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Lied der Gehenkten.

Villon's Epitaph,
als er nebst Etlichen zum Galgen verurteilt war.

        O Mensch, o Bruder, machst du hier einst Rast,
verhärte nicht dein Herz vor unsrer Pein;
denn wenn du Mitleid mit uns Armen hast,
wird Gott der Herr dir einst gewogen sein.
Hier hängen wir, so stücker acht auch neun;
ach, unser Fleisch, einst unser liebst Ergetzen,
jetzt ist es längst verfault und hängt in Fetzen,
samt unsern Knochen fast zu Staub zerfallen.
Doch wolle Keiner seinen Witz dran wetzen –
      nein: bittet Gott, daß er verzeih uns Allen!

Mißachte, Bruder, nicht dies unser Flehn;
du weißt ja, der du unser Bruder bist,
obgleich uns nach Gesetz und Recht geschehn,
daß nicht ein jeder Mensch vernünftig ist.
Verwende dich von Herzen als ein Christ
beim Sohn der Jungfrau, daß er seine Gnade,
da wir nun tot sind, auch auf uns entlade
und uns behüte vor des Satans Krallen;
die Seele, Bruder, stirbt nicht mit am Rade –
      ja: bittet Gott, daß er verzeih uns Allen! 171

Sturzregen haben unsern Leib zerspült,
die Sonne uns geschwärzt und ausgedörrt,
Kräh'n, Raben uns die Augen ausgewühlt,
uns Bart und Brauen aus der Haut gezerrt;
niemals, kein Stündchen Ruh am warmen Herd;
nur wipp und wapp, und immer wippwapp wieder,
umschwärmt von Kräh'n, die Winde um die Glieder,
zerhackt, zerlöcherter als Hosenschnallen!
Ja: vor Uns Brüdern seid ihr sicher, Brüder;
      doch – bittet Gott, daß er verzeih uns Allen! 172


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