Charles Dickens
Aufzeichnungen aus Amerika
Charles Dickens

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7. Kapitel

Philadelphia und sein einsames Gefängnis

Man macht die Reise von New York nach Philadelphia mit der Eisenbahn und mittels zweier Fähren; sie dauert gewöhnlich fünf oder sechs Stunden. Es war ein schöner Abend, als wir im Zug saßen; ich sah zum Wagenfensterchen nah an der Türe hinaus auf den glänzenden Sonnenuntergang, als mir eine seltsame Erscheinung auffiel, die aus den Fenstern des unmittelbar vor uns fahrenden Herrenwagens hervorging; ich dachte, es müßten sehr betriebsame Passagiere sein, die selbst auf der Reise sich damit beschäftigten, Federbetten aufzuschlitzen und die Federn in den Wind zu streuen. Endlich fiel mir ein, daß sie bloß spien, und ich hatte richtig geraten; aber ich begreife heute noch nicht, wie eine solche Menge Passagiere, als jener Wagen faßte, einen so komischen Regenschauer von Expektorationen in einem fort unterhalten konnte, obwohl ich später in allen amerikanischen Spei- und Spuck-Phänomenen Erfahrungen genug sammelte.

Ich machte während der Fahrt die Bekanntschaft eines sanften und sittsamen jungen Quäkers, der das Gespräch damit eröffnete, daß er mir, feierlich flüsternd, mitteilte, sein Großvater sei der Erfinder des kalt destillierten Rizinusöls. Ich erwähne den Umstand nur, weil dies wahrscheinlich zum erstenmal der Fall war, daß jene wertvolle Medizin als Gesprächseröffnungsmittel sich bewährt hat.

Spätabends trafen wir in der Stadt ein. Ehe ich zu Bett ging, sah ich zum Fenster hinaus und gewahrte gegenüber ein schönes Gebäude aus weißem Marmor, das einen trauervollen, geisterhaften Anblick gewährte; es war unheimlich anzusehen. Ich schrieb dies dem verdüsternden Einfluß der Nacht zu, und als ich am Morgen aufstand, sah ich wieder zum Fenster hinaus, in der Erwartung, die Säulengänge und Treppen des Palastes von aus- und einströmenden Menschen belebt zu sehen. Allein das Tor war noch immer fest geschlossen, und das kalte, tote Gebäude sah aus, als könnte in seinen düstern Hallen nur die steinerne Statue Don Guzmans etwas zu schaffen haben. Ich erkundigte mich sogleich nach dem Namen und Zweck des Gebäudes, und da freilich schwand mein Erstaunen bald. Es war das Grab so manchen Vermögens, die große Katakombe zahlloser angelegter Kapitalien, es war die denkwürdige United-States-Bank.

Die Insolvenzerklärung dieser Bank mit allen ihren verderblichen Folgen hatte (wie man mir von allen Seiten erzählte) über Philadelphia einen düstern Schatten geworfen, unter dessen niederdrückendem Einfluß es noch jetzt litt. Die Stadt sah auch tatsächlich etwas übellaunig und trübsinnig aus.

Die Stadt ist hübsch, aber verzweifelt regelmäßig. Nachdem ich eine oder zwei Stunden darin umherspaziert war, hätte ich weiß Gott was für eine krumme Straße gegeben. Mein Rockkragen schien steifer zu werden und meine Hutkrempe sich auszudehnen in dieser Quäkeratmosphäre. Meine Locken schrumpften zu einem weichen kurzen Haarbüschel ein, meine Hände falteten sich von selbst still und ruhig über der Brust, und unwillkürlich kam mir die Idee, in der Mark Lane gegenüber vom Marktplatz mir eine Wohnung zu mieten, ein wenig in Getreide zu spekulieren und ein reicher Mann zu werden.

Philadelphia ist reichlich mit frischem Wasser versorgt, welches von allen Seiten hervorsprudelt, gießt und herabquillt. Das Wasserwerk, auf einer Anhöhe in der Nähe der Stadt gelegen, ist nicht nur von großem Nutzen, sondern auch ein schönes Bauwerk; ringsum ist ein geschmackvoller öffentlicher Garten angelegt, der in der schönsten Ordnung und im besten Zustand gehalten wird. Der Fluß ist hier eingedämmt und wird durch seine eigene Gewalt in gewisse hohe Becken oder Behälter getrieben, von wo aus die Stadt, bis in die obersten Stockwerke der Häuser, für eine Kleinigkeit frisches Wasser erhält.

Unter den verschiedenen öffentlichen Anstalten ist ein höchst ausgezeichnetes Spital, eine Quäkerstiftung, die aber in den Wohltaten, die sie spendet, durchaus sich von keinem Sektengeist bestimmen läßt; eine stille, merkwürdige alte Bibliothek, die Franklins Namen führt; eine hübsche Börse und Post, und so weiter. Zum Besten der Fonds des Quäkerspitals ist ein Gemälde von West ausgestellt; es zeigt unsern Herrn und Heiland, die Kranken heilend, und gehört vielleicht zu den besten Stücken, die man von diesem Meister nur irgend sehen kann. Ob dies ein großes Lob ist oder nicht, hängt vom Geschmack des Lesers ab.

In demselben Saale hängt auch ein sehr charakteristisches und lebensgroßes Porträt, von Mr. Sully, einem ausgezeichneten amerikanischen Künstler, gemalt.

Mein Aufenthalt in Philadelphia währte nur kurze Zeit, aber was ich dort von dem geselligen Leben sah, behagte mir ungemein. Im allgemeinen möchte ich behaupten, daß es einen provinzielleren Anstrich als Boston oder New York hat und daß die schöne Stadt von einem ästhetischen Geist und Geschmack beseelt ist, der ein wenig nach jenen anmutigen Gesprächen über Shakespeare und die Glasharmonika schmeckt, von denen wir im »Landpfarrer von Wakefield« lesen. In der Nähe der Stadt befindet sich ein prachtvolles, aber unvollendetes Marmorgebäude, das Girard College, welches ein verstorbener steinreicher Mann dieses Namens gegründet hat; würde es nur nach dem ursprünglichen Plan ausgebaut, so wäre es vielleicht das reichste Gebäude, das man in neuerer Zeit kennt. Allein über die Hinterlassenschaft des Herrn Girard sind Prozesse entstanden, und solange diese schweben, stockt der Bau, so daß es, wie von so vielen großen Unternehmungen in Amerika, auch von dieser immer heißt: Nächstens wird's fertig.

Wo die letzten Häuser stehen, befindet sich ein großes Gefängnis, das Eastern Penitentiary (das östliche Bußhaus) genannt, welches eine den Pennsylvaniern eigentümliche Einrichtung hat. Das hier angewendete System ist strenge, scharfe und hoffnungslose Einzelhaft. Ich glaube, es ist in seinen Wirkungen grausam und ungerecht.

Die Absicht, davon bin ich überzeugt, ist gut, human, wohlmeinend und Besserung bezweckend; allein ich bin auch überzeugt, daß jene Herren, welche diese Gefängnisdisziplin erfunden haben, und jene Wohlwollenden, die sie handhaben, nicht wissen, was sie tun. Ich glaube, nur wenige haben einen Begriff von der Tortur und der Seelenangst, welche diese entsetzliche Strafe, wenn sie einige Jahre dauert, über die Duldenden verhängt; nach meinem Ermessen, nach dem, was ich in ihren Zügen geschrieben sah, und nach dem, was in ihrem Innern, wie ich überzeugt bin, vorgehen muß, liegt in dieser Strafe eine Hölle, deren ganze schreckliche Tiefe nur die Unglücklichen selbst ergründen können; eine Qual, die kein Mensch das Recht hat seinem Nächsten anzutun. Diese langsame tägliche Peinigung des geheimnisvollen Menschenhirns halte ich für unendlich schlimmer als alle leibliche Folter, und weil ihre schauerlichen Symptome und Spuren nicht so handgreiflich vor unsern Sinnen liegen wie die Narben in der Haut, weil diese Wundmale nicht auf der Oberfläche liegen und nur selten einen hörbaren Schrei auspressen, deshalb gerade klage ich sie um so mehr als eine heimliche Strafe an, welche das schlummernde Gefühl der Menschlichkeit, wenn es einmal erwacht, nicht dulden darf. Ich kämpfte einst mit mir selbst, ob ich, falls es in meiner Macht stünde, ja oder nein zu sagen, diese Strafe in gewissen Fällen anzuwenden erlaubte, wo die Gefängniszeit zu kurz wäre; aber jetzt muß ich feierlich erklären, ich könnte nun und nimmermehr froh unter dem blauen Himmel spazierengehen oder ruhig mein Haupt aufs Kissen legen, wenn ich das Bewußtsein hätte, daß ein einziges menschliches Geschöpf durch mich oder mit meiner noch so leisen Zustimmung nur die kürzeste Zeit in seiner schweigsamen Zelle liegen und diese unerhörte Strafe erdulden müßte.

Zwei Herren, die amtlich damit vertraut sind, begleiteten mich zu dem Gefängnis; ich verbrachte den Tag damit, aus einer Zelle in die andere zu gehen und mit ihren Bewohnern zu sprechen. Man erwies mir jede mögliche Gefälligkeit. Nichts wurde mir verborgen gehalten, und über alles, wonach ich mich erkundigte, erhielt ich offenen und freimütigen Bescheid. Die vollkommene Ordnung, die in dem ganzen Gebäude herrscht, kann nicht genug gerühmt werden, und über die redlichen Motive aller, die an der Durchführung dieses Systems unmittelbar beteiligt sind, kann keine Frage sein.

Zwischen dem Hauptteil des Gefängnisses und der äußern Mauer liegt ein geräumiger Garten. Wir traten durch ein in dem massiven Tore befindliches Pförtchen ein und folgten dem vor uns liegenden Fußweg bis ans Ende, worauf wir in ein großes Zimmer gelangten, in welches sieben lange Gänge münden. Jeder hat zu beiden Seiten eine sehr lange Reihe niedriger Zellentüren, über deren jeder eine bestimmte Nummer steht. Darüber ist eine Galerie von Zellen, ähnlich den unten befindlichen, außer daß kein schmaler Hof (wie bei den unteren) dazugehört und daß sie etwas kleiner sind. Zwei solche Zellen auf den Mann sollen den Mangel der freien Luft und Bewegung ausgleichen, welche den Bewohnern der untern Zellen in dem elenden schmalen Gange eine Stunde täglich gestattet ist; daher bewohnt jeder Gefangene in diesem obern Stockwerk zwei aneinanderstoßende und miteinander verbundene Zellen.

Steht man im Mittelpunkt und blickt durch die öden Gänge hin, so macht die überall waltende Ruhe und Stille einen wirklich schauerlichen Eindruck. Zuweilen hört man den dumpfen Schall eines einsamen Weberschiffchens oder eines Schuhmacherleistens; allein er wird durch die dicken Wände und die schwere Kerkertür erstickt und dient bloß dazu, die allgemeine Stille noch auffallender zu machen. Über Kopf und Gesicht jedes Gefangenen, der in dies traurige Haus kommt, wird eine schwarze Kapuze gezogen, und in dieser dunklen Maske, dem Symbol des Vorhangs, der zwischen ihm und der Welt niederfällt, wird er in seine Zelle geführt, aus welcher er nicht wieder herauskommt, bis die ganze Zeit seiner Haft abgelaufen ist. Er erfährt nichts von Weib oder Kind, von seiner Heimat oder seinen Freunden, von Leben oder Tod eines einzigen Geschöpfs. Er sieht die Gefängnisbeamten, doch außerdem erblickt er kein menschliches Gesicht, hört er keine menschliche Stimme. Er ist ein lebendig Begrabener, der mit dem langsamen Kreislauf der Jahre wieder ausgegraben wird; inzwischen ist er tot für alles, nur nicht für seine folternde Seelenqual und die schrecklichste Verzweiflung.

Sein Name, sein Verbrechen und die Zeit seines Leidens sind sogar dem Wärter unbekannt, der ihm seine tägliche Speise reicht. Über der Tür zu seiner Zelle steht eine Nummer, welche in einem Buch eingetragen ist, von dem der Direktor des Gefängnisses und der Geistliche jeder eine Kopie haben, und dies ist der Index zur Geschichte seines Lebens. Außerdem führt das Gefängnis keine Akten über sein Dasein; und wenn er gleich zehn Jahre in einer und derselben Zelle leben muß, so kann er doch nie erfahren, bis zur letzten Stunde nicht, in welchem Teile des Gefängnisses sie liegt, was für Leute um ihn sind, ob in den langen Winternächten lebende Menschen in der Nähe wohnen oder ob er allein in einem einsamen Winkel des großen Gefängnisses liegt und zahllose Wände, Gänge und eiserne Türen zwischen sich und seinem nächsten Mitgefangenen hat.

Jede Zelle hat doppelte Türen; die äußere ist aus festem Eichenholz, die andere aus einem eisernen Gitter, worin sich eine Klappe befindet, durch welche dem Gefangenen seine Nahrung gereicht wird. Er hat eine Bibel, eine Schiefertafel mit einem Stift und bekommt unter gewissen Beschränkungen auch noch andere zu dem Zwecke angeschaffte Bücher, Feder, Tinte und Papier. Sein Rasiermesser, sein Eßgeschirr, sein Trinkgefäß und sein Waschbecken hängen an der Wand oder stehen auf einem kleinen Sims. Jeder Zelle wird durch Röhren frisches Wasser zugeführt, und der Gefangene kann so viel davon verbrauchen, wie er will. Während des Tags klappt er seine Bettstelle an die Wand hinauf, damit er mehr Platz zum Arbeiten gewinne. Sein Weberstuhl, seine Bank, sein Rad, oder was er sonst zu seiner Arbeit bedarf, stehen hier, und hier arbeitet, schläft und erwacht er, zählt den Wechsel der Jahreszeiten, wird er alt.

Der erste Gefangene, den ich sah, saß arbeitend an seinem Webstuhle. Er war schon sechs Jahre da und mußte, glaube ich, noch drei aushalten. Er war als Hehler gestohlener Sachen überführt; doch leugnete er selbst nach so langer Gefangenschaft noch immer seine Schuld und sagte, man sei zu hart mit ihm verfahren. Es war sein zweites Vergehen.

Er hielt mit seiner Arbeit inne, als wir eintraten, nahm seine Brille ab und antwortete frei auf jede ihm vorgelegte Frage, aber stets nach einer sonderbaren Pause und mit gedämpfter, nachdenklicher Stimme. Er trug einen selbstverfertigten Papierhut und freute sich, als wir es bemerkten und lobten. Aus einigen unbeachteten zusammengesuchten Stücken hatte er auf sehr sinnreiche Weise eine Art Wanduhr verfertigt, zu deren Pendel seine Weinessigflasche diente. Als er sah, daß ich mich für dieses Kunstwerk interessierte, blickte er mit Stolz darauf und meinte, er habe schon daran gedacht, es zu verbessern, und er hoffe, der Hammer und ein kleines Stück zerbrochenes Glas daneben würden in kurzem ein bißchen Musik machen. Aus dem Garn, womit er arbeitete, hatte er sich einige Farben ausgezogen und damit ein paar armselige Figuren auf die Wand gemalt. Die eine, eine weibliche, über der Tür nannte er das »Fräulein vom See«.

Er lächelte, als ich zum Zeitvertreib diese Kunstsachen betrachtete; aber als ich davon weg und auf ihn blickte, sah ich, wie seine Lippen zitterten; ich hätte die Schläge seines Herzens zählen können. Ich weiß nicht mehr, wie es kam, daß von seiner Frau gesprochen wurde. Er schüttelte den Kopf, als er das Wort hörte, wandte sich ab und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.

»Ihr habt Euch aber jetzt darein ergeben?« fragte einer der Herren nach einer kurzen Pause, während deren der Gefangene sich wieder gesammelt hatte. Er antwortete mit einem Seufzer: »O ja, ja! Ich habe mich drein ergeben.« – »Und Ihr glaubt ein besserer Mensch geworden zu sein?« – »Ich hoffe es, gewiß.« – »Und die Zeit vergeht Euch ziemlich schnell?« – »Die Zeit wird einem sehr lang in diesen vier Wänden.«

Er sah sich um – Gott allein weiß, wie lebenssatt! –, als er diese Worte sagte, und verfiel dabei in einen sonderbaren Starrblick, als wenn er irgend etwas vergessen hätte. Einen Augenblick darauf stieß er einen schweren Seufzer aus, setzte seine Brille auf und ging wieder an seine Arbeit.

In einer andern Zelle war ein Deutscher, Diebstahls wegen zu fünfjähriger Gefangenschaft verurteilt, wovon gerade zwei Jahre verflossen waren. Mit Farben, die er sich auf dieselbe Weise wie der vorige verschafft, hatte er jeden Zoll an den Wänden und der Decke ganz hübsch bemalt. Im Hintergrunde hatte er die paar Ellen Fußboden mit der zierlichsten Nettigkeit ausgelegt und in der Mitte ein kleines Bett gebaut, welches beinahe wie ein Grab aussah. In allem zeigte er einen außerordentlichen Geschmack und großen Scharfsinn, und doch kann man sich kaum ein gedrückteres, unglücklicheres Wesen denken. Ich sah nie ein solches Gemälde so tiefer Seelenbetrübnis und stiller Verzweiflung. Das Herz blutete mir bei seinem Anblick, und es war wirklich schmerzlich zu sehen, wie die Tränen von seinen Wangen herabrannen und er einen der Anwesenden beiseite nahm, dessen Rock mit zitternden Händen krampfhaft faßte, um ihn zurückzuhalten und zu fragen, ob er nicht auf eine Milderung seines traurigen Urteils hoffen dürfe. Ich sah und hörte nie von einem Elend, das einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht hätte wie die Verzweiflung dieses Mannes.

In einer dritten Zelle befand sich ein langer, starker Schwarzer, ein Einbrecher, und war in seinem Metier beschäftigt, indem er Schrauben und dergleichen verfertigte. Seine Strafzeit war fast abgelaufen. Er war nicht nur ein sehr listiger Dieb, sondern auch bekannt wegen seiner Kühnheit und seines Mutes, und war schon früher oft überführt worden. Er unterhielt uns mit einer langen Beschreibung seiner Taten, die er mit so unendlichem Vergnügen schilderte, daß ihm ordentlich der Mund wässerte bei den pikanten Anekdoten von gestohlenem Silberzeug und alten Frauen, die er, wenn sie mit silbernen Brillen auf der Nase an ihren Fenstern saßen (er mußte ein scharfes Auge für das Metall haben, um es von der andern Seite der Straße aus zu erkennen), belauert und dann beraubt hatte. Dieser Kerl würde bei der geringsten Aufmunterung seine Diebserinnerungen mit dem greulichen Cant gespickt haben; aber ich müßte mich sehr irren, wenn ich sagen wollte, daß etwas über die verstockte Heuchelei hätte gehen können, mit der er erklärte, daß er den Tag segne, an welchem er in dies Gefängnis gekommen, und daß er in seinem Leben keinen Diebstahl mehr begehen wolle.

Es befand sich auch ein Mann hier, dem als besondere Vergünstigung erlaubt war, Kaninchen zu halten. Da in seinem Gemach daher eine sehr übelriechende Luft war, wurde ihm an der Tür zugerufen, auf den Gang herauszukommen. Er gehorchte natürlich. Mit der Hand sein hageres Gesicht vor den durch das große Fenster hereinfallenden, ungewohnten Sonnenstrahlen beschattend, stand er vor uns und sah so abgezehrt und geisterhaft aus, als ob er eben aus dem Grabe heraufbeschworen wäre. Er hatte ein weißes Kaninchen an seiner Brust, und als das Tierchen, auf den Boden fallend, sich wieder in die Zelle zurückstahl und er selbst, nachdem er entlassen worden, schüchtern demselben nachkroch, kam es mir schwer zu bestimmen vor, worin eigentlich der Mensch das edlere von den beiden Tieren sei.

Auch ein englischer Dieb war da, der auf sieben Jahre verurteilt worden, von denen erst einige Tage verflossen waren: ein schurkischer Kerl mit niederer Stirn, dünnen Lippen und weißem Gesicht, der bis jetzt noch keine Lust zeigte, sich von Fremden besuchen zu lassen, und der, wäre es ihm nicht um die verschärfte Strafe gewesen, mich gern mit seinem Schuhmachermesser erstochen hätte. Auch sah ich noch einen andern Deutschen, der das Gefängnis erst gestern betreten hatte; als wir in seine Zelle traten, fuhr er von seinem Bett auf und bat in seinem gebrochenen Englisch recht inständig um Arbeit. Ein anderer war ein Poet, der alle vierundzwanzig Stunden doppelte Tagesarbeit verrichtete, für sich und für das Gefängnis, und dann Seelieder (er war ein Seemann) und Gedichte auf »den berauschenden Rebensaft« und seine Freunde zu Hause schrieb! Überhaupt waren die Gefangenen sehr zahlreich. Manche erröteten beim Anblick von Fremden, andere wurden blaß. Zwei oder drei hatten Gefangene als Wärter bei sich, weil sie sehr krank waren; und einer, ein fetter alter Neger, dem im Gefängnis das Bein abgenommen worden, hatte einen gelehrten und ausgebildeten Chirurgen, der selbst auf Strafe sich hier befand, zum Wärter. Auf der Treppe saß, mit einer leichten Arbeit beschäftigt, ein hübscher farbiger Junge. »In Philadelphia gibt es also kein Asyl für jugendliche Verbrecher?« fragte ich. »O ja, aber bloß für weiße Kinder.« O edle Aristokratie des Verbrechens!

Ich interessierte mich sehr für einen Matrosen, der über elf Jahre hier war und in einigen Monaten frei werden sollte. Elf Jahre einsamer Einkerkerung!

»Es freut mich sehr zu hören, daß Eure Zeit bald abgelaufen ist.« Was antwortet er? Nichts. Warum starrt er auf seine Hände, warum zerrt er an seinen Fingern und hebt dann und wann den Blick zu den kahlen Wänden empor, die sein Haupt ergrauen sahen? Das ist so seine Gewohnheit, zuweilen.

Sieht er nie einem Menschen ins Gesicht, und kaut er immer so an seinen Händen, als wollte er die Haut von den Knochen trennen? Das ist so eine Grille von ihm, weiter nichts.

Es ist auch eine Grille von ihm, zu sagen, daß er nie ans Freiwerden denke, daß er sich nicht freue, weil die Zeit seiner Entlassung heranrückt, daß er wohl einst daran gedacht habe, aber das sei lange her; und daß er sich um nichts in der Welt mehr kümmere. Es ist ein Eigensinn von ihm, ein hilfloser, gebeugter, herabgewürdigter Mensch sein zu wollen. Und der Himmel ist sein Zeuge, daß ihm vollkommen nach seinem Wunsch geschieht.

In den anstoßenden Zellen befanden sich drei junge Frauen, alle zu gleicher Zeit überführt, sich zur Beraubung ihres Anklägers verschworen zu haben. In der Stille und Einsamkeit ihres Lebens waren sie wirklich schön geworden. Ihr Blick war sehr traurig und würde auch den Strengsten zu Tränen gerührt haben, allein nicht zu jener Art von Rührung, welche der Anblick der Männer erweckt. Die eine war, wie ich mich entsinne, ein junges Mädchen von noch nicht zwanzig Jahren, in deren schneeweißem Gemach die Arbeit eines frühern Gefangenen hing und auf deren zu Boden gesenktem Antlitz die Sonne in all ihrem Glanz durch die hohe Spalte in der Mauer schien, durch welche man einen schmalen Streifen heitern blauen Himmels erblickte. Sie war sehr bußfertig und ruhig und hatte sich in ihr Schicksal ergeben, wie sie sagte (und ich glaube ihr). »Mit einem Worte«, sagte einer meiner Begleiter, »Ihr befindet Euch also hier wohl?« Sie kämpfte lange mit sich selbst, um »ja« zu sagen; allein als sie ihre Augen erhob und jenen Streifen freien Himmels sah, da brach sie in Tränen aus und sagte, sie bemühe sich, zufrieden zu sein; sie äußere keine Klage; allein es wäre doch natürlich, daß sie zuweilen wünsche, aus dieser einen Zelle herausgehen zu dürfen, sie könne sich nicht helfen; und dabei schluchzte sie, das arme Geschöpf!

Ich ging an diesem Tage von Zelle zu Zelle, und jedes Gesicht, das ich sah, jedes Wort, das ich hörte, jeder geringfügige Umstand, den ich bemerkte, steht noch immer vor meiner Seele in all seiner Schmerzlichkeit. Doch man lasse mich sie übergehen, um einen angenehmern Blick auf ein nach demselben Plane eingerichtetes Gefängnis zu werfen, das ich später in Pittsburgh besuchte.

Als ich es in derselben Weise besichtigt hatte, fragte ich den Direktor, ob er keinen Gefangenen habe, der bald entlassen werde. »Einer«, antwortete er, »wird den nächsten Tag frei; allein er hat bloß zwei Jahre hier zugebracht.«

Zwei Jahre! Ich blickte auf zwei Jahre meines eigenen Lebens zurück – die ich frei, glücklich, umgeben von Segnungen, Bequemlichkeiten und Wohlstand zugebracht –, und ich bedachte, welch langer Zeitraum dies war und wie lang diese zwei Jahre mir erst hätten werden müssen, hätte ich sie in einsamer Gefangenschaft durchgelebt. Das Gesicht des Mannes, der den nächsten Tag erlöst werden sollte, steht noch immer vor mir. Es ist beinahe merkwürdiger in seinem Glück als die andern Gesichter in ihrem Elend. Wie leicht wurde es ihm, zu sagen, daß das System recht gut sei und daß die Zeit ziemlich geschwind vergehe – verhältnismäßig nämlich.

»Warum rief er Sie zurück, was sagte er Ihnen in so verwirrter Eile?« fragte ich meinen Führer, nachdem er die Tür wieder verschlossen hatte und mit mir weiterging.

»Nun, er fürchtet, seine Stiefelsohlen paßten nicht zum Ausgehen, da sie sehr abgetragen gewesen wären, als er hereingekommen, und daß er mir es sehr danken würde, wenn ich sie ihm ausbessern lassen wollte.«

Diese Stiefel waren vor zwei Jahren von seinen Füßen genommen und mit seinen übrigen Kleidungsstücken beiseite gelegt worden!

Ich ergriff diese Gelegenheit, um mich zu erkundigen, wie sich die Freigelassenen vor ihrem Abschied benähmen, wobei ich hinzufügte, daß sie wohl sehr zitterten.

»Nun«, war die Antwort, »sie zittern wohl dabei, aber es tritt dann bei ihnen mehr eine vollständige Zerrüttung des Nervensystems ein. Sie können ihre Namen in dem Buch nicht unterzeichnen, oft können sie nicht einmal die Feder halten; sie sehen sich um, ohne daß sie zu wissen scheinen, warum oder wo sie sind, und zuweilen stehen sie eine Minute zwanzigmal auf und setzen sich ebenso oft wieder nieder. Dies geschieht im Büro, wohin sie noch mit der Kapuze über dem Kopf geführt werden, so wie sie hereingebracht worden sind. Wenn sie aber vor das Haus kommen, bleiben sie stehen, blicken bald da-, bald dorthin und wissen nicht, welchen Weg sie einschlagen sollen. Zuweilen wanken sie wie betrunken und müssen sich ans Geländer lehnen, so schlimm ist ihnen; allein nach und nach vergeht das schon.«

Während ich diese einsamen Zellen durchwanderte und die Gesichter der Gefangenen darin betrachtete, versuchte ich, mir die ihrer Lage natürlichen Gedanken und Gefühle auszumalen. Ich stellte mir vor, wie ihnen eben die Kapuze abgenommen worden und sie nun den Ort ihrer Gefangenschaft in all seiner traurigen Einförmigkeit vor sich sehen.

Anfangs ist der Gefangene betäubt. Seine Einkerkerung dünkt ihm ein schauerliches Traumbild und nur sein früheres Leben Wirklichkeit. Er wirft sich auf sein Bett und liegt da, eine Beute der Verzweiflung. Nach und nach rütteln ihn die unerträgliche Stille und Öde des Orts aus seiner Erstarrung auf; die Klappe in seiner Gittertür wird geöffnet, und er bittet demütig um Arbeit. »Geben Sie mir zu arbeiten, oder ich werde rasend!«

Er bekommt Arbeit, und dann und wann, ruckweise, tut er was; allein, oft erfaßt ihn der Gedanke an die Jahre, die er in diesem steinernen Sarge noch zuzubringen hat, und eine marternde Angst befällt ihn, wenn er an diejenigen denkt, die er nicht mehr sehen kann und über die er nichts mehr erfährt; er springt von seinem Sitz auf, läuft in dem engen Gemach hin und her, mit beiden Händen sich den Kopf haltend, und hört, wie böse Geister ihm zuraunen und ihn in die Versuchung führen, mit dem Kopfe wider die Wand zu rennen.

Er wirft sich abermals auf sein Bett und bleibt da ächzend und stöhnend liegen. Plötzlich springt er auf, er fragt sich, ob noch irgendein Mensch nahe sei, ob auf jeder Seite auch so eine Zelle sein möge wie die seinige, und jetzt horcht er mit gespannter Aufmerksamkeit.

Kein Laut ist zu hören, aber trotzdem können andere Gefangene in der Nähe sein. Er entsinnt sich, einst, als er nicht daran dachte, selbst hierherzukommen, gehört zu haben, die Zellen seien so gebaut, daß die Gefangenen einander nicht hören könnten, obgleich jeder Wärter sie höre. Wo mag sein nächster Nachbar sein? Zur Rechten oder zur Linken? Oder ist auf beiden Seiten einer? Wo mag er jetzt sitzen? Mit dem Gesicht dem Licht zugekehrt? oder geht er auf und ab? Wie mag er gekleidet sein? Ist er schon lange hier? Ist er sehr abgezehrt? Sieht er vielleicht recht blaß und geisterhaft aus? Denkt auch er an seinen Nachbarn?

Indem er kaum zu atmen wagt und begierig lauscht, malt er sich bei diesem Gedanken eine Gestalt aus, die ihm den Rücken zukehrt, und stellt sich vor, daß sie in dieser nächsten Zelle auf und ab gehe. Er kann sich keinen Begriff von ihrem Gesicht machen, allein er weiß gewiß, es ist die dunkle Gestalt eines Mannes mit gekrümmtem Rücken. In die Zelle auf der andern Seite denkt er sich eine andere Gestalt, deren Gesicht gleichfalls vor ihm verborgen ist. Tag für Tag, und oft wenn er mitten in der Nacht aufwacht, denkt er an diese beiden Männer, bis er beinahe von Sinnen ist. Seine Einbildungskraft verwandelt diese Gestalten nie mehr. Wie er sich sie anfangs dachte, so stehen sie noch vor ihm – ein Alter zur Rechten, ein Jüngerer zur Linken –; ihre verhüllten Gesichter quälen ihn zu Tode, es umgibt sie etwas Geheimnisvolles, das ihn beben macht.

Die öden Tage gehen hin mit feierlichem Schritt, wie Leidtragende bei einem Begräbnis; und allmählich fängt er an zu fühlen, daß die vier weißen Wände seiner Zelle etwas Entsetzliches für ihn haben: ihre weiße Farbe ist schauervoll, ihr glattes Äußere macht ihm das Blut in den Adern gerinnen, und jener Winkel dort hat etwas Gehässiges, das ihn quält. Jeden Morgen beim Erwachen zieht er das Bettuch über sein Haupt und schaudert, da er sieht, daß noch immer dieselbe grauenhafte Decke auf ihn herabblickt. Das segenvolle Licht des Tages selbst blickt als ein häßliches gespenstisches Gesicht durch den unwandelbaren Mauerspalt, der sein Kerkerfenster ist.

Langsam, aber unaufhaltsam wächst in ihm das Grausen vor jenem verhaßten Winkel, bis es ihm nie mehr Ruhe läßt, seine Träume vergiftet und seine Nächte ihm zum Schrecken macht. Anfangs empfand er bloß ein seltsames Mißbehagen, wenn er hinsah, als erwachte dabei in seinem Hirn ein Etwas von entsprechender Gestalt, das nicht darin sein sollte und seinen armen Kopf mit Pein erfüllte. Dann fing er an, sich vor jenem Winkel zu fürchten, davon zu träumen, als sähe er dort Leute stehen, die seinen Namen flüsterten und auf ihn mit Fingern wiesen. Dann vermochte er weder hinzusehen noch ihm den Rücken zuzukehren. Jetzt ist dort allnächtlich der Schlupfwinkel eines Gespenstes, eines Schattens – eines schweigsamen Etwas, fürchterlich anzusehen; und doch kann er nicht sagen, ob es ein Vogel, eine Bestie oder eine vermummte Menschengestalt ist.

Am Tage, wenn er in seiner Zelle ist, fürchtet er sich vor dem kleinen Hof draußen. Ist er im Hofe, so fürchtet er sich, wieder in die Zelle zu gehen. Kommt die Nacht, so steht wieder das Phantom im Winkel. Wenn er den Mut gewinnt, sich selbst hinzustellen und es aus dem Winkel zu treiben (einmal hatte er den Mut dazu, in der Verzweiflung), so lagert es sich über sein Bett. Im Zwielicht und stets um dieselbe Stunde ruft ihn eine Stimme beim Namen; wie die Finsternis dichter wird, fängt sein Webstuhl an lebendig zu werden; und selbst dieser sein einziger Trost verwandelt sich in eine abscheuliche Gestalt, die ihn anglotzt, bis der Morgen graut.

Allmählich verlieren sich diese grauenhaften Phantasien eine nach der andern; sie kehren zuweilen unvermutet zurück, aber in längern Zwischenräumen und in minder schrecklicher Gestalt. Mit dem Herrn, der ihn besucht, hat er über religiöse Dinge gesprochen; er hat in seiner Bibel gelesen und sich auf seine Schiefertafel ein Gebet aufgeschrieben und an die Wand gehängt, als eine Art von Amulett, das ihn der Gegenwart Gottes und des himmlischen Schutzes versichert. Jetzt träumt er zuweilen von seinen Kindern oder seinem Weib, aber stets mit der Überzeugung, daß sie gestorben sind oder ihn verlassen haben. Er wird leicht zu Tränen gerührt, ist sanft, fügsam und unterwürfig, gebrochen an Geist und Mut. Dann und wann kehrt die alte Angst zurück; die geringste Kleinigkeit, ein bekannter Laut oder ein Blumengeruch in der Luft, ruft sie zurück; aber sie hält nicht mehr lang an, denn die Welt draußen ist jetzt das Traumbild geworden und dieses sein einsames Leben die traurige Wirklichkeit.

Wenn seine Gefängniszeit kurz ist – verhältnismäßig meine ich, denn wirklich kurz kann sie nie sein –, so ist das letzte halbe Jahr beinahe schlimmer als alles; denn da glaubt er, es werde Feuer ausbrechen und er unter den Ruinen des Kerkers verbrennen; oder er fürchtet, daß er hier zu sterben verdammt ist oder daß er auf irgendeine falsche Anklage hin festgehalten und noch auf eine gewisse Zeit verurteilt werden wird, kurz, daß irgend etwas vorfallen müsse, um seine Erlösung zu hintertreiben. Und diese Furcht ist so natürlich, daß sich mit Gründen gegen sie gar nicht kämpfen läßt; denn nach einer so langen Abgeschiedenheit, nach einem solchen Verschwinden aus der Welt und so großen Leiden ist ihm der Einsturz des Himmels glaublicher als die Möglichkeit, wieder der Freiheit und seinen Mitmenschen zurückgegeben zu werden.

Wenn seine Gefängniszeit sehr lang war, so macht ihn die Aussicht auf seine Erlösung verwirrt und bestürzt. Sein gebrochenes Herz schlägt vielleicht einen Augenblick höher, wenn er an die Welt draußen denkt, und was sie ihm hätte sein können in all jenen einsam verbrachten Jahren, aber das ist auch alles. Die Kerkertüre war zu lang geschlossen hinter all seinen Hoffnungen, Sorgen und Interessen. Besser, ihr hättet ihn gleich aufgehängt, als ihn dahin zu bringen – und ihn dann fortzuschicken unter die Menschen, die seinesgleichen nicht mehr sind.

Auf dem hagern eingefallenen Antlitz eines jeden dieser Gefangenen lag derselbe Ausdruck. Ich weiß nicht, womit ich ihn vergleichen soll. Er hatte etwas von jener gespannten Aufmerksamkeit, die wir auf den Gesichtern der Blinden und der Tauben sehen, gemischt mit einer Art von Entsetzen, als hätte man sie im geheimen erschreckt. In jeder kleinen Kammer, die ich betrat, und an jedem Gitter, durch das ich sah, glaubte ich dasselbe grausende Antlitz zu schauen. Es lebt in meiner Erinnerung wie mit der Zauberkraft eines merkwürdigen Bildes. Führt mir hundert Menschen vor, und wenn nur einer darunter ist, der nicht lang aus einer solchen einsamen Zelle befreit ist – ich will ihn augenblicklich erkennen.

Die Physiognomien der weiblichen Gefangenen werden, wie ich schon angedeutet, dadurch eher veredelt und milder gemacht. Mag dies von ihrer besseren Natur herrühren, die sich in der Einsamkeit geltend macht, oder davon, daß sie an sich sanftere Wesen sind, von größerer Geduld und ausdauernderer Dulderkraft, ich weiß es nicht; aber es ist so. Daß die Strafe, nach meiner Ansicht, nichtsdestoweniger ebenso grausam und ungerecht bei den Frauen ist wie bei den Männern, brauche ich kaum noch hinzuzufügen.

Es ist meine feste Überzeugung, daß diese Strafe, abgesehen von der Seelenangst, die sie hervorbringt – einer Angst, die so heftig und fürchterlich ist, daß keine Einbildungskraft sich sie denken kann –, den Geist in einen krankhaften Zustand versetzt und für die rauhe Berührung der Außenwelt und ihre geschäftige Tätigkeit für immer untauglich macht. Ich bin überzeugt, daß, wer diese Strafe ausgehalten hat, nicht anders als innerlich zerstört und moralisch krank in die Gesellschaft zurückkehren kann. Man hat viele Beispiele von Menschen, die gezwungen oder aus freier Wahl ein vollkommen einsames Leben führten; aber ich weiß keinen einzigen, selbst unter den Weisen von starkem Geist und durchdringendem Verstand keinen, bei dem die Folgen sich nicht durch eine gestörte Gedankentätigkeit oder irgendeine Art von Vision und verdüsterter Phantasie offenbart hätten. Was für ungeheuerliche Phantome, Kinder des Zweifels und der Verzweiflung, geboren und großgezogen in der Einsamkeit, sind nicht schon über die Erde geschritten, vor denen die Schöpfung häßlich und das Antlitz des Himmels selbst verfinstert ward!

Der Selbstmord ist unter diesen Gefangenen selten, ja beinahe ganz unbekannt. Aber zugunsten des Systems kann man billigerweise diesen Umstand durchaus nicht anführen, obgleich es sehr häufig geschieht. Jeder, der die Seelenkrankheiten zu einem Gegenstand seines Studiums gemacht hat, wird sehr wohl wissen, daß es einen Grad äußerster Verzweiflung und Niedergeschlagenheit gibt, der den ganzen Charakter eines Menschen untergräbt und alle Spannkraft seines Geistes zerstört, alle Selbständigkeit seines Willens bricht, ohne doch gerade zum Selbstmord zu führen. Dies ist ein Fall, der sehr häufig vorkommt.

Daß es die Sinne abstumpft und allmählich alle körperlichen Kräfte lähmt, davon bin ich völlig überzeugt. Ich bemerkte gegen die Herren, welche mit mir zu Philadelphia in diesem Gefängnis waren, daß die Verbrecher, welche lange gesessen hätten, taub sein müßten. Sie, die daran gewöhnt waren, diese einsamen Menschen beständig vor sich zu sehen, waren ganz erstaunt über meine Idee und hielten sie für grundlos, für eine bloße Einbildung. Und doch bestätigte der allererste Gefangene, den sie befragten – und den sie selbst gewählt hatten –, meine Vermutung (von der er nichts wußte) augenblicklich und sagte mit der aufrichtigsten Miene von der Welt, die gar keinen Zweifel zuließ, er wisse nicht, wie es komme, aber er werde wirklich schwerhörig.

Daß die Strafe außerordentlich verschieden wirkt und den schlimmsten Verbrecher am wenigsten berührt, ist außer allem Zweifel. Und ich glaube nicht im mindesten, daß sie als Besserungsmittel wirksamer sein soll als jenes andere Strafsystem, welches den Gefangenen erlaubt, in Gesellschaft zu arbeiten, ohne miteinander zu reden. Alle Beispiele von einer Besserung, die mir aufgezählt wurden, waren der Art, daß ich glaube, sie wäre ebensogut, wo nicht noch gründlicher, durch das Schweigesystem erreicht worden. Was solche Individuen wie den oben geschilderten Neger und den englischen Dieb betrifft, so werden wohl auch die größten Enthusiasten sich nicht mit der Hoffnung schmeicheln, sie zu bekehren.

Mich dünkt, schon der Einwurf, daß nie etwas Gutes oder Heilsames aus solcher unnatürlichen Einsamkeit entsprungen ist und daß selbst ein Hund oder überhaupt jedes verständigere Tier unter ihrem Einfluß hinwelken, verdummen und verrosten würde, müßte an und für sich ein völlig hinreichender Grund gegen dieses System sein. Aber wenn man dazu noch bedenkt, wie hart und grausam es ist und daß ein einsames Leben hier stets ganz besonders beklagenswerte und eigentümliche schlimme Folgen gehabt hat, und wenn man überdem noch erwägt, daß man nicht etwa zwischen diesem System und einem schlechteren, sondern zwischen ihm und einem anderen zu wählen hat, welches in seiner ganzen Theorie und Praxis anerkannt vortrefflich ist und bereits seine gute Wirksamkeit bewährt hat, so sollte man doch mehr als hinreichenden Grund haben, eine Strafweise aufzugeben, die so wenig verspricht und unstreitig eine solche Unzahl von Übeln in ihrem Gefolge hat.

Zur Erholung von diesen traurigen Betrachtungen will ich das Kapitel mit einer seltsamen Geschichte schließen, die mit demselben Thema zusammenhängt und mir von den dabei beteiligten Herren während unseres Besuchs im Gefängnis mitgeteilt wurde.

Bei einer der periodischen Zusammenkünfte der Inspektoren dieses Gefängnisses trat ein Arbeiter aus Philadelphia vor die Schranken und verlangte in allem Ernst, einsam eingesperrt zu werden. Auf die Frage, was ihn zu diesem seltsamen Begehren bewegen könne, erwiderte er, er habe einen unwiderstehlichen Hang zum Trunk; er gebe sich ihm beständig hin, zu seinem größten Ruin und Verderben; er habe nicht die Kraft, sich selbst zu widerstehen, wünsche daher, gewaltsam aller Versuchung entrückt zu werden, und könne dazu kein besseres Mittel finden als ebendieses. Man machte ihm begreiflich, daß das Gefängnis nur für Verbrecher bestimmt sei, die verhört und gesetzlich verurteilt worden seien, aber keineswegs solchen grillenhaften Wünschen dienen könne; man ermahnte ihn, sich aller berauschenden Getränke zu enthalten, wozu er, wenn er ernstlich wollte, sehr gut imstande sein würde, und entließ ihn mit noch manchem andern guten Rat. Außerordentlich unzufrieden mit dem Erfolg seiner Bittstellung entfernte er sich.

Allein er kam noch einmal, er kam zum zweiten und zum dritten Male wieder und wurde so ungestüm und zudringlich, daß sie endlich miteinander beratschlagten und sagten: »Wenn wir ihn noch länger abweisen, wird er sich gewiß eines Vergehens schuldig machen und die Strafe wirklich verdienen. Sperren wir ihn ein. Er wird bald froh sein, wenn er nur wieder gehen kann, und dann sind wir ihn los.« Sie ließen ihn demnach ein Aktenstück unterzeichnen, damit er nie wegen unrechtmäßiger Einsperrung Beschwerde erheben könne, des Inhalts, daß er seine Haft für eine freiwillige und selbstgewünschte erkläre; dann ersuchten sie ihn, wohl zu merken, daß der Gefangenenwärter den Befehl habe, ihn zu jeder beliebigen Stunde bei Tag oder bei Nacht freizulassen, sobald er zu diesem Zweck an die Tür seiner Zelle klopfen würde, gaben ihm aber auch zu verstehen, daß er, einmal fort, nicht wieder aufgenommen werde. Da er auf diese Bedingungen einging und noch immer auf seinem Wunsch bestand, wurde er zum Gefängnis geführt und in eine der Zellen eingeschlossen.

Und dieser Mensch, der nicht so viel Festigkeit besaß, um ein Glas Branntwein auf dem Tisch unberührt stehenzulassen, lebte in dieser Zelle, einsam eingekerkert, freiwillig an die zwei Jahre und arbeitete täglich in seinem Gewerbe als Schuhmacher. Da nach diesem Zeitraum seine Gesundheit zu wanken anfing, empfahl ihm der Arzt, dann und wann im Garten zu arbeiten. Das behagte ihm denn gar sehr, und er machte sich denn auch recht munter an seine neue Beschäftigung.

An einem Sommertage grub er da recht fleißig, als zufällig das Pförtchen des äußeren Tores offenstand und ihm draußen die wohlbekannte Landstraße und die sonnverbrannten Felder zeigte. Der Weg stand ihm jeden Augenblick offen wie nur irgendeinem freien Mann auf der Welt, allein kaum hob er den Kopf in die Höhe und sah die Gegend draußen, im Licht der Sonne strahlend, als er mit dem unwillkürlichen Instinkt eines Gefangenen den Spaten wegwarf und, ohne sich einmal umzusehen, so schnell ihn seine Beine nur tragen mochten, auf und davon rannte.

 


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