Alphonse Daudet
Die Stütze der Familie
Alphonse Daudet

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XI

»Eine französische Familie«

Kaum war Antonin Eudeline an einem gelben, ganz in Nebel gehüllten Morgen in Calais ausgestiegen, so kaufte er sich auf dem Eisenbahnperron Zeitungen, ganze Ballen von Zeitungen. Er tat das weniger, um zu lesen, als um seine Gedanken bis Paris abzulenken. Außer den für seine jungen Schultern so schweren Geschäftssorgen quälten ihn so viele Dinge. Vor allem rückte der Tag der Auslosung immer näher heran.

»Willst du, daß ich für dich ziehe? Ich habe immer eine glückliche Hand gehabt,« schrieb ihm sein Chef Esprit Cornat, das ehemalige Mitglied der Konstituante. Mit zweiundachtzig Jahren war er noch so fest und rüstig wie seine Freunde Schölcher, Jules Simon und alle die alten Hadschis von Achtundvierzig. Aber Toni hatte es abgelehnt, denn er zog es vor, persönlich sein Glück zu versuchen, und wollte auch an Ort und Stelle sein, ein gewisses Problem zu lösen versuchen, das Sophie Castagnozoff ihm so direkt vorgelegt hatte. Er wußte jetzt, daß die Verleger auf das Werk eines unbekannten Autors keinen Vorschuß geben. Woher kamen also alle die Gelder, die der ältere Bruder für ihn und für die Seinigen ausgab? Von dem grauenhaften Berufe Mauglas'? Nein, nur die phantastische Einbildungskraft der Russin konnte auf solche Vermutungen kommen. Aber wer konnte wissen, ob Raimund, ohne zu diesem Grad der Niedrigkeit herabzusinken, nicht die Hilfe jener reichen, guten Freundin, jener Ministersfrau, annahm, deren prächtige Toiletten er einst mit dem vorstädtischen Ausruf: »Was Feineres gibt's nicht!« vor dem jungen Bruder ausgebreitet hatte. An diesem Tage fühlte Antonin, der den älteren Bruder immer bewundert hatte, Beschämung, Befangenheit, und durch diesen Riß in die brüderliche Achtung schlich sich nach und nach ein böser Argwohn ein. Was daran Wirkliches war, würde er nur selbst erfahren können, desgleichen, was mit dem herrlichen Tantchen vorging, das, wie die Briefe Castas erzählten, ganz rettungslos, ganz wahnsinnig in einen Mann verliebt war, der sie nicht heiraten konnte. Wer mochte dieser Mann sein? Sollte sich Geneviève, die Ernste, Sanfte, mit den reinen Augen, dem mütterlichen Lächeln so verwandelt haben, besonders nach den tiefen Gefühlen, die sie in der Jugendzeit für Raimund empfunden hatte? Es ist also wahr, daß die besten Frauen derart veränderlich sind und daß man einen schönen Tag nie vor dem Abend loben kann!

Ach ja, um sich auf der Fahrt in Geduld zu fassen, mußte man Zeitungen kaufen, sich das Gehirn mit Politik und Lokalnachrichten vollstopfen! Als Antonin der Verkäuferin Geld gab und sich aller seiner noch übrigen Pennys entledigte, zeigte ihm die Frau in einer Gruppe von Reisenden, die in den Büchern ihrer Auslage blätterten, den kurzen Bart und die Brille des berühmten Romanschriftstellers Hercher, dessen Reise nach Italien seit vierzehn Tagen alle Blätter beschäftigte.

»Kennen Sie ihn?« fragte das Lächeln der Verkäuferin.

Der gute Rotkopf Tonis mit dem schlecht gewachsenen Bart und Haar nickte bejahend. Dann näherte er sich der Gruppe, in deren Mitte der berühmte Mann stand und mit schwerer, dumpfer Seehundsstimme sprach, indem er ein eben von der Auslage genommenes, noch nicht aufgeschnittenes Buch in der Luft schwenkte. Trotzdem der Regen in starken Güssen die Scheiben der großen Halle peitschte, die Gepäckwagen klappernd über den Asphalt rollten, verlor Antonin nicht ein Wort dieses Monologes.

»Da ist wieder einer,« sagte Hercher, »ein neues Buch, ein neuer Autor. Übrigens ist es ja ganz einfach. In Frankreich schreibt jetzt alles, jedermann ist der Autor eines Stückes oder eines Buches. Nun wahrhaftig, kein Mensch liest mehr – die Alten, unsereiner, lesen die früheren Bücher wieder durch, versuchen am Ende eines Kapitels in den Wendungen der Sätze unsre Jugend wiederzufinden. Die Jungen machen nur ihre eignen Bücher auf, lullen sich ein, indem sie sie wie hypnotisierte, verzückte Buddhas aufjagen. Aber gute Kinder sind sie, diese Jungen, mehr sage ich nicht. Da haben sie eine Revue gegründet ›Die Gefräßige‹, in deren erster Nummer sehr ernsthaft gefragt wird, ob alle Hinrichtungspfähle in der asiatischen Türkei besetzt sind, und ob nicht einer zu meinem Besten verfügbar wäre.«

In dem lauten Beifallsgelächter, das den guten Einfall der »Gefräßigen« übertönte, erhob sich eine dünne, schwankende Stimme.

»Aber schließlich, nicht wahr? – der – Dingsda – gibt es doch unter diesen Jungen welche, die weder verrückt noch boshaft sind, ja sogar welche, die Talent haben?«

»Talent, lieber Herr,« rief Hercher, indem er sich mit der Herablassung eines bekannten Mannes, der dem Publikum gehört, zu dem weichen Hütchen und dem fast handwerkermäßigen Anzug des Fragestellenden umwandte. »Talent, alle haben Talent – das Buch, das ich da in der Hand halte, das ich noch nicht einmal aufgeschlagen habe, überströmt sicherlich von Talent, schwitzt nur so Genie aus. Aber wer wird es erfahren, da niemand es wird lesen wollen?«

Die Stimme Antonins widersprach empört. »Warum würde man es nicht lesen wollen, das neue Buch? In Frankreich wird noch immer gelesen, denn, schließlich, nicht wahr? – von den Büchern Herrn Herchers sind hunderttausend Exemplare verkauft worden – die – der – Dingsda –«

Der berühmte Romanschriftsteller lachte in seinen trockenen, bereits ergrauenden Bart.

»Ja,« sagte er, »meine Bücher werden verkauft, in der Tat, mehr als hunderttausend Exemplare davon, aber im Vergleich zu den Erfolgen, die gewisse Bücher in England haben, ist das eine kindische Auflage. Denken Sie doch an die Länder, wo es dreimalhundertundfünfzigtausend Leser gibt – ja, mein Lieber, dreimalhundert-, viermalhunderttausend Leute, die Romane lesen und keine schreiben.«

Das schrille Abfahrtszeichen erschütterte die Glasdächer, die Wagentüren wurden zugeschlagen. »Nach Paris, einsteigen!« schrien die Kondukteure. Mechanisch warf Antonin, ehe er sich von der Auslage entfernte, einen Blick auf das Buch, das Herr Hercher beim Fortgehen eilig auf den Haufen neuerschienener Bücher mit ihren beblumten Deckeln zurückgeworfen hatte. Er hatte gerade noch Zeit, den Namen, den Titel zu lesen, einen Schrei der Überraschung, des Triumphes zu ersticken, dann sprang er in den Wagen, indem er die zwei einzigen Exemplare des neuen Romanes von Raimund Eudeline, die sich auf dem Bahnhofe von Calais, sogar in der ganzen Stadt befanden, mitnahm. Dieser Roman hieß:

»Eine französische Familie
Versuch eines veristischen Romans
Vierte Auflage«

Was faselt er denn, dieser Hercher, daß junge Schriftsteller nicht mehr gelesen würden? Da war ein Buch, das kaum in den Handel gekommen war und nun bereits die vierte Auflage erreicht hatte. Wie würde es erst in acht Tagen sein? Ach, wenn Toni, statt dritter Klasse zu fahren, den Mut gehabt hätte, in die erste Klasse, in das Coupé des berühmten Hercher zu steigen, mit welchem Stolz hätte er, »Eine französische Familie« in der Hand, zu ihm gesagt:

»Sehen Sie dieses Buch – nun denn, das hat mein älterer Bruder geschrieben, und ich stehe Ihnen gut dafür, es wird gelesen, es wird verkauft.«

Aber als der arme, von brüderlicher Begeisterung überfließende Junge in seinem Waggon dritter Klasse saß, mußte er sich darauf beschränken, zwei Eierhändler in grauen Blusen und eine Geflügelhändlerin, die ihn mit ihren ungeheuern Körben fast erdrückte, zu Vertrauten zu nehmen. Soweit die dunkle und von Ellipsen starrende Sprache des jungen Schriftstellers, den seine Kollegen nicht umsonst »Symbolard« genannt hatten, verständlich war, erzählte das Buch auf vierhundert Seiten die Leidensgeschichte, den harten Golgathaweg eines allzu guten Sohnes, der von seiner Familie gekreuzigt ward. Die Familie lebte diesseits des Kanals und war von all den Manien, all den Blödsinnigkeiten, deren Monopol bekanntlich Frankreich hat, vertiert. Da der junge Mann mit einer hübschen Engländerin verlobt war, erkannte man den Gegensatz der zwei Nationalitäten, und jenes: »Das ist echt französisch – wie echt französisch das ist!« sprang als Leitmotiv auf jeder Seite hervor. Der junge Märtyrer, der zufällig die blauen Augen und das goldige gelockte Haar Raimunds besaß, erlag am Ende des Buches dem Schmerz und der Schwindsucht, nachdem er sein teures Liebchen den Seinigen geopfert hatte.

»Versteh' nix davon,« brummte die Geflügelhändlerin, nachdem der brave Antonin, nicht imstande, seine Freude allein zu tragen, versucht hatte, ihr eine Seite aus dem Buche des Bruders, und zwar die aufregendste, vor allem am wenigsten literarische, vorzulesen; denn gar oft ist die Literatur ein Festtagskleid, in dem sich die Idee unbehaglich fühlt wie in einem beengenden Sonntagsgewand.

»Ihr Bruder hat dieses Buch gedruckt?« fragte einer der Eierhändler. »Na, bei uns in Viarmes würde es ihm schwerfallen, mit einem solchen Handwerk unterzukommen. Diese Arbeit macht gar zu viel Lärm.«

Gleichzeitig richtete sich im Nebencoupé ein betrunkener Artillerist mit schief sitzender Mütze und halb offener Weste auf und schrie wütend mit hervorquellenden Augen, indem er Antonin die Faust ballte:

»Hör mal, Freundchen – so wahr ich Schmidt heiße und Offiziersbursche beim Herrn Hauptmann bin –, wenn dein Bruder sich mit England einläßt, wird man ihm die Kinnladen spalten und den Englischen desgleichen –«

Der arme, über seinen Versuch ein wenig verlegene Junge kam zu dem Schluß, daß das Volk, vor allem das Landvolk, von den Schöpfungen seines Raimund nie etwas verstehen würde. In Paris, in dieser feinen Atmosphäre, die ganz Geist und Flamme war, mußte man die Wirkung sehen. Er selbst sehnte sich, ganz allein mit dem Werke des Bruders in seinem Zimmer auf der Place des Vosges zu sitzen. Denn die Aufregung der Reise, die Berührung mit den dickköpfigen, schwerfälligen Reisegefährten hinderte ihn, es richtig aufzufassen.

An diesem Abend kamen ihm, wie gewöhnlich nach seiner Rückkehr aus England, die Passanten in den Pariser Straßen viel kleiner vor als drüben, und auch die Häuser waren viel höher, der Lärm und die Aufregung der Stadt viel ermüdender im Vergleich zu der Stille des doch zweimal so stark bevölkerten und zweimal so großen London. Er hatte seine Mutter von seiner Ankunft nicht benachrichtigt und wollte rechtzeitig hinkommen, um den Laden noch selbst zu schließen und im Familienkreis Abendbrot zu essen, auf die Gesundheit des neuen Schriftstellers zu trinken. Allein durch das Getrödel des mit unglaublich schlechten Pferden bespannten Fiakers, das Gedränge in den Straßen verspätete er sich entschieden, und zwei- oder dreimal ertappte er sich dabei, wie er auf den gesenkten Rücken seines schlummernden Kutschers hinbrummte: »Echt französisch, echt französisch!«

Die Fensterladen des Geschäftes waren bereits geschlossen, nur der Türladen, durch dessen dreieckigen Ausschnitt das Licht der im Innern brennenden Lampe fiel, war offen, und als Antonin erschien, rief die Mama dem auf der andern Seite des Ladentisches sitzenden alten Freunde den schwermütigen Refrain zu, mit dem alle ihre Gespräche schlossen:

»Ach ja, Herr Izoard!«

Und jener antwortete noch kläglicher:

»Ach ja, Frau Eudeline –«

Als Toni eintrat, entstand einen Augenblick freudige Aufregung, und das Licht schien heller zu brennen; aber Toni reiste so oft, man war an seine Abreise, seine Rückkehr gewöhnt. Er allein empfand die Wärme, das Wohlbehagen im Kreise der wiedergefundenen Familie. Nachdem die Mama ihn fest an ihr altes Herz gedrückt hatte, nachdem Dina, die im Begriffe war, den Tisch im Hintergrund abzuräumen, dem Lieblingsbruder um den Hals gefallen war, hatten alle das Gefühl, als sei er nie fort gewesen, während er noch im Reisefieber sprach, sich bewegte und die Neugierde des Abwesenden empfand.

»Und Raimund, ist er zufrieden? Schließlich, nicht wahr? – da ist sein Buch.«

»Vor zwei Tagen erschienen,« sagte die Mutter rasch, als wolle sie es vermeiden, noch etwas hinzuzufügen. Dina hatte sich wieder in den Hintergrund zurückgezogen und war nicht zu sehen, wohl aber zu hören.

»Willst du vielleicht jemand sehen, der nicht zufrieden ist?« brummte Pierre Izoard, indem er sich plötzlich auf seine kurzen Beine stellte. »Möchtest du es glauben, sie haben mir den Laufpaß gegeben! Mir! – Ja, mein Junge, wenn die Session zu Ende ist, nehme ich meinen Abschied – im Palais Bourbon gibt es, scheint's, zu viele Republikaner.«

»Dein Essen ist da, Toni,« rief die Schwester aus dem Hintergrund, und als er am Tische saß, fügte sie hinzu: »Ach, wenn du wüßtest, was dem armen Manne alles passiert ist!«

Sie beugte sich zu dem Bruder herab und erzählte ihm mit leiser Stimme, während sie ihn bediente. Der alte Stenograph hatte an diesem selben Tage in der Parlamentsquästur seine bevorstehende Pensionierung erfahren. Er, der so bekannt, bei allen so beliebt war, er, dem Marc Javel, Gambetta und viele andre versprochen hatten, daß die Republik so wenig wie das Kaiserreich je auf ihn verzichten würden! Er hatte schließlich daran geglaubt, und die plötzliche Entscheidung der Quästoren wirkte zermalmend auf ihn. Ohne ein Wort der Beschwerde, ohne eine Klage nahm er wie gewöhnlich seinen Dienst auf, aber seine Hände zitterten, und seine Augen unter den dicken Brauen waren wie verstört. Vor Schluß der Sitzung erhob er sich und sagte zu seinem Nachbar:

»Ich brauche Luft, ich fahre nach Morangis hinaus.«

Gewöhnlich begab er sich nur zum Frühstück nach seinem lieben Morangis. Der Dienst hielt ihn bis spät in die Nacht in der Kammer zurück, und Geneviève blieb mit einer alten Dienerin allein auf dem Lande. So glaubte er wenigstens. Wie groß war daher seine Verblüffung, als er bei der Ankunft nur die alte Magd vorfand.

»Wo ist das Fräulein?«

»Das Fräulein ist nicht da, Herr Izoard, sie ist nie zu dieser Zeit da.«

»Gut, ich weiß, ich weiß.«

Ohne zu fragen, bloß indem er zustimmte und die Magd reden ließ, verschaffte er sich die Gewißheit, daß Geneviève seit Monaten nicht mehr in Morangis aß und schlief, ausgenommen manchmal des Sonntags, wenn sie wußte, daß der Vater nach Hause kommen werde. Wo hielt sie sich auf? Ohne Zweifel bei Sophie. Das war sein erster Gedanke und auch der Frau Eudelines, bei der der arme, gute Mann außer sich vor Unruhe und Entsetzen gegen Abend strandete. Seit einer Stunde saß er nun vor dem Ladentisch und beruhigte, erwärmte sich mit dieser Hoffnung.

»Aber es ist ja nicht wahr, Mama weiß es gut,« seufzte Antonin Eudeline mit feuchten Augen und vollem Munde, denn die Aufregung verdoppelte seinen Appetit. »Geneviève und Sophie verkehren schon lange nicht mehr, sind nicht einmal mehr Freundinnen, nachdem der Plan mit dem Spital in Kalkutta auseinandergegangen ist. Kennst du den Grund dieser Veränderung, Dinachen? Ist es wahr, daß Tantchen seit einigen Monaten ein Liebesverhältnis hat?«

Toni regte sich beim Sprechen auf, trotzdem die Schwester ihm Zeichen machte. Geneviève war für ihn ein heiliges Wesen, auf das nur Raimund allein Rechte gebaut hätte. Daß ein andrer die Kühnheit besitzen, den Frevel wagen konnte, an sie zu denken, das begriff, das erlaubte der Junge nicht; wie eine Blume, die ein reißender Strom mit sich trägt, sah man über seiner Empörung eine schüchterne, tiefe Liebe schweben, eine Kindheitsliebe, die sich vor den Vorrechten des älteren Bruders, seiner blonden, schlanken, anmutigen Erscheinung immer zurückgezogen hatte. Was fiel denn Raimund ein? Er ließ Geneviève einen andern glücklich machen? Die Literatur hatte ihm also den Kopf verdreht!

Ach ja, die Literatur!

Das Schwesterchen hatte das Exemplar der »Französischen Familie« von dem Bette genommen, auf das Toni es beim Eintreten niederlegte, blätterte verächtlich darin und schlug es dann zornig wieder zu.

»Ich bin nur froh, daß mein Claudius nie Lust hatte, zu schreiben, daß er sich mit diesen jungen Banditen, diesen Freunden Raimunds nur beschäftigte, um einen ihrer Hitzköpfe zu taufen.«

Antonin nahm die zierliche, geschmeidige Hand der Kleinen in seine großen, schwieligen Arbeiterhände.

»Ja, richtig, Aschenbrödelchen, ich frage dich gar nicht nach Neuigkeiten! Wo ist er? Wie geht es ihm?«

»Nicht gut,« antwortete das junge Mädchen. »Er ist noch immer im Engadin, man hat ihm verboten zu sprechen, sogar zu schreiben. Er verläßt das Zimmer nicht, dessen Fenster Tag und Nacht offen stehen, damit die eisige Luft hereinströmt. Aber das macht nichts, er wird am Leben bleiben, davon bin ich überzeugt; ich vertraue unsern Beschützern.«

Sie deutete auf eine vergoldete Statuette Unsrer Lieben Frau von Fourvières, die neben dem Bette, in dem sie mit der Mama schlief, oberhalb eines Bündels von Rosenkränzen und Medaillen an der Wand hing.

»Was fehlt denn der guten Dame? Sie sieht ja ganz zersprungen aus?« fragte Antonin, indem er das Licht der Lampe auf das Ex voto fallen ließ.

Dina errötete bis in den Nacken, aber sie wußte, daß der jüngere Bruder es nicht böse meinte, und antwortete im einfachsten Ton:

»Oh, das war gestern abend beim Nachhausekommen. Ich warf meinen Beutel vor Zorn so plötzlich aufs Bett, daß ich die Madonna und die Medaillen herunterriß . . . ein Wunder, daß nicht alles zerschlagen wurde.«

»Warum warst du so zornig?« fragte Toni lächelnd. »Ich glaubte, daß das ein Ende hätte – nun, nicht wahr? – daß du nie mehr böse würdest.«

»Ich tue mein möglichstes, aber es gibt Augenblicke – ich hatte gerade ein Buch gelesen, das mich empörte.«

»Ein Buch?« fragte Toni unruhig.

Dicht neben ihnen ertönte die tiefe, schnarrende Baßstimme des alten Marseillers, der eben hinter die Glaswand getreten war:

»Es ist doch sonderbar, daß diese gute Jungfrau, die Macht genug hat, einen Menschen ohne Lunge am Leben zu erhalten, bei einem kleinen Fräulein, dessen einziger Fehler die Heftigkeit ist, nicht einmal einen Zornanfall verhüten kann. Was meinst du, wenn du dein Götzenbild in Stücke zerschlagen hättest?«

Der kräftige Greis drückte die Kleine mit beiden Armen fest an sich und flüsterte ihr in einer Erregung, die ihn fast erstickte, ganz leise in den Nacken:

»Deswegen bist du doch das beste Mädelchen von der Welt, und du und deine Skapuliere verstehen vielleicht mehr als die ganze Philosophie meines Meisters Proudhon.«

Er machte dem jüngeren Bruder ein Zeichen, seinen Hut zu nehmen, und erhob seine zitternde Stimme, der er einen festen Klang zu geben versuchte.

»Frau Eudeline, der Kleine begleitet mich zurück, wir haben einander viel zu sagen . . . er wird später wiederkommen.«

Nachdem er den Arm des jungen Mannes unter den seinigen geschoben hatte, schritten beide über den Hof, den die kalte Helle einer Dezembernacht überflutete.

Gleich nach den ersten Schritten, die sie in der Richtung nach dem Parlament über den Kai machten, wollte der alte Herr von seinem Begleiter erfahren, ob es wahr sei, daß er, wie Frau Eudeline behauptete, der Freund Sophiens geblieben sei und mit ihr in Briefwechsel stehe.

Antonin antwortete ohne die geringste Verwirrung. Er empfand für dieses treffliche Mädchen, das seine ganze Wissenschaft, sein ganzes Vermögen in den Dienst der unglücklichen Kinder der ganzen Welt stellte, lebhafte Freundschaft und noch mehr Bewunderung. Er rechnete es ihr hoch an, daß sie die Politik ihres Landes, wo es nichts als Haß und Blut gab, aufgegeben und für nichts mehr Proselyten zu machen suchte als für die Nächstenliebe.

Mit einem Male blieb Pierre Izoard bei den ersten Häusern des Quai d'Orsay auf dem einsamen, vor Kälte knisternden Trottoir vor dem Kleinen stehen und sprach in verändertem, erregtem Tone:

»Toni, erzähle mir, was du weißt; ich beschwöre dich, sage mir alles, was du über meine Tochter weißt, fürchte dich nicht; denn trotz meiner ruhigen Miene bin ich so weit, daß ich sterbe, wenn ich nicht alles erfahre . . . Bist du wie deine Mutter der Meinung, daß Geneviève mit Casta wieder Medizin studiert, um eines Tages die Oberaufsicht über eines ihrer Spitäler zu übernehmen?«

»Aber, Herr Izoard, das glaube ich nicht nur, davon bin ich überzeugt . . .«

An dem Zittern der beiden Hände, die sich an seine Arme klammerten, und die er fortschob, als hätte der Alte ihm in der Brust lesen wollen, begriff Antonin, daß er lügen mußte. Er begriff, daß es sich um das Leben dieses armen Mannes, vielleicht auch um das seiner Tochter handelte, und so log er denn. Während er in England war, hatte Fräulein Sophie ihm mitgeteilt, daß Geneviève nach langem Zögern von neuem und nun endgültig in die Stiftung für kranke Kinder eingetreten war. Sie wohnte den Krankenbesuchen, den Ordinationsstunden der Anstalt bei und verspätete sich abends so bei der Arbeit bei Sophie, daß die alte Jungfer sie fast täglich zum Schlafen bei sich behielt.

»Also das ist es, das ist es,« murmelte der alte Stenograph. Jedes Wort Antonius erleichterte ihm einen Schmerz, eine Last, die ihn seit Stunden niederdrückten.

Dinge, die er nicht begriffen hatte, wurden nun ganz natürlich. Er erklärte sich, warum sein Töchterchen die dreißigtausend Franken ihrer Mitgift und erst kürzlich auch die von Antonin zurückerstatteten fünftausend Franken von dem Bau Victor Eudelines von ihm verlangt hatte. Diese fünfunddreißigtausend Franken waren für die Stiftung Sophie Castagnozoffs verwendet worden, denn obwohl die Russin sehr reich war, lehnte sie nie Geld ab, das man ihr für ihre Spitäler gab.

»Aber warum hat meine Tochter mir nichts erzählt?«

Izoard kam mechanisch immer wieder darauf zurück, denn er wunderte sich, daß zwischen seiner Tochter und ihm, zwei so liebevollen Herzen, zwei gleichen Geistern, so lange Heimlichtuerei bestehen konnte. Monatelang hatte er geglaubt, daß sein Kind friedlich unter dem blauen Schieferdach und den hohen Platanen von Morangis schlief. Statt dessen wachte sie in einer Pariser Vorstadt an einem düsteren, einsamen Ufer und verdarb sich ihre hübschen Augen bis zum Morgen über medizinischen Schmökern. Wirklich, es fiel ihm schwer, ihr zu verzeihen.

»Aber, Herr Izoard, nur um Sie nicht zu kränken, hatte das Tantchen . . .«

»Ja, mein Junge, aber was für einen Stich ins Herz habe ich bekommen, als ich nach Morangis kam und meine Tochter nicht traf – was für Grimassen machte die Alte, als sie mir ins Gesicht schleuderte, daß das Fräulein nie zu Hause speise und nur selten zu Hause schlafe –, was für Gedanken sind mir durch den Kopf gefahren, was habe ich mir alles in einer Minute vorgestellt! Die arme Kleine, sie wollte ihren Alten schonen, aber es ist ihr nicht gelungen . . . Siehst du, ich will es ja glauben, daß es hart ist, sich von seinem Kinde zu trennen, wenn man immer an seiner Seite gelebt hat; aber nicht mehr zu wissen, was aus ihr geworden ist, an all das zu denken, was irgendein hübscher Schlingel mit poetischen Phrasen und schön gewichstem Schnurrbart mit ihr hat machen können . . . das ist der alleinigste Schmerz, und wenn ich im ersten Augenblick nicht deine Mutter und deine Schwester gehabt hätte, die mich beruhigt, mir die Augen geöffnet hätten – ich kenne jemand, der einen tüchtigen Sprung in die Seine gemacht hätte.«

Sie langten vor der Kammer an, gerade als es auf Sainte-Clotilde und im Kriegsministerium von den beiden Schlaguhren dieses Stadtviertels von Paris Mitternacht schlug. Die Wagen einiger Deputierten standen noch an ihrem gewöhnlichen Platz auf der andern Seite des Kais.

»Marc Javel ist da – ich erkenne seinen Wagen,« sagte der alte Stenograph. »Er korrigiert wohl die Bürstenabzüge seiner Rede. An solchen Abenden ist er immer guter Laune und wohlwollend, ganz wie ein Schauspieler am Tage einer Erstaufführung. Wenn du den Versuch machen willst, der deinem Bruder mißlungen ist, wirst du vielleicht mehr Glück haben.«

Antonin begann zu lachen. Mehr Glück als der ältere Bruder . . . er, er, der . . . ein armer Stotterer und so schlecht gekleidet, wie er war, in seinem weichen Hut, seinen Reisekleidern! O nein, er würde Marc Javel nicht aufsuchen. Erstens, wozu? Die Auslosung erschreckte ihn jetzt nicht mehr. Seitdem der ältere Bruder mit seinen Büchern so viel Geld verdiente, lag dem jüngeren nichts am Fortgehen. Er wäre sogar verzweifelt gewesen, wenn er nicht wie alle übrigen seinen Dienst hätte tun können, wenn er von diesem bösen Manne, der den Vater in den Tod getrieben hatte, irgendwelche Gunst hätte erbitten müssen. Denn er vergaß nicht.

Sie schritten durch lange, stille Korridore, überhitzte, lichtstrahlende Säle, wo ein ehrenwerter Deputierter irgendeinem Kollegen das Bruchstück einer Rede von einem frischen Bürstenabzug ganz leise vorlas, wo in der schweren Wärme der Heizvorrichtungen die Saaldiener auf den gepolsterten Bänken schlummerten.

»Hast du den Roman deines Bruders gelesen?«

Mit dieser Frage trat Pierre Izoard in sein Kabinett, das er als Chef der Kammerstenographen innehatte, und näherte sich einem Tisch, auf dem eine hohe Kupferlampe brannte. Im Kamin erstarb ein Holzfeuer. Er belebte es mit einem neuen Scheit Holz, dann zog er das Buch Raimunds aus einer Lade und wiederholte seine Frage.

»Ja, ich habe es gelesen, aber nur oberflächlich,« antwortete der jüngere Bruder etwas befangen.

»Hat Dina nichts mit dir darüber gesprochen?«

»Nein, Herr Izoard.«

»Um so schlimmer. Sie hätte mir den Kummer erspart, dir alles zu sagen, was ich darüber denke. Dieses Buch ist eine Schändlichkeit.«

»O Herr Izoard!«

»Man muß sich fragen, ob dein Bruder während des Schreibens bei Verstand war. Da komm her und sag mir, ob er ein Narr und ein Bösewicht ist oder ob wir alle Ungeheuer sind.«

Der brave Toni! Von allen Gebrechen, die er von der Natur erhalten hatte, war das schlimmste, das für ihn grausamste seine Güte – jene Güte, die in seinen klaren Augen, seinen dicken Lippen zutage trat. Er war ein sehr schlechter Psycholog, ward von seinem tätigen Leben zu sehr in Anspruch genommen, als daß er Zeit gehabt hätte, auf das kleine Räderwerk in der Uhr seines Innern zu horchen, und so ahnte er nicht, wie verhängnisvoll diese Gabe war, sich von dem Kummer der andern rühren zu lassen, das Leben andrer außer dem eignen mitzuleben. Auch in diesem Augenblick merkte man an seinem Erblassen und Zittern, an den Schatten, die seine Stirn bei den Worten des alten Herrn überzogen, daß eine Welt von Angst und Verzweiflung in ihm herrschte. Ach ja, das, was er da hören sollte, hatte er erraten, wie durch einen Schleier gesehen, während er das Buch des Bruders überflog; aber was hätte er nicht dafür gegeben, nicht davon sprechen, nicht diese herzzerreißenden Worte hören zu müssen!

»Du weißt zweifellos, daß der junge Mann seine eigne Geschichte erzählt,« sagte Izoard, indem er den Band unter dem breiten Schirm der Lampe in die Höhe hob. »Seine Geschichte ist auch die unsrige. Allein, wenn er sich selbst als einen schönen, eleganten, parfümierten Christuskopf mit Shampooing und Brenneisen, als einen von seiner Familie gemarterten Christus hingestellt hat, so muß man nur sehen, was für abscheuliche Züge er uns, uns allen, seinen Henkern geliehen hat. Stelle dir das Gewimmel der schwarzen, form- und namenlosen Tiere vor, die man an den verschimmelten Stellen eines feuchten Gartens unter einem flachen Steine findet. Das sind wir, das ist die Familie. Die Mama geht noch an, der wirft er nur Blödsinn, blinde, verständnislose Liebe vor. Sie ist nur da, um die englische Mutter hervortreten zu lassen, deren zehn Kinder in allen Winkeln der Welt zerflattert sind; sie hofft sie nicht mehr wiederzusehen, denn wenn sie in die mütterliche Wohnung zurückkämen, hätten sie eben ihr Leben verfehlt. Wenn Raimund jedoch seine Mama schonte, so hat er sein Mütchen an mir gekühlt.«

Antonin versuchte eine matte Verteidigung.

»O Herr Izoard, Sie glauben wirklich, daß er gewagt hat . . .«

»Ob er es gewagt hat! Wer denn sonst ist dieser lächerliche, materialistische Arzt aus Bordeaux, der Proskribierte vom Jahre zweiundfünfzig, der aus Haß gegen die Cäsaren seine Tochter im Lateinischen unterrichtet und Sueton lesen läßt und seine Frau prügelt, weil er sie erwischt, wie sie an einem Maiabend aus der Marienmesse kommt . . . Wenn du an der Ähnlichkeit zweifelst, so lies doch die Stelle durch, wo Pierre Izoard in ganzer Größe abgezeichnet ist.«

Er legte das offene Buch vor Toni auf den Schreibtisch hin, und während der Kleine mit trübem Blick las oder sich lesend stellte, fuhr er mit heiserer, zitternder Stimme fort:

»Es ist doch eine ganz seltsame Jugend! Sie hält die Apostasie vom zweiten Dezember für ganz einfach und behauptet, daß wir, die Opfer dieses Halsabschneiders, nur übertriebene, lächerliche Marionetten sind.«

»Aber Sie wissen doch, Herr Izoard, was man gesehen hat und was man einem erzählt, ist nicht ganz gleich.«

Die guten, dicken Lippen des Elektrikers flehten und protestierten.

»Ja, ja, ich weiß, das ›eigne Boot‹, die verschiedenen Generationen . . . die Jungen und die Alten leben Tausende von Meilen voneinander entfernt, das wissen wir. Aber mich, der seine Tochter vergöttert, der vor diesem Kinde gekniet hat, wie vor einer Madonna, in Anbetung und Ehrfurcht, die um so größer und zarter war, als die Mutter so früh aus unserm Hause ging, mich zu beschuldigen, daß ich Geneviève zur Materialistin erzog – man errät leicht, was sich hinter diesem häßlichen Wort versteckt –, zu behaupten, daß ich ihr lateinische Gemeinheiten zu lesen gab, weil sie den Marotten des alten Politikus schmeichelten . . . das ist hart!«

Tränen liefen über seinen langen Bart, und Antonin hielt an sich, um nicht mitzuweinen.

»Der Roman erfordert das, lieber, alter Freund,« murmelte er nach einem schweren Schweigen. »Ich habe die Herren von der ›Gefräßigen‹ oft sagen hören, daß der Roman . . . eine, nun, nicht wahr? . . . eine Entstellung des Lebens ist. Man darf nicht verlangen – der – die . . .«

Der Marseiller fuhr fort, in dem veristischen Roman zu blättern.

»Ich bin auch deiner Ansicht, mein Junge. Aber ein Romanschriftsteller, der die Geschichte der kleinen Leute, jener Leute, die keine Geschichte haben, schreibt, besitzt ebensowenig wie andre das Recht zu Fälschungen oder zu Bosheiten. Lies doch Seite 104 der ›Französischen Familie‹ und sage mir, warum Raimund, dem du nie etwas andres als Gutes getan hast, dich in der Person des Vetters Furbice, in der Maske eines niedrigen Heuchlers schildert, der sich nur stotternd stellt, um sich Gemeinheiten auszudenken, um mehr Zeit zum Lügen zu haben . . . Lies es laut, dann wirst du die Wirkung beurteilen können.«

Antonin versuchte einige Sätze, die sein Stammeln nachahmten, laut zu wiederholen.

»Ich kann nicht,« sagte er dann lächelnd, aber eine große Träne blieb im Winkel seiner platten Nase liegen, wie Regenwasser in einem ausgehöhlten Felsen.

Einen Augenblick sahen sie sich an, indem sie sich wortlos die Augen wischten. Nebenan im Stenographenbureau las ein Revisor mit eintönigem Nachdruck die Rede Marc Javels vor. Angesichts dieser grausamen Seite aus dem Buche des Lebens nahm sie sich hohl und fahl aus. Endlich legte der Marseiller den Roman in seinen Schreibtisch zurück und schloß doppelt zu, indem er in seinen weißen Bart brummte:

»Donnerwetter! Das also nennt man einen veristischen Roman! Damit kann man brave Leute vergiften und einem das Herz entzweischneiden.«

Toni machte eine heldenmütige Gebärde.

»Nun, schließlich liegt mir wenig daran, ob er sich über mich lustig macht, wenn nur sein Buch gut geht und er viel Geld verdient.«

»Geld mit diesem Buch? Keinen Centime!«

»Was fällt Ihnen denn ein, Herr Izoard?«

Der Kleine hatte ja Beweise in den Händen – vier Auflagen in vier Tagen! Das sind doch Ziffern, die etwas bedeuten. Der Alte lachte in seinen langen Bart hinein. Die Auflagen bestanden aus kaum hundert Exemplaren, alle waren noch bei den Buchhändlern unverkauft. Er hatte sich erkundigt.

»Ja, aber – wie ma– wie macht er es dann – woher hat er die – das, was er für sich, für Mama ausgibt?«

Die Worte wollten in der Erregung nicht heraus, schüttelten den braven Jungen und trieben ihn taumelnd von einem Sessel zum andern. In dieser Krisis wurde er von dem Argwohn Sophiens überwältigt, und er konnte sich nicht enthalten, mit dem alten Freunde darüber zu sprechen. Dieser zeigte gar keine Überraschung. Seit dem Prozeß Lupniak hatte ihm die Russin nicht verhehlt, daß sie Raimund Eudeline für den Angeber halte.

»Aber, Herr Izoard, halten Sie das für möglich? Glauben Sie, daß mein Bruder mit seiner Erziehung, seiner Intelligenz von diesem schändlichen Gewerbe leben will?«

»Und was ist's mit Mauglas?« antwortete der Alte ruhig. »Ich glaube doch, der ist ein wirklicher Schriftsteller, ein Künstler! Meinst du, daß die Intelligenz vor allem bewahrt?«

Da schlug der arme Antonin, von Empörung ergriffen, mit der Faust auf den Tisch, daß die hohe Kupferlampe beinahe erlosch, und schrie in hellem Zorn:

»Mauglas ist nicht ein Sohn von Victor Eudeline, Herr Izoard!«

Ohne etwas zu erwidern, warf der Marseiller seinen Überzieher um die Schultern.

»Es ist hier zum Ersticken; komm ein wenig hinaus.«

Im Sullyhof, dessen düstere, einsame Galerien der Mond abzeichnete, nahm ihr Gespräch eine friedlichere, tiefere Färbung an.

»Vor allem, mein Kind, ist dein Bruder hochmütig, und als dein Vater ihm im Sterben feierlich das Recht der Erstgeburt und den Titel einer Stütze der Familie gab, als er das Gesetz und uns alle aufforderte, ihn mit allen Vorrechten zu umgeben, ahnte er nicht, daß sein Sohn diesen Hochmut bis zur Raserei treiben würde. Dein Bruder hat sein Amt derartig ernst genommen, daß er dir nicht verzieh, weil du alle so lange Zeit ernährtest, und um dieser demütigenden Lage ein Ende zu machen, hätte er alles in der Welt getan, hörst du, alles! Und doch bist du nicht der erste jüngere Sohn, der im Hause den vorherrschenden Platz einnimmt. Mir scheint, Napoleon war eine famose Stütze der Familie, und seine zahlreichen Brüder, die er zu Königen machte, grollten ihm nicht, daß er sein ganzes Leben lang die Stelle des ältesten Sohnes einer Witwe einnahm, obwohl er es nicht war. Raimund wäre an Stelle Joseph Bonapartes wahrscheinlich böse geworden. Soll ich dir jetzt alles sagen, was ich denke? Ein Mensch, der dieses abscheuliche, von verletztem Hochmut diktierte Buch geschrieben hat, ist unter demselben bösen Einfluß auch – der andern Schandtat fähig, der man ihn zeiht.«

Aus dem Dunkel des Hofes antwortete eine erstickte Klage.

»Nein, es ist nicht möglich, ich kann es nicht glauben.«

»Ach, ich glaube jetzt alles!«

Der alte Marseiller drückte den Arm des jungen Menschen an sich und sprach in der eisigen Luft ernsthaft weiter.

»Ich hätte dir die Geschichte meines Freundes Lavarande und meiner Einführung in den Klub Barbès erzählen sollen. Ich habe sie schon so oft wiedergekaut – aber es macht nichts, sie paßt zur Gelegenheit und wird auf dich Eindruck machen wie noch nie. Ich war zweiundzwanzig Jahre alt, hatte eben geheiratet und war in drei Dinge auf der Welt vernarrt: in meine Frau, die Republik und meinen Freund Lavarande. Dieser Freund war zehn Jahre älter als ich, eine richtige, zwischen zwei Pflastersteinen der Rue de l'Orillon aufgeschossene Vorstadtquecke. Er war ein Republikaner von achtzehnhundertdreißig, romantisch, wie man zu jener Zeit war, mit Schwüren auf den Dolch, geheimen Versammlungen, mysteriösen Symbolen und Erkennungszeichen. Bei mir zu Hause wurde er vergöttert. War er doch von einer so lebhaften, so geistreichen Heiterkeit! Er war nicht reich, weil er nur arbeitete, wenn die Begeisterung über ihn kam und weil er außerdem gern trödelte. Ich erinnere mich, zu Ninas Geburtstag brachte er ihr einmal einen wunderbaren Strauß aus Unkraut und Feldblumen, die ganz in Tau getränkt waren. Er hatte sie am Ufer der Marne um fünf Uhr früh gepflückt. Du kannst dir denken, wie freundlich meine Frau diese Blumen des armen Freundes aufnahm.

»An einem Märztage im Jahre achtundvierzig schlug Lavarande mir vor, mich im ›Republikanischen Klub‹ einzuführen, dessen Präsident Barbès war. Er tagte im Palais-Royal unter dem Dache, und in dem riesigen, ungenügend beleuchteten Dachboden herrschte ein Gewimmel von Köpfen und schwarzen, auf den Mauern gestikulierenden Silhouetten. Lavarande tritt ein, als sei er zu Hause. Alle kannten ihn; man drückt ihm die Hand, man begrüßt uns, ich war sehr stolz, aber ein wenig zu jung und steckte mich hinter meinen Freund. Barbès mit seinem ganz weißhaarigen alten Löwenkopf erscheint und läßt sich auf dem Fauteuil nieder. Die Sitzung ist eröffnet. Plötzlich erhebt sich Esprit Cornat, einer der Beisitzer, und fordert geheime Versammlung, da er eine wichtige Mitteilung zu machen habe. Die Gäste werden gebeten, sich zurückzuziehen. Drei Viertel des Saales leeren sich; ich will mich entfernen, aber Lavarande hält mich zurück. ›Bleib doch, das wird interessant werden. Du wirst doch ohnehin aufgenommen.‹

»Als die Türen geschlossen sind, fährt der Beisitzer mit ernster Stimme fort: ›Bürger, wir haben einen Verräter unter uns. Hier sind seine Papiere und die Belege. Er hat in der Präfektur die Nummer 301 und heißt Lavarande, Richard Lavarande.‹ Du kannst dir meine Verblüffung vorstellen. Barbès hat sich erhoben und spricht nun ebenfalls: ›Lavarande, wir wissen, daß Sie schuldig sind, aber jeder Angeklagte hat das Recht, sich zu verteidigen. Die Versammlung hört Sie an; verteidigen Sie sich.‹ Der Elende versuchte durch Frechheit durchzuschlüpfen. ›Ich erkenne eure richterliche Gewalt nicht an!‹ schrie er, indem er die Stücke seiner zerrissenen Mitgliedskarte auf den Tisch warf.

»Donnerwetter, wir haben ihn diese richterliche Gewalt, von der er nichts wissen wollte, mit Fußtritten fühlen lassen. Aber was für eine Aufregung war das für mich! Lange Zeit hielt ich das Elend dieses Banditen für erkünstelt, seinen Feldblumenstrauß für eine Komödie. Ich hielt ihn für einen sehr schlauen Schurken. Nun, es war nicht so. Er war bloß ein armer Teufel, ein Feigling, ein leidenschaftlicher Mensch, der sich in eine kleine Bürgersfrau der Nachbarschaft, in die Frau eines Uhrmachers, verliebt hatte, die Juwelen, schöne Kleider haben wollte. Um sie ihr zu verschaffen, fand er eben kein andres Mittel. Wer weiß, ob dein Bruder nicht gleich ihm in die Klauen irgendeiner gemeinen Dirne gefallen ist.«

Antonin fuhr bei diesen letzten Worten zusammen, als hätte er von der ganzen Geschichte Izoards nur das gehört.

»Eine Frau,« murmelte er, »das ist wahr, eine Frau kann dahinterstecken.«

»Armer Junge, jetzt geht es dir so wie mir in Morangis. Nur fragte ich mich bei Geneviève, ob vielleicht ein Mann dahinterstecke, ein Mann! Ist es nicht furchtbar, wenn man so weit kommt; an allen seinen Überzeugungen, den teuersten, den heiligsten, zu zweifeln? . . . Ich habe die Republik wie eine Mutter, wie ein Vaterland geliebt. Jetzt sehe ich ein, daß sie nur ein Kramladen, ein Verein zur gegenseitigen Ausnutzung ist. Übrigens hat sie mir den Laufpaß gegeben. Oh, ich sah es kommen, denn ich war schon lange Zeit von häßlich lächelnden Gesichtern umgeben, kämpfte gegen Übelwollen, gegen heimliche Antipathien, gleich jenen Wracken, jenen beweglichen Klippen, die bei schönstem Wetter, bei ruhigster See einem unter dem Wasser ein Loch ins Schiff reißen. Ich bin angerannt, es hat mich getroffen, und so bin ich noch in voller Kraft nutzlos geworden, in den Ruhestand versetzt. Aber das Traurigste dabei ist: alle meine Überzeugungen haben Schiffbruch gelitten, alle meine Vorstellungen vom Leben und den Menschen sind so verändert, daß ich nichts mehr davon verstehe. Meine Tochter ist fort, meine Stellung habe ich verloren – was bedeutet das Leben noch für mich? Die Ideen der jungen Leute sind Tausende von Meilen von den meinigen entfernt; ich verstehe zumeist kein Wort von dem, was ich lese. Überall, wohin ich sehe, ringsum ist es dunkel, kalt, wie in diesem Hofe – ach, Tonichen!«


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