Max Dauthendey
Ultra-Violett
Max Dauthendey

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Schwarz

Abgestürzt.

Die Spätnachmittagssonne in der Hauptstraße von Partenkirchen. Die Häuser gelb vom Licht gestreift. Das Schweigen schwemmt die Straße hinunter.

Beim Bader vor der Treppe ein Gehilfe, erklärt, gestikuliert mit schwülstiger Gebärde – die Hände wölben sich um den Kopf: So – von da bis dahin – den ganzen Schädel habe es ihm gespalten!

Und die Frau mit dem Knaben unten windet sich und biegt sich von seiner Beschreibung fort: Nein, ach Gott nein, Gott, der arme Mensch!

Und weiter oben bei der Kirche die Obstverkäuferin: Ja, die glatten Eisen an den Schuhen seien es gewesen. Und so – einen Sprung habe er gemacht und dann ausgeglitten – zwischen – vor ihm ein Freund und hinter ihm und er zwischen ihnen gerade in der Mitte hinunter – und gleich fünfhundert Meter.

Und in der Badeanstalt die Frau schaut vom Tor auf den Kirchturm: Fünf Uhr.

Oben im Turmfenster biegt sich ein Junge heraus.

Die Frau zu zwei Damen: Um fünf Uhr würde der Abgestürzte zum Bahnhof gebracht. Vom Krankenhaus, droben vom Krankenhaus aus. Es wäre ein Offizierssohn. Die müßten jetzt gleich läuten dort oben. Ja, er wäre ohne Führer gegangen.

Die Schustersfrau in der Küchentüre und hinter ihr der Qualm von braunem Mehl und Schmalz:

Ganz zerschmettert sei er. Nur die Kleider hatten ihn noch zusammengehalten. Seine Freunde natürlich hätten gewollt, daß man ihn noch am Abend suchen sollte. Aber bei Nacht, das ginge doch nicht.

Die armen Eltern, das sag' ich auch. Ja, wenn er nur gleich tot war! –

Zwei Herren gehen die Seitenstraße höher hinauf. Die Leute in Gruppen vor den Türen.

Die beiden Herren in Schwarz, und Hut schwarz und Handschuhe.

Die Sonne ringsum störrisch blendend an den weißen Häusern entlang und auf dem Akazienlaub und in roten und blauen Knäueln auf Nelken und Rittersporn vor den Fenstern und in den kleinen Gärten.

Durch die wache Helle geht das Schwarz gesenkt, dumpf und steil wie tiefe Stirnfalten. Und die Helle und die Farben wirbeln verletzt auf und umstacheln das Schwarz.

Die Leute halten die Hände über die Augen. Beklommenheit sicht dem Schwarz nach. Aber das Schwarz geht in unbeirrtem Schweigen. Und besonders dies Schwarz der Handschuhe, dies Schwarz, das um die Hände gepackt, das kauert zusammengekrampft und reglos und verblüfft die Helle.

Das Licht schwirrt nervöser, heftig gereizt. Die Schwarzen Hände greifen manchmal nach dem Hut, lüften ihn. Dann mit dem weißen Taschentuch über den Nacken.

Das weiße Tuch in den schwarzen Händen, ein kindliches großäugiges Weiß. Das Schwarz ist nicht Klammer um das Weiß, nicht eine Überwältigung, ihre Kontraste kosen sich. Das Schwarz ist diesem Weiß fast unterwürfig und fromm zu ihm, und das Weiß ernst und anschmiegend und tröstend.

Das Licht, das Blau und Grün und Rot, und das in der Helle stocken verdutzt, weiten sich in verwundertem Kreise von diesem Schwarz und Weiß fort.

Am letzten Hause die Menschengruppen enger. Kinder auf einen Zaun gedrängt. Ein Wagen vor dem Hause. An der Haustreppe wieder fünf, sechs Herren in Schwarz. Ein flacher Wagen mit schwarzer Decke. Das Schwarz versöhnlicher und im Lichte grünlich gelöst. Fransen wie Silber an der Decke, aber müde ins Grau kriechend.

Sie nageln eine lange hohe Holzkiste zu. Ein kleiner Kohlenofen daneben mit zitternder durchsichtiger Hitze und der süßgallige Geruch von Lötblei.

Man wispert nur. Die Kinder auf dem Zaune und an den Röcken der Frauen flüstern wichtig und älter. Die Großen Schauen. Manches Gesicht gekitzelt lächelnd vor Erregung und in andern Gesichtern die Gedanken behaglich gelähmt, ohne Vorwärts und Rückwärts. Die schlagenden Hämmer schallen nur in der Luft, aber keinem zum Bewußtsein.

Unter den Herren in Schwarz, zwei rücken und stützen sich von einem Fuß auf den andern. Tränenschärfe sieht rot, wund in ihren Augen. Das Schwarz liegt beengend um sie.

Die Blicke der Leute rings halten gestaut vor diesem Schwarz. Das Licht kreist nachdenklicher und weniger feindselig die Farben. Es blüht flüssig im Blond der Kinderköpfe und in feuchtem Blau auf einem Ritterspornzweig in einer Kinderhand.

Männer stemmen die Sargkiste hoch und auf den Wagen. Auf dem holzgelben Deckel eine große schwarze Flasche gemalt, "Vorsicht!", ein großes "S" und 400. Alles in stummem geduldigen Schwarz.

Sie ziehen eine schwarze Decke, darauf ein weißes Kreuz, über den Sarg, und über die Rückwand und die Seitenwände hängen die weißen Arme des Kreuzes.

Das Schwarz und das Weiß breiten sich selbstbewußter und pflichternst. Aber rings die hastigen Farben und die hastige Sonne ehrfürchtiger und treten leiser auf und scheuer.

Sie legen Kränze auf die schwarze Decke. Die roten und blauen Kränze und grünen halten auf dem Schwarz den Atem an.

Die Straße herauf hoch, wallend eine Fahne, und Laternen, Priester und Chorknaben weiß und schwarz.

In die Leute rückt eine Beengung, eine Unruhe tritt ihnen auf die Füße. Eine Stille strömt aus dem Schwarz und Weiß, die alles vergewaltigt.

Dann kriechendes Gebetsmurmeln. Eine zwingende Strenge, schwächende Lähmung aus dem schwarzen Murmeln und Weihrauch windet sich und röchelt.

Die Leute mit gefalteten Händen, die Köpfe entblößt, farblos alle Gedanken und wie in lichtleeren Nächten betäubt vom Schwarz.

Beim Paternoster schwingt die Luft. Vom Kirchturm wälzen sich Metallwellen. Schwarze Kreise breiten sich. Im Schwarzen ein Weiß mit großen schluchzenden Augen. Die schwarzen Kreise weiten sich und ziehen sich zusammen um die weißen Augen und weiten sich und ziehen sich zusammen. Sie durchdringen das Licht, alle Farben, durch alles geht ihr Pochen und Wogen widerstandslos.

Amen.

Eine begehrliche Unruhe in all den Menschen um den schwarzen Wagen. Die Geistlichen, die Fahnen und Laternen wallen voran und Kinder hinter ihnen, dann der Wagen, hinter ihm die Herren in Schwarz. Die beiden mit den wunden Augen dicht hinter dem Wagen. Ein Wanken und Drängen und von Beklemmung geschoben der schwarze Zug die Straße hinunter.

Oben nach Sankt Anton führt ein Weg an heiligen Stationen hinauf. Grünschattig unter Buchen der Weg und zur Seite die kleinen kalkweißen Tempelchen, an den Nischen vorbei mit den Kreuzigungsbildern.

Vom Dorf herauf Heuduft und Kuhmilchdunst, Duft von jungen Haselnüssen, und kühler Resedaduft aus den kleinen Gartenwinkeln.

Touristen, ein Trupp, Damen und Herren unter einem Baum gesammelt, deuten hinunter über die Schultern und mit Operngläsern. Weiter hinauf hinter weißem Klematisgebüsch zwei auf einer Bank, richten ein Fernrohr, suchen und kneifen die Augen angestrengt.

Immer noch weiten und dehnen sich von allen Glocken die schwarzen Kreise mit den weißen Augen, weiten und dehnen sich, die Luft über der Talebene krampft sich und die flache Stille schwankt.

Von den Bergen rings leuchtet ein stockendes Blau, Sonnennebel gestaut auf den Wiesen und lastet auf dem freien Grün.

Bei den letzten Häusern an der Friedhofmauer vorbei windet sich der Weg flach weiß in jähem Biegen und später wieder eine Handvoll Häuser und der Bahnhof weit draußen.

Grau kriecht wie eine graue Raupe auf dem weißen Weglauf.

Im Fernrohr ganz klein, erst die Fahne über der Kirchhofmauer und eine trippelnde Kinderkette, mit dem braunen Pferd der schwarze Wagen und die schwarzen Herren dann, und dann in nachdrängendem Grau ein ungeduldiger kurzer Haufen. Ganz zuletzt mit hellen Sonnenschirmen, an der Wegseite, zwei Damen mit rosa Blusen.

Und immer als ganzer Körper in allen Gliedern und Abständen, immer gleichbleibend der Zug vorwärts, auf der flachen weißen Straße. Im Schatten unter Wegbäumen, in Lichtlücken, aber immer grau, im selben Grau, kaum gestört vom Licht und nicht vom Schatten. All das Schwarz ist geronnen. Seine Strenge zerfasert. Das Grau wird immer regloser und blasser in der Weite.

Draußen am letzten Hause verlöschen die Stadtglocken, nur die Friedhofglocke noch.

Der graue Zug zerrinnt fern im Licht, hinter Bäumen und dann zwischen den Häusern am Bahnhof.

Der letzte Glockenkreis zerteilt sich.

Das gelbe Licht sieht über dem Tal. Es horcht dem letzten grauen Hauch nach und atmet auf. Es springt von den kleinen Häusern zu den roten und blauen und grünen Farben. Sie wärmen sich aneinander und tönen wieder zusammen.

Das steife verblüffende Schwarz ist vergessen.

 


 


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