Alphonse Daudet
Tartarin in den Alpen
Alphonse Daudet

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I

Sein Erscheinen auf dem Rigi-Kulm. – Wer? – Wie man an einem Tische von sechshundert Gedecken sich unterhält. – Reis und Pflaumen. – Ein improvisirter Ball. – Der Unbekannte schreibt sich in's Fremdenbuch ein. – P. C. A.

Es war am 10. August 1880, zur fabelhaften Stunde jenes in den Reisehandbüchern von Joanne und Baedeker so vielgerühmten Sonnenunterganges in den Alpen, als ein graugelber, hie und da von spiralförmig aufsteigenden Schneewellen gepeitschter dicker Nebel den Gipfel des Rigi (Regina Montium) mit seinem Riesenhotel einhüllte, das auf der kahlen Höhe droben sich so sonderbar ausnimmt, reich befenstert wie eine Sternwarte, massiv wie eine Citadelle, und wo auf einen Tag und eine Nacht die reisenden Sonnenanbeter sich zusammenfinden, wichtig thun, und sich gegenseitig langweilen.

Die Bewohner dieser ungeheuren und prunkvollen Karavanserei zählten peinvoll die Minuten oben in ihren Zimmern oder streckten sich gähnend auf den Divans der mitten im Sommer geheizten, feuchtwarmen Lesesäle. Anstatt auf das verheissene Schauspiel am Abendhimmel, blickten sie auf die draussen umherwirbelnden weissen Schneestäubchen und auf die soeben auf dem Perron angezündeten monumentalen Kandelaber, deren dicke Scheiben unter den heftigen Windstössen erzitterten.

So hoch hinaufzuklettern, aus den vier Himmelsrichtungen herbeizuströmen, um dies zu sehen.... O Baedeker!....

Plötzlich tauchte etwas aus dem Nebel auf und näherte sich unter klirrendem Getön dem Hotel. Die eigenthümlichen Bewegungen rührten wohl von der sonderbaren Bepackung des herankeuchenden Wesens her.

Die müssigen Touristen, die Nasen gegen die Scheiben gedrückt, die misses, neugierig die kleinen Titusköpfe vorstreckend, hielten die auf etwa zwanzig Schritt entfernte, im Schnee sich vorwärts bewegende Erscheinung für eine verirrte Kuh, dann für einen mit seinem Handwerkzeug beladenen Kesselflicker.

Auf zehn Schritt wechselte die Gestalt wieder. Sie zeigte eine Armbrust auf der Schulter, das herabgelassene Visir am Helm eines mittelalterlichen Schützen, auf diesen Bergen etwas noch Unwahrscheinlicheres als eine Kuh oder ein umherziehender Kesselflicker.

Auf der Freitreppe war der Armbrustschütze nur noch ein dicker, untersetzter stämmiger Mann, der jetzt innehielt, um sich zu verschnaufen, den Schnee von seinen gelbtuchenen Gamaschen, eben solcher Mütze und der gestrickten, Ohren, Hinterkopf und Hals deckenden Haube schüttelte, aus welchem Kleidungsstück von dem Gesicht nur ein Paar Büschel ergrauenden Barthaars und ungeheure, wie Stereoskope gewölbte grüne Brillengläser hervorguckten. Die Hacke, der Alpenstock, ein Bergsack auf dem Rücken, ein Bündel gerollter, kreuzweis über einander gelegter Seile, eiserne Klammern und Haken am Gürtel einer englischen Joppe mit breiten Taschenklappen vervollständigten die Ausrüstung eines vollendeten Alpensteigers.

Auf dem öden Gipfel des Montblanc oder des Finsteraarhorns wäre diese Erscheinung etwas sehr Natürliches gewesen; aber auf dem Rigi-Kulm, zwei Schritt von der Eisenbahn!

Der Alpensteiger kam freilich nicht von der Seite der Station her und das Aussehen seiner hohen Gamaschen wies auf einen langen Marsch durch Schnee und Koth.

Einen Augenblick betrachtete er das Hotel und dessen Nebengebäude, höchlich verwundert darüber, nahezu zweitausend Meter über dem Meeresspiegel ein so gewaltiges Bauwerk, durch Glasscheiben geschlossene Galerien, offene Säulengänge, sieben vielfenstrige Stockwerke und einen breiten Perron anzutreffen, der sich zwischen zwei Reihen auf eleganten Ständern ruhenden Pechpfannen hinzog, welche dieser Bergeshöhe fast das Aussehen des Opernplatzes in winterlicher Abenddämmerung verliehen.

So verwundert er aber auch sein mochte, die Hotelbedienung war es noch mehr als er; und als er in den ungeheuren Flur vordrang, entstand ein sonderbares Gedränge vor allen Thüren, die zu den Sälen führten: Herren mit Billardstöcken in der Hand, andere mit geöffneten Zeitungen, Damen mit einem Buch oder einer Handarbeit, und tief im Hintergrunde, da wo die Treppe aufsteigt, beugte es sich Kopf an Kopf über das Geländer zwischen die Ketten des Elevators.

Der Mann sagte ganz laut, mit starker, tiefer Bassstimme, wie man sie nur im mittäglichen Frankreich kennt, und die wie ein Paar Klappschüsseln tönte:

«Nichtswürdiges Pech! Ist das ein Wetter!...»

Und im gleichen Moment blieb er stehen und nahm seine Mütze und die Brille ab.

Er erstickte fast.

Das blendende Licht, die vom Gas und den Oefen ausströmende Wärme im Gegensatz zu der Kälte draussen, dann der ganze prunkvolle Apparat, die hohen Räume, die aufgeputzten Portiers mit den Worten REGINA MONTIUM in goldenen Buchstaben auf ihren Admiralsmützen, die weissen Halsbinden der Kellner und das Bataillon Schweizerinnen in Nationaltracht, das auf ein Glockenzeichen herbeieilte, alles das betäubte ihn eine Sekunde lang, aber nicht länger als eine.

Er fühlte, dass alle Blicke auf ihm ruhten und auf der Stelle fand er seine Fassung wieder, wie ein Schauspieler vor vollen Logen.

«Der Herr befehlen?...»

Es war der Oberkellner, der ihn mit kaum geöffneten Lippen anredete; ein sehr feiner Oberkellner, modernstes Jaquett, seidenhaariger Backenbart, der Kopf eines Damenschneiders.

Der Alpensteiger verlangte ohne Zaudern ein Zimmer, «ein flottes, hübsches Zimmerchen wenigstens;» er stellte sich zu dem majestätischen Oberkellner wie zu einem ehemaligen Schulkameraden.

Aber fast hätte er sich geärgert, als die Bernerin, steif wie ihr mit silbernen Kettchen behangener Brustlatz, und die schneeweissen Aermel nicht minder steif gestärkt, ihm mit brennender Kerze entgegentrat und die Frage an ihn richtete, ob er vielleicht des Elevators sich bedienen möchte. Der Vorschlag, ein Verbrechen zu begehen, hätte in seinem Herzen keine tiefere Entrüstung erregen können.

...Ein Hebestuhl, ein Aufzug, ihm!... ihm! Bei diesem Ausruf, bei seiner Armbewegung fing die ganze eiserne Ausrüstung des Mannes zu klirren an.

Aber plötzlich wieder sanfter gestimmt, sagte er in liebenswürdigstem Tone zu der Schweizerin: «pedibus cum beinis, mein süsses Kätzchen...» und er stieg hinter ihr her die Treppe hinauf, mit seinem breiten Rücken die Leute auf seinem Wege bei Seite schiebend, während durch das ganze grosse Hotel die einzige lange Frage von Mund zu Mund in allen Sprachen der Welt sich wiederholte: «Was ist nur das für ein Wesen?» Da ertönte der zweite Glockenschlag, der zum Diner rief, und Niemand kümmerte sich mehr um die ungewöhnliche Persönlichkeit.

 

Der Speisesaal auf Rigi-Kulm ist ein wahres Schauspiel.

Sechshundert Gedecke auf einem ungeheuren Tisch in Hufeisenform, auf welchem Schalen mit Reis und gekochten Pflaumen in langer Reihe mit Blattpflanzen abwechselten, während in den hellen oder braunen Saucen die Flämmchen der Kronleuchter und die Vergoldungen der getäfelten Saaldecke sich wiederspiegelten.

Wie bei mancher schweizerischen Table d'hôte spalteten Reis und Pflaumen die Gäste in zwei feindliche Parteien und schon an den grimmigen oder lüsternen Blicken, die bei Beginn des Diners auf die Dessertschalen geworfen wurden, errieth man leicht, welcher Partei die Gäste angehörten. Die Reisesser erkannte man auch an ihrer krankhaften Blässe, die Pflaumenesser an ihrem vollblütigen Aussehen.

Den weisen schweizerischen Hotelwirthen war die pathologische Thatsache nicht entgangen, dass, wie die essende Menschheit überhaupt, die reisende Menschheit im Besonderen in zwei grosse Klassen einzutheilen ist: in diejenige, welche zu ihrem leiblichen Wohlsein des Reises, in die andere, welche der befreienden Pflaume bedarf. Man kann seinen Gästen nicht liebenswürdiger entgegenkommen. Und sie verstanden Alle diesen zarten sanitarischen Wink.

An jenem Abend bildeten die zu Congestionen geneigten, also die Spitalpflaumen, die Mehrzahl; sie zählten sehr wichtige Persönlichkeiten, europäische Berühmtheiten, in ihren Reihen, wie z. B. den grossen Geschichtschreiber Astier-Réhu, Mitglied der französischen Akademie, den Baron von Stolz, einen alten österreichischen Diplomaten, Lord Chipendale (?), ein Mitglied des Jockey-Club mit seiner Nichte (hm! hm!), den berühmten Professor Dr. Schwanthaler von der Universität Bonn, einen peruanischen General und seine acht Töchter.

Dem konnten die Reisliebhaber in vorderster Reihe nur einen belgischen Senator mit Familie, Frau Schwanthaler, die Gattin des Professors, und einen von seiner russischen Kunstreise zurückkehrenden italienischen Tenoristen entgegenstellen, der seine wie Untertassen grosse Manschettenknöpfe auf dem Tischtuch ausbreitete.

Diese doppelte Strömung der Geister war ohne Zweifel an dem Zwang und an der Steifheit schuld, die an der Tafel herrschten. Wie anders soll man das Schweigen jener sechshundert zugeknöpft, verdriesslich, misstrauisch da sitzenden Personen, jene souveraine Verachtung sich erklären, die sie für einander herauszukehren schienen. Ein oberflächlicher Beobachter hätte diese Haltung dem stupiden angelsächsischen Hochmuth zuschreiben mögen, der jetzt in allen Ländern für die Reisewelt den Ton angiebt.

Aber nein! Wesen mit menschlichem Antlitz kommen nicht so leicht dazu, sich auf den ersten Anblick zu hassen, mit Nasenrümpfen, mit einem Zucken um die Mundwinkel und einem Augenzwinkern wegen nicht vollzogener persönlicher Vorstellung sich zu missachten. Es muss etwas Anderes dahinter stecken.

Reis und Pflaumen, sage ich. Und damit haben wir die Erklärung für jenes finstere Schweigen, das gleich einem Alp auf dem Diner von Rigi-Kulm lastete. Dieses Diner hätte doch wohl angesichts der grossen Anzahl und der internationalen Mannichfaltigkeit der Gäste so lebhaft, ja so lärmend sein müssen, wie wir uns etwa die Mahlzeiten am Fusse des babylonischen Thurmes vorstellen.

Der Alpensteiger trat etwas befangen vor das Refectorium büssender Karthäuser und unter die blendenden Kronleuchter. Er hustete geräuschvoll, ohne dass Jemand auf ihn achtete, setzte sich als letzt Angekommener auf den letzten Stuhl unten im Saal. Nun, da er seines Gepäcks sich entledigt hatte, war er ein Tourist wie ein Anderer auch, nur liebenswürdiger in seinem Wesen, glatzköpfig, zur Dickleibigkeit hinneigend, mit spitzem, dichtem Bart, majestätischer Nase, dicken wilden Brauen über den gutmüthigsten Augen.

Reis oder Pflaumen? Man wusste es noch nicht.

Kaum hatte er sich gesetzt, so bewegte er sich unruhig hin und her; dann verliess er mit einem Satz seinen Stuhl: «Verflixt, ein Luftzug!»rief er ganz laut und stürzte sich auf einen leeren angelehnten Stuhl mitten am Tisch.

Er wurde von einer aufwartenden Schweizerin angehalten, einer Urnerin: buntes Mieder, silberne Ketten.

«Der Platz ist besetzt, mein Herr...»

Da sagte in fremdem Accent ein junges Mädchen, von dem er nur das über einem schneeweissen Nacken aufgesteckte Haar sehen konnte, denn sie wandte den Kopf nicht zur Seite:

«Dieser Platz ist frei... mein Bruder ist krank, er kommt nicht herunter.»

– Krank? fragte der Neuangekommene rasch und in fast herzlichem Tone. Krank? Doch nicht gefährlich, will ich hoffen.

Seine Aussprache hatte einen auffallend meridionalen Klang, und dabei bediente er sich neben gewissen stereotypen Worten einer Anzahl eigener Interjectionen, wie hé, qué, té, zou, vé, und sonderbarer Redensarten, die er dann noch recht stark betonte. Der Accent schien der jungen Blondine nicht zu gefallen, denn sie antwortete ihm nur mit einem eisigen, dunkelblauen, abgrundblauen Blick.

Der Nachbar rechts hatte auch nichts Ermuthigendes in seinem Wesen. Es war der italienische Tenor, eine kräftige Gestalt, niedere Stirn, ölige Augen, ein gewaltiger Schnurrbart, an dem er in heftiger Erregung zerrte, seitdem man ihn von seiner hübschen Nachbarin getrennt hatte. Der gute Alpensteiger hatte aber die Gewohnheit, während des Essens zu reden; das musste er um seiner Gesundheit willen.

«Vé! die hübschen Knöpfe... sagte er ganz laut zu sich selber, während er nach den Manschetten des Italieners hinschielte... Musiknoten in Jaspis inkrustirt, das macht einen herrlichen Effekt...»

Seine Trompetenstimme schmetterte durch den stillen Saal, ohne auch nur das leiseste Echo zu finden.

«Der Herr ist gewiss ein Sänger, qué?»

– «Non capisco...» brummte der Italiener in seinen Bart.

Einen Moment lang ergab der Mann sich darein, schweigend zu essen, aber es war ihm, als müsste er dabei ersticken. Endlich, da sein Gegenüber, der österreichische Diplomat, sich bemühte, mit den Fingerspitzen seiner alten kleinen zitternden Hände den Senftopf zu erlangen, reichte er ihm denselben höflich hinüber. «Zu dienen, Herr Baron...» so hatte er ihn eben nennen hören.

Unglücklicherweise hatte der arme Herr von Stolz, trotz des schlauen und geistreichen Zuges, den er sich im diplomatischen Kleinleben angeeignet, schon seit langer Zeit Sprache und Ideen verloren, und er reiste gerade in den Alpen, um sie wieder einzufangen. Er richtete seine leeren Augen auf das unbekannte Gesicht und schloss sie wieder, ohne ein Wort zu sagen. Es hätte eines ganzen Dutzends gewiegter Diplomaten von seiner Geistesstärke bedurft, um mit ihm gemeinsam die nöthige Dankesformel zu Stande zu bringen.

Auf diesen neuen Misserfolg schnitt der Alpensteiger ein fürchterliches Gesicht, und nach der heftigen Bewegung, mit welcher er nach der Flasche griff, hätte man meinen können, dass er dem alten Diplomaten den Kopf mit ihr spalten wollte. Warum nicht gar? Er wollte nur seiner Nachbarin einschenken. Verloren in eine halblaut geführte Plauderei mit zwei dicht neben ihr sitzenden jungen Leuten, ein süsses und dabei lebhaftes, fremdartiges Gezwitscher, hörte sie ihn nicht. Sie neigte sich zu ihnen hin, wurde erregt. Kleine, krause Löckchen sah man im Lichte hinter einem zierlichen, durchsichtigen, rosigen Ohr erglänzen. Eine Polin, Russin, Norwegerin?... Aus dem Norden sicherlich. Es drängte sich ihm jetzt ein hübsches heimisches Lied auf die Lippen, und der Südländer summte es vor sich hin:

O coumtesso génto,
Estelo dou Nord
Qué la neù argento,
Qu'Amour friso en orVon einer reizenden Gräfin sang es, der Leuchte des Nordens, die der Schnee in Silber, die Liebe in pures Gold gekleidet. .

Der ganze Saal wandte sich um; man glaubte, er sei närrisch geworden. Er erröthete, schaute still auf seinen Teller und blickte nur noch auf, um eine der heiligen Schalen zurückzuweisen, die man ihm reichte:

«Pflaumen, noch einmal!... Davor behüte mich Gott!»

Das war zu viel.

Sämmtliche Stühle wurden plötzlich gerückt. Der Akademiker, Lord Chipendale (?), der Bonner Professor und einige andere Notabilitäten der Partei erhoben sich und verliessen den Saal, um dagegen zu protestiren.

Aber auch die Reisfreunde erhoben sich gleich darauf, als sie sahen, dass er die zweite Schale ebenso lebhaft ablehnte wie die erste.

Weder Reis noch Pflaumen!... Was dann?...

Es zogen sich Alle zurück, und nun entwickelte sich der lange stille Zug von gesenkten Nasen, höhnisch herabgezogenen Mundwinkeln vor dem Unglücklichen, welcher in dem ungeheuren, lichtstrahlenden Speisesaal ganz allein zurückblieb, im Begriff, ein Glas Wein nach seiner Landessitte mit einem Biscuit auszutunken... es überlief ihn eiskalt, er sass da wie niedergeschmettert von der Wucht der allgemeinen Geringschätzung.

Meine Freunde, seien wir gegen Niemand geringschätzig. Der Hochmuth ist die Waffe der Glückspilze, der Prahler, der hässlichen Frauenzimmer und der Dummköpfe, die Maske, hinter welcher die Nullität, bisweilen die Gemeinheit sich verbirgt, und bei der man weder Geist noch Verstand, noch Güte zu besitzen braucht. Alle Buckligen sind hochmüthig, alle krummen Nasen verziehen sich in tausend geringschätzige Fältchen, wenn sie einer graden Nase begegnen.

Der gute Alpensteiger wusste das recht gut. Da er seit einigen Jahren die Vierzig, «diese Grenze des vierten Stockwerks,» überschritten hatte, wo der Mensch den Zauberschlüssel findet und aufhebt, der des Lebens lange, monotone und trügerische Bahn bis ans Ende eröffnet; da er aber auch sich selber und seinen Muth, die Bedeutung seiner Lebensaufgabe und den grossen Namen kannte, den er führte, war ihm das Urtheil jener Leute höchst gleichgültig. Er hätte sich übrigens nur zu nennen, nur laut zu rufen brauchen: «Ich bin es!» um alle diese verächtlich hängenden Unterlippen sich in die platteste Anbetung verwandeln zu sehen. Das Incognito aber ergötzte ihn.

Was ihm fehlte? Nichts anderes als dass er nicht sprechen, nicht laut werden, sich nicht mittheilen, ausschwatzen, die Hände nicht drücken, sich nicht familiär an eine Schulter lehnen, die Leute nicht bei ihrem Vornamen nennen durfte. Das war es, was ihm den Rigi-Kulm ungemüthlich machte.

Ach, besonders das Nichtredendürfen!

«Ich werde noch gewiss den Pipps davon bekommen, ja gewiss»... so sprach der arme Teufel bei sich selber, und er irrte wie verloren im Hotel umher, er wusste nicht, was er mit sich beginnen sollte.

Er trat in das Café, es war leer und öde wie eine Kirche an einem Wochentage. Er titulirte den Kellner seinen guten Freund, bestellte einen Mokka ohne Zucker, «qué»? Da aber der Kellner durchaus nicht fragte, warum ohne Zucker, so fügte er lebhaft hinzu: «Es ist eine Gewohnheit, die ich in Algier angenommen habe, auf meinen grossen Jagden...»

Er wollte sie schon erzählen, aber der Andere war bereits auf seinen gespenstischen Schuhen entflohen, um zu Lord Chipendale zu eilen, der auf einem Divan lang hingestreckt lag und mit einer Grabesstimme: «Tschimppenj, Tschimppenj!» rief. Der Pfropfen knallte matt und dumm wie auf einem bestellten Hochzeitsessen, dann hörte man wieder nichts mehr als die hohlen Windstösse in dem monumentalen Kamin und das Peitschen des Schnees gegen die grossen Spiegelscheiben.

Auch im Lesesaal war es recht unheimlich. Sämmtliche Journale in Händen von Lesern, hundert Köpfe unter den Lampen um den langen grünen Tisch herum. Von Zeit zu Zeit ein Gähnen, ein Husten, das Geknitter eines entfalteten Blattes, und diese feierliche Stille gewissermassen beherrschend, selber feierlich und Beide nach dumpfem Bibliothekenstaub riechend, mit dem Rücken an den Ofen gelehnt, so standen sie da, die beiden Hohenpriester der officiellen Geschichtschreibung, Schwanthaler und Astier-Réhu, die ein sonderbares Geschick auf dem Rigi zusammengeführt, sie, die seit dreissig Jahren sich beschimpften, in ihren erläuternden Anmerkungen sich «Schwanthaler, der dreifache Esel, vir ineptissimus Astier-Réhu» titulirten.

Man kann sich denken, wie wohlwollend der Alpensteiger aufgenommen wurde, als er einen Stuhl heranrückte, um an einer Ecke des Kamins eine lehrreiche Unterhaltung anzuknüpfen. Oben von den beiden Karyatiden herab traf ihn auf einmal einer jener kalten Luftzüge, die er so sehr scheute; er stand auf, schritt durch den Saal, eben sowohl um sich etwas Haltung zu geben als um sich zu erwärmen, und öffnete darauf die Thür zum Nebensaal. Einige englische Romane lagen umher, da und dort auch eine schwere Bibel und einzelne Bände vom Jahrbuch des schweizerischen Alpenklubs; er nahm einen derselben an sich, in der Absicht, ihn im Bette zu lesen, musste ihn aber an der Thüre zurücklassen, da die Hausordnung es nicht gestattete, Bücher aus der Bibliothek auf die Zimmer zu tragen.

Planlos weiter schlendernd, öffnete er die Thür zum Billardzimmer, in welchem der italienische Tenor für sich ganz allein spielte. Offenbar suchte er auf ihre beiderseitige hübsche Tischnachbarin, die auf einem Sopha zwischen zwei jungen Leuten sass und ihnen einen Brief vorlas, durch anmuthige Wendungen des Oberkörpers und gewisse Manschetteneffekte Eindruck zu machen. Bei dem Eintritt des Alpenklubisten unterbrach sie ihre Lektüre, und der eine der beiden jungen Männer, der grössere, eine Art Moujik, mit einer ausgesprochenen Hundephysiognomie, behaarten Tatzen und langem, glänzendem, glatt anliegendem Haupthaar, das bis an den ungepflegten Bart herabreichte, erhob sich.

Er ging dem neu Ankommenden zwei Schritte entgegen und betrachtete ihn, wie wenn man einen Gegner provociren will, mit so wilden Blicken, dass der gute Alpensteiger, ohne eine weitere Erklärung zu fordern, klug und würdevoll eine halbe Wendung nach rechts vollzog.

«Weiss der Himmel, sie sind nicht gesellig im Norden...», sagte er ganz laut und er schlug lärmend die Thüre zu, um jenem Barbaren recht zu beweisen, dass man sich vor ihm nicht fürchte.

Der Salon blieb ihm noch als letzter Zufluchtsort; er trat ein.... Verwünschtes Loos!... Die Leichenhalle, ihr guten Leute, die Leichenhalle auf dem St. Bernhard, wo die Mönche die unglücklichen Reisenden, die sie aus dem Schnee ausgegraben, in den verschiedenen Lagen ablegen, in welchen der Tod beim Erfrieren sie überrascht hatte. Das in der That war der Salon auf Rigi-Kulm.

Alle Damen, versteinert, stumm, gruppenweise auf halbrunde Divans hingestreut, da und dort auch Engelgestalten. Alle misses unbeweglich unter den Lampen der kleinen Tische, in den Händen noch das Album, die Wochenschrift, die Stickerei, so wie sie dieselbe gehalten, als der Frost sie erstarrte. Unter ihnen die Töchter des Generals, die acht kleinen Peruanerinnen mit ihrem Safranteint, ihren verstörten Zügen, die farbigen Bänder ihrer Toiletten grell abstechend von den matten Eidechsentönen der englischen Moden, arme kleine «Warmländer», die man sich so gern Grimassen schneidend und unter Affensprüngen auf den Kokosbäumen vorstellt, und die Einen, sprachlos und erfroren, wie sie da sassen, noch mehr erbarmten als die anderen Opfer. Ganz im Hintergrunde, vor dem Piano, zeigte sich die geisterhafte Silhouette des alten Diplomaten; seine kleinen, in gestrickten, fingerlosen Damenhandschuhen stehenden Hände steif und todt auf dem Klavier, dessen gelbliche Reflexe auf sein Gesicht übergegangen waren....

Von seinen Kräften und seinem Gedächtniss verrathen, über einer Polka eigener Composition brütend, die er stets bei demselben Motiv wieder anfing, weil er die Coda nicht finden konnte, war der unglückliche Baron, und mit ihm waren sämmtliche Damen des Rigi eingenickt und wiegten in ihrem Schlummer die romantischsten Haartrachten oder kleine Spitzenhäubchen in Form des Deckels einer Vol-au-Vent-Pastete, ein bei den englischen Damen sehr beliebtes Toilettenstück.

Der Eintritt des Fremden weckte sie nicht. Er selbst liess sich, ganz und gar entmuthigt durch diese eisige Atmosphäre auf einen Divan hinsinken, als plötzlich eine kräftige, fröhliche Musik im Hausflur ertönte, wo drei Künstler, Harfe, Flöte und Violine, armselige wandernde Musikanten, wie sie sehr häufig in schweizerischen Hotels angetroffen werden, sich in ihren langen Röcken und mit kläglicher Miene hingepflanzt hatten. Beim Klang der ersten Noten sprang unser Mann wie galvanisirt in die Höhe.

«Zou! bravo!... Jetzt giebt es Musik!»

Er rennt hinaus, lässt alle Thüren hinter sich offen, ist die Vorsehung der Musikanten, traktirt sie mit Champagner und berauscht sich selber, ohne zu trinken, an der Musik, die ihn wieder zum Leben erweckt. Er spielt die Trompete, die Harfe in der leeren Luft, schnalzt mit den Fingern über dem Kopfe, lässt seine Augen rollen, skizzirt einige Tanzschritte zum grossen Entsetzen der Touristen, die bei dem Lärm von allen Seiten herbeieilen. Dann plötzlich, auf die ersten Takte eines Strauss'schen Walzers, den die angeheiterten Musiker mit der Gluth echten Zigeunerthums anstimmen, fasst der Alpensteiger, der an der Salonthür die Frau des Professors Schwanthaler erblickt hatte, eine fesche, rundliche Wienerin mit jungen Schelmenaugen unter dem grauen gepuderten Haupthaar, sie stracks um die Hüften, zieht sie mit sich und ruft den Andern zu: «So tanzen Sie doch!... Tanzen Sie, meine Herrschaften.»

Der Anstoss ist gegeben, das ganze Hotel thaut auf und wirbelt umher. Man tanzt im Hausflur, im Salon, um den langen grünen Tisch des Lesezimmers herum. Und es ist jener verteufelte Mensch, der ihnen Allen Feuer in die Beine gebracht. Er aber tanzt nicht mehr, er ist schon nach wenigen Takten ausser Athem, doch er wacht über seinen Ball, ermuntert die Musiker, führt Paar um Paar in den Strudel, stürzt den Bonner Professor in die Arme einer alten Engländerin und koppelt den gestrengen Herrn Astier-Réhu mit einer strahlenden Peruanerin zusammen. Aller Widerstand ist vergebens. Von dem fürchterlichen «Alpenkönig», wie die flotte Wienerin ihn jetzt zu nennen beliebt, geht ein unerklärliches Fluidum aus, das die Körper hebt, sie leichter macht. Und zou! und zou! Keine Geringschätzung, kein Hass, keine Parteien mehr, nichts als Tänzer, Tänzer und Tänzerinnen. Sehr bald theilt der holde Wahnsinn sich den oberen Stockwerken mit, und auf den geräumigen Treppenabsätzen bis in die höchste Etage hinauf sieht man die schweren und farbigen Unterröcke des dienenden Volkes wie die Figuren an einem Leierkasten automatisch sich drehen.

Der Wind mag draussen jetzt blasen, an den Kandelabern rütteln, an den Telegraphendrähten zerren, dass sie wimmern und kreischen, er mag den Schnee auf der öden Höhe in die Lüfte fegen. Hier drinnen ist es warm, ist den Leuten wohl, und für die ganze Nacht.

«Ich aber will jetzt zu Bette gehen...»

So sagte sich der gute Alpenkönig, ein vorsichtiger Mann und der in einem Lande daheim war, wo man früh sich hinlegt und noch früher aufsteht. Still vor sich hinlachend, schwenkt er heimlich ab, um der Mama Schwanthaler zu entrinnen, die seit dem ersten Walzer ihn sucht, sich an ihn klammert und immer noch «baller» und «dantzer» möchte.

Er langt nach seinem Schlüssel, seiner Kerze, dann hält er auf der ersten Etage eine Minute inne, um seines Werkes sich zu freuen und die ganze Schaar ausgestopfter Wesen zu betrachten, die er genöthigt hat, munter zu werden und sich ein Vergnügen zu erlauben.

Eine Schweizerin nähert sich, noch athemlos von dem unterbrochenen Walzer; sie reicht ihm eine Feder und das Fremdenbuch.

«Dürfte ich Mossié bitten, seinen Namen einzuschreiben?...»

Er zaudert einen Augenblick. Soll ich oder soll ich nicht das Incognito behaupten?

Und warum auch? Angenommen, die Nachricht von seinem Aufenthalt auf dem Rigi gelange bis in seine Heimath; es wird dort Niemand wissen, zu welchem Zweck er in die Schweiz gegangen ist. Und dann, morgen früh, das drollige Erstarren all dieser «Englishmen», wenn sie erfahren.... Denn diese Kellnerin wird ja nicht schweigen können.... Welche Ueberraschung für das ganze Hotel, welches Staunen!...

«Wie? Er war es?... wahrhaftig, er?...»

Diese Gedanken fuhren ihm durch den Kopf, rasch, vibrirend wie die Töne der Violine drunten. Er ergriff die Feder und unter Astier-Réhu, Schwanthaler und andere berühmte Namen schrieb er den Namen ein, der sie alle verdunkelte; dann stieg er hinauf in sein Zimmer, ohne sich nur nach der Wirkung dieses Namens umzusehen, so sicher war er derselben.

Hinter ihm sah die Schweizerin ins Buch.

TARTARIN DE TARASCON

und darunter:

P. C. A.

Sie las das, die Bernerin, und war gar nicht geblendet. Sie wusste nicht, was das P. C. A. zu bedeuten hatte. Sie hatte noch niemals von Herrn von Dardarin reden hören.


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