufhört und der Weg nur noch auf einer Seite von einer Reihe Häuser, auf der andern vom Flusse begrenzt wird. Sowie sie diesen Punkt erreicht hatte und den Fluß erblickte, blieb sie stehen, als sei sie am Ziele angekommen, ging langsam am Ufer hin und blickte in die Wellen.

Bis jetzt hatte ich immer geglaubt, sie gehe nach einer Wohnung; ich hatte in der Tat die dunkle Hoffnung gehegt, daß das Haus, das sie aufsuchte, mit der Person, die wir suchten, in irgend einer Beziehung stehen könnte. Aber der eine erste Blick auf den dunkeln Fluß durch den Torweg hatte mich unwillkürlich darauf vorbereitet, daß sie nicht weitergehen werde.

Die Umgebung war zu jener Zeit höchst traurig; so unheimlich öde und einsam bei Nacht, wie irgendeine um London. Es gab weder Werfte noch Häuser auf dem melancholisch öden Wege neben dem großen, kahlen Frauengefängnis. Ein schlammiger Graben setzte seinen Schmutz an seinen Mauern ab. Riedgras und gemeines Unkraut wucherte auf dem ganzen sumpfigen Boden der Nachbarschaft. Hier verfielen Ruinen von Häusern, die unter übeln Auspizien begonnen hatten und nie vollendet worden waren. Dort war der Boden bedeckt mit rostigen, eisernen Ungeheuern von Dampfkesseln, Rädern, Kurbelstangen, Röhren, Schmelzöfen, Rudern, Ankern, Taucherglocken, Windmühlenflügeln und sonstigen merkwürdigen Gegenständen, die hier von irgend einem Spekulanten angehäuft waren und nun im Staube lagen, unter dem sie sich – bei nassem Wetter waren sie durch ihre eigene Last in den Schmutz gesunken – dem Anschein nach vergeblich zu verstecken suchten. Gerassel und greller Flammenschein aus mehreren Eisenwerken auf der Flußseite erhob sich nachts, um alles zu stören, nur den dicken und undurchdringlichen Rauch nicht, der aus den Schornsteinen drang. Schlammige Löcher und dammartige Pfade führten durch Schlamm und Schutt schlüpfrig hinunter zum Wasser; sie wanden sich zwischen alten Holzpfählen hindurch, an denen sich eine ekelhafte Masse wie grünes Haar festgesetzt hatte, während Fetzen von vorjährigen Plakaten, die Belohnungen für das Auffinden Ertrunkener verhießen, über dem Hochwasserstandszeichen flatterten. Es ging eine Sage, daß eine der Gruben, die in der Zeit der großen Pest für die Toten gegraben wurden, hier herumgelegen hatte, und ein verpestender Einfluß schien sich von hier aus über den ganzen Platz zu verbreiten. Oder es sah aus, als ob er sich nach und nach aus den Überschwemmungen des schmutzigen Stromes in ein so unheimliches Nachtbild verwandelt hätte.

Als wäre sie ein Teil des Unrats, den der Strom ausgeworfen und am Ufer zum Verfaulen liegen gelassen, ging Martha hinunter an den Strom und stand inmitten dieses Nachtbildes einsam und stumm und schaute auf das Wasser.

Einige Boote und Kähne waren ans Land gezogen, und dies setzte uns instand, ihr bis auf wenige Schritte nahe zu kommen, ohne gesehen zu werden. Ich machte jetzt Mr. Peggotty ein Zeichen, stehen zu bleiben, und trat hervor, um sie anzureden. Ich näherte mich der einsamen Gestalt nicht ohne Zittern; denn dieses düstere Ziel ihres entschlossenen Ganges und die Art, wie sie dastand, fast eingehüllt von dem Schatten der eisernen Brücke, und auf die in der starken Flut zitternden Lichter sah, flößte mir Scheu ein.

Ich glaube, sie sprach mit sich selbst. Das Tuch war ihr von den Schultern gefallen; sie hatte es um ihre Hände gewickelt, die sie rieb oder vielmehr rang, eher wie eine Nachtwandlerin, als wie eine Wachende. Ich weiß es noch und kann es nie vergessen, daß etwas in ihrem verstörten Wesen war, was mir die Furcht einflößte, sie könnte vor mir versinken, ehe ich sie mit meiner Hand anzufassen vermochte.

In demselben Augenblick sagte ich: »Martha!«

Sie stieß einen Schrei des Entsetzens aus und rang mit mir mit solcher Kraft, daß ich kaum glaube, ich hätte sie allein festgehalten. Aber eine stärkere Hand als die meine hatte sie gefaßt; und als sie ihre erschrockenen Augen aufschlug und sah, wer es war, machte sie nur noch einen Versuch sich loszuwinden und sank dann zwischen uns zusammen. Wir trugen sie weg vom Wasser nach einigen trocknen Steinen und legten sie dorthin; sie weinte und stöhnte. Nach einer kleinen Weile setzte sie sich aufrecht auf den Steinen und verhüllte ihr Gesicht mit beiden Händen.

»Ach, der Strom!« rief sie leidenschaftlich, »ach, der Strom!«

»Still, still!« sagte ich. »Beruhigen Sie sich!«

Aber sie wiederholte dieselben Worte und rief in einem fort: »Ach, der Strom!«

»Ich weiß wohl, er gleicht mir!.« rief sie aus. »Ich weiß, daß ich ihm angehöre. Ich weiß, daß er ein natürlicher Gefährte von solchen Geschöpfen ist, wie ich bin! Er kommt aus dem frischen grünen Lande, wo nichts Schlechtes in ihm war, und jetzt schleicht er durch die dunkeln Straßen, besudelt und erbärmlich – und er verschwindet wie mein Leben in einem großen Meer, das immer unruhig ist – und ich fühle, daß ich mit ihm gehen muß!«

Ich habe nie erfahren, was Verzweiflung war, bis ich den Ton dieser Worte hörte.

»Ich kann mich nicht fern von ihm halten. Ich kann ihn nicht vergessen, er weicht bei Tag und bei Nacht nicht von mir. Er ist das einzige auf der Welt, für das ich passe, oder das für mich paßt. Ach, der schreckliche Strom!« jammerte sie.

Der Gedanke kam mir in den Sinn, daß ich auf dem Gesicht meines Begleiters, während er stumm und regungslos auf sie herabsah, die Geschichte seiner Nichte hätte lesen können, wenn ich auch nichts davon gewußt. Weder auf einem Bilde noch in der Wirklichkeit habe ich je Entsetzen und Mitleid so ergreifend vereint gesehen.

Ich blickte Mr. Peggotty an. Er zitterte, als wollte er zusammensinken, und seine Hand – ich faßte sie, denn sein Aussehen beunruhigte mich – war totenkalt.

»Sie ist außer sich«, flüsterte ich ihm zu. »In einer kurzen Weile wird sie anders sprechen.«

Ich weiß nicht, was er mir antworten wollte. Sein Mund bewegte sich, und er schien zu denken, er habe gesprochen; aber er hatte nur mit seiner ausgestreckten Hand auf sie gedeutet.

Sie fing wieder an heftig zu weinen und verbarg wieder das Gesicht unter den Steinen und lag vor uns, ein niedergesunkenes Bild der Demütigung und der Schmach. Da ich wohl einsah, daß wir nicht mit irgend einer Aussicht auf Erfolg mit ihr sprechen konnten, solange dieser Zustand dauerte, so hielt ich ihn zurück, als er sie aufheben wollte, und wir standen schweigend neben ihr, bis sie ruhiger wurde.

»Martha,« sagte ich alsdann und half ihr aufstehen – sie schien aufstehen zu wollen, um fortzugehen, aber sie war zu schwach und mußte sich an ein Boot lehnen. »Wissen Sie, wer mein Begleiter ist?«

Sie sagte mit matter Stimme: »Ja.«

»Wissen Sie, daß wir Ihnen heute abend schon seit langem gefolgt sind?«

Sie schüttelte den Kopf; sie sah weder ihn noch mich an, sondern stand demütig vor uns, Hut und Schal in der einen Hand haltend, ohne zu wissen, daß sie diese in der Hand hatte, und die andere geballt an die Stirn drückend.

»Sind Sie gefaßt genug,« sagte ich, »über den Gegenstand zu sprechen, der Sie – ich hoffe, der Himmel wird dessen gedenken! – an jenem Winterabend so interessierte?«

Sie fing von neuem an zu schluchzen und gab mit einigen unartikulierten Tönen ihren Dank zu erkennen, daß ich sie damals nicht von der Tür gewiesen hatte.

»Ich will nicht für mich sprechen«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Ich bin schlecht, ich bin verloren. Ich habe keine Hoffnung. Aber sagen Sie ihm, Sir –« sie war vor ihm zurückgetreten – »wenn Sie mich nicht zu sehr verachten, daß ich in keiner Weise die Ursache seines Unglücks gewesen bin.«

»Es ist Ihnen nie zugeschrieben worden«, entgegnete ich mit demselben Ernste, mit dem sie sprach.

»Sie waren es, wenn ich mich nicht irre,« fuhr sie mit gebrochener Stimme fort, »der an jenem Abend in die Küche kam, wo sie sich meiner so sehr erbarmte, wo sie so freundlich gegen mich war und nicht vor mir zurückschreckte, wie die übrigen, und auch mich so freundlich unterstützte; waren Sie das, Sir?«

»Ja«, sagte ich.

»Ich hätte mich längst in den Fluß gestürzt,« fuhr sie fort und sah mit einem schrecklichen Blick auf die Wellen, »wenn ich ein Vergehen gegen sie auf der Seele hätte.«

»Die Ursache ihrer Flucht ist nur zu gut bekannt«, sagte ich. »Sie tragen nicht die geringste Schuld, das glauben wir – das wissen wir.«

»Ach, ich hätte durch den Umgang mit ihr viel besser werden können, wenn ich ein besseres Herz gehabt hätte,« rief das Mädchen mit verzweiflungsvoller Reue aus; »denn sie war immer gut gegen mich! Sie sprach nie ein Wort zu mir, das nicht gut und recht war. Wäre es denn wahrscheinlich, daß ich versucht haben sollte, sie zu dem zu machen, was ich selbst bin, da ich nur zu gut weiß, was ich bin! Als ich alles verlor, was das Leben kostbar macht, so war der schlimmste aller meiner Gedanken der, daß ich auf ewig von ihr geschieden sei.«

Mr. Peggotty, der eine Hand auf den Rand des Bootes gestützt und die Augen niedergeschlagen dastand, bedeckte mit seiner freien Hand das Gesicht.

»Und als ich von einigen Leuten aus unserer Stadt gehört hatte, was vor jenem schneeigen Winterabend geschehen war,« rief Martha, »da war mein allerbitterster Gedanke der, daß die Leute sich erinnern würden, wie sie mit mir Verkehr gehabt hätte, und sagen würden, ich hätte sie verdorben! während ich doch, der Himmel weiß es, gern gestorben wäre, um ihr ihren guten Namen wiederzugeben.«

Längst der Selbstbeherrschung entwöhnt, war der Ausbruch ihrer Reue und ihres Schmerzes wahrhaft schrecklich.

»Zu sterben,« rief sie, »das wäre nicht viel gewesen! Nein, zu leben! Alt hätte ich in den entsetzlichen Straßen werden mögen, gemieden im Dunkel umherirren, die Sonne über den langen Häuserreihen aufgehen sehen und dabei denken, wie einstmals der helle Tag in mein Stübchen schien und mich weckte – das hätte ich getan, um sie zu retten!«

Sie sank auf den Steinhaufen nieder, packte einige mit den Händen und drückte sie, als ob sie sie hätte zermalmen wollen. Dabei veränderte sie immer wieder ihre Stellung, wie in einem Krampf. Bald hielt sie die Arme steif, bald schlug sie sie vor das Gesicht, als wolle sie den schwachen Lichtschimmer ausschließen, und senkte den Kopf, als wäre er zu schwer von unerträglichen Erinnerungen.

»Was soll ich anfangen!« sagte sie, mit ihrer Verzweiflung kämpfend. »Wie kann ich fortleben, wie ich bin, ein Fluch für mich, eine elende Schmach für jeden, dem ich zu nahe komme!«

Plötzlich wendete sie sich an meinen Begleiter: »Zertreten Sie mich, töten Sie mich! – Als sie Ihr Stolz war, hätten Sie es für ein Unglück gehalten, wenn ich sie auf der Straße mit meinem Kleide berührt hätte. Sie können nicht – warum sollten Sie auch? – eine Silbe glauben, die von meinen Lippen kommt. Selbst jetzt wäre es eine brennende Schmach in Ihren Augen, wenn sie und ich ein Wort wechselten! Ich klage nicht! Ich sage nicht, daß sie und ich gleich sind – ich weiß, es ist ein großer, großer Unterschied zwischen uns. Ich sage nur mit dem ganzen Bewußtsein meiner Schuld auf dem Herzen, daß ich ihr dankbar bin von ganzer Seele, daß ich sie liebe! O glauben Sie nicht, daß die Kraft, etwas zu lieben, ganz ausgestorben in mir ist. Stoßen Sie mich von sich, wie es die ganze übrige Welt tut. Bringen Sie mich um, weil ich so schlecht bin, und weil ich sie jemals gekannt habe; aber denken Sie das nicht von mir.«

Während sie so flehentlich bat, sah er sie mit wildem, verstörten Blick an; und als sie schwieg, hob er sie sanft auf.

»Martha,« sagte Mr. Peggotty, »Gott verhüte, daß ich mich zu Ihrem Richter aufwerfen sollte. Er verhüte, daß ich vor allen andern es tun sollte! Sie kennen die Veränderung, die im Verlaufe der Zeit über mich gekommen ist, nicht zur Hälfte, wenn Sie das für möglich halten. – Ja!« sagte er nach einer Pause und fuhr dann fort: »Sie können sich nicht erklären, warum dieser Herr und ich mit Ihnen zu sprechen wünschten. Sie können sich nicht erklären, was wir damit bezwecken. Hören Sie mich an.«

Er beherrschte sie ganz. Sie stand demütig vor ihm, als fürchte sie sich, ihm in die Augen zu sehen; aber ihr leidenschaftlicher Schmerz war beruhigt und stumm geworden.

»Wenn Sie an jenem Abend, wo es so sehr schneite,« sagte Mr. Peggotty, »etwas von dem hörten, was ich Mr. Davy erzählte, so wissen Sie, daß ich weit, weit gewesen bin, um meine liebe Nichte zu suchen. Meine liebe Nichte«, wiederholte er mit fester Stimme. »Denn ich liebe sie jetzt mehr, Martha, als jemals zuvor.«

Sie verhüllte das Gesicht mit den Händen, aber blieb im übrigen ruhig.

»Ich weiß, sie hat mir erzählt,« sagte Mr. Peggotty, »daß Sie als vater- und mutterlose Waise und ohne Angehörige früh unter dem wilden Matrosenvolk allein geblieben sind. Vielleicht, wenn Sie einen guten Pflegevater gehabt hätten, hätten Sie ihn mit der Zeit lieb gewonnen, und da können Sie sich dann vorstellen, daß meine Nichte mir wie eine Tochter war!«

Wie sie stumm und zitternd vor ihm stand, hüllte er sie sorglich in ihren Schal ein, den er zu diesem Zwecke aufgehoben hatte.

»Und daraus weiß ich,« fuhr er fort, »daß sie bis an der Welt Ende mit mir gehen würde, wenn sie mich wieder einmal sehen könnte, und daß sie bis an das fernste Ende der Welt fliehen würde, um meinen Anblick zu vermeiden. Denn obgleich sie gewiß nicht an mir verzweifelt – nein, das tut sie nicht,« wiederholte er mit einem ruhigen Vertrauen in die Wahrheit dessen, was er sagte, »so mischt sich doch die Scham hinein und hält uns auseinander.«

Aus jedem Worte seiner einfachen, eindrucksvollen Rede erkannte ich, daß er diesen Gegenstand nach allen Seiten überlegt hatte.

»Nach unserm Dafürhalten,« fuhr er fort »– Master Davy meine ich und mich – muß sie einmal ihr Weg nach London führen. Wir wissen, Master Davy und ich und alle, daß Sie so unschuldig an ihrem Unglück sind wie ein neugebornes Kind. Sie sagten vorhin, daß sie gut und freundlich und herzlich gegen Sie war. Gott segne sie; so war sie! So war sie immer gegen jedermann. Sie sind ihr dankbar und lieben sie; helfen Sie uns, sie zu finden, und der Himmel wird Sie belohnen!«

Sie sah ihn hastig und das erstemal an, als ob sie an der Richtigkeit dessen, was sie hörte, zweifle.

»Sie wollen mir vertrauen?« fragte sie mit leiser, erstaunter Stimme.

»Ganz und gar«, erwiderte Mr. Peggotty.

»Ich darf sie anreden, wenn ich sie finden sollte; sie zu mir nehmen, wenn ich selbst ein Obdach habe; und darf dann, ohne daß sie es weiß, zu Ihnen kommen und Sie zu ihr führen?« fragte sie hastig.

Wir beide gaben zur Antwort: »Ja!«

Sie erhob die Augen und erklärte feierlich, daß sie sich mit allem Eifer und getreulichst diesem Werke widmen wolle. Daß sie nie wankend werden und es nie aufgeben wolle, solange noch die kleinste Hoffnung sei.

Wir hielten es für passend, ihr alles zu sagen, was wir wußten, und ich erzählte es ihr ausführlich. Sie hörte mit großer Aufmerksamkeit zu und mit stetig wechselndem Gesichtsausdrucke. Ihre Augen füllten sich manchmal mit Tränen, aber sie hielt sie zurück. Es war, als ob sich ihr Gemüt ganz und gar verändert hätte und sie nicht ruhig genug sein könnte.

Als wir alles erzählt hatten, fragte sie, wo sie uns Mitteilungen machen könnte, wenn sich Veranlassung dazu finden sollte. Unter einer trüben Laterne am Wege schrieb ich unsere beiden Adressen auf ein Blatt meines Taschenbuches, riß es heraus und gab es ihr, und sie steckte es hinter ihr ärmliches Busentuch. Ich fragte sie, wo sie wohne. Nach einer kurzen Pause sagte sie, an keinem Orte lange. Es sei besser, es nicht zu wissen.

Da Mr. Peggotty mir flüsternd etwas sagte, was mir selbst schon eingefallen war, zog ich die Börse heraus; aber ich konnte sie nicht bewegen, Geld anzunehmen, und konnte ihr auch kein Versprechen abringen, daß sie es ein andermal tun wollte. Ich stellte ihr vor, daß Mr. Peggotty für einen Mann seines Standes nicht arm genannt werden könnte, und daß der Gedanke, ihr diesen Auftrag zu geben, während sie ganz auf ihre eignen Kräfte hinsichtlich des Erwerbs angewiesen sei, uns verletze. Sie blieb standhaft. In dieser Sache war sein Einfluß auf sie nicht größer als meiner. Sie dankte ihm herzlich, aber blieb unerbittlich.

»Vielleicht bekomme ich Arbeit«, sagte sie. »Ich will es versuchen.«

»So nehmen Sie wenigstens eine Unterstützung an, bis Sie es versucht haben«, entgegnete ich.

»Ich könnte das, was ich versprochen habe, nicht für Geld tun«, gab sie zur Antwort. »Ich könnte es nicht annehmen, wenn ich verhungerte. Mir Geld geben, hieße, mir Ihr Vertrauen entziehen, das Ziel wegnehmen, das Sie mir vorgesteckt haben, die einzige gewisse Sache wegnehmen, die mich vor dem Flusse rettet.«

»Im Namen des höchsten Richters,« sagte ich, »vor den Sie und jeder von uns zu seiner Zeit treten müssen, geben Sie diesen schrecklichen Gedanken auf. Wir können alle Gutes tun, wenn wir wollen.«

Sie zitterte, ihre Lippe bebte und ihr Gesicht war blässer, als sie antwortete:

»Es ist Ihnen vielleicht ins Herz gelegt worden, mich unglückliches Geschöpf zu retten, um mir Zeit zur Reue zu geben. Ich fürchte mich fast vor dem Gedanken; er ist zu kühn. Wenn ich noch etwas Gutes tun könnte, so könnte ich anfangen zu hoffen; denn aus meinen Taten ist bis jetzt noch nichts andres als Böses entsprungen. Das erstemal seit langer, langer Zeit wird mir mein elendes Leben anvertraut, um eine Aufgabe zu erfüllen. Ich sage weiter nichts und kann weiter nichts sagen.«

Abermals unterdrückte sie die Tränen, die zu fließen angefangen hatten; sie streckte ihre zitternde Hand aus und berührte Mr. Peggotty, als ob eine heilende Kraft in ihm wäre, und ging ihre einsame Straße. Wahrscheinlich war sie lange krank gewesen. Wie ich sie näher ansah, bemerkte ich, daß sie elend und abgemagert aussah und daß ihre tief eingesunkenen Augen von Entbehrung und Mangel Zeugnis ablegten.

Wir folgten ihr eine kleine Strecke, denn unser Weg führte uns in derselben Richtung, bis wir in die helleren und belebteren Straßen kamen. Ich setzte so unbedingtes Vertrauen auf ihre Erklärung, daß ich jetzt Mr. Peggotty fragte, ob es nicht aussehen würde, als ob wir ihr mißtrauten, wenn wir ihr länger folgten. Da er derselben Meinung war und ihr ebenso fest traute, ließen wir sie ihre Straße gehen und schlugen den Weg nach Highgate ein. Er begleitete mich eine gute Strecke; und als wir mit einem Gebet für den Erfolg dieses neuen Versuchs schieden, lag ein Ausdruck neuer und gedankenvoller Teilnahme auf seinem Gesicht, den ich mir leicht erklären konnte.

Es war Mitternacht als ich zu Hause ankam. Ich stand an meiner Gartentür und hörte dem tiefen Tone der Glocke der St. Paulskirche zu, der mir aus der Menge anderer Glocken hervorzuklingen schien, als ich zu meiner Überraschung die Gartentür meiner Tante offenstehen und ein schwaches Licht aus der Tür über den Weg scheinen sah.

Ich glaubte, meine Tante hätte vielleicht einen Rückfall ihrer alten Schrecken bekommen, und beobachtete darum die Fortschritte einer eingebildeten Feuersbrunst in der Ferne, und deshalb wollte ich mit ihr reden, um sie zu beruhigen. Zu meinem großen Staunen sah ich aber einen Mann in dem kleinen Garten stehen.

Er hatte ein Glas und eine Flasche in der Hand und trank. Ich blieb hinter der dichten Hecke draußen stehen, denn der Mond war jetzt aufgegangen, obgleich von Wolken verdunkelt; ich erkannte den Mann, den ich früher für ein Phantasiegebild Mr. Dicks gehalten, und dem ich einmal mit meiner Tante in den Straßen der City begegnet war.

Er aß und trank und schien mit hungrigem Appetit zu essen. Auch das Häuschen schien seine Neugier rege zu machen, als ob er es zum ersten Male sähe. Wie er die Flasche auf die Erde gesetzt hatte, blickte er zu dem Fenster hinauf und sah sich um; obgleich mit einer scheuen und ungeduldigen Miene, als ob er gern fortwollte.

Der lichte Schein in dem Gange war für einen Augenblick verdunkelt, und meine Tante trat heraus. Sie war sehr aufgeregt und zählte Geld in seine Hand. Ich hörte es klimpern.

»Was soll ich damit?« fragte er.

»Ich kann nicht mehr entbehren«, entgegnete meine Tante.

»Dann geh ich nicht fort«, sagte er. »Da! Nimm es zurück!«

»Du böser Mensch, du schlechter Mensch!« entgegnete meine Tante mit großer Bewegung, »wie kannst du mich so schändlich behandeln? Aber warum frage ich? Weil du weißt, wie schwach ich bin! Brauche ich etwas andres zu tun, um mich auf immer von deinen Besuchen zu befreien, als dich deinem verdienten Schicksal zu überlassen?«

»Und warum überlässest du mich nicht meinem verdienten Schicksal?«

»Du fragst mich, warum?« entgegnete meine Tante. »Was für ein schlechtes Herz du haben mußt!«

Er klimperte unschlüssig und mürrisch mit dem Gelde und schüttelte den Kopf, bis er endlich sagte:

»Du willst mir also weiter nichts geben?«

»Es ist alles, was ich dir geben kann«, sagte meine Tante. »Du weißt, daß mich Verluste betroffen haben, und daß ich ärmer bin, als ich früher war. Ich habe es dir gesagt. Da du nun Geld hast, warum verursachst du mir den Schmerz, dich noch einen Augenblick lang anblicken zu müssen und zu sehen, was aus dir geworden ist?«

»Ich sehe freilich ruppig genug aus, wenn du das meinst«, sagte er. »Ich verkrieche mich wie eine Eule.«

»Du hast mir den größten Teil meines Vermögens genommen!« sagte meine Tante. »Du hast für lange Jahre mein Herz gegen die ganze Welt verschlossen. Du hast mich treulos, undankbar und grausam behandelt. Geh und bereue es. Füge nicht neues Unrecht zu der langen, langen Reihe von Unrecht, das du mir schon angetan hast!«

»Ja!« sagte er. »Das ist alles recht schön! – Nun, ich muß mich vorderhand einrichten, so gut es geht.«

Wider seinen Willen schienen ihn die entrüsteten Tränen meiner Tante zu beschämen, und er kam aus dem Garten geschlurft. Mit zwei oder drei raschen Schritten, als ob ich eben käme, begegnete ich ihm in der Pforte. Wir sahen uns beim Vorbeigehen scharf an, und mit keinem freundlichen Blick.

»Tante,« sagte ich hastig,»dieser Mann verfolgt dich schon wieder! Laß mich mit ihm sprechen. Wer ist es?«

»Kind,« entgegnete meine Tante und ergriff mich beim Arm, »tritt herein und rede zehn Minuten lang nicht mit mir.«

Wir setzten uns in dem kleinen Wohnzimmer nieder. Meine Tante zog sich hinter den runden grünen Schirm aus früheren Tagen zurück, der auf die Lehne eines Stuhles geschraubt war, und wischte sich während einer Viertelstunde dann und wann die Augen. Dann trat sie wieder vor und setzte sich neben mich.

»Trot,« sagte meine Tante ruhig, »das ist mein Mann.«

»Dein Mann, Tante? Ich glaubte, er wäre tot!«

»Für mich ist er tot,« entgegnete meine Tante, »aber er lebt.«

Ich sah sie in stummer Bestürzung an.

»Betsey Trotwood sieht nicht aus wie ein passender Gegenstand für eine zärtliche Leidenschaft,« sagte meine Tante ruhig, »aber es war eine Zeit, Trot, wo sie an diesen Mann von ganzem Herzen glaubte. Wo sie ihn wahrhaft liebte, Trot. Dafür dankte er ihr damit, daß er ihr Vermögen zugrunde richtete und fast ihr Herz brach.«

»Meine liebe gute Tante!«

»Ich schied großmütig von ihm«, fuhr meine Tante fort und legte ihre Hand wie gewöhnlich auf meine. »Nach dieser langen Zeit, Trot, darf ich wohl sagen, großmütig. Er hatte so schlecht an mir gehandelt, daß ich mich unter guten Bedingungen für meine Person hätte von ihm scheiden lassen können, aber ich tat es nicht. Er hatte bald, was ich ihm gab, vergeudet, sank immer tiefer und tiefer, heiratete noch einmal, glaube ich, wurde ein Abenteurer, ein Spieler und ein Schwindler. Was er jetzt ist, hast du gesehen. Aber als ich ihn heiratete, war er ein schöner Mann«, sagte meine Tante mit einem Widerhall des Stolzes und der Bewunderung früherer Zeit in ihrer Stimme, »und ich hielt ihn – ich war eine Närrin! – für den bravsten Ehrenmann!«

Sie drückte mir die Hand und schüttelte den Kopf.

»Er gilt mir jetzt nichts mehr, Trot – weniger als nichts, aber ich gäb ihm lieber mehr Geld, als ich entbehren könnte, wenn er zuzeiten zu mir kommt, als daß ich ihn wegen seiner Vergehen bestraft sehen möchte – und das würde geschehen, wenn er sich im Lande herumtreibt. Ich war eine Närrin, als ich ihn heiratete, und ich bin noch so sehr eine ungeheure Närrin in dieser Sache, daß ich um dessen willen, wofür ich ihn einst hielt, selbst diesen Schatten meines nichtigen Jugendtraumes vor Schande schützen möchte. Denn mein Herz meinte es ehrlich, Trot, wenn es jemals eine Frau ehrlich mit ihrer Liebe meinte.«

Meine Tante schwieg mit einem schweren Seufzer und strich sich das Kleid glatt.

»So, lieber Trot!« sagte sie. »Jetzt weißt du den Anfang, die Mitte und das Ende und alles, was darum hängt. Wir wollen nicht weiter von der Sache sprechen. Natürlich wirst du auch nicht zu andern Leuten davon reden. Das ist meine krause, trübselige Geschichte, und wir wollen sie für uns behalten, Trot.«


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