Charles Dickens
Bleakhaus
Charles Dickens

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53. Kapitel

Die Spur

Mr. Bucket und sein dicker Zeigefinger halten unter den gegenwärtigen Umständen sehr häufig Beratung miteinander. Wenn Mr. Bucket eine Sache von so großer Wichtigkeit in Händen hat, so scheint sich sein dicker Zeigefinger zur Würde eines Daimonions zu erheben. Ans Ohr gehalten, flüstert er ihm Ratschläge zu. Sein Herr hält ihn an seine Lippen, und er befiehlt ihm Schweigen; reibt seine Nase damit, und ihre Witterung wird schärfer; droht dem Schuldigen mit ihm, bezaubert ihn und stürzt ihn ins Verderben. Die Auguren der Geheimpolizei prophezeien stets, wenn sie Mr. Bucket mit seinem Finger Beratung pflegen sehen, daß man in kurzem von einer schrecklichen Vergeltung hören werde.

Ein sanfter sinniger Beobachter der menschlichen Natur, im großen ganzen ein wohlwollender Philosoph, dem es fern liegt, streng über die Torheiten der Menschen zu urteilen, läßt sich Mr. Bucket in einer Anzahl von Häusern blicken und schlendert in einer Menge von Straßen herum, anscheinend gelangweilt und ohne ein besonderes Ziel im Auge zu haben. Er ist in der freundlichsten Stimmung gegen seine Mitmenschen und pflegt mit den meisten von ihnen einen Schoppen zu trinken. Er ist freigebig mit Geld, leutselig in seinen Manieren, unschuldig in seiner Haltung. Aber durch den Frieden seines Lebens zieht sich eine verborgne Zeigefinger-Unterströmung.

Zeit und Raum können Mr. Bucket nichts anhaben. Wie der Mensch im allgemeinen, so kann er von heute auf morgen verschwunden sein. Aber darin ist er dem Menschen sehr unähnlich, daß er am nächsten Tag wieder aufzutauchen imstande ist. Heute abend wirft er im Vorbeigehen einen Blick auf die Fackelauslöscher vor der Tür von Sir Leicester Dedlocks Haus in der Stadt, und morgen früh sieht man ihn auf den Bleidächern von Chesney Wold umherwandern, wo früher der alte Mann herumging, dessen Geist jetzt mit einem Sühnopfer von hundert Guineen zur Ruhe gebracht werden soll. Schubladenpulte, Taschen, kurz, alles, was Mr. Tulkinghorn gehörte, untersucht Mr. Bucket. Ein paar Stunden später sind dann immer er und der Römer allein beisammen und vergleichen, was ihre Zeigefinger wissen.

Wahrscheinlich vertragen sich diese Beschäftigungen nicht mit häuslichen Freuden, jedenfalls ist es sicher, daß Mr. Bucket gegenwärtig nie nach Hause geht. Obgleich er im allgemeinen das Beisammensein mit Mrs. Bucket sehr hoch schätzt – die Dame erfreut sich eines gewissen angebornen Detektivgenies, das bei weiterer Ausbildung und praktischer Übung Großes hätte leisten können, leider aber auf der Stufe eines geschickten Dilettantismus stehen geblieben ist –, entsagt er doch gegenwärtig ihren zärtlichen Tröstungen. Mrs. Bucket ist daher, wenn sie nicht ganz auf Gesellschaft und Unterhaltung verzichten will, auf ihre Mieterin angewiesen, glücklicherweise eine liebenswürdige Dame, an der sie großes Interesse nimmt.

Eine große Menschenmenge versammelt sich in Lincoln's-Inn-Fields am Tage des Leichenbegängnisses. Sir Leicester Dedlock allerdings wohnt der Feierlichkeit persönlich bei; aber streng genommen sind außer ihm nur noch drei andre menschliche Leidtragende da, nämlich Lord Doodle, William Buffy und als Zugabe der hinfällige Vetter; aber die Zahl der leeren untröstlichen Equipagen ist unendlich. Der Hochadel stellt mehr vierrädrige Beileidsbezeugungen bei, als jemals in dieser Gegend der Stadt gesehen worden sind. Die Versammlung von Wappen auf Kutschenschlägen ist so groß, daß man fast auf die Vermutung kommen könnte, das Heroldsamt habe Vater und Mutter in einer Nacht verloren. Der Herzog von Woodle schickt einen Trauerprachtbau mit silbernen Beschlägen, Patentachsen und den allerneuesten Verbesserungen, nebst drei Waisenknaben, jeder sechs Fuß hoch, die sich als »letzter Gruß« hinten anklammern. Alle Staatskutscher in London stecken bis über die Ohren in Trauer, und wenn der tote alte Mann mit dem rostigen Anzug nicht bereits hoch über Rosseprunk erhaben ist, so muß er sich an diesem Tag von Herzen freuen.

Ganz still, mitten unter den Leichenbesorgern und den Equipagen und den Waden so vieler gramumflorter Beine, sitzt Mr. Bucket verborgen in einer der untröstlichen Kutschen und überschaut durch die Vorhänge in aller Muße die versammelte Menge. Er hat ein scharfes Auge für das Gewimmel – und für was sonst nicht noch alles –, und wie er umherblickt, bald aus dem linken, bald aus dem rechten Wagenfenster, bald hinauf zu den Fenstern der Häuser und über die Köpfe der Leute hinweg, entgeht ihm nichts.

»Aha, da sind Sie ja, werte Ehehälfte«, sagt Mr. Bucket zu sich selbst und meint damit Mrs. Bucket, die durch seine hohe Verwendung einen Platz auf den Stufen des Trauerhauses bekommen hat. »Da bist du ja. Und recht hübsch siehst du aus, Mrs. Bucket.«

Der Zug hat sich noch nicht in Bewegung gesetzt und man wartet, bis die Leiche herausgebracht wird. Mr. Bucket, in dem vordersten mit Wappen geschmückten Wagen, hält mit seinen beiden dicken Zeigefingern die Vorhänge ein Haarbreit auseinander, um hindurch zu spähen.

Es spricht wirklich sehr für seine Zärtlichkeit als Gatte, daß er sich immer noch mit Mrs. Bucket beschäftigt. »Also da sind Sie ja, werte Ehehälfte«, wiederholt er halblaut. »Und unsre Mieterin auch. Ich sehe Sie ganz gut, Mrs. Bucket, und hoffe, wir sind wohlauf.«

Mr. Bucket spricht kein Wort weiter, sondern sitzt nur mit Augen, denen nichts entgeht, wartend da, bis das eingesargte Depositorium der adligen Geheimnisse heruntergetragen wird.

Wo sind sie jetzt alle, diese Geheimnisse? Bewahrt sie Mr. Tulkinghorn immer noch? Begleiten sie ihn vielleicht auch auf dieser unvorhergesehnen Reise?

Der Zug setzt sich in Bewegung, und Mr. Buckets Gesichtskreis bekommt Abwechslung. Er macht sich's für eine längere Spazierfahrt bequem und besichtigt die innere Ausstattung der Kutsche, für den Fall ihm einmal eine solche Kenntnis von Nutzen sein könnte.

Kontrast genug zwischen Mr. Tulkinghorn in seiner dunkeln Kutsche und Mr. Bucket in der seinigen. Zwischen der kleinen Wunde, die den einen in ewigen Schlaf versetzt hat, der jetzt so dumpf über das Straßenpflaster rumpelt, und der schmalen Blutspur, die den andern in Wachsamkeit erhält und sich dennoch auch nicht in einem Haar seines Hauptes verrät! Aber eins ist beiden gemeinsam, daß sich keiner von ihnen stören läßt.

Mr. Bucket macht die Prozession mit und schlüpft aus dem Wagen, als die Gelegenheit gekommen ist, die er sich ausersehen hat. Er macht sich auf nach Sir Leicesters Wohnung, wo er zurzeit ganz zu Hause ist, nach Belieben zu allen Stunden kommt und geht, stets willkommen ist und mit Aufmerksamkeit behandelt wird, den ganzen Haushalt kennt und, mit einer Atmosphäre von Geheimnis umgeben, umherwandelt.

Er braucht weder zu klopfen noch zu klingeln. Er hat sich einen Schlüssel geben lassen und kann nach Belieben eintreten. Als er durch die Vorhalle geht, benachrichtigt ihn der Merkur: »Die Post hat wieder einen Brief für Sie gebracht, Mr. Bucket«, und übergibt ihm das Schreiben.

»Wieder einen, so?« sagt Mr. Bucket.

Sollte der Merkur zufällig von Neugierde hinsichtlich Mr. Buckets Briefen gequält werden, so ist der Detektiv der letzte, der sie befriedigen würde. Er blickt in das Gesicht des Mannes wie in eine Aussicht in weiter Ferne, die er sich in aller Muße betrachtet.

»Haben Sie vielleicht eine Tabaksdose bei sich?« fragt Mr. Bucket.

Unglücklicherweise ist der Merkur kein Schnupfer.

»Könnten Sie mir vielleicht irgendwoher eine Prise verschaffen. Ja? Danke schön. Es ist mir gleich, was es für Tabak ist. Ich bin nicht wählerisch. Danke schön.«

Nachdem er mit Muße aus einer unten im Portierstübchen entliehenen Dose eine Prise genommen und sie mit großer Wichtigkeit erst mit einem Nasenloch und dann mit dem andern geprüft hat, erklärt er die Sorte für die richtige und geht mit dem Brief in der Hand hinauf.

Obgleich nun Mr. Bucket die Treppe hinauf nach der kleinen Bibliothek, die an die größere anstößt, mit der Miene eines Mannes geht, der täglich Dutzende Briefe bekommt, ist dennoch ein lebhafter Briefwechsel durchaus nichts Gewöhnliches bei ihm. Er ist kein Mann der Feder und führt sie etwa wie den Amtsstab, den er beständig bei sich trägt, und es ist nicht seine Gewohnheit, Leute aufzufordern, mit ihm Briefe zu wechseln, da es eine zu kunstlose und unmittelbare Art ist, delikate Geschäfte zu erledigen. Außerdem hat er zu oft erlebt, wie häufig kompromittierende Briefe zur Entdeckung führten, und hat daher alle Veranlassung, zu bedenken, wie wenig schlau es gewesen, sie zu schreiben. Aus allen diesen Gründen hat er sehr wenig mit Briefen, weder als Absender noch als Empfänger, zu tun, und um so auffallender ist es, daß er innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden genau ein halbes Dutzend erhielt.

»Und dieser hier«, sagt Mr. Bucket und breitet den eben empfangnen auf dem Tische aus, »enthält dieselben zwei Worte.«

Was für zwei Worte?

Er sperrt die Tür ab, öffnet seine schwarze Brieftasche, die schon für so viele verhängnisvoll geworden ist, legt einen andern Brief daneben und liest in beiden die mit festen Zügen geschriebnen Worte:

»Lady Dedlock.«

»Ja, ja«, sagt Mr. Bucket., »Aber ich hätte das Geld auch ohne diesen anonymen Wink verdienen können.«

Nachdem er die Briefe wieder eingesteckt hat, schließt er die Tür gerade zur rechten Zeit auf, um sein Mittagessen hereinzulassen, das auf einem gedeckten Servierbrett nebst einer Karaffe Sherry gebracht wird.

Mr. Bucket erwähnt häufig im Kreise vertrauter Freunde, ein hohler Zahn voll schönem braunem altem ostindischem Sherry sei ihm das Liebste, was man ihm anbieten könne. Daher füllt und leert er jetzt sein Glas mit schmatzenden Lippen und schlürft seinen Wein. Aber plötzlich fällt ihm etwas ein.

Er öffnet vorsichtig die in das anstoßende Zimmer führende Tür und späht hinein. Die Bibliothek ist leer, und die Glut im Kamin sinkt zusammen. Nach einem raschen Blick durch das ganze Zimmer fällt sein Auge auf einen Tisch, wo man Briefe hinzulegen pflegt, wenn sie ankommen. Die für Sir Leicester angekommene Post liegt jetzt dort. Mr. Bucket tritt näher und liest die Aufschriften. »Nein«, sagt er, »von dieser Hand ist keiner darunter. Man hat also bloß an mich geschrieben. Ich kann es morgen Sir Leicester Dedlock, Baronet, mitteilen.«

Darauf kehrt er wieder zu seinem Essen zurück, verzehrt es mit gutem Appetit und wird nach einem kurzen Schläfchen in den Salon befohlen.

Sir Leicester hat ihn dort die letzten Abende wiederholt empfangen, um zu erfahren, zu welchem Resultat die Nachforschungen bisher geführt haben. Der hinfällige Vetter, von dem Leichenbegängnis stark mitgenommen, und Volumnia sind anwesend.

Mr. Bucket macht jeder der drei Personen eine besondere Verbeugung: Sir Leicester eine huldigungsvolle, Volumnia eine galante und dem ausgemergelten Vetter eine wissende, die ungefähr soviel sagt wie: Sie sind ein etwas anrüchiges Gigerl, werter Herr, und wir kennen uns.

Nachdem er diese kleinen Proben seines Taktgefühls gewissenhaft verteilt hat, reibt er sich die Hände.

»Können Sie mir bereits etwas mitteilen, Inspektor?« fragt Sir Leicester. »Wünschen Sie vielleicht mit mir unter vier Augen zu sprechen?«

»Nein –, heute abend nicht, Sir Leicester Dedlock, Baronet.«

»Sie wissen, meine Zeit steht Ihnen ganz zur Verfügung, wenn es gilt, die Übertretungen des Gesetzes zu ahnden, Inspektor.«

Mr. Bucket hustet und blickt die in Schminke und Halsband prangende Volumnia an, als wolle er ehrerbietig sagen: Ich versichere Ihnen, Sie sind ein entzückendes Geschöpf. Ich habe Hunderte gesehen, die in Ihrem Alter sich zehnmal schlimmer ausnahmen. – Ehrenwort!

Die schöne Volumnia, sich der Wirkung ihrer Reize nicht so ganz unbewußt, hält im Schreiben eines Stoßes dreieckiger Briefchen inne und rückt versonnen das Perlenhalsband zurecht. Mr. Bucket überschlägt im Geiste den Wert des Schmuckes und hält es nicht für ausgeschlossen, daß Volumnia Verse schreibe.

»Wenn ich Sie nicht schon auf das nachdrücklichste beschworen haben sollte, Inspektor«, fährt Sir Leicester majestätisch fort, »all Ihre Geschicklichkeit zur Entdeckung dieser schrecklichen Tat aufzubieten, so möchte ich eine solche Unterlassungssünde jetzt wieder gut machen. Sie dürfen auf Geld keine Rücksicht nehmen, hören Sie? Sie können sich bei Verfolgung der Sache, die Sie in die Hand genommen haben, keine Kosten machen, mit deren Bezahlung ich nur einen Augenblick zögern würde.«

Mr. Bucket verbeugt sich tief, solcher Freigebigkeit seine Anerkennung zu zollen.

»Ich habe mich noch immer nicht«, fährt Sir Leicester mit edler Wärme fort, »seit dieser teuflischen Tat erholen können; wie sich leicht denken läßt. Es wird mir auch fürder nicht so leicht fallen, aber heute abend, nachdem ich die schwere Pflicht vollzogen, einen treuen, eifrigen und ergebenen Diener bestattet zu haben, bin ich geradezu von Entrüstung erfüllt.«

Sir Leicesters Stimme zittert, und sein graues Haar sträubt sich. Tränen treten ihm in die Augen, und die beste Saite seines Wesens vibriert.

»Ich erkläre«, sagt er, »ich erkläre feierlich, daß, solange das Verbrechen nicht entdeckt und der Täter den Händen der Gerechtigkeit überliefert ist, ich fast so darunter leide, als ob ein Schandfleck auf meinem Namen ruhte. Ein Mann, der einen so großen Teil seines Lebens mir gewidmet hat, und zwar bis zum letzten Tage, der beständig an meiner Tafel gesessen und unter meinem Dach geschlafen hat, geht von meinem Haus nach dem seinigen und wird eine Stunde darauf erschlagen. Wie kann ich wissen, ob man ihn nicht von meinem Hause aus verfolgte, vor meinem Hause ihm auflauerte, ja, vielleicht zu der Tat dadurch angeregt wurde, weil er mit meinem Haus in Verbindung stand, und dadurch auf den Gedanken geriet, er sei vermögender und einflußreicher, als sein zurückgezognes Leben mutmaßen ließ? Wenn ich nicht alle Mittel, meinen ganzen Einfluß und meine Stellung aufböte, um sämtliche Mitschuldigen an einem solchen Verbrechen der verdienten Strafe zu überliefern, ließe ich es an Hochachtung dem Gedächtnis des Mannes gegenüber und der Treue, die ich dem schulde, der immer treu zu mir gehalten hat, fehlen.«

Während er dies mit großem Ernst und tiefer Bewegung beteuert und dabei mit der Miene eines Redners vor einer Versammlung um sich blickt, sieht ihn Mr. Bucket ernst und beobachtend an, mit einem Ausdruck, dem, wenn der Gedanke nicht gar so kühn wäre, eine Spur von Mitleid beigemischt sein könnte.

»Die heutige Begräbnisfeierlichkeit«, fährt Sir Leicester fort, »ein glänzendes Zeichen der Hochachtung, die die Blüte des Landes für meinen verstorbnen Freund fühlt« – er legt auf das Wort »Freund« einen besonderen Nachdruck, denn der Tod hebt bekanntlich alle Unterschiede auf – »hat, sage ich, die seelische Erschütterung, die sich meiner bei diesem schrecklichen und unerhörten Verbrechen bemächtigte, noch vertieft. Selbst meinen Bruder würde ich nicht schonen, wenn er die Tat begangen hätte.«

Mr. Bucket macht wiederum ein sehr ernstes Gesicht.

Volumnia äußert über den Verstorbenen, er sei der zuverlässigste und liebste Mensch gewesen.

»Sie müssen seinen Verlust schwer empfinden, Miß«, tröstet Mr. Bucket. »Sicherlich. Er ist ganz ein Mann gewesen, dessen Verlust man schwer fühlt. Wahrhaftig, ja.«

Volumnia verrät Mr. Bucket, ihr gefühlvolles Herz sei fest entschlossen, sich von dem Stoß, solange es schlage, nie wieder zu erholen, und daß ihre Nerven unwiderbringlich zerrüttet seien und sie selbst keine Aussicht mehr habe, je wieder lächeln zu können. Dabei faltet sie ein dreieckiges Briefchen an den alten gefürchteten General in Bath zusammen, in dem sie ihren traurigen Gemütszustand geschildert hat.

»So etwas muß natürlich einer zartbesaiteten Dame einen Stoß geben«, sagt Mr. Bucket voll Mitgefühl. »Aber man erholt sich schon wieder.«

Vor allem wünscht Volumnia zu wissen, was weiter geschehen wird. Ob man nicht schon endlich diesen schrecklichen Soldaten verurteile, ob er Mitschuldige habe, oder wie sie es vor Gericht nennen.

»Ja, sehen Sie, Miß«, erklärt Mr. Bucket und fängt an, seinen Zeigefinger ausdrucksvoll zu bewegen, und seine natürliche Galanterie ist so groß, daß er beinahe gesagt hätte: Meine Liebe. »Es ist nicht so leicht, diese Fragen, wie die Sache gegenwärtig steht, zu beantworten. – Ich habe mich mit dieser Sache, Sir Leicester Dedlock« – Mr. Bucket zieht den Baronet als Hauptperson in das Gespräch – »zu allen Stunden des Tages ununterbrochen und eingehend beschäftigt; ohne ein paar Gläser Sherry hätte ich kaum meinen Geist in einer so beständigen Spannung erhalten können. Ich könnte Ihre Fragen beantworten, Miß, aber die Pflicht verbietet es mir. Sir Leicester Dedlock, Baronet, wird sehr bald alles erfahren, was ich bis jetzt herausgebracht habe. Und ich will hoffen«, – Mr. Bucket macht wieder ein ernstes Gesicht – »daß es ihn befriedigen wird.«

Der hinfällig aussehende Vetter hofft nur, daß – äh – Schweinehund hinjerichtet – äh –, Exempel statuiert, jlaubt, heutzutage mehr alljemeines Interesse. – Mann an Galgen bringen, als jemand Stelle verschaffen mit zehntausend jährlich Jehalt. Ist überzeugt – Beispiels wegen –, viel besser, falschen Kerl hängen, als überhaupt niemanden.

»Sie kennen das Leben, Sir«, sagt Mr. Bucket mit einem gewissen vertraulichen Zwinkern des Auges und einem Krümmen seines Zeigefingers, »und Sie können bestätigen, was ich soeben dieser Dame gesagt habe. Ihnen brauche ich nicht erst zu verraten, daß Nachrichten, die ich bekommen habe, mich dazu veranlaßt haben. Sie verstehen, was man dem Verständnis einer Dame nicht zumuten kann. Besonders einer Dame in Ihrer hohen gesellschaftlichen Stellung, Miß«, sagt Mr. Bucket und wird blutrot, denn bei einem Haar wäre ihm zum zweiten mal die Anrede »Meine Liebe« entschlüpft.

»Der Inspektor tut seine Pflicht und ist vollkommen im Recht, Volumnia«, betont Sir Leicester.

»Sehr erfreut, mein Vorgehen von Ihnen gebilligt zu sehen, Sir Leicester Dedlock, Baronet«, murmelt Mr. Bucket.

»Tatsächlich, Volumnia«, fährt Sir Leicester fort, »gibt man kein gutes Beispiel, wenn man dem Inspektor solche Fragen vorlegt, wie Sie sie soeben gestellt haben. Er muß am besten wissen, was er beantworten kann, und es schickt sich nicht für uns, die wir die Gesetze mitmachen helfen, denen, die sie in Anwendung bringen, hindernd in den Weg zu treten. Oder«, sagt Sir Leicester etwas streng, denn Volumnia wollte ihn unterbrechen, noch ehe er seinen Satz abgerundet hatte, »oder denen ihre Pflicht schwer zu machen, die die rächenden Organe unsrer Gesetzgebung repräsentieren.«

Volumnia rechtfertigt sich in aller Demut, daß sie nicht nur als Entschuldigung den Hinweis auf die Neugierde, die eine Eigenschaft der leichtsinnigen Jugend im allgemeinen und die ihres Geschlechtes im besondern bilde, für sich habe, sondern auch fast von Sinnen sei vor Schmerz und Teilnahme für den lieben reizenden Menschen, dessen Verlust sie alle so sehr beklagen.

»Sehr gut, Volumnia«, entgegnet Sir Leicester, »um so mehr können Sie nicht diskret genug sein.«

Mr. Bucket benützt die eingetretne Pause, um sich wieder hören zu lassen.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, eines kann ich jedenfalls der Dame mit Ihrer Erlaubnis, und ganz im Vertrauen, verraten, nämlich, daß ich die Angelegenheit bereits für ziemlich abgeschlossen halte. Es ist ein schöner Fall – ein schöner Fall –, und das Wenige, was noch zu seiner Vervollständigung fehlt, hoffe ich in ein paar Stunden beisammen zu haben.«

»Es freut mich sehr, das zu hören«, sagt Sir Leicester. »Es macht Ihnen sehr viel Ehre.«

»Sir Leicester Dedlock, Baronet, ich hoffe, die Sache wird nicht nur mir Ehre machen, sondern auch allen Teilen Befriedigung gewähren. Wenn ich sage, es ist ein schöner Fall, Miß«, fährt Mr. Bucket fort und wirft einen ernsten Seitenblick auf Sir Leicester, »müssen Sie im Auge behalten, daß ich ihn von meinem Standpunkt aus betrachte. Von andern Gesichtspunkten aus gesehen, ziehen solche Fälle immer mehr oder weniger Unannehmlichkeiten nach sich. Oft kommen sehr sonderbare Familienangelegenheiten zu unsrer Kenntnis, Miß. Ja, wahrhaftig Dinge, die Sie geradezu für unmöglich halten würden.«

Volumnia glaubt das gern und sagt es mit ihrem naiven halblauten Schrei.

»Ja, und sogar in feinen Familien, in vornehmen Familien, in sehr hohen Familien« – Mr. Bucket sieht abermals Sir Leicester ernst von der Seite an. »Ich habe die Ehre gehabt, schon früher in vornehmen Familien zu Rate gezogen zu werden, und Sie haben keinen Begriff – ich gehe soweit zu sagen, daß selbst Sie keinen Begriff haben, Sir« – dies sagt er zu dem hinfällig aussehenden Vetter – »was da für Geschichten vorkommen.«

Der Vetter, der sich, halbtot vor Langweile, in den Sofakissen gerekelt hat, gähnt: »Woh ö – i« – was »wohl möglich« heißen soll.

Sir Leicester hält es für an der Zeit, den Inspektor zu entlassen, sagt majestätisch: »Sehr gut, ich danke Ihnen«, und gibt mit einer ausdrucksvollen Handbewegung zu verstehen, daß das Gespräch als beendet anzusehen ist und daß vornehme Familien, wenn sie in schlechte Gewohnheiten verfallen, sich eben die Folgen selbst zuzuschreiben haben.

»Vergessen Sie nicht, Inspektor«, setzt er herablassend zu, »daß ich zu jeder Zeit zu Ihrer Verfügung stehe.«

Wieder sehr ernst, erkundigt sich Mr. Bucket, ob es vielleicht morgen vormittag angenehm wäre, falls die Sache bis dahin soweit gediehen sein sollte.

Sir Leicester gibt zur Antwort: »Jede Stunde ist mir recht.«

Mr. Bucket macht seine drei Verbeugungen und will sich entfernen, da fällt ihm ein, daß er noch etwas vergessen hat.

»Dürfte ich beiläufig fragen«, sagt er, geräuschlos und vorsichtig umkehrend, »wer die Bekanntmachung wegen der ausgesetzten Belohnung an der Treppe angeschlagen hat.«

»Ich selbst ließ sie dort anschlagen«, entgegnet Sir Leicester.

»Würde ich mir eine Freiheit herausnehmen, Sir Leicester Dedlock, Baronet, wenn ich Sie fragte, warum?«

»Durchaus nicht. – Ich wählte die Treppe deswegen, weil diesen Teil des Hauses jedermann betritt. Ich glaubte, es könnte gar nicht aufmerksam genug darauf gemacht werden. Ich wünschte meinen Leuten die Größe des Verbrechens, meinen festen Entschluß, es zu bestrafen, und die Unmöglichkeit, der Strafe zu entgehen, tief einzuprägen. Aber wenn Sie, Inspektor, bei Ihrer größeren Erfahrung in solchen Sachen etwas dagegen einzuwenden haben...«

Mr. Bucket hat jetzt nichts dagegen einzuwenden; da die Bekanntmachung einmal angeschlagen ist, sei es besser, sie nicht zu entfernen. Er wiederholt seine drei Verbeugungen und entfernt sich. Volumnia läßt wieder ihren leisen Schrei hören und leitet damit die Bemerkung ein, daß die Seele dieses entzückend furchtbaren Menschen die reinste Blaubartkammer sei.

Mit seinem Hang zur Geselligkeit und seiner Gewandtheit, mit allen Menschenklassen zu verkehren, steht Mr. Bucket gleich darauf vor dem Kaminfeuer in der Vorhalle – so hell und warm in der frühen Winterabendstunde – und bewundert den Merkur.

»Wahrhaftig, ich glaube, Sie sind sechs Fuß zwei Zoll?«

»Drei«, verbessert der Merkur.

»Wirklich so groß? Aber freilich, ja, Sie sind breit im Verhältnis, und man sieht es Ihnen nicht an. Sie sind keiner von den Spindelbeinen. Haben Sie nie Modell gestanden?« Mr. Bucket sieht ihn mit auf die Seite geneigtem Kopf und dem Blick eines Künstlers an.

Der Merkur hat nie Modell gestanden.

»Dann sollten Sie's tun«, sagt Mr. Bucket. »Ein Freund von mir, von dem Sie noch eines schönen Tages hören werden, daß er Bildhauer der königlichen Akademie geworden ist, würde etwas springen lassen, wenn er Sie als Modell für eine Marmorstatue bekommen könnte. Mylady ist nicht zu Hause, nicht wahr?«

»Zum Diner ausgefahren.«

»Fährt wohl ziemlich jeden Tag aus, nicht wahr?«

»Ja.«

»Nicht zu verwundern«, meint Mr. Bucket. »Eine so vornehme Frau wie sie, so schön, so anmutig und elegant, ist wie eine frische Zitrone auf einem Speisetisch und eine Zierde überall, wo sie hinkommt. War Ihr Vater auch in einer Stellung wie Sie?«

Die Antwort fällt verneinend aus.

»Aber meiner«, sagt Mr. Bucket. »Mein Vater war erst Page, dann Bedienter, dann Kellermeister, dann Steward, dann Gastwirt. War zu Lebzeiten allgemein geachtet und starb tief betrauert. Sagte mit seinem letzten Atemzug, er betrachte seine Bedientenzeit als den ehrenvollsten Teil seiner Laufbahn, und so war es auch. Ich habe einen Bruder, der Bedienter ist, und einen Schwager. Ist Mylady gut mit den Leuten?«

Der Merkur entgegnet, soweit man das von ihr erwarten könne.

»Aha«, sagt Mr. Bucket, »ein bißchen verwöhnt? Ein bißchen launenhaft? Mein Gott, wie kann es anders sein, wenn man so schön ist. Und je launenhafter sie ist, desto lieber hat man sie.« Der Merkur, die Hände in den Taschen seiner schönen pfirsichblütnen Kniehose, streckt seine symmetrischen seidenüberzognen Beine mit der Miene eines Stutzers von sich und kann es nicht leugnen. Draußen kommt ein Wagen angerollt, und es wird heftig geklingelt.

»Wenn man den Wolf nennt, kommt er gerennt«, sagt Mr. Bucket. »Da ist sie.«

Die Türen werden weit geöffnet, und Mylady schreitet durch die Vorhalle. Sie ist immer noch sehr bleich, in Halbtrauer gekleidet, und trägt zwei kostbare Armbänder. Entweder ihre Schönheit oder die Schönheit ihrer Arme erregen Mr. Buckets ganz besondre Aufmerksamkeit. Er sieht mit spähendem Blick hin und klappert mit etwas in der Tasche – vielleicht mit Halfpences.

Sie bemerkt ihn im Hintergrund und wendet sich mit einem fragenden Blick an den andern Merkur, der sie nach Hause brachte.

»Mr. Bucket, Mylady.«

Mr. Bucket macht einen Kratzfuß und tritt hervor, indem er sich mit seinem Hausdämon über den Mund fährt.

»Warten Sie auf Sir Leicester?«

»Nein, Mylady. Ich war bereits bei ihm.«

»Haben Sie mir etwas zu sagen?«

»Jetzt gerade nicht, Mylady.«

»Haben Sie neue Entdeckungen gemacht?«

»Ein paar, Mylady.«

– Sie stellt ihre Fragen nur so im Vorübergehen. Sie bleibt kaum stehen und schwebt allein die Treppe hinauf. –

Mr. Bucket tritt einen Schritt vor und beobachtet sie, wie sie die Stufen hinaufgeht, die der alte Advokat herunterstieg in sein Grab, an mordgierigen Gruppen von Bildhauerwerk vorüber, die sich mit dem Schatten ihrer Waffen an der Wand wiederholen, an der gedruckten Bekanntmachung, auf die sie im Vorbeigehen einen Blick wirft, vorüber. Dann verschwindet sie.

»Wahrhaftig, eine schöne Frau«, sagt Mr. Bucket und kommt zu dem Merkur zurück. »Sieht aber nicht ganz gesund aus.«

Sei auch nicht ganz gesund, teilt ihm der Merkur mit, leide sehr an Kopfschmerzen.

Wahrhaftig? Schade! Spazierengehen würde Mr. Bucket als Heilmittel anempfehlen.

»O, sie geht spazieren«, entgegnet der Merkur. »Geht manchmal zwei Stunden spazieren, wenn ihr Zustand sich verschlimmert. Sogar in der Nacht.«

»Wissen Sie auch ganz sicher, daß Sie genau sechs Fuß drei Zoll hoch sind?« fragt Mr. Bucket. »Sie müssen schon entschuldigen, daß ich Sie einen Augenblick unterbreche.«

»Darüber besteht gar kein Zweifel.«

»Ich hätte das wirklich nicht geglaubt bei Ihren guten Proportionen. Die Garden gelten doch auch als schöne Leute, aber sie sind mir zu schlenkrig und aufgeschossen. – Geht also bei Nacht spazieren? Wenn Mondschein ist?«

O ja, wenn Mondschein ist! Natürlich. Ja natürlich.

– Übereinstimmung auf beiden Seiten. –

»Sie selbst gehen wohl nicht viel spazieren?« fragt Mr. Bucket. »Haben wahrscheinlich nicht viel Zeit dazu übrig?«

Außerdem findet der Merkur keinen Geschmack daran. Zieht Fahren vor.

»Selbstverständlich.« – Mr. Bucket sieht das ein. – »Das ist etwas ganz andres. Übrigens, jetzt fällt mir ein«, sagt Mr. Bucket, indem er sich die Hände wärmt und vergnüglich in die flackernde Flamme schaut, »sie ist an demselben Abend, wo die Geschichte geschehen ist, auch spazieren gegangen.«

»Ja, freilich! Ich schloß ihr den Garten drüben auf.«

»Und verließen sie dort. Richtig, ja. Ich hab es zufällig mit angesehen.«

»Ich habe Sie nicht bemerkt«, sagt der Merkur.

»Ich hatte ziemliche Eile«, erklärt Mr. Bucket, »denn ich wollte gerade eine Tante besuchen, die in Chelsea wohnt – die zweitnächste Tür von dem alten ehemaligen Bun-Haus. Neunzig Jahre alt. Unverheiratet und im Besitz eines kleinen Vermögens. Ja, ich ging gerade zufällig vorbei. Wie spät mochte es wohl gewesen sein? Warten Sie mal. Es war noch nicht zehn.«

»Halb zehn.«

»Ganz richtig. Halb zehn war's. Und wenn ich mich nicht ganz irre, war Mylady in einen weiten schwarzen Mantel, mit breiten Fransen daran, gehüllt.«

»Ganz richtig.«

»Ganz richtig.« Mr. Bucket muß wieder zu einer kleinen Arbeit zurück, die er oben noch zu verrichten hat, muß aber vorher noch dem Merkur erkenntlich für die angenehm verlebte Viertelstunde die Hand schütteln, und ob er wohl – möchte er noch ein Mal fragen – ob er wohl, wenn er einmal eine halbe Stunde übrig habe, sie dem Bildhauer der königlichen Akademie zum Nutzen beider Teile schenken möge?


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