Max Dauthendey
Das Märchenbriefbuch der heiligen Nächte im Javanerlande
Max Dauthendey

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Geschichte der weißen Schildkröte

Liebe Lore.

»Ein Schnaps«, sagte mein Großvater, »verbrennt noch nicht die Seele, – erst der zweite Schnaps tut es.« So ging es mir. Ich hätte mir nicht wieder ein weibliches Wesen wünschen sollen; aber ich war hartnäckig, und als mich gestern abend eine Stimme fragte: »Was wünschst du dir heute?«, rief ich übermütig: »Eine Göttin!«

Aber ich will der Reihe nach erzählen.

Offen gesagt: je näher gestern der Abend kam, desto mehr fürchtete ich mich vor der Nacht. Ich wollte und konnte mit dem besten Willen nicht in der Nähe meines Beokäfigs bleiben. Ich hatte große Scheu vor dem schwarzen schwätzenden Herrn Vogel auf meiner Veranda. Und ich dachte mir: ›Ich gehe spazieren, so wie ich es manchmal bei Sonnenuntergang getan.‹ Heimlich dachte ich aber: ›Ich gehe gar nicht nach Hause heute abend, um nicht verzaubert zu werden.‹

Wie ich die Galerie des Hotels im ersten Stock oben entlang gehe, begegnet mir ein älterer deutscher Herr, der auch hier in Garoet wohnt. Er war, wie ich auch, auf einer weiten Seereise, als der Krieg ausbrach, und er flüchtete hierher nach Java und lebte auf den Frieden wartend; und voll Sehnsucht, heimzukommen, verbringt er seine Tage in dem gleichen Gasthaus wie ich. Dieser Herr geht nachmittags, wenn draußen kein einladendes Wetter ist, auf der langen Galerie auf und ab, er hat dann eine Schrittmesseruhr in der Tasche und macht so seine vier- bis fünftausend Schritte. Er ist etwas genau und gewissenhaft in allen Dingen, da er unverheiratet ist und seine Lebenszeit nie von Kindergeschrei und weiblichen Launen angenehm unterbrochen wurde; deshalb beschäftigt er sich am liebsten mit seiner Zeit, die ihm reichlich zur Verfügung steht, und die ihm Frau und Kinderlärm ersetzen muß. Ich finde, er verwöhnt diese seine Zeit zu sehr. Er kommt auf die Minute pünktlich zu Tisch, nur damit seine Zeit sich nicht beleidigt fühlt, die er nie verletzen möchte, da sie ihm, wie gesagt, das Liebste auf der Welt seiner reifen Jahre geworden ist.

Dieser Herr heißt Herr Dauer, welcher Name auch auf Zeit deutet. Er wäre sicher der Erfinder aller Zeitmesser geworden, der Herr Dauer, wenn nicht die Uhr schon vor ihm auf der Welt gewesen wäre. Wenn ihn der deutsche Kaiser einmal wegen seiner Pünktlichkeit adeln wollte, müßte er ihm vier Uhrzeiger in das Wappen geben: Sekunden-, Minuten-, Stunden- und Schrittzeiger. Also, diesem Herrn Dauer begegnete ich, und ich war recht froh, jemandem zu begegnen, und wünschte, daß er bei mir bleiben sollte, damit ich meine Märchennacht nicht allein erleben müßte. Denn, wie gesagt, ich hatte nach den Erfahrungen der ersten Nacht Angst vor der zweiten Märchennacht.

Der Herr Dauer ließ sich aber auf der Galerie des Gasthofes gar nicht in seinem Marschieren unterbrechen. Und als er eine Sekunde stehen geblieben war, um zu grüßen, da ging er schon wieder weiter und zog seine Schrittmesseruhr aus der Westentasche und sagte zu mir: »Ich habe erst zweitausenddreihunderteinundvierzig Schritte gemacht. Ich muß mindestens noch zweitausenddreihundertzweiundvierzig Schritte dazu machen.« Und fort war er. Seine Schritte schwangen sich auf dem Bretterboden der Galerie entlang; er lief mit solchem Eifer, daß er gar nicht merkte, wie alle Fußböden der neben der Wandelgalerie gelegenen Fremdenzimmer des Gasthauses bebten, als wären sie Sprungfedermatratzen. Und er merkte in seinem edlen Wandereifer auch nicht, daß sich hinter ihm manche Tür öffnete und manch ein Kopf eines gestörten Gastes ihm nachsah, ob der Herr Dauer noch immer nicht seine genügende Kilometerzahl abgelaufen hätte. ›Aber wenn einer seine Zeit liebt, dann ist er gerade so verliebt wie einer, der eine Göttin liebt‹, dachte ich mir.

Ich muß noch rasch hinzufügen, daß der Herr Dauer seines Berufes Spielkartenfabrikant ist. Ich sah ihn oft in diesen Monaten über Reihen von ausgebreiteten Spielkarten sitzen, die er aufmerksam betrachtete, um sie zu studieren. Ich denke mir, er will neue Kartenspiele erfinden nach Friedensschluß, wenn er wieder nach Europa zurückgekehrt ist. Es ist ein sauberer, immer peinlich reinlich gekleideter Herr, er hat silberig blondes Haar, eine blasse, lilienunschuldige Gesichtsfarbe und trägt immer einen elfenbeinweißen Anzug. Diese Elfenbeinfarbe, die ihn umgibt, macht ihn aussehen, als ob ihn ein reinlicher Zuckerbäcker mit Schlagsahne bekleidet habe. Und man muß glauben, daß er unter dem schlagsahnehaften Anzug ein Herz mit Ananasfüllung trägt, der Herr Dauer, denn er lächelt so gern duftig. Ich kann mich nicht anders ausdrücken, – er lächelt kühl und duftig, so wie eine Ananas kühl und duftig duftet. Ich stand also und überlegte noch, wohin ich meine Schritte wenden sollte, um vor der zweiten Märchennacht auszureißen. Da kam, straff wie ein Uhrzeiger und mit den blaugrauen Augen die Entfernung der langen Galerie messend, der Herr Dauer wieder zurück. Er ging so schnell, und ich war so schwach von Entschluß, daß der Wind, den sein rascher Gang in der, ruhigen Luft des Abends machte, mich mitriß. Ehe ich es mir versah, rannte ich neben dem Schrittmesser her, wie ein mitfliegendes Stückchen Papier. Am Ende der Galerie riß der Herr Dauer wieder die Schrittuhr heraus und sagte halblaut zu sich selbst: »Zweitausendvierhundertvierundachtzig Schritte.«

»Es geht schnell, aber doch langsam, – wie man's nimmt«, sagte ich, und ich meinte damit, daß es lange dauern würde, bis er die Schrittzahl fünftausend erreicht haben würde. Denn mich langweilte dieser Sdirittspaziergang im Auftrage der Zeit des Herrn Dauer im Grunde sehr. Ich lief aber unwillkürlich, halb mitflatternd, halb in Verzweiflungsangst vor dem bald anbrechenden Märchenabend, neben Herrn Dauer her. Denn eben sah ich im Osten rosa Wolken aufleuchten, – das war das Zeichen, daß die Sonne im Westen verschwand und die Tropennacht pünktlich einsetzte.

Ich sah zu meinem Vergnügen: der Herr Dauer, der nur seine Schrittmesseruhr im Sinn hatte, merkte gar nicht, daß ich da an seiner Seite nebenherhopste. Denn ich hatte noch nicht die richtigen Schrittmaße, die einem die Schrittmesseruhr vorschrieb, in den Takt meiner Beine aufgenommen und hopste ziemlich unregelmäßig, aber ausdauernd neben dem sehr geregelten Schrittgang des Herrn Dauer, Spielkartenfabrikant aus Chemnitz. Ich glaube, ich wäre am liebsten den ganzen Abend neben dem genannten Herrn hergelaufen, nur damit mir keine neue Tierverwandlung angetan würde, – denn ich konnte ja gar nicht wissen, welches Tier heute nacht auf mich lauern würde, um mich zu verwandeln. Sonderbarerweise kam es mir aber vor, als ob der Herr Dauer nach einer Weile beim Dauerlauf sich seine beiden Beine kürzer lief. Er wurde bei jeden hundert Schritten, die wir auf der Galerie zurücklegten, kürzer und kürzer. Aber da er selbst es nicht zu merken schien, wollte ich den älteren Herrn nicht unnötig auf etwas Peinliches aufmerksam machen. Als er mir aber mit dem Kopf nur noch bis an die Hüfte reichte, hielt ich es für meine Pflicht, zu sagen: »Herr Dauer, wollen Sie nicht einmal still stehen und auf Ihre Uhr sehen, ob wir nicht bei fünftausend angekommen sind?« Denn wenn ich auch am liebsten die ganze Nacht weitergelaufen wäre, so schien es mir doch nicht anständig, auf Kosten eines andern meinen bescheidenen Wunsch durchzusetzen. Der gefragte Herr aber war gänzlich verstummt. Ich bückte mich öfters, um ihm ins Ohr zu rufen, er solle still stehen. Aber wie konnte ich denn sein Ohr finden, er lief ja immer weiter! Und überdies hatte er Watte im Ohr gegen Erkältung. ›Was ist das für ein Laster, die Zeit so zu lieben, daß man nichts hört und nichts sieht als den Schritt der Zeit, und daß man nicht mal merkt, wenn man sich dabei die Beine unterm Leib wegläuft!‹ so mußte ich tiefseufzend denken. ›Die Zeit hat j a gar kein Ziel, und man kann, wenn man im Schritt mit ihr läuft, nicht mal was erleben, sondern man läuft an allem vorbei und ist der Sklave der Zeit geworden.‹

Der Herr Dauer war nun so klein, daß er mir nur noch bis ans Knie reichte.

»Aber Herr Dauer!« habe ich einige Male vorwurfsvoll ausgerufen, – er hörte nicht. Am Ende der Galerie war eine Treppe in den Garten hinunter, und unten war ein überdachter Gang, der in den Speisesaal führte. Mit einemmal entwischte mir Herr Dauer mit dem Ausruf: »Fünftausend!« und sprang zur Treppe. Doch die Stufen waren zu hoch für seine abgelaufenen Beine. Aber was machte nun der Herr Spielkartenfabrikant? Er legte sich einfach ein wenig auf die Seite, und ließ sich die Holztreppe hinunterrollen, als wenn er das monatelang jeden Abend nach seinem Dauerlauf so und nicht anders ausgeführt hätte. Es kam eben ein javanischer Zimmerjunge der Gasthofdienerschaft mit einem Brett in der Hand, auf dem ein Glas voll Limonade stand, die Treppe herauf. Der hatte gerade noch Zeit, die Beine auseinander zu spreizen und den rollenden kleinen Herrn zwischen ihnen hinunterfallen zu lassen. Der Junge schien gar nicht darüber verwundert. Er sah mich im Gegenteil höchst erstaunt und mißvergnügt an, als ich über den treppabwärts rollenden Herrn, der wie ein rollendes geschältes hartes Ei aussah, ein wenig lächeln mußte.

Unten stand Herr Dauer wieder so ganz selbstverständlich auf, als wäre es der gewöhnliche Lauf der Welt, daß man Treppen hinunterrollt, wenn es einen besser dünkt. Ich sprang hinterher wie ein schlenkriger Jagdhund, und im Speisesaal sah ich den kleingelaufenen Herrn vor mir nicht etwa den für ihn geradesten Weg unter den Tischen durchlaufen, nein, er ging anständig um die Tische und Stühle herum, als ob er mindestens noch so hoch wie eine Stuhllehne wäre.

Aus dem Speisesaal führt dann auf der entgegengesetzten Seite eine grüne, immer blank polierte Kachelsteintreppe wieder hinunter in eine andere Hotelgalerie des Vordergebäudes. Weiße Blumenvasen, mit Blattpflanzen darin, stehen auf jeder Stufe zu beiden Seiten der grünen Treppe, und unten links ist im dortigen kleinen Hofraum ein viereckiges, mit Schlingpflanzen schön grün umwachsenes großes gemauertes Wasserbecken, in dem die Fische lebend aufbewahrt werden, die für die Gasthofküche bestimmt sind.

Diese zweite Treppe schlitterte der Herr Dauer, da sie glatt wie Eis war, einfach auf die Weise hinunter, daß er sich auf die oberste Stufe niedersetzte und dann abwärts glitt. So machte er es sich eigentlich recht bequem. ›Wohin will er nur?‹ dachte ich. Und lief dem Herrn nach, als ob ich ihm helfen müßte, wieder seine einstige Größe zurückzuerlangen.

Ich konnte ihn kaum einholen, denn ich schlitterte die Treppen nicht so schnell hinunter wie mein Vordermann.

Ich fand ihn, unten angekommen, nicht mehr vor. Ich suchte die ganze untere Galerie ab, aber da war kein Mensch. Endlich entdeckte ich links im Hofviereck den Herrn Dauer, aber er lief nun nicht mehr auf zwei Beinen, sondern er hatte es sich noch bequemer gemacht: er lief auf Händen und Füßen flach am Boden niedergeduckt auf das Wasserbecken los.

›Er sieht wie eine weiße Schildkröte aus, in seinem elfenbeinweißen Anzug und so flach am Boden, mir den breiten Rücken und ganz kleine, vollständig abgelaufene Beine zeigend‹, dachte ich bei mir. Und kaum hatte ich es ausgedacht, so springt der auf allen Vieren rennende Herr in das Wasserbecken und paddelt darin herum. Herrgott, es war ja gar nicht mehr der Herr Dauer, den ich da sah, es war ja eine richtige, schöne weiße Schildkröte! Ich sah das Wasser vor mir, und mitten drin eine weiße Schildkröte, die da im dunkeln Wasser hell und harmlos dahinglitt, als ich den Rand des breiten Beckens erreicht hatte.

»Herr Dauer, was machen Sie denn da?« fragte ich, horchend, ob mir die weiße Schildkröte, die dem Herrn so ähnlich sah, antworten würde.

»Ich bin nicht Herr Dauer, ich bin eine Schildkröte«, sagte das edle Tier mit Anstand und hob das niedliche Köpfchen aus dem Wasser, indessen es mit vier saubern, niedlichen Händchen, die unter dem blanken elfenbeinfarbenen Schildrücken vorsahen, herumschwamm und sich an der Oberfläche des Wassers hielt.

»Wenn Sie nicht Herr Dauer sind, dann bin ich eine grüne Zitrone«, rief ich ärgerlich und unvorsichtig. Ich fürchtete schon, ich würde nun zusammenschrumpfen und mich zu einer Zitrone verwandeln, denn es war dunkel geworden, und der Märchenabend, mein zweiter, war angebrochen. ›Aber eine weiße Schildkröte möchte ich auch nicht werden‹, dachte ich rasch hinterher.

»Was wollen Sie denn werden?« fragte die weiße Schildkröte und blinzelte listig mit bläulichen Augen im butterweißen Köpfchen.

Das Wundern kam mir abhanden; ich wunderte mich schon über gar nichts mehr, auch nicht darüber, daß die Schildkröte sprach, denn ich hatte sie ja zuerst angeredet und eine Antwort erwartet. Und weil ich mir wünschen sollte, etwas zu werden, so wünschte ich mir, ein Gott zu werden. Mensch war ich schon so lange. Ein Tier, ein Vogel, war ich gestern gewesen. Heute wollte ich für die Nacht ein Gott sein.

»Ja, dann kannst du aber nur ein Buddhagott werden, andere Göttergestaltenkennen wir hier im Javanerlande nicht«, antwortete mir meine weiße Schildkröte.

»Gut, ich werde ein Buddhagott und wünsche mir, eine Göttin zu küssen«, sagte ich fröhlich lachend und nahm die Märchennacht noch immer nicht ernst.

»Berühre mit dem Zeigefinger mein Rückenschild, dort, wo in der Mitte das Buddhabild eingegraben steht!« sagte mir meine gute Schildkröte und schwamm ganz nah an den Beckenrand heran, wo ich stand. Ich bückte mich und tat, wie sie mir gesagt hatte. – Nichts geschah. Die Schildkröte im Wasser schien nur etwas zu wachsen und größer zu werden, aber mit mir ging nichts vor. »Setze dich jetzt mit gekreuzten Beinen auf meinen Rückenschild, dort, wo das Buddhabild ist!« Ich stieg vorsichtig vom Rand des Beckens und versuchte auf den glatten Rücken der Schildkröte zu klettern. Es gelang mir seltsamerweise ganz leicht. Kaum wünschte ich dort zu sitzen, so saß ich auch schon fest mit gekreuzten Beinen und fühlte mich sicher, wohl und ruhig auf dem Schild, als ob ich mein Leben lang nie wo anders gesessen hätte. »Nun bringe ich dich zur Göttin des südlichen Ozeans. Denn sie ist gerade heute zu sprechen und hat Empfang«, tönte es unter meinem Sitzschild hervor.

»Tu das, meine beste Schildkröte!« sagte ich sanft und bedächtig. Ich begriff nur nicht, wie wir beide aus dem Fischbecken des Gasthofes zum südlichen Ozean gelangen sollten.

Aber die Schildkröte bewegte nur die vier weißen Pfötchen ein wenig und schwamm nach der Mitte des Beckens. Ich sah, wie sich um uns ein Wasserkreis bildete, ein zweiter und ein dritter, und alle Kreise wuchsen zur Ferne; und der erste wurde schon so groß, daß ich ihn nicht mehr mit den Augen verfolgen konnte; und als ich rundum sah, hatte der Wasserkreis den steinernen Beckenrand weit in die Ferne geschoben. Ich sah, wie das Wasser des Beckens sich ausbreitete. Alles, was um das Beckenufer war, zog weit fort und verschwand.

Und ohne daß wir von der Stelle kamen, waren wir mit einemmal mitten in einem weiten, uferlosen Ozeanmeer. Es wurde mir aber gar nicht bang vor dem vielen Wasser. Ich fühlte mich auf meiner runden Schildkröte ruhiger als im größten Schiff. Ein uferloses stilles Glücksgefühl war in mein Herz eingezogen, und es war mir, als sei alles Leben ein gereimtes Gedicht, – so im Takt von Rhythmus und Harmonie bewegte sich mein ganzes Wesen, wenn es den ruhig rudernden weißen Pfötchen der Schildkröte zusah.

Es wurde am Himmel nicht heller, sondern ich merkte, daß der Abend immer dunkler wurde, aber eine milde Helle ging vom Rückenschild der weißen Schildkröte aus; und im Kreise um die Schwimmende war das Wasser auf Armeslänge hinaus durch das Licht, das von der Schildkröte kam, milde golden erhellt.

›Das ist eine wunderschöne gefahrlose Fahrt zur Königin und Göttin des südlichen Ozeans‹, dachte ich still für mich. ›Ich bin der lieben, edlen Schildkröte von Herzen dankbar, daß sie mich in Frieden dahinführt.‹

»Versuche an nichts zu denken, als an dich selbst und an die Göttin des südlichen Ozeans«, sagte die schwimmende Schildkröte. Ich kannte aber die Göttin gar nicht; und da ich nichts Besseres wußte, stellte ich mir, überzeugt, daß es auch nichts Besseres geben könnte, das Gesicht der Frau vor, die ich in Deutschland am liebsten habe. Und an sie und mich dachte ich gern.

Mit der Zeit erhellte sich das Meer auch an andern Stellen, und ich sah, daß dort lange Züge von Fischen in derselben Richtung zogen wie meine Schildkröte; auch sie leuchteten aus sich selbst, aber nicht golden, sondern grünlich wie schwimmende Smaragdsteine.

Und dann sah ich rötliches Licht im Wasser erscheinen, und ich erkannte Scharen von rubinäugigen kleinen Seepferdchen, – auch sie zogen denselben Weg wie ich, und die roten Rubinaugen beleuchteten ihren Weg.

Und dann sah ich Scharen von schwimmenden Frauen im Wasser erscheinen. Sie hatten aber nur den Oberkörper von Frauen; ihr Unterkörper, wenn er sich erhob, war der Leib einer großen Seeschlange. Und manch eines dieser Weiber hatte einen Schlangenleib, länger als eine Meile. Diese Frauen glänzten am Fischleibe in bläulichem Licht; rosafarben aber, wie fleischfarbige Muscheln, war der Schein ihrer Oberkörper. Und wenn man den Schlangenunterleib nicht betrachtete, so waren sie lieblich anzusehen, diese Frauen, und wenn sie lächelten, begannen die Wasser rund um sie vor Freude zu singen; ich aber verstand die langen Lieder des Wassers nicht, denn das Meer sang hier in der Sprache des südlichen Ozeans.

So kamen wir harmlos weiter, und es fiel mir keinen Augenblick ein, an etwas anderes zu denken als an die Frau, die ich liebte, und an mich selbst. Dann aber hörte ich dumpfe Gongschläge, weithin dröhnende, und das Wasser wurde weißer und weißer von Schaum, und der Schaum leuchtete, wie Schnee bei Nacht leuchtet, und es wurde zuletzt auf dem Meere taghell vom Schaum, der auch seine Lieder sang, die aber alle einen knisternden Laut hatten, so wie perlender Schaumwein in einem Glase knisternd singt. Aber am Himmel oben blieb es dunkle Nacht, und nur das Meer unten war taghell leuchtend. Es schien auch kein Mond und kein Stern am Himmel. Doch das Dunkel oben war nicht furchtbar und erschreckend; die Dunkelheit dort oben war, als sei sie erfüllt von Millionen sanfter, dunkler Augen, die alle voll Liebe auf das helle Meer herabsahen. Und vor liebenden sanften Augen kann man doch unmöglich Furcht bekommen. Zuletzt war das Meer wie schäumende weiße Milch, und die Gongschläge waren von großer Musik aus Meermuscheln begleitet, und ich sah: in der Mitte des weißen Meeres bildete das schäumende Meer eine große herrliche Laube. Und der Schaum stieg dort in Gestalt von Tausenden von weißen Lilien in die Höhe, und die Lilien bildeten weiße Blütenketten, die hingen frei in der Luft im Dunkel. Die Lilienketten waren aber alle nur von der Freude hochgetragen, daß sie sich zu Häupten der Göttin des südlichen Ozeans ranken durften. Und auch aus den Ästen weißer und rosiger Korallen war schön die Laube gebildet, in der ich bald die ersehnte Göttin sehen sollte.

»Sie hat heute Empfang«, hatte die Schildkröte am Anfang der Schwimmfahrt zu mir gesagt.

»Weiter kann ich dich nicht bringen«, sagte die Schildkröte jetzt, als der Schein des Schaumes rosig wurde; denn weithin leuchteten die rosigen Schultern der Göttin. »Und hier, wo das Wasser vom Schein der Göttin leuchtet, dürfen nur die persönlich Eingeladenen hintreten. Nimm aber die Watte aus meiner rechten Ohrhöhlung und stelle dich furchtlos auf das kleine Watteklümpchen, – es wird dich zur Göttin bringen.«

»Sei bedankt, liebe Schildkröte«, sagte ich, »aber erwarte mich hier später, um mich heimzubringen!«

»Das wird sich finden!« sagte die kluge Schildkröte, nicht verneinend und nicht bejahend, und immer vornehm gelassen und friedlich. Ich zog mit dem Fingernagel meines Zeigefingers das Watteklümpchen aus dem rechten Ohr der Schildkröte, legte es neben mich in das weißschäumende Wasser, und sogleich breitete sich die Watte aus und wurde zu einer großen weißen Seerose, die war noch größer als die Schildkröte und hatte neuntausendneunhundertneunundneunzig Blätter. Dieses wußte ich sogleich, als ich die große schwimmende Blume betrachtete.

Ich stieg von der Schildkröte in die Mitte der Blume, und die Schildkröte tauchte sofort unter und war verschwunden.

Kaum aber war ich in die Mitte der neuntausendneunhundertneunundneunzig Blütenblätter getreten und hatte mich mit gekreuzten Beinen niedergesetzt, wie es einem Buddha geziemt, da begann die große weiße Blume taghell golden wie die Sonne zu leuchten, und nun erhellten sich auch die dunklen Augen des Himmels, und der Himmel schaute mit reinen blauen Augen herunter, und es war goldener Tag. Nur mit dem Unterschied, daß die Lotosblume, die Seerose, wie das goldene Spiegelbild einer Sonne mit neuntausendneunhundertneunundneunzig goldenen Strahlenspiegeln auf dem Meere schwamm; doch am blauen Himmel war keine Sonne zu sehen, – der Himmel bekam sein Licht von der goldenen schwimmenden Rose.

Die Blätter der Blume begannen nun, als sich die Rose in Bewegung setzte, auch zu singen, und je höher die Blätter sangen, desto höher hob sich die goldene Rose aus dem Wasser; sie schwebte zuletzt frei in der blauen Luft wie die Sonne selbst.

Mir wurde ganz wunderlich zumut. Aber das alles schien mir nichts Außergewöhnliches zu sein, dachte ich dabei an das Gesicht der Frau, die ich liebte.

»Es ist die Liebe, die dich trägt«, sangen die Rosenblätter mir zu. »Es ist die Liebe, die uns alle bewegt«, sangen die weißen Lilien der hohen Meereslaube zurück und schaukelten silberweiß unterm herrlich blauen Himmelszelt.

Auf jedes Rosenblatt aber der neuntausendneunhundertneunundneunzig Blätter war ein Lied geschrieben, ein Liebeslied, und alle Blätter zusammen bildeten ein einziges zusammenhängendes großes Liebeslied, das war ganz wundervoll anzuhören.

Und wie ich mit meiner Blume mitten in die Laube kam, stieg eine wunderschöne Frau aus dem Meer und stand auf dem zehntausendsten Blatt meiner Rose. Und dieses schloß sich meiner Blume an, und die Göttin des südlichen Ozeans stieg zu mir auf die goldene, jetzt vollkommene Seerose.

Kein Blatt fehlte nun mehr an der Rundung der Rose, und das schönste Lied war gerade auf jenes Blatt geschrieben, das die Göttin mir aus der Meerestiefe mitgebracht hatte.

»Nun hast du mir zehntausend goldene Rosenblätter und zehntausend Lieder gegeben; und niemals soll es anders sein«, sagte ich zu der Göttin.

»Niemals soll es anders sein«, anwortete sie, und wir waren, vom Gesang der Wellen gehoben, weit in den blauen Himmel gestiegen, aber unter uns lag nun das Meer nicht mehr mit weißem Schaum bedeckt, sondern mit hunderttausend großen goldenen Seerosen, und alle waren mit goldenen Liebesliedern beschrieben, und alle Rosen hatte mir die Göttin des südlichen Ozeans gegeben. So weit das Meer reichte, war Rose an Rose, und jede Rose hatte zehntausend goldene Rosenblätter, und jede hatte zehntausend Liebeslieder auf den goldenen Blättern. In jedem zehnten Jahre hatte ich eine Rose erhalten. Und da das Meer weithin mit Rosen bedeckt war, konnte ich an den Rosen nicht mehr die Jahre abzählen, die ich die Göttin der Südsee geliebt hatte. »Gestern sollte ich dir als Prinzessin begegnen«, sagte die Göttin lächelnd, »aber im letzten Augenblick wurde ich daran verhindert, – ich verfehlte den Weg, und als ich zu den Goldregenbäumen kam, fand ich dich dort nicht.«

Ich wurde rot bei dem Gedanken, daß mich der javanische Kaiser gestern als Beo dem Tode preisgegeben hatte.

»Desto höher bist du heute wieder gestiegen«, antwortete mir die Göttin, mich aus tiefstem Herzen anlächelnd und sanft errötend. Und da wir umschlungen auf der goldenen Rose saßen und auf die Meereswelt sahen, sagte die Göttin: »Es fehlt nichts mehr zu unserem Glück; sieh, das ganze Meer, so weit wir schauen, hat sich in den Jahren, seit wir uns liebten, mit goldenen singenden Rosen bedeckt.«

»Ja«, sagte ich, »in Göttergestalt haben wir nun zehntausendmal zehntausend und mehr Jahre das Glück der Liebe erlebt; laß uns deshalb heute einmal einfachste und niedrigste Menschengestalt annehmen, und dann wollen wir sehen, ob wir als schwache Menschen nicht auch so stark glücklich werden können, wie wir Götter es bisher gewesen sind.«

Sie stimmte mir nicht laut zu. Aber sie liebte mich auch zu sehr, um mir nicht jeden Wunsch freudig erfüllen zu wollen. Und darum nickte sie nur und lächelte milde und voll Güte über meinen seltsamen Wunsch.

Ich aber fuhr fort: »Die Viertelstunden sollen heute Jahre vorstellen, und der Tag ein Menschenleben; laß uns ans Land gehen und dort die Gestalten annehmen, die uns am Wege begegnen.« Sie zögerte ein wenig, aber dann nickte sie. Und sie winkte, und alle Rosen versanken, und die Laube aus Lilien und Korallen zerstob ins Leere, und an ihre Stelle trat die rauschende, hochkochende, wilde Brandung der Südküste Javas.

Und unsere goldene Rose senkte sich zum Wasser und wurde ein einfacher Kahn, und wir ließen uns von der Brandung ans flache Sandufer werfen, und unser Kahn zerfloß dort im Sande in Nichts; wir aber waren unsichtbare Luftgestalten, die noch keinen Körper hatten. Und Hand in Hand gingen wir über den aschgrauen Dünensand, ohne einen Fußabdruck zu hinterlassen.

»Gehe du zur Linken, ich wende mich zur Rechten«, schlug ich vor. »Das erste Mädchen von sechzehn Jahren, dem du begegnest, von dessen Herz nimm Besitz, ich werde von dem Herzen des ersten jungen Mannes von neunzehn Jahren, der mir begegnet, Besitz ergreifen und sein Leben leben. Wir wollen nicht sagen, wo wir uns treffen; aber wenn wir uns wiedersehen, gib du dich mir dadurch zu erkennen, daß du mir den Vers sagst: ›Es ist die Liebe, die uns trägt; es ist die Liebe, die uns alle bewegt!‹ Und so werde ich auch tun. Habe ich aber den Vers vergessen, oder vergißt du ihn, so haben sich unsere Herzen trotz den zehntausendmal zehntausend Jahren nie gekannt, und dann sollen alle goldenen Rosen vergehen, und alle Liebeslieder sollen vergessen sein. Dann müssen wir auch als Götter wieder von neuem beginnen, uns lieben zu lernen.«

Also taten wir. Und ich ging zur Rechten und fand, als ich einen Tag gewandert war, einen jungen Mann von neunzehn Jahren, der saß am Wege und war arm und hütete Ziegen. Und ich, da ich immer noch unsichtbarer Gott war, blies ihm seine Seele in den Augen und im Herzen aus und schickte sie als kleine Wolke in den Himmel. Als der junge Mann dann also entseelt im Grase lag, betrachtete ich ihn und sagte zu ihm: »Merke den Vers: Es ist die Liebe, die uns trägt; es ist die Liebe, die uns alle bewegt.« Und ich trat in das tote Herz des jungen Menschen ein, und dieser stand auf, und ich ging als junger Ziegenhirte unter den Bäumen hin. Als es Abend wurde, stand ich da und wußte nicht, wohin ich die Ziegen heimtreiben sollte. Ich pfiff ihnen auf meiner Bambusflöte und lehrte der Flöte den Vers, den ich im Herzen trug, und wanderte fort, und die Flöte sang den Vers vor mir her. Und als ich weiterging, sprangen die Ziegen einen Hügel hinauf, und ich folgte ihnen, und auf dem Hügel oben stand unter den Bäumen ein leeres Häuschen, und neben dem Haus war ein Ziegenstall, der war auch leer, und die Türe stand offen. Die Ziegen drängten aber von selber in den Stall, und ich erkannte an der Selbstverständlichkeit der Tiere, daß sie hier zu Hause waren und dieses mein Häuschen war.

Ich wußte aber nicht, ob ich noch Vater und Mutter oder Brüder oder Schwestern hätte, die zu diesem Hause kommen würden.

Im Hause aber fand ich zwei Kammern hinter dem Vorraum, in dem ein kleiner gemauerter Herd stand.

In der einen Kammer erkannte ich Frauenkleider und Frauenjacken aus dünnem Florstoff. Und ein Kästchen mit Frauenhaarnadeln. Auch stand dort ein Webstuhl, auf den eine angefangene Webarbeit gespannt war.

In der anderen Kammer waren Werkzeuge, ein Messer, eine Axt und andere Dinge, die darauf schließen ließen, daß hier ein Mann wohnte.

Ich sah aber nach einer Stunde, als ich vor der Türe saß, ein sechzehnjähriges junges Mädchen, das trieb am Fuße des Hügels eine große Schar Enten vorüber und sang dabei ein Lied.

›Oh‹, dachte ich, ›sollte es möglich sein, daß meine Göttin mir heute noch begegnet?‹ Ich ging rasch den Berg hinunter und verfolgte das junge Ding von sechzehn Jahren. Sie sah mich kommen, wendete sich um und blieb mit einem Lächeln wartend unter einem Papajabaum am Wege stehen.

»Wie heißt du?« fragte ich das hübsche Kind.

»Ach«, sagte sie, »verstelle dich nicht so, Amat!« Und sie schlug mir leicht mit der dünnen Gerte, die sie in der Hand hatte, über den Arm. Da wurde mein Blut von dem leichten Schlage so warm, als ob es Feuer geworden sei. Und ich dachte mir: ›Sollte meine Göttin mich schon gleich erkannt haben?‹ Und ich lachte und umfaßte die Kleine, um sie an mich zu drücken und ihr den Vers zu sagen.

Aber sie wich mir gewandt aus und rief: »Seit wann küßt denn ein Mann die Schwester seiner Frau auf diese Art? Pfui, schäme dich, Amat!«

Ich wußte nun gar nicht, was ich tun sollte. Ich sah ein, daß das Mädchen gar nicht meine Göttin war, und ich lachte und fragte: »Gehst du nach Hause?«

»Ja«, sagte sie, »ich gehe zu meinem Mann und werde deine Frau von dir grüßen. Dort kommt mein Mann mit unserm Kinde.«

Und da ich von weitem einen Mann mit einem Kind an der Hand kommen sah, murmelte ich einige dumme Worte, ließ sie stehen und ging den Hügel hinauf. Als ich oben zum Hause zurückkam, saß da am Boden ein Mann vor der Türe und schlug mit seinem langen Messer Gras, das vor dem Hause wuchs. Er nickte und sagte zu mir: »Das sind deine Ziegen, Amat, dort im Stall; ich will ihnen für die Nacht etwas Grasfutter geben. Ich nehme an, daß du die Nacht mit deinen Ziegen hierbleiben willst, weil du deine Tiere in meinem Stall untergestellt hast. Du fürchtest wohl das Gewitter, das aufzieht, aber ich fürchte mich nicht. Seit mein Weib gestorben ist, ist mir das Leben zuwider.« Ich staunte über seine Rede. Es war gar kein Gewitter im Anzug, schien mir. Doch ich glaubte, er fühle das Gewitter vielleicht als Reißen in seinen Gliedern voraus, indessen ich das Wetter noch nicht kommen sehen konnte. Was er aber da alles von seinem Weibe erzählte, wunderte mich besonders, denn er war noch ein ganz junger Mann, und sprach so lebensmüde wie ein Alter.

»Die Götter schenken einem nie zweimal dasselbe Glück«, fuhr er fort. »Darum sollte man sein Glück nicht allzuleicht versuchen und damit spielen.«

»Hast du denn mit deinem Glück gespielt?«

»Ja, das habe ich«, gestand der Mann. »Wir waren so glücklich, daß mich mein großes Glück zuletzt am ganzen Leibe juckte und ich eine helle Sehnsucht nach ein wenig Abwechslung hatte. Ich habe mein junges Weib fortgejagt und habe ihr gesagt, daß sie nur heimkommen dürfe, wenn sie mir wenigstens fünfzig Enten ins Haus bringe. Denn du mußt wissen, hier in der Gegend steht man sich gut bei der Entenzucht.«

›Ah‹, dachte ich mir, ›das junge Mädchen da unten war doch meine Göttin; sie ist der verjagten jungen Frau begegnet und hat ihre Gestalt angenommen. Sie hatte von ihr vorher den Wunsch gehört, den ihr der Mann mit auf den Weg gab. Nun kam sie des Weges mit fünfzig Enten. Aber warum deutete sie dann auf den Mann mit dem Kinde, der auf der Straße daherkam?‹ dachte ich weiter, und ich konnte nicht klug daraus werden, ob ich recht oder unrecht hätte, das Mädchen mit den Enten für meine Göttin zu halten. Wenn ich nur gewußt hätte, wo ich wohnte. Meine Göttin saß vielleicht in diesem Augenblick bei dem Mann, der auf der Landstraße dahergekommen war, in dessen Haus. Ich wurde ärgerlich vor Eifersucht. Ich fragte den Mann, der das Gras schlug: »Bist du denn nicht eifersüchtig, wenn deine Frau einen andern Mann nimmt und gar nicht zu dir zurückkehrt?«

»Nein«, sagte er, »ich habe sie zu sehr geliebt, ich muß ausruhen von meiner Liebe.«

»Ach, was bist du für ein Scheusal, Mensch«, konnte ich nicht unterlassen zu sagen.

»Ich bin nicht schlimmer als du auch«, lachte da mit einemmal der andere.

Mir war, als kennte ich ihn. Aber ich fand nicht heraus, wo ich diesen Mann schon gesehen hatte. »Was weißt du vor mir?« fragte ich verblüfft.

»Wir sind doch Männer, und die Männer kennen sich alle, sie sind sich auf der ganzen Welt gleich«, gab er zurück. Und nachdem er den Ziegen das Gras hingeworfen, setzte er sich in die Hütte und nahm aus seinem Gürtel ein winziges Kartenspiel und legte die kleinen Spielkarten vor sich auf die Fußbodenmatte und betrachtete aufmerksam die Karten, als ob er sie auswendig lernen müßte. Ich zerbrach mir vergeblich den Kopf, wo ich diesen Mann schon gesehen hätte. Da ich nicht wußte, was ich ihn weiter fragen sollte, legte ich mich beim Herd in die Zimmerecke nieder. Dort auf dem Herdrand stand ein kleines Lämpchen, dessen Docht rauchte; es war ein schwacher Lichtschein in dem Vorraum der Hütte. Ich war sehr gepeinigt und in Angst um meine Göttin. Und ich ärgerte mich bereits, daß ich meine Göttlichkeit aufgegeben und ihr und mir vorgeschlagen hatte, schwache Menschen zu werden. Denn ich wußte von dem Körper, in dem ich jetzt saß, gar nichts, und er sagte mir auch nicht, wer er war, – ich wußte nichts weiter von mir, als daß ich ein neunzehnjähriger junger Javanenmann war und draußen im Stall eine Ziegenherde hatte, und daß mich die Liebe zu einer Göttin plagte, die ich leichtsinnigerweise verloren hatte, aus allzu großem Glück und im Überschwang aller Seligkeit, die ich nun zehntausend mal zehntausend Jahre und mehr genossen hatte. Dieses wußte ich. Und nun war ich zwar noch ein Gott mit göttlichen Wünschen, aber in einem schwachen Menschenkörper wohnhaft, und wußte nicht, wie ich mich da drinnen in dem neuen Leib benehmen sollte. Denn alles, was dieser Leib tat, was sehr beschränkt. Er gestattete mir nicht, daß ich unsichtbar würde. Der Leib gestattete mir nicht, daß ich göttlich zufrieden sei. Der Leib gestattet mir nicht, daß ich ohne Speise und Trank und ohne Todesfurcht lebe, nur von innerer Seligkeit genährt, wie ich es im Buddha-Gottleib zehntausendmal zehntausend Jahre und alle Zeiten hindurch gewohnt gewesen war. Und wenn es mir schon so ungemütlich zumute war, – wie erst mußte sich meine arme Göttin des südlichen Ozeans in der Gestalt eines sechzehnjährigen Mädchens fühlen, sie, die im Ozean des Glückes in der Freiheit gelebt hatte. So lag ich in der Ecke und betrachtete das kleine stinkende Lämpchen in der armseligen grauen alten Kammer der Hütte und hatte allen Übermut, allen göttlichen, verloren vor kleinlichen Menschensorgen und vor großer göttlicher Herzensorge nach meiner verlorenen Göttin.

Auch knurrte mein Magen vor Hunger, meine Zunge war trocken vor Durst, mein Leib war zerschlagen vom Kummer, und ich begann zu seufzen, ohne daß ich es wußte. Ich glaubte aber, als ich den Seufzer hörte, es mache ein anderer Geräusche in der Kammer. Denn ich hatte als Buddha-Gott in den zehntausendmal zehntausend Jahren nie einen Seufzer gehört. »Wer macht da solch ein seltsames Geräusch?« fragte ich den in seine Karten versunkenen Besitzer der Hütte.

»Das ist der Herr Kummer«, anwortete mir der Mann.

»Wohnt denn noch einer hier im Hause außer dir?« fragte ich den Mann.

»Ja, augenblicklich wohnt noch der Herr Kummer hier.«

Ich schwieg und dachte bei mir: ›Vorhin war doch die Hütte leer. Nun sind inzwischen zwei Männer nach Hause gekommen; was soll ich nur in der fremden Hütte anfangen? Die Ziegenherde kann ich auch nicht brauchen. Was soll ich mit ihr? Es ist besser, wenn ich dem Mann sage, er solle die Ziegen dorthin bringen, wo sie hingehören. Noch besser aber ist, ich sage gar nichts. Ich will den Mann mit dein Herrn Kummer allein lassen und in die Nacht fortgehen.‹ Ich hörte, daß die Ziegen im Stall nebenan polterten. Und da sagte ich: »Ich habe vergessen, meine Ziegen zu melken. Ich will das tun, so lange der Mond aufgeht; dann ist es im Stall hell.« Denn ich sah, daß der Vollmond draußen, der aufgehende, waagrecht vom Meeresrand durch die Hüttentür hereinleuchtete und friedliches Licht gab. Der Mann schob mir mit einer Hand einen Melkeimer hin, und mit der andern hielt er seine Spielkarten am Boden fest, damit sie nicht fortflögen im leichten Luftzug, den meine Schritte machten.

Und ich nahm den Melkeimer und ging. Im Ziegenstall war es aber nicht hell, weil die Tür nicht nach der Mondaufgangseite lag; und ich tastete mich drinnen im Dunkeln zu einer Ziege. Da ich das Melken auch gar nicht verstand, klammerte ich mich an eine Ziege fest und legte meinen Kopf unter das Ziegeneuter und trank die Milch vom Tier. Denn ich war sehr durstig, aber beim Trinken bekam ich viel Rippenstöße von den Tieren. Nachdem ich mich mühsam gelabt hatte, tastete ich mich aus dem dunkeln Stall ins Freie.

Als ich im Vorüberschleichen zur Hüttentür hineinsah, war der Vorraum leer. Und ich sagte mir: ›Der Hausherr ist in seine Kammer gegangen. Ich werde mich leise fortschleichen‹, – da sah ich einen Lichtschein, der den Hügel heraufkam. Und ich erkannte von weitem eine junge javanische Frau, die eine Laterne in der einen Hand hielt und einen dicken, langen Stock in der andern Hand trug und sehr lebhafte und aufgeregte Bewegungen mit dem Stock machte und außerdem mit sich selbst sprach, laut und zankend und sehr ärgerlich. Es war aber niemand in ihrer Nähe. Ich sah nun auch, daß die Frau ein Fischnetz um den Leib trug. Das hatte sie umgeschlungen über ihrem Sarongrock, um das Netz nicht in der Hand tragen zu müssen. Und ich erkannte, daß die Frau eine lange Wanderung gemacht haben müßte, denn sie war ganz atemlos und sah staubig und zerzaust aus. Sie war aber jung und schien nicht älter als sechzehn Jahre zu sein.

›Ist das meine Göttin, die mich mit der Laterne sucht?‹ fuhr es mir durch den Sinn. Aber da stand plötzlich die Frau vor mir, schneller, als ich erwartet hatte; und kaum hatte sie mir mit der Laterne ins Gesicht geleuchtet, so regnete es Schläge auf mich, daß mir alle Glieder sangen vor Schmerzen. Und der Stock der Frau zerbrach beim letzten Schlage, und ein Teil davon flog im Bogen vom Hügel und flog so weit, daß ich ihn fern unten im Meereswasser aufschlagen hörte. Daß der dicke, lange Stock zerbrechen konnte, das war mir erstaunlich. Und ich dachte: ›Gottlob, daß der Ziegenhirte, dem ich die Seele ausgeblasen habe, nicht schwächlich war, sonst wären alle meine Glieder und nicht der Stock von dem Prügeln zerbrochen.‹ Indessen ich noch verwundert war über dieses Menschenleben, hörte ich schon während der Prügel, die da auf mich herabregneten: dieses wilde Weib war das mir, dem Ziegenhirten Amat, ehelich angetraute Weib, das einige Meilen weit aus ihrem Dorf im Kahn herbeigerudert war, um mich zu suchen. Sie behauptete, ich wäre nur deshalb nicht nach Hause gekommen, um ihrer Schwester, der Entenhirtin, am Wege aufzulauern. Und diese habe es schon allen Leuten erzählt, welch einen Schelm von einem Mann ihre Schwester hätte, der die Weiber nicht in Ruhe lassen könnte, und der die Ziegen nicht heimbringe zur Melkstunde, wie es sich gehöre, sondern unterwegs fremden Häusern zur Last falle, anstatt heimzugehen ins eigene Heim und zum eigenen Weib. Aber sie wolle mich gar nicht zu Hause haben. Und sie nähme jetzt ihre Ziegen selbst in Obhut. Ich aber könnte mich aufs Meer scheren und dort Fische fangen; denn dort wäre sie wenigstens sicher, daß ich nichts Dummes anstellen würde. Und sie warf mir das Fischnetz, das sie sich in aller Heftigkeit vom Leib losmachte, vor die Füße und hieß mich, augenblicklich ans Meer hinuntergehen und hinausfahren, um im Mondschein zu fischen; sie werde hier bei dem rechtschaffenen Mann und seinem Freunde, dem Herrn Kummer, für die Nacht Unterkunft nehmen. Ich schwieg. Und ich kam auch gar nicht zu Wort. Ich wurde gar nicht nach Ja und Nein gefragt. Sondern das dicke Stockende, das diese wütende Erscheinung in der Hand hielt, strich mir noch ein paar Hiebe auf den Rücken, und ich ergriff rasch das Netz und stürzte hügelabwärts, entsetzt über dies Erlebnis. Ich hatte wohl von der Entenhirtin vorhin gehört, daß ich ihre Schwester zur Frau habe; aber daß diese Frau eine solch lebhafte Gestalt sei, das hatte ich mir nicht vorgestellt. Der Ziegenhirt, dem ich heute den Leib abgenommen hatte, konnte mir eigentlich dankbar sein, daß ich ihn als Wolke im friedlichen Himmel wandern ließ. ›Dort erwartet ihn wenigstens kein böses Wort‹, dachte ich und rieb mir die Glieder. Es war aber seltsam: die Hiebe, die ich eben bekommen hatte, schmerzten wohl, aber sie brannten mich nicht. Wie tief aber, bis ins Herzblut, hatte sich der eine leichte Schlag mit der Gerte in mein Blut eingebrannt, den ich vorhin an der Landstraße von der Entenhirtin bekommen hatte. Daran mußte ich denken. Ich sah mich erschrocken um, ganz ängstlich, daß meine Frau dort oben im Hause vielleicht etwas von meinen Gedanken hören könnte.

Und wie ich mich umsah, stand die Hüttentür weit offen, und ich sah bei dem Laternenschein zwei Gestalten drinnen am Boden hocken, eine männliche und eine weibliche. Beide hielten Karten in den Händen, und sie schienen sich mit Kartenspiel zu vergnügen.

›Nun, das ist noch schöner. Mich jagt mein Weib in die Nacht aufs Meer hinaus, und nun sitzt sie dort mit dem Hauseigentümer, und beide spielen Karten!‹ Die beiden kannten sich natürlich schon länger, denn er hatte auch mich und meine Ziegen gekannt, als ich zu ihm kam. Jetzt verstand ich auch, welches Gewitter der Mann gemeint hatte. Er hatte geglaubt, ich fürchte mich, zu meiner Frau heim zu gehen, da ich bei ihr ein Stockgewitter erleben könnte, so wie es eben übermäßig auf meinem Rücken eingeschlagen hatte. In welche Gesellschaft von Menschen war ich da geraten. ›Aber man spielt auch nicht mit Menschenleben und nicht mit Götterliebe‹, mußte ich mir gestehen. ›Wie durfte ich nur zu meiner Unterhaltung so leichtsinnig die Seele eines Ziegenhirten als Wölkchen fortblasen und mich in den unbequemen Menschenleib hineinsetzen? Das war zu dumm gehandelt.‹ Aber ich konnte es nicht ändern. Denn einmal in den Menschenleib hineingefahren, hatte ich keinen Götterwillen und keine Göttermacht mehr, als bis das Leben dieses Ziegenhirtenleibes erloschen war. Wenn ich nur wenigstens meine Göttin als sechzehnjähriges Mädchen wiedergefunden hätte, dann wäre ich vielleicht im Leib dieses Ziegenhirten ganz glücklich geworden.

Da hörte ich einen Knall. Die Tür der Hütte oben war zugeflogen. Ich mußte sofort wieder denken, daß ich aus diesem Irrgarten, in den ich freiwillig eingetreten, als ich der Ziegenhirt Amat wurde, mich nicht so bald wieder herausfinden würde. Denn diese Frau, meine, des Ziegenhirten Amat, Frau, die ließ nicht mit sich spaßen. Das hatte ich eben erleben müssen.

Am Meeresstrand angekommen, fand ich auch wirklich dort auf dem leeren Dünensande im Mondschein einen Fischerkahn. Ich verstand mich aber weder aufs Rudern, noch aufs Segeln, und auch nicht aufs Fischen. Denn vorher, als Buddha-Gott, war ich zehntausendmal zehntausend Jahre und mehr immer nur auf goldenen Lotosblumen durch die Luft einher gesegelt, und im Meer auf der weißen Schildkröte; und da brauchte ich nicht Ruder, nicht Segel, und die Fische kamen mir auf Wunsch in die Hand geschwommen, wenn ich es nur dachte, solange ich der Gott Buddha gewesen war. Aber nun als Ziegenhirt Amat konnte ich nicht einmal Ziegen melken; und von Meeresfahrten hatte ich keine Ahnung, so wenig wie ein neugebornes Kind von diesen Dingen ein Wissen hat, denn ich war ja nicht in diesem Leibe aufgewachsen. Wie ich noch dastand und überlegte, kam der Mond aus der fernen Wolkenbank breit und rund zum Vorschein. Und wie ich den weißen Vollmond ansah, mußte ich an den Rücken einer weißen Schildkröte denken. Beim Gedanken aber an die gute weiße Schildkröte, die mich einst ins Meer hingetragen hatte, stieg ich in den Kahn, und seltsamerweise ging mir alles nun so leicht von der Hand, als wäre jemand unsichtbar um mich und mir behilflich, den Segelbaum im Kahn aufzurichten, die Segel zu stellen, die Ruder zu führen und das Boot vom Strand abzustoßen. So wie man einem Kind beim Schreiben die Hand führt, so war da eine Kraft, die meinen Händen und meinem Verstand das Arbeiten zeigte. Und es schien mir angenehm, da ich mich nicht mehr so einsam fühlte wie vorher, nachdem der Kahn vom Ufer fortgetrieben war. Ich warf das Netz aus, und bald war es reich voll Fischen. Und der Fischfang machte mir Spaß, er lenkte meine Gedanken von meinen Sorgen ab. Dann aber, wie ich den Kahn zum Lande zurücklenken wollte, merkte ich zu meinem Schrecken, daß ich gar nicht mehr in der Nähe des Landes war, sondern weit draußen im Meeresspiegel hintrieb; auch der Kahn gehorchte mir nicht mehr. Da wurde ich müde und dachte: ›Ich will schlafen, werde, was da will! Wenn ich im Meer sterbe und untergehe, werde ich doch wieder ein Buddha-Gott; also das Sterben ist für mich nicht das Schlimmste.‹ Und da ich nichts anderes hatte, wo ich meinen Kopf hinlegen konnte, mußte ich, auf den kühlen, glatten Haufen schnalzender Fische hingestreckt, im Kahn schlafen. Es störte mich aber gar nicht, dort zu liegen, denn es überfiel mich eine unnatürliche Müdigkeit, die ging von der Einsamkeit der stillen Mondnacht wie eine Betäubung auf mich über. Und ich fiel in einen tiefen Schlaf.

Dann aber erwachte ich dadurch, daß mein Schiff beim Vollmond landete; und der Mond, als ich ihn nah vor mir sah, war wirklich eine große weiße Schildkröte. Die Schildkröte war groß wie eine Insel, und sie trug ein schönes weißes Elfenbeinschloß und einen großen Garten mit sich, aber alle Bäume und alle Pflanzen dort im Garten waren aus gefärbtem Elfenbein und Perlmutter. Eine große Elfenbeinfreitreppe führte auf dem Rücken der Schildkröte vom Meer nach dem Schloß.

Die weiße Schildkröte hob am Ende des Gartens den Kopf aus dem Meer und nickte mir von weitem mit ihren leuchtenden Auglein zu und sagte: »Nun ruhe dich nur in der Vollmondnacht bei mir im Schloß ein wenig von allen Erlebnissen aus. Es erwartet dich zwar niemand hier, und morgen früh mußt du wieder ans Land zurück und weiterleben. Aber heute nacht sollst du auf glattem, kühlem Seidenbett ausschlafen, und vorher sollst du dich laben.«

Ich wollte der Schildkröte antworten, merkte aber, daß ich, seit ich sie erblickt hatte, stumm geworden war, so wie einer, der schläft, stumm ist. Und ich dachte: ›Es ist gut so, ich werde nach diesem elenden Tag herrlich in dem schönen Schloß ausruhen.‹ Und ich ging durch den Garten, und als ich mich im Teichspiegel aus Gold, der in der Mitte des unbeweglichen Elfenbeingartens lag, spiegelte und mich im Vorübergehen betrachtete, da hatte ich meine Buddhagestalt wieder und war kein Ziegenhirt mehr. Und im Elfenbeinschloß war alles weiß und glatt, und herrlich geschnitzte Treppengeländer und fein gedrehte Elfenbeinsäulen waren da in allen Sälen. Alles war herrlich in dem stillen Schloß, nur die Einsamkeit und Leere war nicht angenehm. Und als ich auf die Elfenbeinaltane am Saal hinaustrat, war mir der elfenbeinerne stillstehende Garten unheimlich, in dem sich die Perlmutterblumen, die rosigen und himmelblauen, nicht bewegten und nicht dufteten und kein Geräusch der Blätter und Stengel gaben. Zuletzt tat mir doch die feierliche, vornehme Götterruhe des vornehmen geschnitzten Gartens wohl nach dem Elend, das ich in der grauen Hütte erlebt hatte. Und ich streckte mich auf das große Elfenbeinbett, das, bedeckt mit weißer und teerosenfarbiger Seide, in der Mitte des großen Kuppelsaales stand.

Als ich aber da lag und zur hohen Kuppel sah, wo das perlmutterne Laub des Gartens durch die Rundbogen des Säulenrundganges in der Kuppel sanft farbig hereinsah, da war keine Ruhe in mir trotz der Ruhe des Schlosses und des ruhigen Gartens. Ich sehnte mich nach meiner Göttin. Ohne sie war all der Glanz leer und langweilig. Ohne sie war ich mir selbst leer und langweilig. Und ich sehnte mich ins Elend der Hütte, in den Staub des Landes, nach den Prügeln der Ziegenhirtenfrau, – nur um dort an der Küste sein zu dürfen, wo ich wußte, daß dort meine Göttin als sechzehnjähriges Mädchen schlief oder wachte und in einer elenden Hütte an mich dachte.

Und der leere, tote Palast auf dem Rücken der Schildkröte war mir bald mehr zuwider als alles, was ich vorher erlebt hatte.

Ich lag eine Weile, denn der Himmel stand schwarz über dem Perlmuttergarten, der aus sich selbst leuchtete; und ich wartete, daß es Morgen werden sollte. Dann stand ich auf. Als ich zum Ufer an die Freitreppe kam, war mein Kahn verschwunden.

Da durchfuhr mich der Schrecken, daß ich vielleicht ewig in dieser Einsamkeit des Perlmuttergartens und des Elfenbeinschlosses bleiben müßte.

Ich konnte aber nicht fragen, da mir die Stimme fehlte. Da hob sich der Kopf der Schildkröte am Ende des Gartens aus dem Meer und sagte: »Was stehst du da und legst dich nicht zur Ruhe? Es ist Schlafenszeit; es ist noch lange kein Morgen. Du bist erst vor drei Minuten hier angekommen.« –Mir schienen es aber mehr als drei Stunden, daß ich in der toten Pracht weilte. Ich ging und legte mich wieder in den Saal auf das Bett. Elfmal stand ich danach noch auf, – immer war nur wenig Zeit vergangen, immer schickte mich die Stimme der Schildkröte auf das große, leere, einsame Seidenbett zurück, auf dem ich mir so überflüssig vorkam, und das mit seiner leeren Ruhe nur meine Unruhe steigerte.

Endlich rief mich die Stimme der Schildkröte und sagte: »Es ist Morgen. Dein Kahn ist gekommen, er liegt an der Ufertreppe; stehe auf! Ich muß jetzt untertauchen auf den Meeresgrund, in mein Reich.«

Da stand ich auf. Als ich durch den Garten ging und am goldenen Teichspiegel vorbeikam, merkte ich, daß ich wieder die Gestalt des Ziegenhirten hatte. Und ich fühlte mich auch so mutlos wie dieser und war nicht mehr so glücklich, als ich es gewesen, da ich bei der Schildkröte gelandet war. – Ehe ich ins Boot stieg, dachte ich stumm: ›Sei bedankt, edle Schildkröte, für die Gastfreundschaft, die du mir gewährt hast. Kannst du mich nicht wissen lassen, wie ich an die Küste zurückfinde, wo ich landen möchte?‹ –

Sie aber hörte meine Gedanken. »Dazu kann ichdir nicht helfen, mein guter Herr«, sagte der Kopf der Schildkröte, »deinen Weg mußt du von selbst finden. Aber eins kann ich dir verraten: wenn du die Spitze eines Nagels im Kreise rund um dich führst, dann wird die Nagelspitze dich dorthin ziehen, wohin du dich wünschest. Denn die Südküste hat Magneteisenkohle als Sand am Strande liegen, und diese Kohle des Magneteisens zieht jeden Nagel an.«

Ich dankte der Schildkröte und tat, wie sie mir geraten. In meinem Boot riß ich einen Nagel aus einer Planke und hielt ihn im Kreise rund um mich. Da fühlte ich, wie mein Kahn fortgezogen wurde von der Magnetenströmung, gleich wie von einer Meeresströmung. Auch hatte die Schildkröte noch gesagt: »Es lebt eine Verwandte von mir, eine alte weiße Schildkrötendame, am Magneteisenstrand der Südküste. Siehst du sie, so sage nur: ›Halleluja!‹, und sie wird wissen, daß du von mir kommst. Und sie wird dich aufnehmen und dir helfen, wenn du es nötig hast.« Ich dankte, und wir schieden voneinander. Ich sah die weiße Schildkröte dann hinter mir samt dem todesstillen Elfenbeinschloß und dem atemlosen Perlmuttergarten in die Tiefe versinken, und dann wurde es dämmernder Tag, und allmählich sah ich schon in der Ferne die Küste als grauen Streifen auftauchen und sah auch die hohe Brandung. Da erkannte ich aber, daß ich in dem kleinen Kahn nicht bei so hochstehender Brandung landen konnte. Ich blieb also den ganzen Tag mit meinem Kahn im Meer liegen und wartete, daß es ruhigerer Wind und flacheres Wasser werden sollte, so wie es bei meiner Abfahrt gewesen war. Aber die Brandung stieg am Abend höher als am Morgen, und ein furchtbarer Sturm setzte um die Sonnenuntergangsstunde ein. Meine Fische waren mir in der Sonnenhitze des Tages im offenen Boot verdorben, und ich mußte sie alle über Bord werfen, als es Abend wurde. Und da ein großer Sturm war, konnte ich keinen neuen Fischzug tun. Ich konnte nicht einmal einen einzigen Fisch für mich behalten, um meinen großen Hunger zu stillen. Wasser, süßes Trinkwasser, hatte ich auch keines. Und wieder litt ich Durst und Hunger, wie am Abend vorher. Während der ganzen finstern und sturmbrausenden Nacht trieb ich so im Meer umher. Und ebenso ging es mir am zweiten Tag und in der zweiten Nacht; und in der dritten Nacht stieg der Sturm so hoch, daß er mir am vierten Morgen den Kahn voll Wasser schlug und ich das Boot unter mir, wassergefüllt, verschwinden sah. Ich wäre nun ganz gern gestorben. Aber der Körper des Ziegenhirten wehrte sich gegen den Tod. Er wollte noch nicht sterben. Er war ja erst neunzehn Jahre alt. Der junge Körper schwamm wie ein Fisch viele Stunden im Meer umher, bis er eine Stange fand, an der er sich festklammern konnte. Die Stange aber war von dem dicken Stock der Frau des Ziegenhirten Amat der Teil, der ins Meer geflogen war, in der Nacht, da sie mich geprügelt hatte. Ich setzte mich reitend auf die Stange, und die trug mich auch fort. Und wieder trieb ich so drei Tage und drei Nächte im Meer, ohne an das Land gelangen zu können.

Ich nährte mich von kleinen Seekrabben, die sich an meine nackten Waden festzwickten, und die ich mir vom Fleisch der Beine abriß, um mit ihnen meinen Heißhunger zu stillen. Es regnete auch in Strömen, so daß ich mir die hohle Hand von Regenwasser voll laufen lassen konnte, und so konnte ich am Regenwasser meinen Durst löschen. Dabei sah ich alle Tage in meiner Qual die Küste ganz nah hinter den weißen Brandungswellen emporsteigen. Und des Abends sah ich sogar das Licht in der Hütte auf dem Hügel, wo mein Gastfreund und der Herr Kummer wohnten, und wo ich die Ziegen im Stall untergestellt hatte. Ich war auch sicher, daß des Ziegenhirten Frau mich, ihren Amat, auch da draußen herumtreiben sah im Meer, aber sie war ein böses Weib, und sie würde sicher sagen: ›Laßt ihn nur im Wasser reiten! Wenn ihn der Tod nicht will, kommt er lebend zurück, auch ohne daß wir ihm helfen.‹ Und da sie stark und böse war, wagte ihr keiner zu widersprechen, denn gegen ein böses Weib gibt es wenige Mutige zu finden. Dieses dachte ich mir nach allem, was ich vorher mit ihr erlebt hatte.

Endlich erwachte ich eines Tages, nachdem ich schon ganz schwach geworden war, auf meiner Stange und dachte: ›Oh, wenn nur wenigstens die Verwandte der großen Schildkröte in der Nähe wäre!‹ Und so laut ich konnte, schrie ich mitten in meiner Verzweiflung: »Halleluj a, Halleluja!« Und ich rief es todunglücklich, aber es klang, als wäre ich voll Glück und Jubel. Denn das Wort ›Halleluja‹ kann nur jubelnd klingen, da es vom Himmel kommt. Und sieh, beim dritten Ruf tauchte das Köpfchen einer liebenswürdigen weißen Schildkröte auf. Sie blinzelte mir zu, als wollte sie mir Mut machen, dann nahm sie meinen Stock, auf dem ich saß, ins Maul, und sausend – wie ein Pfeil, vom Bogen abgeschossen – flog sie mit mir, hui, hui, durch die tobende Brandung. Sie schwamm aber durch die Höhlungen der hochgerundeten Wellen wie durch unterirdische Gänge geschickt mit meinem Stock und mir hindurch. Ich hielt mich krampfhaft fest. Und kurz darauf waren wir auf den dunkeln Magneteisenkohlenstrand aufgefahren, und ich flog, vom Anprall noch ein Ende geschleudert, über die gute Schildkröte weit in den Sand hinein und schlug dazu noch trotz der Müdigkeit einige Purzelbäume, aus reinem Vergnügen, Land unter den Beinen zu haben.

Wieviel Tage ich im Meer herumgetrieben bin, weiß ich nicht genau. Jedenfalls war mein Haar ganz grau vom Meersalz. Das sah ich in einer Wasserpfütze, über die ich mich bog, um zu trinken. Ich wollte dann der Schildkröte Dank sagen; sie war aber schon gegangen, und ich fand sie nicht mehr, als ich mich aufgerichtet hatte. Aber im schwarzen Sande des Strandes sah ich die Spur der Schildkröte, die lief am Wasser entlang; und ich weiß nicht, weshalb ich der Spur folgen mußte. Ich hatte, als ich im Meer viele Tage und Nächte auf dem Stock ritt und nur von den kleinen Seetieren lebte, die sich an meine Beine anbissen, viel Zeit gehabt, die Küste und den Himmel zu betrachten. Und es war mir aufgefallen, daß es an der Küste zwischen den Bergen zwei Hügel gab, die waren sich ähnlich, wie ein Ei dem andern. Auf jedem Hügel aber erschien des Abends ein Licht, und beide Lichter hatten mich nächtelang betrachtet. Ich wußte aber, auf dem einen Hügel stand das Haus, wo ich die Ziegen im Stall gelassen und wo ich Prügel empfangen hatte von der Frau des Ziegenhirten Amat. Vom andern Häusdien aber auf dem Nachbarhügel wußte ich nichts, und nun wollte ich vorsichtshalber die Schildkröte oder irgend jemand am Strand befragen, ob ich dort ein Unterkommen finden könnte. Denn ich war noch schwach und wollte aus Angst vor der Ziegenhirtenfrau nicht in die mir bekannte Hütte gehen. Es waren aber weit und breit keine anderen Hütten zu sehen als nur die beiden, jede auf einem grünen Hügel hinter dem schwarzen Sandstrande.

Den ganzen Strand ging ich entlang und fand endlich, daß die Spur im Sand in eine Höhle eines senkrechten Felsens mündete, der hart am Meere stand. Ich bückte mich und trat in die Höhle, in der es schön kühl war; denn die Sonne brannte heiß am schwarzen Strande, und die Luft am Meer entlang wogte von Glut.

Also legte ich mich ziemlich erschöpft auf einen erhöhten Stein im Hintergrund der Höhle. Als ich mich an die Dämmerung drinnen gewöhnt hatte, sah ich, daß die Höhle aus blutroten Korallensteinen war, und auch das Wasser der Höhle war in der Widerspiegelung des roten Gesteins so rot wie lebendes Blut. Es war schön, aber auch unheimlich, und ich war zu müde, um viel nachzudenken, und schlief vor Erschöpfung fest ein.

Ich erwachte, von einer kühlen Hand geweckt, die mir über die Wangen fuhr. Ich flog auf. Aber es war niemand um mich. Doch merkte ich, daß das Wasser gestiegen war, denn die Flutzeit war gekommen, und das steigende Wasser war es gewesen, das mir mit leichter Welle über die Wange gefahren war.

Ich konnte nicht mehr aus dem Höhleneingang hinaus, da das Wasser die Höhle schon geschlossen hatte. Aber ich sah, daß ich mich nicht zu fürchten brauchte; das Wasser stieg nicht viel höher, als ich lag, und einige Steinplatten höher war das Gestein trocken.

Da, wie ich noch überlegte, erschien die Schildkröte. Sie tauchte auf, betrachtete mich gar sonderbar mit einem Auge, dann schwamm sie heran und legte einige Betelnüsse und Siriblätter, die sie im Maule trug, nicht weit von mir auf einen Stein. Ich fühlte, daß sie mir helfen wollte. Sie wartete, bis ich zugriff, dann tauchte sie wieder unter und verschwand.

Ich kaute Betelnuß und Siri und stärkte mich dadurch ein wenig.

Siehe, wie ich dann träumend in das blutrote Wasser starrte, wurde es in der Tiefe hell, und ein weiblicher Oberkörper tauchte auf.

Es war aber ein ganz junges Geschöpf und mochte kaum sechzehn Jahre zählen.

Sie blieb bis zu den Hüften im dunkelroten Wasser stehen und strich sich schönes, langes, schwarzes Haar aus der Stirn und rief: »Uff, uff, wie schwül ist es hier. Es riecht nach warmem Menschenblut hier!«

Ich wagte mich nicht zu rühren; ich verstand sehr gut, daß das Mädchen sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatte, und daß es mich deshalb noch nicht sehen konnte. Ich glaubte, es sei ein Mädchen, das am Strand gebadet habe und von einer Strandwelle in die Grotte hereingetrieben wäre. Sie war schmal und zierlich; in der Hand hielt sie einige rote Korallenzweiglein, die sie sich, im Wasser stehend, ins Haar flocht. Das kleidete sie gut.

Dann aber nach einer Weile erkannte sie mich. Sie lächelte, wie eine, die dem Mann gefallen will, der sie betrachtet, und sie tat nicht im mindesten erschrocken. Ich aber war ganz verwirrt vom roten Dämmerlicht und von dem jungen Ding und hatte die Frage auf den Lippen›Kennst du mich?‹ Ich sah sie an, war aber unentschlossen, doch mein Herz klopfte nach einer Weile nicht schneller als vorher. Da schlug das Mädchen mit der Hand ins Wasser und warf mir eine Spritzwelle aus blutroten Tropfen ins Gesicht. Ich lächelte ein wenig und schwieg.

Da warf sie dieLippen geärgert auf und sagte: »Mensch, kannst du nicht zu mir reden, wie es sich gehört, wenn sich ein Mann und eine Frau begegnen?« Ich aber fühlte gar keine Lust, zu ihr zu sprechen, und ich schwieg beharrlich. Da lachte sie überlaut in vollstem Zorn und schoß in die Tiefe, und ich sah dabei, daß ihr Unterleib ein langer Schlangenleib war.

Diese Frau wollte mich versuchen und wollte, daß ich ihr den Vers sagen solle, den ich nur meiner Göttin sagen durfte: ›Es ist die Liebe, die uns trägt; es ist die Liebe, die uns alle bewegt!‹ Der Leib des Weibes schlug runde Wirbel im Wasser, und dann war es still um mich, und sie blieb verschwunden.

»Gottlob, daß du geschwiegen hast«, sagte eine Stimme neben mir. Ich konnte aber niemand sehen. Doch mußte es die Schildkröte gewesen sein, die sprach, denn sie kam auf mich zugeschwommen, stieg auf die Felsenplatte und blieb als meine Gesellschaft neben mir liegen, bis das Flutwasser wieder sank und der Ausgang der Höhle frei wurde. Dann schwamm sie voraus und zeigte mir den Weg hinaus auf den Strand.

»Wer wohnt in dem Hause«, fragte ich, »das dort am zweiten Hügel steht, Schildkröte, liebe?«

Sie schüttelte den Kopf, als ob sie mich nicht verstünde, und lief ins Wasser und schwamm fort.

Ich weiß nicht, warum mich dieses Haus da drüben so sehr zu sich hinrief. Ich dachte ein paarmal: ›Vielleicht ist meine Göttin dort zu Hause.‹ Aber ich dachte auch wieder: ›Ich will mir vorstellen, daß meine Göttin dort wohnt, und ich will wieder auf den Hügel gehen zu dem Haus, wo meine Ziegen standen, und dort will ich wohnen und das Haus drüben auf dem Nachbarhügel im Auge behalten, und ich will so lange wünschen, bis meine Göttin meinen Wunsch fühlt und dort ins Haus zieht und ich sie besuchen und endlich wiederfinden kann.‹

Also tat ich. Ich kehrte in das erste Haus auf dem Hügel zurück, wo ich zuerst eingekehrt war mit meinen Ziegen.

Das Haus aber stand ganz leer. Und als ich einen Kuli am Wege fragte, sagte der: »Der Mann hat sein Haus aufgegeben, und man sagt, er ist mit der Frau des Ziegenhirten Amat fortgegangen, alter Vater.«

Ich sah an mir hinunter. Er sagte ›alter Vater‹ zu mir, weil mein Haar vom Meersalz und vom Meerschrecken grau war, mein Leib von Entbehrung abgemagert und runzelig, und weil mein ganzer Körper vor Sehnsucht und Kummer dem eines hundertjährigen Greises glich. Das sah ich, als ich mich betrachtete.

Ich ließ den Mann bei dem Glauben, daß ich ein alter Mann sei. Ich sagte ihm, was ich vorhatte. »Ich werde von dem Hause Besitz nehmen, und du kannst es jedermann sagen, daß ein armer alter Mann in das Haus am Hügel eingezogen ist«, sagte ich zu dem Kuli. »Und wer wohnt da drüben auf dem Nachbarhügel?« fragte ich ihn.

»Ach, eine ganz alte, weißhaarige Frau!« sagte der Kuli und deutete zugleich auf seine Stirn, als wollte er sagen: ›Die Alte dort ist nicht recht klug im Kopf.‹

Ich hörte es mit Staunen, daß eine alte Frau dort wohnen sollte, und ich konnte es nicht glauben, so fest bildete ich mir ein, meine Göttin müsse in jenes Haus eingezogen sein. ›Nun, ich werde sie herwünschen, dann kommt sie‹, dachte ich bei mir.

Dann wohnte ich in der Hütte am Hügel. Ich wußte, ich hatte auf dem nächsten Hügel eine alte Frau zur Nachbarin, die nicht ganz klug im Kopfe war.

Morgens lagen immer ein paar Früchte oder ein Fisch oder eine Staude Gemüse vor meiner Türschwelle. Und als ich eines Tages aufpaßte, sah ich die weiße Schildkröte, die mich vor Sonnenaufgang mit Nahrung versorgte und mit Früchten im Maul zu meiner Türschwelle kam, ehe es Tag wurde. Und meinen Tag brachte ich damit zu, die vielen schönen Lieder, die ich noch auswendig konnte, und die mir meine Göttin einst gegeben hatte in der Zeit der goldenen Rosen, als wir noch selig waren, mit meinem Blut auf lange Baststreifen zu schreiben. Ich schrieb viele Bastrollen mit Liedern voll, mit Liebesliedern des ewigen Glückes und der ewigen Sehnsucht, und viele Tränen mischten sich mit der roten Tinte meines Blutes, denn ich konnte es nicht hindern, daß mir oft vor Weh und Einsamkeit die Augen übergingen. Aber auch andere Leute hatten die weiße Schildkröte bemerkt, die mich jeden Tag mit Speisen versorgte, so daß es mir nie an Nahrung fehlte. Und ich kam allmählich in den Geruch eines heiligen Mannes. Frauen und Männer, kranke, kamen zu mir und standen vor der Türe. Und ich las laut manch eines jener Liebeslieder meiner glücklichen Gotteszeit, und, seltsam, da wurden die Kranken, ohne mein Zutun, nur vom Zuhören gesund und gingen fröhlich von dannen.

Nach vielen Jahren sah ich eines Tages, daß viele Menschen den Nachbarhügel zu der alten närrischen Frau hinaufzogen, die ich noch nie gesehen hatte. Und ich fragte einen von denen, die auch mich immer besuchten: »Was wollt ihr alle dort oben in jenem Hause?«

»Oh«, sagten sie, »das mußt du besser wissen als wir. Dort wohnte doch deine Herrin, die jetzt gestorben ist und in den Himmel fahren wird, heute um die Stunde des Mondaufganges.«

»Wie soll meine Herrin heißen, wen meint ihr?« fragte ich weiter.

»Wir meinen die Göttin des südlichen Ozeans, deren erster Priester du hier auf Erden sein wirst von heute ab bis zu deinem Tod.«

»Wer hat euch das gesagt?« fragte ich tief erschüttert.

»Die Göttin selbst hat es uns gesagt, als sie im Sterben lag. Da richtete sie sich auf, und sie, die uns vorher ewig nur mit weißem Haar bekannt war, – ihr Haupthaar färbte sich vor unser aller Augen. Sie wurde jung und wurde wie ein Mädchen von sechzehn Jahren. Sie lauschte in die Luft und sagte: ›Ich höre einen, der schöne Lieder vor sich hin spricht. Diese Lieder sind meine Lieder. Ich, die Göttin der Südsee, sage euch, wenn ihr einen Mann findet, der das Lied beenden kann, das anfängt: Die Liebe ist es, die uns trägt, – dann ist dieser Mann sein Leben lang mein, Hoherpriester. Und im Tode wird er ein Gott werden, der mich liebt, wie ich die Göttin des südlichen Ozeans bin, die ihr liebt in Ewigkeit.‹ Dann fiel sie auf ihr Lager zurück, und seitdem will sie sich nicht mehr bewegen vor der Stunde des Mondaufganges, – da will sie zum Himmel steigen. Deshalb kommt alles Volk, um den Abend zu erwarten und die Göttin der Südsee zu sehen, wenn sie in der Mondaufgangstunde zum Himmel steigt. Erkläre uns nun: warum habt ihr euch nie besucht, wenn ihr göttlich seid und euch liebt? Oder bist du es nicht, der die schönen Lieder jener Göttin immer laut in dieser Hütte sagt? Sie hat in ihrer Sterbestunde hellgehört. Und weißt du das Ende des Liedes, das sie nannte?«

Ich sagte es ihnen, und sie erstaunten und waren über die Maßen verwundert, daß ich hier einsam für mich kaum einige hundert Schritt von meiner Göttin ein langes Menschenleben hindurch zugebracht hatte, ohne zu wissen, wie nah sie war, die ich suchte. Ich sagte: »Es ist dies meine Strafe, weil ich mich an der Liebe versündigt hatte; und dafür mußte ich ein ganzes Menschenleben lang büßen.«

Sie fragten mich: »Willst du nicht gehen und die Tote auf ihrem Bette sehen; es ist eine schöne Gestalt.«

»Nie kann sie so schön sein, wie ich sie als Göttin kenne. Und da ich lange auf dieses Menschenleben verzichtet habe, will ich meine Göttin nicht als Tote sehen; ich will sie aber heute abend am Himmel sehen.«

Und in der Abendstunde klopfte es an meine Tür. Ich aber saß im dunkeln Haus und wollte nicht eher als zum Mondaufgang vor meine Tür gehen; denn mein Herz schlug, und mir schwindelte. Als es nun klopfte, wollte ich keinen Besuch, und ich antwortete nicht auf das Klopfen. Da wurde die Tür geöffnet, und es kam der frühere Besitzer des Hauses herein, und bei ihm war das Weib des Ziegenhirten Amat.

Sie hatten gehört, daß ich, der ernannte Priester der Göttin der Südsee, hier in ihrem alten Hause wohnte. Sie erkannten nicht die Gestalt des Ziegenhirten in mir und hielten mich für einen Fremden. Denn ich trug einen langen weißen Bart, der reichte mir bis an den Gürtel.

Sie sprachen aber, und während sie zu mir sprachen, konnte ich nicht aufbrechen, denn sie hatten sich niedergesetzt, und der Vollmond stieg und schien mir ins Gesicht. Doch ehe ich es hindern konnte, hob plötzlich die Frau die Laterne vom Boden, leuchtete mir ins Gesicht und sagte: »Siehe da, wie sich der Mensch hier vor unsern Augen verändert hat. War er nicht weiß, als wir kamen? Nun ist er schwarz am Kopf, und sein weißer Bart fiel ab und fiel ihm in den Schoß; oh, das ist ein Betrüger. Ei sieh doch, was sage ich? Es ist ja mein Mann, der Ziegenhirte Amat, der ertrunken war. Oh, dieser Lump und Nichtstuer! Da sitzt er nun seit Jahren und läßt sich vom dummen Volk als ein heiliger Mann verehren. Er hat sich eine Schildkröte abgerichtet, die hat ihm Essen gebracht, sagen sie. Aber das ist alles Schwindel. Es ist ein ganzer Lump, der da sitzt, der sich ertrunken stellte, sich sein Haar weiß färbte, und das alles nur, um nicht arbeiten zu müssen und um mich, sein Weib, nicht ernähren zu müssen. Aber jetzt gib sie nur heraus, deine gesammelten Reichtümer! Denn du hast ja auch gequacksalbert und hast Kranke geheilt, behaupten die Dummen, die nie alle werden. Und die Dummen müssen ihre Dummheit gewöhnlich auch noch teuer bezahlen. – Was sagst du, du hast keine Schätze? Nun, was sind denn das für Rollen? Das sind doch sicher Geldrollen, die du da aufgestapelt hast. Zeig her! – Was? Ich will doch sehen, wer Herr dieses Hauses ist, wir oder du!«

Das böse Weib riß meine Gedichtrollen von den Holzgestellen an den Wänden, wo ich sie, gut in Bast eingewickelt, aufgereiht hatte. Und gierig riß sie Rolle um Rolle aus einander, und jede Rolle, die nur Gedichte enthielt, warf sie verächtlich ins Herdfeuer. Ich rührte keine Hand und saß still. Als aber die letzte Rolle verbrannte, riß sie die Laterne hoch und schlug mir den schmiedeeisernen Kasten der Laterne so unglücklich an die Stirn, daß ich meine Sinne schwinden fühlte.

Sie aber verließ mit einem Fluch das Haus. Ich sah noch, wie das Feuer vom Herd hochschlug und das Dach, das strohgedeckte, Feuer fing. Ich rührte keine Hand und fühlte mit Genugtuung und Zufriedenheit, daß mein Herz langsamer schlug und endlich stillstand.

Da stand ich plötzlich hoch im Rauch über dem Dach des brennenden Hauses in der Luft, und zu mir trat eine andere Lufterscheinung, – meine Göttin.

Wir umarmten uns glückselig, als wären wir nie getrennt gewesen; ich hatte keine Erinnerung an meine Menschenleiden mehr, und Seligkeit und Zufriedenheit waren das einzige Gefühl, in dem wir beide uns wiederfanden. Wir traten dann vereint in das herrliche Elfenbeinschloß auf dem Rücken der großen weißen Schildkröte, die in Vollmondgestalt auf dem Meerrande lag.

Für einen Augenblick, ehe der Mond den Meeresrand losließ, konnten alle Leute an der Küste das Elfenbeinschloß und den Perlmuttergarten sehen, in dem wir an den goldenen Teich traten. Und als wir eine Weile am goldenen Teich stehen blieben und unsere Göttergestalten im Gold spiegelten, da hörten wir die Hunderte von Menschen am Land hinter der Brandung, deren Schaum sanft wie zahme Schäfchen geworden war, – da hörten wir, wie sie riefen und in die Hände klatschten vor Freude, daß sie einmal zwei wirkliche Götter und ein wirkliches Götterschloß für einige Augenblicke sehen und bewundern durften.

An das böse Weib aber dachte ich nicht mehr. Ich glaube, sie ist vor Schrecken gut geworden. Denn die Schildkröte erzählte mir, daß das kleine Haus auf dem Hügel, wo die Göttin gewohnt, zum Göttertempel der Göttin der Südsee eingerichtet werden sollte. Und das andere Haus, wo ich verbrannt war, würde ›das Grab eines rechtschaffenen Mannes‹ genannt werden, denn jene gutgewordene Frau lasse das Häuschen neu aufrichten, und in die Mitte des Vorraums, wo sie mich mit der Laterne erschlagen hätte, ließe sie einen Grabstein legen, und an diesem Grabe wolle sie bis zu ihrem Tode beten.

Als ich aber heute morgen aufwachte und sah, daß ich in der zweiten heiligen Nacht ein zweites Märchen für Dich, liebe Lore, erlebt hatte, da erinnerte ich mich, daß ich neulich an der Südküste des südlichen Ozeans beide Hügel besucht habe, –und auf den Hügel zum ›Grab des rechtschaffenen Mannes‹ bin ich gestiegen, aber ich wollte eigentlich den Tempel der Göttin der Südsee sehen. Doch es ging mir wie im Traum: ich kam gar nicht hin, ich sah nur von einem Hügel zum anderen und gelangte nicht dazu, das Haus der Göttin zu besuchen.

Nun bin ich wieder im Gasthof und verwundere mich, wie viel Glück und wie viel Unglück man doch in einer Nacht erleben kann, wenn es eine der heiligen zwölf Nächte ist.

Bis zur dritten Nacht lebe wohl, liebe Lore!

Dein Märchenonkel


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