Charles Dickens
Bleakhaus
Charles Dickens

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21. Kapitel

Die Familie Smallweed

Inmitten einer recht übel aussehenden und übel duftenden Nachbarschaft, wenn auch einer ihrer höher gelegenen Teile den Namen Mount Pleasant führt, verbringt der Kobold Smallweed, getauft Bartholomäus, am häuslichen Herde aber »Bart« genannt, den spärlichen Rest seiner Zeit, den ihm die Kanzlei, und was damit zusammenhängt, übrig läßt. Er wohnt in einer kleinen schmalen Straße, die immer einsam, schattig, und traurig von allen Seiten wie ein Grab dicht ummauert ist. Aber immer noch wächst in ihr der Stumpf eines alten Waldbaumes, und sein Duft ist fast so frisch und natürlich wie Smallweeds Anstrich von Jugend.

Seit mehreren Generationen hat es in der Familie Smallweed nur ein einziges Kind gegeben. Kleine alte Männer und Frauen sind vorgekommen, aber kein Kind, bis Mr. Smallweeds Großmutter, die jetzt noch am Leben ist, schwachen Geistes und zum ersten Mal in ihrem Leben zum Kinde wurde. Mit den kindischen Eigenschaften eines gänzlichen Mangels an Beobachtungsgabe, Gedächtnis, Verstand und Interesse und mit der ewigen Neigung behaftet, beim Feuer einzuschlafen und hineinzufallen, hat Mr. Smallweeds Großmutter unzweifelhaft zur Belebung der ganzen Familie beigetragen.

Mr. Smallweeds Familie erfreut sich noch eines Großvaters. Der untere Teil seines Körpers ist ganz und der obere Teil beinah in hoffnungslosem Zustand, aber sein Geist ist ungeschwächt. Er kennt so gut wie früher die vier Spezies der Arithmetik und eine gewisse kleine Auswahl der greifbarsten Tatsachen. Was Idealismus, Ehrfurcht, Bewunderung und andre derartige phrenologische Eigenschaften betrifft, ist er darin nicht schlimmer dran als früher. Alles, was Großvater Smallweed je in seinen Geist aufgenommen hat, ist bei Beginn eine Raupe gewesen und bis zuletzt eine Raupe geblieben. In seinem ganzen Leben hat er nicht einen einzigen Schmetterling ausgebrütet. Der Vater dieses angenehmen Großvaters, aus der Gegend von Mount Pleasant, war eine hornhäutige zweibeinige geldsammelnde Art Spinne gewesen, die ihre Netze wob, um unvorsichtige Fliegen zu fangen, und in dunkeln Löchern auf der Lauer lag. Der Gott dieses alten Heiden hieß Zinseszins. Er lebte für diesen Gott, heiratete für ihn und starb für ihn. Als ihn ein schwerer Verlust in einem ehrenhaften kleinen Unternehmen traf, in dem der ganze Verlust auf der andern Seite hätte liegen sollen, brach ihm etwas – etwas, was zu seinem Leben notwendig war und daher nicht gut sein Herz gewesen sein konnte –, und er starb. Da sein Ruf nicht gut gewesen und er in einer Armenschule einen vollständigen Kursus der Fragen und Antworten über das alte Volk der Ammoniter und Hittiter durchgemacht hatte, wurde er häufig als ein Beispiel der schlimmen Folgen der Erziehung hingestellt.

Sein Geist pflanzte sich in seinem Sohne fort, dem er stets eingeprägt hatte, frühzeitig die Fühler auszustrecken, und den er im zwölften Lebensjahr bei einem Wucherer in die Lehre gab. Hier bildete der junge Gentleman, der von knickerigem und geizigem Charakter war, seinen Geist und schwang sich durch Entwicklung seiner Familienanlage allmählich bis zum – Eskompteur auf. Da er sich ebenfalls frühzeitig etablierte und spät heiratete, wie sein Vater vor ihm, zeugte er ebenfalls einen Sohn von knickerigem engherzigem Charakter, der auch seinerzeit sich frühzeitig etablierte und spät heiratete und Vater des Zwillingspaares Bartholomäus und Judith Smallweed wurde. Während der ganzen Zeit des langsamen Gedeihens dieses Stammbaums hatte das Haus Smallweed, immer sich frühzeitig etablierend und spät heiratend, seinen praktischen Charakter gestärkt, allen Vergnügungen entsagt, alle Geschichtsbücher, Märchen, Phantasien und Fabeln verboten und jegliche Art Spielerei verbannt. Die Folge davon war die erquickliche Tatsache, daß dem Hause nie ein Kind geboren wurde und die fertigen kleinen Männer und Frauen, die es hervorbrachte, alten Affen glichen, auf deren Seele etwas Niederdrückendes lastete.

Gegenwärtig sitzen in der dunkeln kleinen Stube, einige Fuß unter dem Straßenpflaster, in zwei schwarzen Roßhaarlehnstühlen auf beiden Seiten des Kamins Mr. und Mrs. Smallweed, beide steinalt, und verbringen hier ihre rosigen Stunden. Es ist eine grimmig und streng aussehende ungemütliche Stube, in der man keine andere Zier bemerkt als ein ganz ordinäres Tischtuch und ein ganz hartes eisenblechernes Teebrett, das seinem dekorativen Charakter nach kein schlechtes allegorisches Bild von Großvater Smallweeds Seele ist.

Auf dem Herd stehen ein paar Dreifüße für die Töpfe und Kessel, deren Bewachung Großvater Smallweeds gewöhnliche Beschäftigung ausmacht, und zwischen ihnen ragt von dem Kaminsims eine Art messingner Hausgalgen vor, um daran Fleisch zu braten, der ebenfalls unter seiner Aufsicht steht, wenn er in Tätigkeit ist.

Unter des ehrwürdigen Mr. Smallweeds Sessel und bewacht von seinen spindeldürren Beinen ist ein Schubkasten angebracht, der der Legende nach Schätze von fabelhaftem Wert birgt. Neben ihm liegt ein überzähliges Kissen, das er immer bei der Hand haben muß, um es der ehrwürdigen Gefährtin seines Lebensabends an den Kopf werfen zu können, wenn sie eine Anspielung auf Geld macht, eine Anspielung, gegen die er ganz besonders empfindlich ist.

»Wo bleibt nur Bart?« fragt Großvater Smallweed Judy, Barts Zwillingsschwester.

»Ist noch nicht da«, brummt Judy.

»Es ist seine Teezeit, was?«

»Nein.«

»Wieviel, glaubst du, fehlt noch daran?«

»Zehn Minuten.«

»He?«

»Zehn Minuten«, schreit Judy lauter.

»Ho!« sagt Großvater Smallweed. »Zehn Minuten.«

Großmutter Smallweed, die gemummelt hat und mit dem Kopf gewackelt, den Dreifuß anstierend, hört die Zahlen nennen, bringt sie mit Geld in Verbindung und kreischt wie ein häßlicher alter Papagei ohne Federn: »Zehn Zehnpfundnoten.«

Großvater Smallweed wirft ihr augenblicklich das Kissen an den Kopf.

»Verwünscht noch Mal, kusch!« ruft der gute Alte.

Die Wirkung der Wurfbewegung ist zwiefach. Sie drückt nicht nur Mrs. Smallweeds Kopf in die Ecke ihres Lehnstuhls und läßt ihre Mütze in einem wenig respektierlichen Zustand erblicken, wenn die Enkelin sie wieder erlöst hat, sondern die damit verbundne Anstrengung macht auch Mr. Smallweed in seinen Lehnstuhl zurücksinken wie eine zerbrochene Puppe.

Da der treffliche alte Herr zu solchen Zeiten nur wie ein bloßes Kleiderbündel mit einem schwarzen Hauskäppchen obendrauf aussieht, so bietet er keinen sehr belebten Anblick, bis ihn die Enkelin wie eine große Flasche geschüttelt und zurecht geklopft und gepufft hat wie ein Polster. Wenn sich durch diese Behandlungsweise wieder ein Ansatz von Hals bei ihm zeigt, sitzen er und die Gefährtin seines Lebensabends sich wieder in den zwei Lehnstühlen gegenüber wie ein paar Schildwachen, die der Tod, der schwarze Sergeant, auf ihrem Posten vergessen hat.

Das Zwillingskind Judy ist eine würdige Gesellschaft für die beiden.

Sie ist so unzweifelhaft Mr. Smallweed jrs. Schwester, daß beide zusammengeknetet kaum einen jungen Menschen von Durchschnittsproportionen ergeben hätten, während sie allein ein so glückliches Beispiel der Familienähnlichkeit mit dem Affengeschlecht ist, daß sie, mit Tressenjacke und Mütze aufgeputzt, ruhig, ohne aufzufallen, auf einer Drehorgel sitzen könnte. Gegenwärtig jedoch trägt sie natürlich nur einen einfachen knappen Rock von braunem Stoff.

Judy hat nie eine Puppe gehabt, hat nie vom Aschenbrödel gehört oder irgendein Spiel gespielt. Als sie ungefähr zehn Jahre alt war, kam sie ein oder zwei Mal in Kindergesellschaft, aber die Kinder konnten nicht mit Judy und Judy nicht mit ihnen auskommen. Sie schien ein Geschöpf anderer Gattung zu sein, und auf beiden Seiten herrschte ein instinktiver Widerwille.

Ob Judy lachen kann, ist fraglich. Sie hat es so selten gesehen, daß die Wahrscheinlichkeit sehr dagegen spricht. Von einem kindlichen Lachen hat sie bestimmt keinen Begriff. Wenn sie zu lachen versuchen würde, stünden ihr wahrscheinlich die Zähne im Weg, denn sie ahmt in jeder Miene das Greisenalter nach, das um sie ist. So ist Judy.

Und ihr Zwillingsbruder hat in seinem ganzen Leben noch nie einen Kreisel aufgewunden. Von dem Däumling, der den Riesen totschlug, oder Sindbad, dem Seefahrer, weiß er nicht mehr als von den Bewohnern der Sterne.

Von Bockspringen oder Ballspielen hatte er schon gar nie eine blasse Ahnung. Aber insofern ist er glücklicher als seine Schwester, als in seine enge Welt der Tatsachen ein Dämmerschein der höheren Regionen gedrungen ist, die innerhalb des Gesichtskreises Mr. Guppys liegen, dieses glänzenden Zauberers. Deshalb seine Bewunderung vor diesem strahlenden Stern.

Mit einem gongähnlichen Geräusch setzt Judy eins der eisenblechernen Teebretter auf den Tisch und verteilt Ober- und Untertassen. Das Brot legt sie in ein eisernes Körbchen und ein wenig Butter auf einen kleinen Zinnteller. Großvater Smallweed sieht scharf hin, wie der Tee eingeschenkt wird, und fragt Judy, wo das Mädchen ist.

»Charley, meinst du?« fragt Judy.

»He?«

»Charley, meinst du?«

Das berührt eine Feder in Großmutter Smallweeds Erinnerungsuhrwerk. Und wie gewöhnlich den Dreifuß angrinsend, schreit sie:

»Über dem Wasser. Charley über dem Wasser! Charley über dem Wasser. Über das Wasser zu Charley! Charley über dem Wasser! Über das Wasser zu Charley!« – und wird ganz lebhaft dabei.

Der Großvater sieht sich nach dem Kissen um, hat sich aber von seiner letzten Anstrengung noch nicht genügend erholt.

»Ha!« fragt er, als Stille eingetreten ist. »Heißt sie so? Sie ißt viel. Es wäre besser, ihr Kostgeld zu geben.«

Mit dem schlauen Augenzwinkern ihres Bruders schüttelt Judy den Kopf und spitzt ihre Lippen zu einem Nein, ohne es auszusprechen.

»Nein?« wiederholt der Alte. »Warum nicht?«

»Wir würden ihr sechs Pence täglich geben müssen und können es billiger machen«, sagt Judy.

»Bestimmt?«

Judy antwortet mit einem höchst bedeutsamen Nicken und schrillt, während sie so sparsam wie möglich die Butter auf das Brot kratzt und es in Scheiben schneidet: »Charley, wo bist du?«

Schüchtern erscheint ein kleines Mädchen in einer groben Schürze und einem großen Hut, die Arme mit Seifenschaum bedeckt und in der Hand eine Scheuerbürste, und knickst.

»Was machst du jetzt?« herrscht Judy sie an und schnappt nach ihr wie eine bösartige alte Hexe.

»Ich scheuere das Hofzimmer oben, Miß.«

»Mach es ordentlich und trödle nicht. Schlamperei paßt mir nicht. Mach rasch! Fort!« ruft Judy und stampft mit dem Fuß auf den Boden. »Ihr Mädchen macht einem doppelt so viel Arbeit, als ihr wert seid.«

Als diese strenge Matrone wieder an ihre Beschäftigung geht, Butter auf das Brot zu kratzen, fällt der Schatten ihres Bruders, der zum Fenster hereinsieht, auf sie. Messer und Brot in der Hand, macht sie ihm die Haustür auf.

»Nun, Bart!« sagt Großvater Smallweed. »Da bist du ja. He?«

»Da bin ich«, nickt Bart.

»Wieder mit deinem Freund zusammen gewesen, Bart?«

Small nickt.

»Auf seine Kosten zu Mittag gegessen, Bart?«

Small nickt wieder.

»Das ist recht. Lebe auf seine Kosten, soviel du kannst, und laß dich durch sein törichtes Beispiel warnen. Das ist der Nutzen eines solchen Freundes. Der einzige Nutzen, den du aus ihm ziehen kannst«, sagt der ehrwürdige Weise.

Der Enkel könnte diesen guten Ratschlag ehrerbietiger aufnehmen, aber er billigt ihn mit einem leichten Nicken und Augenzwinkern und setzt sich an den Teetisch.

Die vier alten Gesichter schweben sodann über den Teetassen wie eine Gesellschaft gespenstischer Cherubim, und Mrs. Smallweed wackelt beständig mit dem Kopf und schnattert die Dreifüße an, während der greise Patriarch beständig geschüttelt werden muß wie eine große schwarze Flasche.

»Ja, ja«, sagt der alte Herr und fängt seine Vorlesungen über Weisheit wieder an. »Diesen Rat würde dir auch dein Vater gegeben haben, Bart. Du hast deinen Vater nie gesehen. Sehr schade. Er war mein echter Sohn.«

»Er war mein echter Sohn«, wiederholt der alte Herr und faltet die Hände mit der Butterschnitte über dem Knie. »Ein guter Rechner. –Starb vor fünfzehn Jahren.«

Von ihrem gewohnten Instinkt getrieben, ruft Mrs. Smallweed: »Fünfzehnhundert Pfund. Fünfzehnhundert Pfund in einem schwarzen Kasten! Fünfzehnhundert Pfund unter Schloß und Riegel! Fünfzehnhundert Pfund gut versteckt.«

Der würdige Gatte legt das Butterbrot hin und wirft sofort mit dem Kissen nach ihr. Sie wird in die Ecke ihres Stuhls gequetscht, und er sinkt entkräftet zurück.

Sein Aussehen, wenn er an Mrs. Smallweed wieder eine solche Ermahnung verschwendet hat, ist höchst ausdrucksvoll, aber keineswegs einnehmend. Erstens, weil ihm die Anstrengung meistens das Hauskäppchen über ein Auge schiebt und ihm ein Aussehen koboldartiger Flottheit verleiht, zweitens, weil er heftige Verwünschungen gegen Mrs. Smallweed ausstößt, und drittens, weil der Kontrast zwischen seinen kräftigen Ausdrücken und seiner schwächlichen Gestalt an einen giftigen alten Bösewicht erinnert, der gern grausam sein möchte, aber nicht kann.

Das alles ist etwas so Gewöhnliches in dem Familienkreise der Smallweeds, daß es weiter keinen Eindruck hervorruft. Der alte Herr wird nur geschüttelt und seine inneren Federn werden aufgeklopft, das Kissen wird von neuem an seinen gewöhnlichen Platz neben ihn gelegt und die alte Dame abermals in ihrem Stuhl aufgerichtet, um bei nächster Gelegenheit wieder wie ein Kegel umgeworfen zu werden.

Manchmal rückt man ihr die Mütze zurecht. Manchmal auch nicht.

Dies Mal vergeht einige Zeit, bis sich der alte Herr soweit beruhigt hat, um seine Rede fortsetzen zu können, und selbst dann mischt er verschiedne erbauliche Zurufe an die Gefährtin seines Lebens, die aber nicht zuhört und sich auf Erden nur noch mit Dreifüßen unterhält, hinein.

»Wenn dein Vater, Bart, länger gelebt hätte, würde er sehr reich geworden sein – du höllisches Plappermaul –, aber gerade als er anfing, das Gebäude aufzurichten, zu dem er viele Jahre lang den Grund gelegt hatte – du verwünschte Elster, was willst du denn eigentlich –, erkrankte er und starb an einem zehrenden Fieber, denn er war immer ein sparsamer Mann voll Sorge ums Geschäft – ich möchte dir eine Katze an den Kopf werfen, anstatt eines Kissens und tue es auch noch ein Mal, wenn du einen so verdammten Narren aus dir machst –, und deine Mutter, die eine verständige Frau war, so dürr wie ein Hobelspan, schwand hin wie Zunder, als sie dich und Judy geboren hatte... Du bist ein altes Schwein, du bist ein dummes Höllenschwein – Schweinskopf!!«

Judy, die sich für das, was sie schon so oft gehört hat, nicht im geringsten interessiert, gießt aus den Ober- und Untertassen und dem Grunde der Kanne verschiedne Nebenströme Tee zum Abendbrot der kleinen Scheuerfrau zusammen. Ebenso sammelt sie in dem eisernen Brotkorb soviel Rinden und Brocken Brot, als die strenge Sparsamkeit des Hauses übrig gelassen hat.

»Aber dein Vater und ich waren Kompagnons, Bart«, fährt der alte Herr fort, »und nach meinem Tode bekommen du und Judy alles. Es ist ein großes Glück für euch, daß ihr zeitig in die Lehre gegangen seid. Judy ins Blumengeschäft und du in die Kanzlei. Ihr werdet das Geld nicht anzugreifen brauchen. Ihr verdient euch auch so euren Lebensunterhalt und spart noch mehr dazu. Wenn ich tot bin, geht Judy wieder ins Blumengeschäft, und du bleibst in der Kanzlei.«

Nach Judys Aussehen könnte man eher auf eine Beschäftigung mit Dornen als mit Blumen schließen, aber sie ist frühzeitig in die Mysterien der Verfertigung künstlicher Blumen eingeweiht worden. Ein scharfer Beobachter hätte sowohl in ihrem als in ihres Bruders Auge, während ihr ehrwürdiger Großvater von seinem Tode sprach, ein klein wenig Ungeduld, wann er wohl sterben würde, und ein wenig Groll, daß es schon so lange dauere, entdecken können.

»Wenn ihr jetzt alle fertig seid«, sagt Judy und räumt auf, »will ich das Mädchen zum Tee hereinholen. Sie würde nie fertig werden, wenn ich ihr den Tee draußen in der Küche gäbe.«

Charley wird also hereingerufen und setzt sich unter einem heftigen Kreuzfeuer von Blicken zu ihrem Tee und einer druidischen Ruine von Butterbrot hin. Bei der Beaufsichtigung des Mädchens scheint Judy Smallweed ein wahrhaft geologisches Alter zu erreichen und auszusehen, als ob sie aus den fernsten Zeitepochen herstamme. Ihr System, mit oder ohne Anlaß über das Kind herzufallen, es auszuschimpfen, ist geradezu wunderbar und beweist eine Fertigkeit im Mißhandeln von Dienstboten, die selbst jahrhundertealte Übung nur selten verleiht.

»Glotze nicht den ganzen Nachmittag in der Stube herum«, ruft sie und stampft mit dem Fuß, als sie zufällig einen Blick des Kindes auf den Teekessel erhascht, »verzehre deinen Proviant und geh wieder an die Arbeit.«

»Ja, Miß.«

»Sage nicht ja«, fährt Miß Smallweed auf. »Ich weiß schon, wie ihr Mädchen seid. Tue es, ohne zu reden, dann fang ich vielleicht an, dir zu glauben.«

Charley schlingt einen großen Schluck Tee hinunter, zum Zeichen der Unterwürfigkeit, und zerstört die druidischen Ruinen so sehr, daß Miß Smallweed ihr vorwirft, gefräßig zu sein, »was bei euch Mädchen«, wie sie sagt, »so abstoßend ist«. Es würde Charley wahrscheinlich noch schwerer fallen, Judys Anforderungen, wie Mädchen sein müßten, zu entsprechen, wenn man nicht ein Klopfen an der Tür hörte.

»Sieh nach, wer's ist, und kaue nicht beim Aufmachen«, ruft Judy.

Während sich die Zielscheibe ihrer Liebenswürdigkeiten zu diesem Zweck entfernt, benützt Miß Smallweed die Gelegenheit, um die Reste von Brot und Butter zusammenzuschieben und ein paar schmutzige Teetassen in die ebbende Flut des Teekessels zu werfen; ein Wink, daß sie das Essen und Trinken für beendigt ansieht.

»Nun, wer ist's und was will er?« fragt sie dann spitzig.

Es ist ein gewisser Mr. George, wie sich herausstellt. Ohne weitere Anmeldung oder Zeremonie tritt Mr. George ein.

»Pfui Teufel!« sagt Mr. George. »Habt ihr's aber heiß hier. Immer ein Feuer, was? Na! Vielleicht tut ihr gut, euch beizeiten daran zu gewöhnen.« Mr. George spricht diese letzten Worte zu sich selbst, während er Großvater Smallweed zunickt.

»Ho! Sie sind's?« ruft der alte Herr. »Wie geht's? Wie geht's?«

»Soso mittel«, antwortet Mr. George und nimmt einen Stuhl.

»Ihre Enkelin habe ich bereits die Ehre zu kennen. Ihr Diener, Miß.«

»Hier, mein Enkel«, stellt Großvater Smallweed Bart vor. »Sie kennen ihn noch nicht. Er ist in einer Kanzlei und nicht viel zu Hause.«

»Ihr Diener, ebenfalls! – Er ist wie seine Schwester. Ganz seine Schwester. Verflucht ähnlich sieht er seiner Schwester.« Mr. George legt einen großen, nicht sehr höflich klingenden Nachdruck auf seine Worte.

»Und wie geht die Welt mit Ihnen um, Mr. George?« fragt Großvater Smallweed und reibt sich langsam die Schenkel.

»So ziemlich wie gewöhnlich. Wie mit einem Fußball.«

Mr. George ist ein sonnenverbrannter Mann von etwa fünfzig Jahren, gut gebaut und hübsch von Gesicht, mit schwarzem Kraushaar, hellen Augen und einer breiten Brust. Seine sehnigen und kräftigen Hände, so sonnenverbrannt wie sein Gesicht, sind offenbar an ein rauhes Leben gewöhnt. Seltsam an ihm ist, daß er immer nur auf der Vorderkante des Stuhles sitzt, als ob er aus alter Gewohnheit Raum ließe für ein Kleidungsstück oder eine Rüstung. Auch sein Schritt ist taktmäßig und wuchtig und würde gut zu Sporenklirren passen. Er ist glatt rasiert, aber sein Mund sieht aus, als ob die Oberlippe seit vielen Jahren einen großen Schnurrbart gewohnt gewesen wäre, und die Art, wie er manchmal mit seiner breiten braunen Hand darüber streicht, verstärkt diese Vermutung. Man möchte glauben, daß Mr. George einmal früher Kürassier gewesen sei.

Zu der Familie Smallweed bildet Mr. George einen ganz besondern Kontrast. Wohl noch nie ist ein Kavallerist in einem ihm unähnlicheren Haushalt einquartiert gewesen. Er verhält sich zu ihr wie ein Schlachtschwert zu einem Krebsmesser. Seine entwickelte Gestalt und ihre verkümmerten Formen, sein breitspuriges Wesen, dem das Zimmer zu klein scheint, und ihre kleine verkümmerte Weise, seine tönende Stimme und ihre spitzigen unansehnlichen Töne bilden den stärksten und seltsamsten Gegensatz, den man sich nur denken kann. Wie er in der Mitte des grämlich aussehenden Zimmers sitzt, ein wenig vorgebeugt, die Hände auf die Schenkel gestützt und die Ellbogen auswärts gekehrt, sieht er aus, als könnte er, wenn er lange hier bliebe, die ganze Familie samt dem Haus und seinen vier Zimmern nebst Küche absorbieren.

»Reiben Sie sich vielleicht die Beine, um Leben hineinzureiben?« fragt er Großvater Smallweed, nachdem er sich im Zimmer umgesehen hat.

»S ist so eine Gewohnheit, Mr. George, und... hm, ja... Es unterstützt auch die Zirkulation.«

»Die Zir-ku-la-tion«, wiederholt Mr. George, faltet seine Arme auf der Brust und sieht dadurch noch zwei Mal so groß aus. »Wird nicht mehr viel davon vorhanden sein, sollte ich meinen.«

»Nun ja, ich bin alt, Mr. George«, gibt Großvater Smallweed zu. »Aber ich trage meine Jahre noch recht rüstig. Ich bin älter als sie«, fügt er mit einem Kopfnicken auf seine Gattin hinzu. »Und schauen Sie sie an, wie sie ist... Verdammtes Höllenplappermaul!« ruft er in plötzlich wiedererwachender Feindseligkeit.

»Die arme alte Seele!« sagt Mr. George mitleidig und wendet ihr sein Gesicht zu. »Schelten Sie die alte Dame nicht. Sehen Sie sie nur an, wie sie dasitzt, die Mütze halb auf dem armseligen Kopf, im Stuhl. Fast wie ein Bündel. Munter, Maam. So ist's recht. Na also... Denken Sie an Ihre Mutter, Mr. Smallweed«, Mr. George hat unterdessen der Alten ein wenig aufgeholfen und kehrt jetzt wieder zu seinem Platz zurück, »wenn Ihnen Ihre Frau nicht genügt.«

»Sie selbst sind wahrscheinlich ein vortrefflicher Sohn gewesen, Mr. George«, wirft der Alte mit einem spöttischen Lächeln hin.

Mr. Georges Gesicht rötet sich etwas lebhafter, als er antwortet: »Nun, nein, ich war das gerade nicht.«

»Ah, da staune ich.«

»Ich auch. Ich hätte ein guter Sohn sein sollen und glaube, ich hatte auch die Absicht, es zu sein. Aber ich war's nicht. Ich war ein verdammt schlechter Sohn. Das ist das Lange und Breite von der Geschichte. Und ich habe nie jemand Ehre gemacht.«

»Merkwürdig!« höhnt der Alte.

»Je weniger wir davon sprechen, desto besser ist's«, beginnt Mr. George von neuem. »Kommen Sie. Sie wissen, was wir ausgemacht haben. Immer eine Pfeife für die zwei Monate Zinsen. Ba, s ist schon gut. Sie brauchen sich nicht wegen der Pfeife zu fürchten. Hier ist der neue Wechsel, und hier sind die zwei Monate Zinsen. Es ist verteufelt schwer, sie in meinem Geschäft zusammenzubringen.«

Mr. George sitzt mit verschränkten Armen da und scheint die Familie und die ganze Stube in sich hineinzuatmen, während Judy dem Großvater Smallweed zwei schwarze Ledertaschen aus einem Schreibtisch holt.

In eine derselben kommt das eben erhaltene Dokument, und aus der anderen übergibt der alte Herr ein ähnliches Mr. George, der es nimmt und zu einem Fidibus zusammendreht.

Da Mr. Smallweed durch die Brille jeden Federstrich der beiden Dokumente genau vergleicht und das Geld drei Mal durchzählt und sich von Judy jedes Wort, das sie spricht, mindestens zwei Mal wiederholen läßt und in seiner Rede und allen seinen Bewegungen so zitterig und langsam wie nur möglich ist, dauert dieses Geschäft ziemlich lange. Erst als er ganz fertig ist, und nicht eine Sekunde früher, machen sich seine gierigen Augen und Finger davon los, und er beantwortet Mr. Georges letzte Bemerkung mit den Worten:

»Fürchten, die Pfeife zu bestellen? So knickerig sind wir nicht, Sir. Judy, hol sogleich die Pfeife und das Glas Brandy mit Wasser für Mr. George.«

Die lieblichen Zwillinge haben die ganze Zeit über geradeaus gesehen, außer wenn sie von den schwarzen Ledertaschen abgelenkt wurden, entfernen sich jetzt und verschmähen den Gast und überlassen ihn dem Alten, wie zwei junge Bären einen Reisenden dem väterlichen Petz überlassen würden.

»So sitzen Sie wohl den ganzen Tag da?« fragt Mr. George, die Arme auf der Brust verschränkt.

»Jawohl, jawohl«, nickt der Alte.

»Und Sie beschäftigen sich mit gar nichts?«

»Ich sehe dem Feuer zu – und dem Kochen und Braten.«

»Wenn etwas da ist«, betont Mr. George mit großem Nachdruck.

»Jawohl, wenn etwas da ist.«

»Lesen Sie nichts oder lassen Sie sich nicht vorlesen?«

Der Alte schüttelt triumphierend und schlau den Kopf.

»Nein, nein. Unsere Familie hat sich nie ans Lesen gehalten. Es schaut nichts dabei heraus. Unsinn. Faulenzerei. Dummes Zeug. Nein, nein.«

»Zwischen euch beiden ist auch eine schwere Wahl«, brummt der Gast leise vor sich hin und blickt auf das alte Weib und wieder zu Mr. Smallweed. »Sie!« sagt er dann laut.

»Nun, was denn?«

»Sie ließen mich wahrscheinlich auch gleich federn, wenn ich nur einen Tag im Rückstand bliebe?«

»Bester Freund!« ruft Großvater Smallweed und streckt beide Arme wie ein Wegweiser aus. »Niemals! Niemals! Bester Freund! Aber mein Gewährsmann in der City, den ich bewogen habe, Ihnen das Geld zu leihen, täte es vielleicht.«

»O, Sie können also nicht für ihn stehen?« fragt Mr. George und murrt in sich hinein: »Du verdammter alter lügnerischer Schuft!«

»Bester Freund, es ist kein Verlaß auf ihn. Ich möchte ihm nicht trauen. Er will seinen Wechsel haben, bester Freund.«

»Der Teufel zweifelt daran«, sagt Mr. George.

Da jetzt Charley mit einem Präsentierbrett hereintritt, auf dem die Pfeife, ein kleines Paket Tabak und das Glas Brandy mit Wasser stehen, fragt er sie: »Wo kommst denn du her? Du hast das Familiengesicht nicht.«

»Ich bin Zugeherin, Sir«, gibt Charley zur Antwort.

Der Kavallerist – wenn er überhaupt ein Kavallerist ist oder war – nimmt ihr mit einer für eine so schwere Hand auffallenden Zartheit den Hut ab und streichelt ihr den Kopf. »Du gibst dem Hause beinah ein gesundes Aussehen. Es fehlt ihm ein bißchen Jugend ebensosehr wie frische Luft.«

Dann entläßt er sie, zündet sich die Pfeife an und trinkt auf das Wohl von Mr. Smallweeds Freund in der City – der einzigen jemals vorgekommenen Ausgeburt der Phantasie des geschätzten alten Herrn.

»Sie glauben also, er würde ganz rücksichtslos gegen mich vorgehen, wie?«

»Ich glaube es... Ich fürchte es. Ich weiß, daß er es«, sagt Mr. Smallweed unvorsichtigerweise, »wohl schon zwanzig Mal getan hat.«

Unvorsichtigerweise insofern, als seine gelähmte bessere Hälfte, die mittlerweile über dem Feuer hingedröselt hat, beim Nennen der Zahl augenblicklich aufwacht und schnattert: »Zwanzigtausend Pfund, zwanzig Zwanzigpfundnoten in einem Geldkasten, zwanzig Guineen. Zwanzig Millionen. Zwanzig Prozent. Zwanzig...« Hier wird sie von dem fliegenden Kissen unterbrochen. Der Gast, dem dieses eigentümliche Verfahren ganz neu zu sein scheint, reißt es von ihrem Gesicht weg.

»Du Teufelsidiot, du Skorpion... Du Höllenskorpion! Giftkröte! Du verdammte schnatternde Besenstielhexe! Verbrennen sollte man dich!« japst der Alte, tief in seinen Stuhl versunken. »Bester Freund, möchten Sie mich nicht ein bißchen aufschütteln?!«

Mr. George, der die beiden abwechselnd angestarrt hat, als kenne er sich gar nicht mehr aus, faßt seinen verehrungswürdigen Wirt auf dessen Bitte an der Kehle, zerrt ihn im Stuhl in die Höhe wie eine Puppe und scheint zu schwanken, ob er nicht lieber alle Fähigkeit, je wieder das Kissen zu schleudern, aus ihm heraus und ihn selbst ins Grab schütteln solle. Er widersteht dieser Versuchung zwar, schüttelt ihn aber doch so heftig, daß dem Greis der Kopf wackelt wie einem Harlekin, setzt ihn derb in seinem Stuhl aufrecht und schiebt ihm seine Hauskappe mit solcher Kraft zurecht, daß der Alte eine ganze Minute lang mit den Augen zwinkert.

»O Gott«, ächzt Mr. Smallweed. »Schon gut. Danke, bester Freund, schon gut. O Gott, ich bin ganz außer Atem. O Gott!« – Mr. Smallweed hat sichtlich Furcht vor seinem »besten Freunde«, der, größer als je aussehend, immer noch vor ihm steht.

Die beunruhigende Gestalt sinkt jedoch allmählich wieder in ihren Stuhl und raucht in langen Zügen und ergeht sich in philosophischen Reflexionen wie: »Der Name des Freundes in der City fängt mit einem T an, und du hast ganz recht hinsichtlich des Wechsels.«

»Sagten Sie etwas, Mr. George?«

Der Kavallerist schüttelt den Kopf, fährt, den rechten Ellbogen auf das rechte Knie gestützt, fort zu rauchen und läßt die andere Hand auf dem linken Schenkel ruhen, den Ellbogen in soldatischer Weise auswärts gekehrt. Dabei betrachtet er Mr. Smallweed mit aufmerksamem Ernst und fächelt dann und wann die Rauchwolken weg, um das Gesicht seines Gegenübers deutlicher sehen zu können.

»Ich vermute«, sagt er und verändert seine Stellung gerade nur soviel, um das Glas an seine Lippen bringen zu können, »daß ich der einzige unter allen Lebenden oder Toten bin, der je eine Pfeife Tabak aus Ihnen herausgequetscht hat.«

»Ich sehe doch keine Gesellschaft um mich, Mr. George, die ich traktieren könnte. Ich kann es mir nicht leisten, aber da Sie in Ihrer gewinnenden Art eine Pfeife zur Bedingung gemacht haben...«

»O, es ist mir nicht um den Wert zu tun. Darum nicht. Es war nur so ein Einfall von mir, aus Ihnen etwas herauszuquetschen, etwas für mein Geld zu haben.«

»Ja, Sie sind klug, klug, Sir!« ruft Großvater Smallweed und reibt sich die Schenkel.

»Sehr klug. War ich immer.« – Paff – »Ein sicheres Zeichen für meine Klugheit, daß ich überhaupt den Weg hierher gefunden habe.« – Paff – »Auch daß ich's zu dem gebracht habe, was ich jetzt bin.« – Paff – »Ich bin überhaupt als klug bekannt«, sagt Mr. George und raucht ruhevoll. »Ich habe es im Leben zu etwas gebracht.«

»Lassen Sie den Mut nicht sinken, Sir. Sie können noch in die Höhe kommen.«

Mr. George lacht und trinkt.

»Haben Sie keine Verwandten«, fragt Großvater Smallweed mit einem Zucken in seinen Augenlidern, »die das kleine Kapital abzahlen möchten oder eine oder zwei gute Unterschriften geben würden? Ich könnte meinen Freund in der City dann zu einem größeren Wechsel bewegen. Zwei gute Unterschriften genügen meinem Freund in der City. Haben Sie keine solchen Verwandten, Mr. George?«

Mr. George, der immer noch ruhig fortraucht, gibt zur Antwort: »Wenn ich welche hätte, würde ich sie nicht in Anspruch nehmen. Ich habe den Meinen schon Sorgen genug gemacht. Es mag vielleicht eine gute Buße für einen Vagabunden sein, der die beste Zeit seines Lebens vergeudet hat, wieder zu anständigen Leuten zurückzugehen, denen er nie Ehre gemacht hat, und sich von ihnen erhalten zu lassen. Aber das ist nicht meine Art. Die beste Art Buße fürs Fortlaufen ist meiner Ansicht nach das Fortbleiben.«

»Und die natürliche Zuneigung, Mr. George?« wirft Großvater Smallweed hin.

»Zu zwei guten Namen, wie?« Mr. George schüttelt den Kopf. »Nein, das ist auch nicht meine Art.«

Großvater Smallweed ist allmählich wieder in seinen Stuhl zu einem Bündel Kleider mit einer Stimme darin zusammengesunken, die Judy ruft. Dieser Engel erscheint, schüttelt ihn in der gewohnten Weise und hat von jetzt an neben dem alten Herrn zu bleiben. Er scheint keine Lust mehr zu verspüren, die Hilfe seines Gastes nochmals in Anspruch zu nehmen.

»Ja, ja«, bemerkt er, als er wieder in Ordnung ist. »Wenn Sie den Kapitän hätten aufspüren können, Mr. George, hätten Sie Ihr Glück gemacht. Wenn Sie damals, wo Sie infolge unsrer Zeitungsankündigungen – wenn ich sage unsrer, so meine ich die mehrerer meiner Freunde in der City, die ihr Kapital in dieser Weise anlegen und mich armen Teufel auch nebenbei eine Kleinigkeit verdienen lassen –, wenn Sie damals uns hätten helfen können, Mr. George, wären Sie heute ein gemachter Mann.«

»Ich wäre sehr gern ein gemachter Mann, wie Sie's nennen«, sagt Mr. George, raucht aber nicht mehr so ruhig wie vorher, denn seit der Anwesenheit Judys steht er wie unter einem Zauber, wenn auch unter keinem liebreizenden, der ihn zwingt, sie anzusehen, wie sie neben ihres Großvaters Stuhl steht. »Aber im übrigen bin ich froh, daß es nicht geschehen ist.«

»Warum, Mr. George? Hölle und Schwefel... Warum?« fragt Großvater Smallweed, sichtlich gereizt.

– Hölle und Schwefel sind ihm offenbar eingefallen, weil sein Blick gerade auf die schlummernde Mrs. Smallweed gefallen ist. –

»Aus zwei Gründen, Kamerad.«

»Aus was für zwei Gründen, Mr. George? Im Namen –«

»– unsres Freundes in der City?« fragt Mr. George und nimmt einen Schluck.

»Nun ja, wenn Sie wollen. Aus was für zwei Gründen?«

»Erstens«, entgegnet Mr. George, blickt aber immer noch Judy an, als wäre es gleichgültig, wen von beiden er anredete, sie sieht doch ebenso alt und fast genau so aus wie ihr Großvater. »Erstens, weil Ihr Gentlemen mich eingetunkt habt. Ihr habt in die Zeitungen gesetzt, daß Ihr für Mr. Hawdon – oder meinetwegen Kapitän Hawdon, wenn Sie's schon nicht anders haben wollen, weil er früher einmal Kapitän war – eine angenehme Nachricht hättet.«

»Nun, und?« fährt der Alte schrill und heftig auf.

»Nun«, sagt Mr. George und raucht ruhig weiter, »es wäre ihm wohl sehr angenehm gewesen, sich von der ganzen Wechslerzunft Londons einstecken zu lassen?«

»Woher wissen Sie das ? Einige von seinen reichen Verwandten hätten seine Schulden gezahlt oder für ihn gebürgt. Außerdem hat er uns eingetunkt. Er schuldete uns allen ohne Ausnahme ungeheure Summen. Ich hätte ihn lieber erwürgt, als ihn losgelassen. Wenn ich hier sitze«, krächzt der Alte und hält seine kraftlosen zehn Finger empor, »so möchte ich ihn jetzt noch erwürgen.« In einem plötzlichen Wutanfall wirft er mit dem Kissen nach der nichts Arges ahnenden Mrs. Smallweed, trifft sie aber nicht.

»Ich weiß ja«, beginnt der Kavallerist von neuem, nimmt seine Pfeife aus dem Mund und sieht von dem Kissen auf den Pfeifenkopf, der fast ausgebrannt ist. »Ich weiß ja, daß er's schlimm getrieben hat und ins Verderben gerannt ist. Ich bin so manchen Tag an seiner Seite geritten, wie er in voller Karriere ins Verderben stürmte. Ich bin bei ihm gewesen in gesunden und kranken Tagen, in Reichtum und Armut. Diese Hand hat ihn zurückgehalten, als er alles vergeudet hatte und alles um ihn her zusammenbrach und er sich die Pistole an die Stirn setzte.«

»Ich wollte, er hätte sie abgedrückt«, flucht der wohlwollende alte Herr, »und sich den Kopf in so viele Stücke zersprengt, als er Sovereigns schuldig war.«

»Das hätte freilich einen Krach gegeben«, antwortet der Kavallerist kaltblütig. »Jedenfalls ist er damals jung, voll Hoffnungen und schön gewesen, und es freut mich, daß ich ihn, als er es nicht mehr war, nicht aufgefunden habe, um ihm zu Ihrer angenehmen Nachricht zu verhelfen. Das ist Grund Numero 1.«

»Ich hoffe, Numero 2 ist ebensogut«, knurrt der Alte.

»Nun, nein. Der ist selbstsüchtiger. Wenn ich ihn hätte finden wollen, hätte ich ihn in einer andern Welt suchen müssen.«

»Woher wissen Sie das ?«

»Er war nicht mehr hier.«

»Woher wissen Sie, daß er nicht mehr hier war?«

»Verlieren Sie nicht Ihre Laune, wie Sie Ihr Geld verloren haben«, sagt Mr. George und klopft ruhig seine Pfeife aus. »Er ertrank schon lange vorher. Davon bin ich überzeugt. Er ist über Bord gegangen. Ob absichtlich oder zufällig, weiß ich nicht. Vielleicht weiß es Ihr Freund in der City. Kennen Sie diese Melodie, Mr. Smallweed?« setzt er hinzu und fängt an zu pfeifen und schlägt dazu den Takt mit der leeren Pfeife auf dem Tisch.

»Melodie?« entgegnet der Alte. »Nein! Mit Melodien haben wir hier nichts zu schaffen.«

»Es ist der Totenmarsch aus Saul. Sie spielen ihn bei Soldatenbegräbnissen. Daher ist's der natürliche Abschluß der Sache. Nun, wenn Ihre hübsche Enkelin – Sie entschuldigen schon, Miß – sich herablassen will, diese Pfeife zwei Monate lang aufzuheben, brauchen wir das nächste Mal keine zu kaufen. Guten Abend, Mr. Smallweed.«

»Bester Freund!« Der Alte streckt ihm beide Hände hin.

»Sie glauben also, Ihr Freund in der City würde kein Erbarmen haben, wenn ich das nächste Mal nicht zahlte«, fragt der Kavallerist und sieht wie ein Riese auf den Alten herunter.

»Bester Freund, das fürchte ich sehr«, sagt Mr. Smallweed und blickt wie ein Pygmäe zu ihm auf.

Mr. George lacht und schreitet, mit einem Blick auf den Großvater und einem Abschiedsgruß auf die wütende Judy, zum Zimmer hinaus und rasselt mit seinem imaginären Säbel und seinem Küraß davon.

»Verdammter Schurke!« sagt der alte Ehrenmann und schneidet der Tür eine scheußliche Grimasse, wie sie sich schließt. »Ich werde dich schon noch leimen!«

Nach dieser liebenswürdigen Bemerkung schwingt sich sein Geist wieder in die Zauberregionen seines Denkens, die ihm seine Erziehung und seine Lebensweise erschlossen haben, und wieder verdämmern er und Mrs. Smallweed ihre rosigen Stunden wie zwei Schildwachen, die der schwarze Sergeant vergessen hat.

Während das Paar getreulich auf seinem Posten ausharrt, schreitet Mr. George mit gewichtigem Schritt und ernstem Gesicht durch die Straßen. Es ist acht Uhr, und der Tag neigt sich seinem Ende zu.

Er bleibt dicht bei der Waterloobrücke stehen, liest einen Theaterzettel und entschließt sich, in Astleys Theater zu gehen. Dort freut er sich an den Pferden und den Kraftstücken, betrachtet die Waffen mit kritischem Blick, mißbilligt die Gefechte, weil sie von mangelhafter Fechtkunst zeugen, wird aber tief gerührt von der Poesie. Bei der letzten Szene, wo der Kaiser der Tartaren in den Wagen steigt und die vereinten Liebenden segnet, indem er die englische Flagge über ihnen schwingt, werden seine Wimpern feucht.

Als das Stück aus ist, geht Mr. George wieder über die Brücke und wendet seine Schritte nach der merkwürdigen Region um Hay-Market und Leicester-Square, dem Mittelpunkt ausländischer Hotels und zweideutiger Fremder, Ballhäuser, Boxer, Fechtmeister, Fußgardisten, alter Porzellanläden, Spielhäuser, Ausstellungen und eines großen Gemischs von Schäbigkeit und lichtscheuem Treiben. Im Herzen dieser Region angelangt, erreicht er durch einen Hof und einen langen weißgetünchten Durchlaß ein großes Ziegelgebäude, das aus nackten Wänden, Dachbalken und Dachfenstern besteht und an dessen Vorderseite, wenn man es so nennen kann, in großen Buchstaben steht:

Georges Schießgalerie usw.

Er geht in »Georges Schießgalerie usw.«. Darin erblickt man einige Gaslampen, die jetzt zum größten Teil abgedreht sind, zwei weiß angestrichene Scheibenstände und Einrichtungen zum Bogenschießen, Fechtzeug und alle Erfordernisse für Boxkunst.

An diesem Abend ist in Georges Schießgalerie keine dieser sportlichen Übungen in Gang, und ein kleiner grotesk aussehender Mann mit einem großen Kopf ist hier Alleinherrscher und liegt schlafend auf dem Fußboden.

Der kleine Mann ist wie ein Büchsenmacher gekleidet, trägt eine grünwollene Schürze und Mütze, und sein Gesicht und seine Hände sind schmutzig von Pulver und vom Laden von Gewehren. Wie er vor einer grellweißen Scheibe im Lichtschein liegt, sieht man die schwarzen Flecken an ihm um so deutlicher. Nicht weit von ihm steht ein fester, grob gehobelter Tisch mit einem Schraubstock, an dem er gearbeitet hat. Er ist ein kleiner Mann mit einem ganz zerhauenen Gesicht, der nach dem blaugefleckten Aussehen einer seiner Backen zu urteilen im Lauf des Geschäfts ein paar abgekriegt zu haben scheint.

»Phil«, sagt der Kavallerist ruhig.

»Zu Befehl!« Phil springt auf.

»Wie war das Geschäft?«

»Flau wie Dünnbier«, berichtet Phil. »Fünf Dutzend Büchsen- und ein Dutzend Pistolenschüsse. Und das Ziel!« Phil stößt bei dem Gedanken daran ein Geheul aus.

»Sperr zu, Phil!«

Wie Phil im Saal herumgeht, um den Auftrag auszuführen, zeigt es sich, daß er lahm ist, obgleich er sich sehr rasch vom Fleck bewegt. Auf der fleckigen Seite seines Gesichts hat er keine Augenbraue. Auf der andern eine sehr buschige schwarze, was ihm ein sehr eigentümliches und fast finsteres Aussehen verleiht. Seinen Händen scheint alles zugestoßen zu sein, was ihnen nur ohne Fingerverlust zustoßen konnte; sie sind über und über gekerbt, vernarbt und verkrümmt. Er scheint sehr stark zu sein und hebt schwere Bänke, als habe er gar keinen Begriff von ihrer Last. Er hat eine seltsame Art, sich mit der Achsel an der Wand entlang zu schieben und nach Gegenständen, die er sucht, hinzulavieren, anstatt gerade auf sie loszugehen, wodurch um die ganze Galerie herum ein Schmutzstreifen an der Wand entstanden ist, den die Leute »Phils Unterschrift« nennen.

Dieser Aufseher von Georges Galerie – George selbst ist manchmal nicht anwesend – beendigt jetzt, nachdem er die großen Türen geschlossen und alle Flammen bis auf eine ausgedreht hat, seine Vorkehrungen damit, daß er aus einem hölzernen Verschlag in der Ecke zwei Matratzen mit Bettzeug herauszieht. Sie werden an die entgegengesetzten Enden der Galerie geschleppt, und dann macht sich jeder seine Lagerstätte zurecht.

»Phil«, sagt der Galeriedirektor, geht ohne Rock und Weste auf ihn zu und sieht in seinen Hosenträgern noch soldatischer aus. »Man hat dich in einem Hausflur gefunden, was?«

»In der Gosse«, berichtigt Phil. »Der Nachtwächter ist über mich gestolpert.«

»Da ist dir das Vagabundieren schon von Anfang an zur zweiten Natur geworden?«

»Zweiten Natur geworden«, nickt Phil.

»Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Gouverneur.«

Phil kann nicht einmal auf das Bett direkt zugehen, sondern muß sich erst an zwei Seiten der Galerie hinwetzen, um dann auf die Matratze zuzulavieren.

Der Kavallerist geht noch ein paar Mal auf und ab, blickt zu dem durch die Dachfenster hereinscheinenden Mond hinauf, begibt sich auf einem kürzeren Weg als sein Aufseher zu seiner Matratze und legt sich ebenfalls schlafen.


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