Max Dauthendey
Das Märchenbriefbuch der heiligen Nächte im Javanerlande
Max Dauthendey

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Brief an die kleine Lore in Altona in Deutschland

Geschrieben in Garoet im Javanerland am Weihnachtsabend 1915

Liebe Lore,

Du hast etwas Schreckliches angestellt, und Du weißt es gar nicht. Erinnerst Du Dich noch, wie Du vor Weihnachten 1913 mich mit Mutter vom Bahnhof in Altona abholtest? Weißt Du noch, was Du da gewünscht hast, als ich Dich fragte, was Du Dir zu Weihnachten bestellt hättest. Du sagtest: »Ich habe mir ein selbstgeschriebenes Märchenbuch von Ihnen bestellt.« – »Ja«, sagte Deine liebe Mutter, »Lore hat sich ausgedacht, von Ihnen ein eigens für sie geschriebenes Märchenbuch zu bekommen.« Ich fand das ein bißchen viel. Aber weil ich Besuchsonkel war, und weil Du so schöne braune, wilde Locken hast, und weil und weil und weil ich Deine lieben Eltern so gern habe wie Du, sagte ich: »ja, Lore soll das Märchenbuch bekommen.« Du freutest Dich und sagtest, als ich abreiste, mit Deinen lustigen Augen, die mich süß und dunkel wie zwei Stückchen Schokolade ansahen: »Vergiß mein Märchenbuch nicht!«

Es war leichtsinnig von mir, einem kleinen hartnäckigen Mädchen, wie Du bist, ein ganzes dickes Märchenbuch so schnell zu versprechen. Denn ich wußte ja gar nicht, wo ich Märchen herholen sollte. Nun sitze ich in der Patsche, und es ist nun das dritte Weihnachtsfest, daß Du auf Dein Märchenbuch wartest, und ich armer Mann habe Deines Märchenbuches wegen Heimat, Frau und Haus verlassen und habe ein Schiff genommen und bin drei Jahre lang draußen in Asien, in Indien gereist, dort, wo ganze Menschen wie aus Schokolade herumlaufen, und wo sie nicht nur Schokoladenaugen haben. Jeden Kaufmann habe ich gefragt hier draußen: »Sagen Sie mal, wo kauft man denn für Lore hier in Indien die Märchen, die berühmten? Es ist da ein kleines Mädchen mit wilden Locken in Altona zu Hause, dem hab ich törichterweise ein ganzes Märchenbuch versprochen. Wo bezieht man denn die? Allein deshalb bin ich doch mit dem großen Schiff, das so viele Wochen lang zwischen Wasser und Himmel auf und ab schaukelte, hierher zu den Schokoladeleuten gereist, um der kleinen braunen Lore Märchen, frische, gut ausgewachsene, aus den Palmenwäldern zu holen.«

»Ach was«, knurrten die Kaufleute, »Gummi von den Gummibäumen, Kakao vom Kakaobaum, Reis von den Reisähren, Bananen, Ananas und Zucker vom Zuckerrohr können Sie hier haben. Aber Märchen haben wir nicht auf Lager. Denn jetzt gibt es Eisenbahnen hier draußen, so wie zu Hause um Altona herum, und wo es Eisenbahnen gibt, da gibt es keine Märchen mehr. In der Kohlenluft und beim lauten Lärm der Räder und bei dem ewigen eiligen Wind, den die Bahnzüge machen, wachsen die Märchen nicht mehr gut. Und deshalb bekommt man sie nicht mehr. Sie kommen zu schlecht fort.«

»Aber«, sagte ich erschrocken, »ich bin doch nun auf dem Schiff, das mit den beiden großen Schornsteinen so viel rauchte, so weit gereist! Ich muß Märchen heimbringen.«

»Ja«, sagte da ein Kaufmann nachdenklich und strich sein glattrasiertes Kinn, »reisen Sie mal ins Menschenfresserland da hinten!« Und er schlug in die Luft, dorthin, wo die Sonne morgens aufgeht.

»Ach, Gott, soll ich noch weiterreisen?« seufzte ich müde und trocknete mir den Schweiß von der Stirn. Denn im Javanerland war es schon so heiß wie zu Hause im Badezimmer, wenn heiß Wasser aus der Wanne dampft und die Sonne am Fenster brennt und der Badeofen außerdem noch dick heiß ist.

»Ja«, meinte der glattrasierte Kaufmann, »wenn man kleinen deutschen Mädchen etwas versprochen hat, muß man es auch halten. Und wenn man es gar noch zur Zeit des Weihnachtsfestes versprochen hat, dann geht es einem ganz schlecht, wenn man es nicht hält.«

»Du lieber Gott«, seufzte ich, »so muß ich also ins Menschenfresserland reisen und der Lore dort Märchen holen! Aber wissen Sie auch gewiß, daß es dort Märchen gibt?«

»Nee«, gähnte der Kaufmann, den mein unvorteilhaftes Märchenverlangen langweilte, »nee, gewiß ist nur der Tod. Aber da es im Menschenfresserlande keine einzige Eisenbahn gibt, so werden wohl noch Märchen da sein!« Ich dankte und reiste also nach dem Lande der Menschenfresser.

Liebe Lore, weiß Du, was das heißen will, wenn man in ein Land reist, wo die bösen Menschen ihren Vater und ihre Mutter schlachten, wenn sie beide ganz mürbe geärgert haben? – Und sie schlachten morgens zum Kaffee kleine Kinder, die stippen sie in den Kaffee oder in die Schokolade, – das hatte der Herr gesagt, den ich eben gesprochen hatte, der mit dem glattrasierten Kinn. Und des Mittags schlachten sie Herren und des Abends zarte Damen, weil diese, beim Nachtmahl verzehrt, nicht so schwer im Magen liegen. Da ich also ein Herr bin, konnte ich nur des Mittags geschlachtet werden. Ich war aber schlau und dachte: ›Dann gehe ich mittags nie aus und schlafe im Menschenfresserland immer über Mittag, denn morgens und abends, wenn ich ausgehe, tun sie mir nichts. Denn dann schlachten sie kleine Kinder und zarte Damen.‹ Es war aber alles Schwindel. Denn die Leute machen einem gar zu gern bang, wenn sie sehen, daß man allein reist und im fremden Lande nicht bekannt ist.

Im Menschenfresserland frißt man gar keine weißen Menschen mehr, wie Du und ich es sind, liebe Lore; Du kannst ruhig schlafen und sollst heute nacht nicht vom Menschenfressen träumen. Die Menschenfresser aßen nur Obst und Gemüse und Kartoffeln und taten keinem Menschen mehr was zuleide. Denn überall, wo ich hinkam, schämten sie sich bereits, daß sie einmal Menschenfresser gewesen sind, und sie wollten nicht mehr daran erinnert sein.

›Nun habe ich großes Glück‹, dachte ich bei mir. ›Nun kann ich auch abends und morgens dort spazieren gehen, da man gar nicht gefressen wird, und nun kann ich den ganzen Tag Märchen für Lore suchen, so wie man Schmetterlingen nachläuft.‹ Die Märchen stehen nämlich dort auf den großen grünen Blättern geschrieben, die am Palmenwaldrand wachsen, hatte man mir erzählt. Denn in den Wäldern dort wohnen Paradiesvögel; wenn die eine ihrer schönen hellgelben Schweiffedern verlieren und diese Feder dann auf ein Baumblatt fällt, so beginnt sie ganz von selbst Märchen zu schreiben, – weil es Paradiesfedern sind. Und die Ameisen bestreichen das Blatt mit Ameisensäure, und dann erscheint die Schrift der Paradiesvogelfeder tief eingeätzt im Blatt. Man pflückt das Blatt ab und liest das Märchen herunter. So hatte ich immer gehört, daß es die schokoladefarbenen Indier machen. Ich wollte es auch so machen. Die Blätter wollte ich pressen, bis ich ein ganzes Märchenbuch für Dich, liebe Lore, beisammen hätte.

Ach, ich dachte es mir so leicht. Und zu Weihnachten 1914 wollte ich schon wieder bei Dir in Altona ankommen und das Märchenbuch Deinen lieben Eltern geben, damit sie es Dir am Heiligen Abend unter dem Weihnachtsbaum mit allen Geschenken schön aufbauten.

Aber nie wird es im Leben, wie man es sich lebhaft vorstellt. Denn das Leben ist ja auch ein Märchen voll Zauberei, voll Verwandelungen, voll Wundern überall. Man weiß nie, wie das Leben einem sein Märchen weitererzählen will. Wenn man abends ermüdet das Ohr aufs Kissen legt, denkt sich das Leben in der Nacht eine neue Überraschung aus. Denn es weiß ganz genau, was man denkt; und damit es nicht langweilig wirkt, tut das Leben am nächsten Tag nie ganz genau so, wie man es sich am Abend beim Niederlegen vorausgedacht hat. Es tut immer was anderes, und das ist die große Kunst des Lebens, immer tags mehr Leben zu erfinden, als sich der Mensch abends ausdenken kann.

Seit ich aber von Altona und Deutschland abreiste, bist Du inzwischen drei Jahre älter geworden. Das macht mir den meisten Kummer. Denn nun, wenn ich Dir wirkliche Märchen heimbringe, liest Du sie vielleicht gar nicht mehr gern. Und dann liegt mein so schwer errungenes Märchenbuch bei der Katze im Winkel, und der Bücherwurm baut seine Gänge hinein, und das Buch zerfällt ungelesen in lauter kleine Schnitzel, vom Bücherwurm zerfressen.

Aber ich habe es versprochen und muß halten, was ich versprochen habe, – mehr muß ich nicht tun. Liest Du meine Märchen gar nicht mehr, und willst vielleicht lieber dann einen Roman von mir geschrieben haben, so ist das Deine Sache und nicht meine. Daß Du dann einen Roman bekommst, will ich nicht wieder voreilig versprechen. Denn heute, wo ich diesen Brief an Dich schreibe, habe ich noch nicht mal das Märchenbuch angefangen.

Ja, stelle Dir vor: auch im Menschenfresserland gab es keine Märchen mehr vorrätig an den Bäumen. Und warum? [...] Weil alle Paradiesvögel an der Küste weggeschossen waren und dort also keine Paradiesvogelfedern zwischen den Palmen herumfliegen konnten. Denn die Damen in Europa brauchten in Berlin, in Paris und in London so viel Paradiesvogelfedern für ihre Hüte und für ihre Abendfrisuren, daß keine einzige Feder im Land geblieben war, die ein Märchen hätte schreiben können. So erklärte mir mein Kapitän, dem ich bei Rückkehr an Bord des Dampfers mein Leid geklagt hatte.

Sehr niedergestimmt, wollte ich von der Neu-Guineaküste durch die Südsee in westlicher Richtung nach Hause. Ich sagte mir, daß die teure, gefährliche und unendlich weite Reise nun für die Katz gewesen sei. Nichts, liebe Lore, war dabei für ein Märchenbuch herauszubekommen. Ich war ganz schwermütig. [ ... ]

Aber wie durfte ich vor Dich, liebe Lore, und Deinen Weihnachtsbaum in Altona mit leeren Händen hintreten, ohne das versprochene Märchenbuch! Da kam ein Unglück, das mir aber Glück brachte.

Der Krieg brach aus und traf mich noch unterwegs in der Südsee, und ich mußte im Javanerland aussteigen und bleiben. Denn die Engländer stellten allen Schiffen nach und führten die deutschen Reisenden von dort fort und setzten sie gefangen.

Ich blieb also im Javanerlande, wo ich nun zum zweiten Mal das Weihnachtsfest im Grünen feiern könnte, wenn mir das Spaß machen würde. Denn hier im Javanerland gibt es keinen Schnee und keinen Winter. Es ist, wie im warmen Treibhaus, immer alles grün hier, das ganze Jahr hindurch.

Daß ich Dein Märchenbuch nicht vergessen habe, liebe Lore, das sollte Dir dieser meilenlange Brief auseinandersetzen. Und ich hoffe, daß ich, bis ich heimkommen darf, doch noch die Märchen erzählt bekommen habe, die ich Dir so gern mitbringen möchte.

Denn sieh, es ist mir gute Hoffnung in diesen Tagen geworden. In der Sankt-Nikolaus-Nacht ist mir Sankt Nikolaus im scharlachroten Gewand erschienen, und hinter ihm ging sein Knecht Ruprecht. Der hielt ein dickes Buch auf einem silbernen Teller. Dieses Buch schlug der heilige Nikolaus vor mir auf. Und denke Dir, es war ein mit roter Tinte geschriebenes dickes Märchenbuch, das er mir zeigte. Der heilige Nikolaus strich seinen langen weißen Bart und sagte sehr freundlich zu mir:

»Ich habe dich von zwölf deiner Freunde zu grüßen. Die zwölf haben dir vor einem Jahr deinen Kummer aus dem Gesicht abgelesen, als du nach Neu-Guinea gekommen warst, um Märchenblätter zu suchen, ohne sie aber an den Palmenbäumen zu finden. Und da du zu allen zwölf gastfreundlich, höflich und freundlich gewesen bist, wollen sie dir gern etwas Gutes erweisen. Denn Gutsein bringt Früchte. Dir bringt es zwölf Märchen.«

»Ach«, seufzte ich erleichtert im Schlaf, »lieber Sankt Nikolaus, darf ich das Buch für Lore gleich behalten?« Und ich griff voreilig nach dem mit roter Tinte geschriebenen Märchenbuch, das da vor mir auf der silbernen Platte lag, die der Knecht Ruprecht in den Händen hielt. Aber der Nikolaus klopfte mir mit seinem goldenen Bischofstab auf die Hand und sagte: »Finger weg! Es ist noch nicht Weihnachten. Bis zu den zwölf heiligen Nächten, die vom vierundzwanzigsten Dezember bis zum sechsten Januar, dem heiligen Dreikönigsfest, dauern, – bis dahin sollst du warten. Deine zwölf Freunde wollen in den heiligen Nächten, jeder einzeln, in jeder Nacht einer von ihnen, dich abholen, und dann sollst du mit jedem durch ein Märchen wandern.

Du mußt aber am Tage selbst niederschreiben, was du nachts erlebt hast. Denn Lore will es von dir geschrieben haben, das Buch, und von keinem andern. Dieses Märchenbuch hier aber bleibt im Himmel, im Bücherschrank der Kinder dort. Dieses Buch kommt nur durch dich auf die Erde, dadurch, daß dich deine zwölf Freunde in den zwölf heiligen Nächten in diese Märchen einweihen.

Also rüste dich und mache dich klug, daß du alles gut behältst, was du erleben wirst, damit du es Lore zu Weihnachten unter den Weihnachtsbaum legen kannst, das neue Märchenbuch. Das Buch aber sollst du benennen: ›Das Märchenbriefbuch der heiligen Nächte im Javanerlande‹. So soll es heißen.«

Da dankte ich in heller Freude dem alten, silberhaarigen lieben Sankt Nikolaus, und in der Eile meiner Freude erwischte ich statt des Zipfels seines roten Armels den Zipfel seines weißen Bartes, den ich dankbar an die Lippen führte und ehrfürchtig küßte. Er nahm es mir nicht übel und schlug das rotgeschriebene Buch zu, bestieg mit dem Knecht Ruprecht sein schön lackiertes schwarzes Auto und fuhr unter den Alleebäumen von Garoet davon, nachdem er mir nochmals zugewinkt hatte. Ich sah noch eine Weile in der Ferne den goldenen Bischofstab blitzen, – dann war ich allein.

Also, heute abend beginnt nun die erste der heiligen Nächte, liebe Lore, und morgen will ich Dir genau das Märchen erzählen und niederschreiben, das ich heute nacht erleben werde! [ ... ]

Dein reisender Dichteronkel

Max

Nachschrift: Du, Lore, ich habe einen Beovogel; weißt Du das schon? Ich hab ihn auf einer Versteigerung im Hause eines alten Holländers hier gekauft. Er spricht beinah wie ein Mensch. Weißt Du, ein Beovogel kann gar kein Blut sehen; wenn er Blut zu sehen bekommt, muß er sterben. Er sitzt in einem Holzgitterkäfig; der steht auf meiner Veranda. Schade, daß Du ihn nicht sehen und hören kannst. Er bekommt gekochten Reis und roten starken Pfeffer, der so schrecklich auf der Zunge brennt, zu fressen. Jeden Tag bekommt er auch eine reife Banane oder ein Stück Papajafrucht, die schmeckt noch besser als Melonen. – Ich habe den Vogel sehr gern, da er jetzt den ganzen Tag mein einziger Gesellschafter ist. Er ist schön schwarzblau gefiedert und hat einen weißen kurzen Streifen am Flügel, wie eine Elster. Aber am Kopf hat er richtige Ohrwascheln, die sind so goldgelb wie Butterblumen. Diese goldnen Ohrbehänge kleiden ihn zu seinem rotgelben Schnabel sehr gut. Das Schönste an ihm ist aber, daß er sprechen kann; wie ein Waschweib am Waschtrog schwatzt er. Und alles durcheinander. Aber wenn man ihn gut kennt, dann ist das, was er zu sagen hat, gar kein Wirrwarr, er erzählt ganz deutlich, was ihn bewegt und was er sich denkt. Wir verstehen uns sehr gut, mein Beo und ich.

Guten Abend, Lore!

Dein Onkel Max


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