Alphonse Daudet
Tartarin in den Alpen
Alphonse Daudet

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VI

Der Brünigpass. – Tartarin fällt den Nihilisten in die Hände. – Das Verschwinden eines italienischen Tenors und eines zu Avignon verfertigten Seiles. – Neue Heldenthaten des Mützenjägers. – Piff! Paff!

«Mondez... mondez tonc!

– Wo, zum Henker, soll ich denn einsteigen? Alles ist voll... Niemand will mir Platz machen....»

Es war an der äussersten Spitze des Vierwaldstätter Sees, am Alpnacher, gleich einem Delta durchfeuchteten Ufer, auf dem die Postwagen sich in Reih und Glied aufstellen, um die Reisenden aus dem Dampfboot aufzunehmen und sie über den Brünig zu führen.

Seit dem Morgen schon fiel ein feiner, wie Nadelstiche scharfer Regen, und der gute Tartarin, in seiner vollen Ausrüstung steckend, von Postkutschern und Polizeibeamten hin und her gestossen, lief von einem Wagen zum andern, eisenrasselnd, den Weg versperrend wie jener Orchestermann auf unseren Messen, der bei jeder Bewegung einen Triangel, eine Pauke, ein türkisches Glockenspiel und Cymbeln in tönende Schwingungen versetzt. An jedem Wagenschlag empfing ihn derselbe Schreckensruf, dasselbe, in allen möglichen Sprachen mürrisch gebrummte: «Vollzählig!» dasselbe sich Breitmachen, um einen möglichst grossen Platz einzunehmen und einen so gefährlichen, dröhnenden Gefährten am Einsteigen zu hindern.

Der Unglückliche schwitzte, schnaufte, beantwortete mit einem wiederholten: «Verwünschtes Pech!» die ungeduldigen Ausrufungen der Wagen-Insassen: «En route! – All right! – Andiamo! – Vorwärts!» Die Pferde bäumten sich, die Postillone fluchten. Endlich mischte der Landjäger, ein grosser, rothhaariger Mensch in Uniform und eine flache Mütze auf dem Haupte, selbst sich ein, und gewaltsam den Wagenschlag eines halbgedeckten Landauers aufreissend, stiess er Tartarin vor sich her, hob ihn wie ein Bündel hinein und blieb majestätisch, die Hand nach einem Trinkgeld ausstreckend, vor dem Trittbrett stehen, denn in jener Gegend sind die Landjäger nicht stolz.

Gedemüthigt, wüthend über die Insassen der Kutsche, die ihn nur manu militari aufnahmen, gönnte Tartarin ihnen keinen Blick, schob sein Portemonnaie in die Tasche, stemmte seine Hacke neben sich auf den Boden, und das Alles mit so unmuthigen Gesten, so absichtlicher Grobheit, dass man hätte meinen können, es mit einem Passagier des Packetbootes zwischen Dovres und Calais zu thun zu haben.

«Guten Tag, mein Herr...»sagte eine schon bekannte, sanfte Stimme.

Er erhob die Augen und sah betroffen, erschrocken in das hübsche, runde und rosige Gesicht Sonia's, die ihm gegenüber sass, unter dem Verdeck des Landauers, das auch einen langen, in Tücher und Decken gehüllten jungen Menschen schützte, von dem man nur zwischen einzelnen spärlichen, wie die Einfassung seiner Brillengläser goldig schimmernden Löckchen hervor, die leichenblasse Stirn gewahrte; unzweifelhaft der Bruder. Eine dritte Person, und diese kannte Tartarin nur zu gut, begleitete sie, Manilow, der Anstifter der Explosion im kaiserlichen Palaste.

Sonia, Manilow; in welche Mausefalle war er gerathen!

Nun werden sie gewiss ihre Drohung ausführen, hier auf dem steilen, von Abgründen eingeschlossenen Brünigpass. Und in einem jener schreckensvollen Momente, die uns oft blitzähnlich die höchste Gefahr zeigen, sah unser Held sich in einem tiefen Abgrund auf Steingeröll hingestreckt, oder an dem höchsten Aste eines Eichbaums hängen. Fliehen? Wohin? wie? Schon setzten die Wagen sich in Bewegung, der Reihe nach, bei den Klängen des Posthorns, während eine Schaar Bettelbuben sich mit kleinen Sträusschen Edelweiss an die Wagenfenster drängte.

Tartarin, in seiner Todesangst, wollte nicht lange warten und gleich dreinhauen, ja mit seinem Alpenstock den neben ihm sitzenden Kosaken zu Boden schlagen; er besann sich aber und hielt es für klüger, sich ruhig zu verhalten. Begreiflicherweise konnten sie ihren Streich erst weiterhin, in unbewohnter Gegend ausführen, und vielleicht hatte er dann noch Zeit genug, um auszusteigen. Ihre Absichten schienen ihm überdies nicht mehr so bösartig zu sein. Sonia lächelte ihn mit ihren hübschen türkisenblauen Augen an, der lange blasse junge Mensch betrachtete ihn neugierig, und Manilow, in merklich besänftigter Stimmung, rückte gefällig zur Seite; er machte zwischen ihnen Platz für seinen Bergsack. Hatten sie ihren Irrthum erkannt, als sie im Fremdenbuch auf Rigi-Kulm den berühmten Namen Tartarin gelesen hatten?... Er wollte sich dessen versichern, und vertraulich, unbefangen begann er:

– Entzückt über die Begegnung, mein schönes Kind.... Nur erlauben Sie mir, mich vorzustellen... Sie wissen nicht, mit wem Sie es zu thun haben, , während ich recht gut weiss, wer Sie sind.

– St! hob die kleine Sonia, noch immer lächelnd, den Finger ihrer mit einem dänischen Handschuh bekleideten Hand empor, und sie zeigte ihm auf dem Kutschenbock neben dem Postillon den Tenor mit den Manschetten, und den andern jungen Russen, beide unter einem Regenschirm, lachend und in italienischer Sprache plaudernd.

Tartarin schwankte keinen Augenblick zwischen dem Polizisten und den Nihilisten.

– Kennen Sie jenen Menschen, zum wenigsten?» sagte er ganz leise, seinen Kopf dem frischen Gesicht Sonia's nähernd und sich in ihren klaren Augen spiegelnd, die plötzlich wild und hart blickten, während nur ein Zucken ihrer Wimper «ja» antwortete.

Unsern Helden überlief ein Schauder, oder vielmehr, wie im Theater, jenes köstliche Ueberrieseln der Haut, das uns ergreift, wenn die Handlung sich verwickelt und wir uns tiefer in den Stuhl zurücklehnen, um besser zu sehen oder zu hören. Persönlich unbetheiligt, von den entsetzlichen Aengsten befreit, die ihn die ganze Nacht verfolgt, ihn gehindert hatten, seinen Schweizer Kaffee, Honig und Butter, mit Behagen zu geniessen, und die auf dem Dampfschiff ihn fern von dem hohen Verdeck gehalten, athmete er aus voller Brust auf, fand das Leben schön und die kleine Russin unwiderstehlich reizend in ihrem Reisehütchen und der Jersey, welche die Arme und die noch schmächtige, aber überaus elegante Büste eng umspannte. Und dabei so kindlich! Kindlich durch das unschuldige Lachen, die weichen, zarten Wangen, die liebliche Anmuth, mit der sie den Plaid über die Kniee des Bruders breitete... «Sitzest du bequem?... Du frierst nicht?» Wie konnte man glauben, dass dies kleine, so zierliche Händchen in dem dänischen Handschuh den moralischen Muth und die physische Kraft hätte, einen Menschen zu tödten!

Auch die Andern schienen nicht blutdürstig zu sein; bei Allen dasselbe unbefangene Lachen, nur ein wenig gezwungen und schmerzlich auf den dünnen Lippen des Kranken, ein wenig lauter bei Manilow, der, unter seinem struppigen Bart, sich noch ganz jugendlich den Ausbrüchen überquellender Heiterkeit überliess, wie ein Schüler auf der Ferienreise.

Auch der dritte Gefährte, den sie Bolibin nannten, und der auf dem Bock mit dem Italiener plauderte, unterhielt sich prächtig, drehte sich oft um, seinen Freunden die Geschichten zu verdolmetschen, die ihm der falsche Sänger erzählte: seine Erfolge an der Petersburger Oper, seine galanten Abenteuer, die Manschettenknöpfe, welche die abonnirten Damen ihm bei seiner Abreise zum Geschenk gemacht, aussergewöhnliche Knöpfe mit drei inkrustirten Noten, la, do, ré (l'adoré); und dies in dem Landauer wiederholte Wortspiel rief so grosse Fröhlichkeit hervor, und der Tenor selbst, sich in die Brust werfend, zwiebelte so eifrig seinen Schnurrbart, mit zugleich einfältiger und siegesbewusster Miene Sonia beäugelnd, dass Tartarin sich fragte, ob er es nicht doch mit blossen Touristen, mit einem wirklichen Tenor zu thun habe.

Die Postwagen, immer im stärksten Trabe, rollten über Brücken, an kleinen Seen, blühenden Feldern, schönen Obstgärten vorbei, die nass und verödet da lagen, denn es war Sonntag, und die Bauern, die des Weges daher kamen, waren alle festlich gekleidet, die Frauen trugen lange Zöpfe und silberne Ketten. Die Strasse begann anzusteigen, sich zwischen Eichen- und Buchenwäldern hinschlängelnd; allmählig entfaltete sich zur Linken das prächtigste Panorama; bei jeder terrassenförmigen Biegung Flüsse, Thäler, aus denen Kirchthürme emporstrebten, und ganz im Hintergrunde der schneegekrönte Gipfel des Finsteraarhorns, unter der verschleierten Sonne weiss herüberschimmernd. Der Weg gewann bald ein düsteres, wilderes Aussehen. Auf der einen Seite tiefe Schluchten, eine Wald-Wildniss auf dem schroffen Abhang, vom Sturm gekrümmte, verkrüppelte Bäume, und tief unten ein schäumender, brüllender Sturzbach; zur Rechten ein ungeheurer überhängender Felsblock, aus dessen Spalten junges Gestrüpp hervordrang.

Das Lachen in dem Landauer war verstummt, sie waren Alle von dem wunderbaren Schauspiel ergriffen und suchten, die Köpfe erhebend, die Höhe der granitnen Schlucht zu erspähen.

– Gleich den Wäldern auf dem Atlas!... Man könnte sich dorthin versetzt glauben...» sagte Tartarin ernst; und da seine Bemerkung unbeachtet blieb, fügte er hinzu: «ohne das Gebrüll der Löwen freilich –

– Sie haben es gehört, mein Herr?» fragte Sonia.

Den Löwen gehört, er!... er! Und mit einem nachsichtigen Lächeln sagte er: «Ich bin Tartarin von Tarascon, mein Fräulein....»

Mau denke sich nur diese Barbaren! Wenn er gesagt hätte: «Ich heisse Dupont,» es wäre für sie ganz dasselbe gewesen. Der Name Tartarin war ihnen unbekannt.

Er ärgerte sich aber nicht darüber und antwortete dem jungen Mädchen, welches wissen wollte, ob das Gebrüll des Löwen ihm Furcht eingejagt habe: «Nein, mein Fräulein.... Mein Kameel zitterte wohl wie im Fieber unter meinen Beinen, ich aber untersuchte mein Zündhütchen so ruhig, als hätte ich einer Herde Kühe gegenübergestanden.... Auf eine gewisse Entfernung ist es ein Ton, ungefähr so ...»

Und um Sonia einen genauen Begriff davon zu geben, stiess er mit seinem kräftigsten Bass ein gewaltiges «Möh»... aus, das, anschwellend, weithin tönend, von dem Echo des Felsens zurückgeworfen wurde. Die Pferde bäumten sich; in allen Wagen fuhren die Reisenden voller Entsetzen in die Höhe und fragten sich, welcher Unfall die Ursache eines derartigen Geschreis sein könne; den Alpensteiger erkennend, dessen helmartige Kopfumhüllung und überall Raum suchende Ausrüstung das halb zurückgeschlagene Verdeck des Landauers frei liess, fragten sie sich wiederum: «Wer ist denn jener wahnsinnige Mensch?»

Er aber fuhr ganz ruhig fort, eine umständliche Schilderung von der Löwenjagd zu geben, die beste Art, das Thier anzugreifen, es niederzuschlagen, es in Stücke zu zerlegen; er beschrieb die diamantene Mücke, die er als Visirpunkt vorn auf die Büchse setzte, um in der Nacht sicherer zu treffen. Das junge Mädchen hörte ihm zu, vornüber gebeugt, die Nasenflügel in lebhafter Erregung.

«Wie es heisst, geht Bombonnel noch auf die Jagd, sagte der Bruder; haben Sie ihn gekannt?

– Ja, sagte Tartarin, doch ohne Wärme.... Er ist kein ungeschickter Bursch.... Aber wir haben Bessere als ihn.»

Das war deutlich gesprochen! Darauf setzte er in wehmüthigem Ton hinzu: «Wenigstens, es ist doch eine gewaltige Aufregung, eine solche Jagd auf grosse Raubthiere. Wenn man sie eingestellt hat, scheint das Leben Einem leer; man weiss nicht, womit man es dann ausfüllen soll.»

Manilow, welcher französisch verstand, ohne es zu sprechen, und dem Tarasconnesen sehr aufmerksam zuzuhören schien, während eine tiefe Falte sich über seine Stirn hinzog, die den Mann aus dem Volke kennzeichnete, sagte lachend einige Worte zu seinen Freunden.

«Manilow behauptet, dass wir zu der gleichen Brüderschaft gehören, dolmetschte Sonia, zu Tartarin gewendet.... Wie Sie, machen auch wir Jagd auf die grossen Raubthiere.

Té! ja, freilich... auf Wölfe, Eisbären....

– Ja, auf Wölfe, Eisbären und auf noch andere schädliche Thiere....»

Und wieder das laute, unauslöschliche Lachen, diesmal aber mit einem scharfen, grausamen Beiklang, ein Lachen, das alle Zähne zeigte und Tartarin daran erinnerte, in welch trauriger, absonderlicher Gesellschaft er sich befand.

Auf einmal hielten die Wagen an. Die Strasse wurde steiler und machte an dieser Stelle einen weiten Bogen, um auf die Höhe des Brünig zu gelangen, die man auf einem schroff ansteigenden Fussweg mit einer Abkürzung von zwanzig Minuten erklimmen konnte. Trotz des am Morgen gefallenen Regens, des durchweichten schlüpfrigen Bodens, stiegen die Reisenden, eine augenblickliche Aufheiterung benutzend, beinahe alle aus und verloren sich, einer nach dem andern, auf dem schmalen Bergpfad.

Aus dem Landauer Tartarin's, der zuletzt kam, sprangen die Männer zur Erde; Sonia aber, welche die Wege zu schmutzig fand, setzte sich im Gegentheil bequem zurecht, und als der Alpensteiger, etwas aufgehalten durch sein rasselndes Gepäck, den Andern folgen wollte, sagte sie halblaut zu ihm: «Bleiben Sie doch, leisten Sie mir Gesellschaft...» und dies in so einschmeichelndem Ton!... Der arme Mann war dadurch ganz ausser Fassung gebracht, und sann sich schon einen eben so köstlichen wie unwahrscheinlichen Roman aus, der das alte Herz in ungestüme Wallungen versetzte.

Er war schnell enttäuscht, als das junge Mädchen sich ängstlich hinausbeugte und Bolibin mit dem Italiener beobachtete, die lebhaft beim Eingang in eine Schlitte mit einander sprachen; Manilow und Boris waren ihnen vorausgegangen. Der falsche Tenor zögerte. Ein geheimer Instinkt schien ihn zu warnen, sich nicht allein in Gesellschaft dieser drei Männer vorzuwagen. Endlich entschloss er sich, und Sonia sah ihn aufwärtssteigen, während sie die runde Wange mit einem Büschel violetter Cyclamen streichelte, jener Alpenveilchen, deren untere Blattseite mit den frischen Farben der Blüthe geziert ist.

Der Landauer fuhr im Schritt, der Kutscher war vom Bock abgestiegen und ging mit einigen seiner Kameraden voraus; Tartarin, sehr bewegt, eine dunkle That ahnend, getraute sich nicht, seine Nachbarin anzublicken, so sehr fürchtete er, ein Wort, einen Blick, der ihn zum Theilnehmer oder wenigstens zum Mitschuldigen in dem Drama machen könnte, dessen Nähe er fühlte. Sonia aber beachtete ihn nicht; ihr Auge war starr, und mit den Blumen mechanisch die sammetweiche Haut fächelnd, sagte sie nach einer langen Weile:

«Also Sie wissen, wer wir sind, ich und meine Freunde.... Nun, was denken Sie von uns? Was denken von uns die Franzosen?»

Der Held erblasste, erröthete. Er hatte keine Lust, durch einige unkluge Worte so rachsüchtige Menschen gegen sich aufzubringen; und wie sollte er andererseits mit Mördern unterhandeln? Er zog sich durch eine Metapher aus der Klemme.

«Je nun.... Mein Fräulein, Sie sagten mir so eben, dass wir derselben Brüderschaft angehören... Jäger von Schlangen und Ungeheuern, von Despoten und fleischfressenden Thieren.... So will ich Ihnen also als ein Bruder in Sanct Huberto antworten.... Mein Gefühl ist, dass man selbst gegen Raubthiere sich loyaler Waffen bedienen soll.... Unser Jules Gérard, der berühmte Löwentödter, wandte explodirende Kugeln an.... Ich habe das niemals für zulässig gehalten und es niemals gethan.... Wenn ich dem Löwen oder dem Panther zu Leibe ging, pflanzte ich mich vor das Thier hin, ihm gerade gegenüber, mit einer guten zweiläufigen Büchse, und piff! paff! eine Kugel in jedes Auge.

– In jedes Auge!... wiederholte Sonia.

– Niemals habe ich mein Ziel verfehlt.»

Er bekräftigte das Gesagte, glaubte noch an Ort und Stelle zu sein.

Das junge Mädchen betrachtete ihn mit naiver Bewunderung, ihren Gedanken laut aussprechend:

– Das war jedenfalls das Sicherste.»

Ein plötzliches Knacken in den Zweigen, in den Büschen, und das Gestrüpp über ihnen zertheilte sich, so schnell, so katzenartig, dass Tartarin, den Kopf voll Jagdabenteuer, sich noch im Hinterhalt in Saccar hätte glauben können. Manilow sprang von der Böschung, unhörbar, dicht neben dem Wagen hernieder. Seine kleinen Schlitzäuglein glänzten in dem von Disteln zerschrammten Gesicht, der Bart und die wie Hundsohren herunterhängenden Haare trieften von dem Wasser des Gezweiges. Ausser Athem, die plumpen, kurzen, behaarten Hände auf den Wagenschlag gestützt, rief er auf russisch Sonia etwas zu, die sich zu Tartarin wandte und in kurzem Ton sagte:

«Ihr Seil... schnell....

– Mein... mein Seil?... stotterte der Held.

– Schnell, schnell. Sie sollen es gleich wieder haben.»

Und ohne ihm eine andere Erklärung zu geben, half sie ihm mit ihren kleinen behandschuhten Fingern, sich von dem berühmten, zu Avignon verfertigten Seil zu befreien. Manilow nahm es, vor Freude grunzend, in Empfang und kletterte mit der Gewandtheit einer wilden Katze in das Gestrüpp zurück.

«Was geht da vor? Was wollen sie thun?... Er schaut grimmig drein....» So murmelte Tartarin, aber er wagte es nicht, seinen vollen Gedanken zu äussern.

Manilow grimmig? Ach, man sah wohl, wie schlecht er ihn kannte. Kein besseres, sanfteres, mitleidigeres Geschöpf, und als Beweis für diese Ausnahmsnatur erzählte Sonia, mit hellem, blauem Blick, wie ihr Freund einmal, nachdem er einen gefährlichen Auftrag des revolutionären Comités ausgeführt hatte und in den zu seiner Flucht bereitstehenden Schlitten sprang, dem Kutscher drohte, er werde um jeden Preis aussteigen, wenn er nicht aufhöre, denken Sie, sein Thier, dessen Geschwindigkeit ihn doch rettete, zu peitschen und abzuhetzen.

Tartarin fand den Zug des klassischen Alterthums würdig; darauf an all die Menschenleben denkend, welche von diesem selben Manilow hingeopfert worden waren, der eben so unbewusst handelte wie ein Erdbeben oder der Ausbruch eines Vulkans, aber nicht wollte, dass in seiner Gegenwart einem Thier Böses geschah, fragte er das junge Mädchen mit harmloser Miene;

«Sind viele Menschenleben bei der Explosion im Winterpalast umgekommen?

– Viel zu viel, antwortete Sonia traurig. Und der Einzige, der sterben sollte, ist seinem Schicksal entgangen.»

Sie blieb stumm, wie verdrossen, und dabei so hübsch bei gesenktem Kopf, und die langen goldblonden Wimpern beschatteten die zartrosige Wange. Tartarin schalt sich, dass er sie betrübt habe, von Neuem gewonnen durch den Reiz der Jugend und Frische, der von dem seltsamen, kleinen Wesen ausging.

«Der Krieg also, den wir führen, scheint Ihnen ungerecht, unmenschlich?» Sie sagte ihm das ganz nahe an seinem Gesicht, mit ihrem Blick ihn bezaubernd; und der Held fühlte, dass er schwach wurde....

«Sie glauben nicht, dass jede Waffe gut und gesetzlich sei, um ein Volk, das im Todesröcheln liegt, das am Ersticken ist. zu erretten?...

– Ohne Zweifel, ohne Zweifel....»

Das junge Mädchen wurde immer dringender, je schwächer Tartarin sich zeigte. Sie fuhr fort:

«Sie sprachen so eben davon, wie schwer es ist, ein leeres Dasein auszufüllen. Scheint es Ihnen nicht, es wäre edler, begehrenswerther, sein Leben für eine grosse Sache auf's Spiel zu setzen, als es zu gefährden, indem man Löwen tödtet oder Gletscher besteigt?

– Sicher ist...» sagte Tartarin, wie trunken, halb von Sinnen, beängstigt durch das wahnsinnige unwiderstehliche Verlangen, die kleine glühende Hand zu fassen und zu küssen, die so kindlich auf seinem Arm ruhte wie dort oben, in der Nacht auf Rigi-Kulm, als er ihr den Schuh wieder anlegte. Endlich, seiner selbst nicht mehr mächtig, und die zarten behandschuhten Finger zwischen die seinen nehmend:

«Hören Sie, Sonia,» sagte er mit seiner gutmüthigen, polternden, väterlich vertraulichen Stimme: «Hören Sie, Sonia....»

Ein plötzliches Anhalten des Landauers unterbrach ihn. Man war auf die Höhe des Brünig gelangt; die Reisenden und die Kutscher kehrten zu ihren Wagen zurück, um die verlorene Zeit einzuholen und im Galopp das nächste Dorf zu erreichen, wo man zu Mittag essen und die Pferde wechseln sollte. Die drei Russen nahmen ihre Plätze wieder ein, der des Italieners aber blieb unbesetzt,

«Jener Herr ist in einen der ersten Wagen gestiegen,» sagte Boris auf die Frage des Kutschers, und sich an Tartarin wendend, der seine Unruhe nicht zu verbergen vermochte, fügte er hinzu:

«Sie müssen ihm Ihr Seil wieder abfordern, er hat es bei sich behalten wollen.»

Darauf erneutes Gelächter in dem Landauer, und für den wackern Tartarin das Zurückfallen in die qualvollste Rathlosigkeit. Er wusste nicht, was er angesichts dieser fröhlichen Laune und der unschuldigen Miene der muthmasslichen Mörder denken, was er glauben sollte. Während Sonia ihren Kranken in Mäntel und Plaids hüllte, denn die Luft auf der Höhe wurde noch schärfer durch die Geschwindigkeit des Fahrens, erzählte sie in russischer Sprache ihre Unterhaltung mit Tartarin, mit reizendster Betonung, einzelne Piff! Paff! dazwischen werfend, die ihre Gefährten nach ihr wiederholten, die Einen, indem sie den Helden bewunderten; Manilow, indem er ungläubig den Kopf dazu schüttelte.

Die Poststation!

Sie liegt mitten in einem grossen Dorf; es ist ein altes Wirthshaus, mit einer wurmstichigen Holzgalerie, das Schild hängt an einer verrosteten Eisenstange. Die lange Wagenreihe hält hier an, und während ausgespannt wird, stürzen die ausgehungerten Passagiere in einen grün angestrichenen, modrig riechenden Saal im ersten Stockwerk, wo die Table d'hôte für höchstens zwanzig Personen gedeckt ist. Es sind aber ihrer sechzig, und fünf Minuten lang hört man nichts als ein entsetzliches Stossen, Schreien, heftigen Wortwechsel zwischen Reis- und Pflaumen-Essern, die sich um die Compotschalen streiten, zur grössten Bestürzung des Gastwirthes, der den Kopf verliert, als ob die Post nicht täglich zu derselben Stunde einträfe, und der die Kellnerinnen zur Eile treibt, die gleichfalls von chronischer Ueberstürzung ergriffen werden, ein vortrefflicher Vorwand, um nur die Hälfte der auf der Speisekarte stehenden Gerichte aufzutragen.

«Wenn wir im Wagen frühstückten!...» sagt Sonia, von dem Durcheinander-Rennen und Drängen beängstigt; und da Niemand Zeit hat, sich um sie zu kümmern, übernehmen die jungen Leute die Bedienung. Manilow schwenkt triumphirend eine kalte Hammelskeule, Bolibin ein langes Brod und eine Wurst; aber der beste Fourrier ist doch Tartarin. Gewiss, es bot sich ihm die schönste Gelegenheit, in dem Wirrwarr der Poststation, sich von seinen Gefährten zu trennen, sich wenigstens zu versichern, ob der Italiener wieder erschienen war; aber er hat gar nicht daran gedacht, einzig und allein mit der Sorge um das Mittagessen der «Kleinen»beschäftigt, und dem Ehrgeiz, Manilow und den Andern zu zeigen, was ein Ritter von Tarascon Alles zu leisten vermag.

Da er nun ernst und starren Blickes die Treppe des Hotels herabsteigt, in den kräftigen Händen ein grosses Theebrett tragend, mit Tellern, Servietten, allerlei Gerichten, Schweizer Champagner in Flaschen mit vergoldeter Kapsel, da klatscht Sonia in die Hände und beglückwünscht ihn:

«Wie haben Sie das nur angefangen?

– Ich weiss nicht, man hilft sich wie man kann, té!... so sind wir Alle in Tarascon.»

O, die glücklichen Minuten! Dies köstliche Mittagessen, es wird im Leben des Helden noch lange zählen! Sonia gegenüber, auf ihrem Schooss beinahe, und wie zwischen einer Operetten-Decoration; dazu der ländliche Platz mit den bunten Blumenbeeten, zwischen denen die silbernen Ketten und das schneeweisse Brustlatz der Bernerinnen leuchten, die gleich Puppen, je zwei und zwei umherspazieren.

Wie herrlich schmeckt ihm das Brod, wie saftig sind die Würste! Der Himmel selbst nimmt Theil an seinem Glück; er zeigt sich gnädig, leicht verschleiert; es regnet freilich, aber so sanft, einzelne Tropfen nur, gerade genug, um den Champagner zu taufen, der für ein südliches Temperament so gefährlich ist.

Unter der Veranda des Hotels mengt ein Tirolerquartett, zwei Riesen und zwei Zwerginnen, in grellen, unschönen Lappen, als wären sie einem bankerotten Messtheater entlaufen, seine hohen Kopftöne mit dem Geklapper von Tellern und Gläsern. Sie sind hässlich, dumm, schwerfällig. Tartarin findet sie prächtig; er wirft ihnen mit vollen Händen kleine Silbermünzen zu, zum grossen Erstaunen der Dorfbewohner, welche den Landauer umringen.

«Fife le Vranse!» meckert eine Stimme in der Menge, aus der ein grosser Alter hervortritt, in einem absonderlichen blauen Rock mit silbernen Knöpfen, dessen Schösse den Boden streifen; auf dem Kopf trägt er einen riesenhaften Tschako in Form eines Sauerkrautfasses, und der Tschako mit dem mächtigen Federbusch ist so schwer, dass der Alte genöthigt ist, beim Gehen wie ein Seiltänzer mit den Armen zu balanciren.

«Fieux soldat... carte royal... Charles tix.»

Der Tarasconnese, dem die Erzählungen Bompard's noch in Erinnerung sind, lacht. Und leise, verständnissinnig mit den Augen zwinkernd, spricht er vor sich hin:

«Kenne das, mein Alter...»Aber er giebt ihm trotzdem eine Silbermünze und giesst ihm ein Glas voll, das der Alte lachend annimmt, eben so, wie er, mit den Augen zwinkernd, ohne zu wissen, warum. Darauf die ungeheure Porzellanpfeife aus einem Mundwinkel ziehend, erhebt er sein Glas und trinkt: «Auf Ihr Wohl, Alle miteinander!» was Tartarin in der Meinung bestärkt, dass er es mit einem Kollegen von Bompard zu thun habe.

Was thut's? ein Toast ist so gut wie ein anderer.

Und aufrecht im Wagen stehend, mit erhobenem Glas, mit starker Stimme, die Thränen traten ihm vor Rührung in die Augen, trank Tartarin zuerst, «auf Frankreich, das geliebte Vaterland!» dann auf die gastfreundliche Schweiz, der er glücklich ist, hier seinen ehrerbietigen Dank für die herzliche Aufnahme ausdrücken zu können, die sie allen Besiegten, allen Verbannten zu Theil werden lässt. Endlich, das Glas seinen Reisegefährten hinhaltend, wünschte er ihnen mit gesenkter Stimme, dass sie bald in ihre Heimath zurückkehren dürften, dort liebende Verwandte, zuverlässige Freunde anträfen, eine ehrenwerthe Thätigkeit und das Ende all ihrer Zwietracht fänden. Denn man kann ja sein ganzes Leben nicht damit zubringen, sich gegenseitig zu zerfleischen. Nicht wahr?

Während des Toastes lächelte der Bruder Sonia's kühl und spöttisch hinter seiner goldenen Brille. Manilow, mit vorgestrecktem Kopfe, die dichten Brauen zusammengezogen, so dass seine Stirnrunzeln sich immer tiefer eingruben, fragte sich, ob der dicke Narr nicht bald mit seinem Geschwätz aufhören werde, während Bolibin von seinem Sitze herab mit seinem gelben, drollig verkniffenen Tartarengesicht Grimassen schnitt und einem kleinen Affen ähnelte, der auf den Schultern Tartarin's sass.

Das junge Mädchen allein hörte sehr ernsthaft zu, sie versuchte es wohl, diesen sonderbaren Menschentypus zu verstehen. Denkt er Alles, was er sagt? Hat er Alles gethan, was er erzählt? Ist er verrückt. ist er ein Schauspieler oder bloss ein Schwätzer, wie Manilow behauptet, der als ein Mann der That diesem Wort noch eine ganz besondere verächtliche Bedeutung giebt.

Die Gelegenheit zur weiteren Prüfung bot sich sofort. Tartarin hatte seinen Toast beendigt und setzte sich nieder, als plötzlich ein Schuss gehört wurde, ein zweiter, und noch einer, die nicht weit vom Wirthshaus fielen und ihn in die Höhe schnellten. Er spitzte das Ohr, er hatte Pulver gerochen.

«Wer hat geschossen?... Wo ist er?... Was geht vor?»

Vor seinem erfinderischen Kopf geht schon ein ganzes Drama vorüber, ein bewaffneter Ueberfall, die Gelegenheit, die Ehre und das Leben dieses reizenden Mädchens zu vertheidigen. Aber nein, das Knallen kommt einfach vom Stand her, wo die Dorfjugend, wie alle Sonntag, nach der Scheibe schiesst. Und da die Pferde noch nicht angespannt sind, macht Tartarin den Vorschlag, sich die Sache anzuschauen. Er hat dabei seinen Hintergedanken, Sonia den ihrigen; sie nimmt an. Von dem alten Gardisten geführt, gehen sie über den Platz und öffnen sich einen Weg durch die Menge, die ihnen neugierig folgt.

Unter einem von frisch behauenen Tannenstämmen gestützten Strohdach standen die Schützen. Sie hatten ihre eignen Stutzen mitgebracht, es waren meist Standstutzen alten Systems, Vorderlader, mit denen die meisten vortrefflich schossen. Tartarin, mit gekreuzten Armen, schaute stumm zu, beurtheilte, kritisirte die einzelnen Schüsse sehr laut, gab seine Rathschläge, schoss aber nicht. Die Russen beobachteten ihn und gaben sich Zeichen.

«Piff... paff!...» rief höhnisch Bolibin im Accent von Tarascon und mit den leeren Armen anlegend. Tartarin wendet sich um, feuerroth vor Zorn:

«Ganz vortrefflich, junger Mann.... Piff... paff!... und so oft Sie wollen....»

Rasch hatte er einen alten Stutzen im Arm, der wohl schon ganzen Generationen von Gemsjägern gedient hatte.... Piff... paff! Es ist gethan. Die Kugel sitzt mitten in der Scheibe. «Er hat den Zweck herausgeschossen», wie man in der Schweiz sagt. Ein ungeheurer Beifallsruf begrüsst ihn von allen Seiten. Sonia triumphirt, Bolibin lacht nicht mehr.

«Aber das ist nichts, sagt Tartarin... Sie sollen sehen....»

Die Scheibe genügt ihm nicht mehr, er sucht ein Ziel, irgend etwas zu treffen, die Menge weicht vor diesem sonderbaren Menschen erschreckt aus, der jetzt mit rollenden Augen, den Stutzen in der Faust, dem alten Gardisten den Vorschlag macht, ihm auf fünfzig Schritt die Pfeife aus dem Munde zu schiessen. Der Alte stösst ein fürchterliches Gebrüll aus und verschwindet in der Menge, nur noch sichtbar durch seinen hohen Federbusch, der über die Köpfe der dicht gedrängten Menge fortschwankt. Aber es hilft nichts, die Kugel muss irgendwo untergebracht werden. «Té, pardi, wie in Tarascon....»

Und der alte Mützenjäger wirft seine Kopfbedeckung aus Leibeskräften hoch in die Luft, schiesst, während sie fällt und durchbohrt sie. «Bravo!» sagt Sonia und steckt in die kleine Oeffnung, welche die Kugel im Tuch der Mütze gemacht, den Strauss Gebirgsveilchen, der eben noch ihre Wange berührt hatte. Mit diesem hübschen Siegeszeichen besteigt Tartarin wieder seinen Wagen. Das Posthorn bläst, der Zug setzt sich in Bewegung, die Pferde rennen im schärfsten Trab die steilen Windungen der wundervollen, dem Fels abgewonnenen Strasse nach Brienz hinab, die durch Prellsteine auf je zwei Meter Entfernung von einem über tausend Fuss tiefen Abgrund getrennt ist. Tartarin aber sieht die Gefahr nicht, er sieht auch die Landschaft nicht mehr, das in durchsichtigem Wasserdampf gebadete Meiringer Thal mit der in ein geradliniges Bett gefesselten Aar, er sieht nicht den See, nicht die Dörfer, die in der Ferne sich über einander aufbauen, nicht den weiten Berghorizont, die Gletscher, die sich mit den Wolken vermengen oder bei der nächsten Windung der Strasse ihren Platz verändert haben, sich verschieben und zusammenrücken wie die Theile einer Theaterdecoration.

Von zärtlichen Gedanken weich gestimmt, bewundert der Held das hübsche Kind ihm gegenüber, bedenkt, dass der Ruhm nur ein halbes Glück ist, dass es traurig ist, wie Moses, an zu viel Grösse einsam zu altern, und dass jene zarte Blume des Nordens, wenn sie in den kleinen Garten von Tarascon verpflanzt würde, die Monotonie desselben wohl brechen, dass sie sich darin noch lieblicher ausnehmen und duften würde als der ewige Baobab (arbor gigantea) in seinem engen Topf. Sonia, mit ihrer breiten denkenden und willenskräftigen Stirn, mit ihren Kinderaugen, betrachtet ihn auch und träumt. Aber weiss man je, wovon die jungen Mädchen träumen?


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