Alphonse Daudet
Die Stütze der Familie
Alphonse Daudet

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VI

Die Tagfrau und die Nachtfrau

Er meinte in der Kajüte eines Dampfers auf dem Wege nach Indien zu sein. Die Landung erfolgte bei bewegtem Wetter, Wind und hohem Seegang; alle beeilten sich auszusteigen, und kein andrer Passagier blieb an Bord zurück als er, der sich wollüstig in seine Decken wickelte und sich nicht davon losreißen konnte, während Geneviève ganz angekleidet um ihn herumlief und ihn beschwor, aufzustehen. Sie zeigte ihm die verlassenen Salons, die einsamen Luken und war über seine Faulheit so wütend, daß sie hinausging, indem sie lärmend die Kajütentür zuschlug.

Durch dieses Geräusch, in Wirklichkeit durch das Klappern eines schlecht schließenden Fensterladens, wurde Raimund am nächsten Morgen aus dem Schlafe geweckt, und einige Minuten lang suchten seine Augen aus der Tiefe des großen Bettes, in dem er zum erstenmal erwachte, die wahre Lage seiner Umgebung, dieses langgestreckten rosa Zimmers zu erkennen.

Vor ihm, im Hintergrunde des offenstehenden Ankleidezimmers, ließ das kleine, vom Morgenlicht erhellte und vom Regen bespritzte runde Vorderfenster zugleich mit der Umgebung der Seine das erwachende Grün der Alleen der Weinhalle sehen.

Von dort fiel alles Licht in das noch hermetisch verschlossene Zimmer. In diesem rosigen Halbdunkel schritt Geneviève in einem kurzen Mäntelchen, mit einem Veilchenhute auf dem Kopfe, mit raschen, winzigen Schritten von dem Ankleidezimmer zu einem eleganten Schubladekasten, den sie sorgfältig verschloß, worauf sie den Schlüssel auf ein Tischchen zu Häupten des Bettes legte.

Jetzt erst begegneten ihre Augen denen des jungen Mannes, der alle ihre Bewegungen mit einem Ausdruck leidenschaftlicher Fröhlichkeit und Dankbarkeit spähend beobachtete. Er zog sie in seine Arme, ließ sie neben sich niedersetzen und fragte ganz leise und zärtlich, während der Sturm die Scheiben schüttelte:

»Du gehst schon? Bei diesem Wetter?«

Es mußte sein. Jetzt, da der alte Vater durch seine neue Stellung genötigt war, alle seine Nachmittage im Parlament zuzubringen und nur noch zum Frühstück nach Morangis kam, mußte Geneviève dort sein.

»Also wann?«

Sie schlug den Schleier in die Höhe und beugte im Halbdunkel ihr schönes Gesicht mit dem matten Teint, ihre purpurroten, guten Lippen zu ihm herab.

»Abends, so wie gestern. Ich war lange vor dir da. Wenn du zu arbeiten hast, werde ich bei dir, mit dir arbeiten – du erinnerst dich doch, was für ein guter Repetitor ich war. Worauf bereitest du dich jetzt vor? Auf dein Doktorat? Oder für das Buch, von dem du uns erzähltest? Es ist so schön, wenn man Bücher schreibt, man kann damit so viel Gutes tun.«

»Sogar viel Geld damit verdienen. Aber mittlerweile muß ich leben und den andern zu leben geben.«

Sie drückte einen Kuß auf seine Augen.

»Mein Raimund, ich habe dir doch gesagt, dort in dem Fach des Schubladekastens liegen dreißigtausend Franken, der Rest meiner Mitgift, über die ich niemand Rechenschaft schuldig bin – da ist der Schlüssel – es ist mehr, als du brauchst, um mit deinem Bruder quitt zu werden und die Deinigen zu erhalten, bis du deinen Roman fertig hast.«

Er geriet in Empörung. Wie? Sie sprach schon wieder von diesem Gelde – für so tief gefallen hielt man ihn also?

»Worte, Worte, die nichts bedeuten. Sag, mein Raimund, wenn ich deine Frau wäre, würdest du diese dreißigtausend Franken nicht von mir annehmen?«

»Ja, aber nur dann.«

»Du weißt doch, daß du nicht das Recht hast, zu heiraten, da du die Last einer Familie zu tragen hast. Du hast mir das einmal gesagt, und ich habe es nicht vergessen.«

»Nun?«

Sie schlang beide Arme um den hübschen, lockigen Kopf und sagte noch immer zärtlich, aber mit einem tiefernsten Ausdruck in der Stimme, im Blick:

»Ich bedaure nichts von dem, was ich getan habe, ich werde dich nie durch eine Träne betrüben. Was geschehen ist, mußte kommen, und ich werde es nie bereuen, aber nur unter einer Bedingung: wenn du mich als deine Frau behandelst, wenn ich alle Rechte, alle Pflichten habe, die zwischen zwei Wesen bestehen, die sich lieben, die sich einander hingegeben haben, damit alles, das Geld wie alles übrige zwischen ihnen gemeinsam ist.«

Das war ein so offener, so gerader Angriff, daß er nur mit einer Ausflucht antworten konnte.

»Aber ich glaubte – sagtest du nicht, daß du diese dreißigtausend Franken für die kleinen Waisen Sophiens bestimmt hättest?«

Sie leugnete es nicht. Ja, wenn sie nach Anglo-Indien gegangen wäre, um eine Filiale der Stiftung ihrer Freundin zu errichten . . .

»Wer hat dich gehindert, das zu tun?« fragte Raimund, schelmisch mit den Augen zwinkernd.

»Du, du Böser, das weißt du wohl. Als ich gestern abend mit Casta aus dem Wald von Sénart zurückkam, wo wir von unsrer großen Reise sprachen, als wir sahen, wie der Vater über deinen Besuch und deine Verzweiflung ganz verstört war – ach, mein armer Junge, da hat der Gedanke, daß du unglücklich bist, alle meine Entschlüsse erschüttert. Und Casta schien zu wissen, was in mir vorging, denn kaum war der Vater fort, so sagte sie lächelnd zu mir:

»›Wetten wir, ich weiß, wo du heute abend hingehst?‹

»Ich hätte ihr das zurückgeben können, denn ich war überzeugt, daß auch sie den Abend in Paris bei ihrem Freunde Lupniak verbringen würde, der, wie ich weiß, hier ist. Wo er sich wohl verbirgt? Das gute Mädchen wagte es mir nicht zu sagen, wegen –«

Sie zögerte. Raimunds Mund verzog sich schmerzlich unter dem goldigen, feinen Schnurrbart:

»Meinetwegen, nicht wahr? Ich habe ihr immer Gott weiß was für einen Abscheu, was für ein Mißtrauen eingeflößt, ganz anders wie Antonin.«

»Mein Gott, sie hält dich für zu schön, zu viel umschwärmt. Toni erweckt ihr Mitleid, er gefällt ihr durch alles, was ihm fehlt; aber deswegen bleibt sie doch das beste Geschöpf von der Welt. Höre, was ihr letztes Wort gestern abend auf dem Bahnhof war: ›Du weißt, Tantchen, ich habe meinen Frieden mit Odessa gemacht; die Felder tragen, ich bin sehr reich; mein Werk wird deiner also immer bedürfen, aber über dein Geld verfüge nach Gefallen.‹«

»Merke wohl auf, was ich sage!« rief Raimund mit zärtlichem Lachen. »Alles, was ich haben will, bist du, nur du!«

Als er allein war, kleidete er sich langsam an. Sein Kopf war schwer, seine Hände zitterten von dem Rausch dieses plötzlichen Glückes, und er versuchte, sich unter so vielen verschiedenen Empfindungen wiederzufinden. Vor allem empfand er eine tiefe Dankbarkeit für das wunderbare, vollkommen ehrenhafte und schöne Mädchen, das ihm, nachdem es sich so lange gegen ihn, gegen sich selbst verteidigt hatte, eines Abends seinen ganzen Stolz hingab, weil es ihn unglücklich glaubte. Gleichzeitig mit dieser Dankbarkeit empfand er Befangenheit, Reue, weil er dieses arme Tantchen getäuscht hatte, indem er vor ihr den von all den Seinigen verleugneten, verfluchten Paria der Familie gespielt, weil er ihr eine ewige Liebe geschworen hatte, während er doch ganz einer andern, dieser Valfon, gehörte. Noch am selben Vormittage hatte er hintereinander zwei Briefe von ihr erhalten. Nun, diese Sache war jetzt aus. Sie wiederzusehen wäre ein Verbrechen gewesen, und so bekam denn Frau Alcide, als sie erschien, ein für allemal den bestimmten Befehl, nie eine andre Dame in seine Wohnung einzulassen als die, die eben hinausgegangen war.

Diese Frau Alcide, die Hausmeisterin und Verwalterin des Gebäudes, war eine tätige, lange, dünne, geschwätzige Person mit einem kleinen, wilden Rattlerkopf und schrecklichen, vorgeschobenen Kinnbacken, die zwischen ihren Fängen immer den Hosenrand eines unbefugten Drehorgelspielers oder eines beim Stehlen in Mägdekammern ertappten Zimmerdiebes zu halten schien. Kaum war die junge Dame an diesem Vormittag fortgegangen, so ging Frau Alcide hinauf, um die Wohnung ihres neuen Mieters in Ordnung zu bringen, und erzählte ihm dabei die zahllosen Wechselfälle, die sie und ihr Mann seit dem Jahre 1871 erlitten hatten.

Alcide Scelos, Ziseleur und Chorist in Singspiel-Hallen, während der ganzen Dauer der Kommune Direktor des Nationaltheaters der Komischen Oper und während der letzten acht Tage Artilleriekommandant, war ein Opfer der politischen Geschehnisse. Durch ein Wunder entging er den Kartätschen der Lobaukaserne, wie alle jene seiner Kameraden, die in der Nacht der letzten Schlacht auf dem Père Lachaise gefangen wurden; aber ehe er nach Neuguinea hinüberfuhr, wohin er auf Lebenszeit geschickt wurde, setzte er es durch, daß sein Bund mit einer zwanzigjährigen Poliererin, der Mutter eines entzückenden kleinen Mädchens, das der Herr Direktor vergötterte, im Gefängnisse von Versailles gesetzlich besiegelt wurde.

»Ach, Herr Raimund, es ist kein bloßes Gerede, aber ich kann mich rühmen, daß ich während der ganzen Zeit der Kommune eine famose Direktorin abgegeben habe – mit Handschuhen bis zur Schulter, achtzehnknöpfigen Handschuhen, so wie sie die Kaiserin trug.«

Man mußte nur sehen, mit was für einer majestätischen Gebärde Frau Alcide den Besen zur Seite schob, der ihren Vorderarm verbarg.

»Unglücklicherweise aber ward ich, kaum daß mein armer Mann sich eingeschifft hatte, durch all die Sorgen, durch all die Angst, die ich ausgestanden hatte, krank, dann kam die Reihe an unsre Kleine, aber die ging dabei zugrunde, ohne daß ich je den Mut hatte, meinem armen Manne zu schreiben, daß sein Kind tot sei. Sie können sich daher vorstellen, in was für einer Aufregung wir nach der Amnestie waren, als wir uns eines Abends nach zehn Jahren auf dem mit Menschen gefüllten Bahnhofe Montparnasse wiedersahen und er um uns herumsuchte und fragte: ›Ja, wo ist denn die Kleine?‹ Ach, wie traurig waren wir, als wir ganz allein nach Belleville hinaufstiegen, mitten unter den Kameraden, die vor Freude sangen und schrien, auf ihre wiedergefundenen, indes groß gewordenen Kinder so stolz waren. Es half nichts, daß wir uns sagten: ›Weinen wir nicht mehr, es werden andre kommen,‹ Wir konnten nicht aufhören zu schluchzen, als hätten wir im voraus erraten, was für einen kleinen Krüppel wir bekommen würden. Trotz seiner vier Jahre hat er noch keinen Schritt gemacht, und von früh bis abends fährt ihn sein Vater in einem kleinen Wagen spazieren. Kommen Sie, Herr Raimund, sehen Sie ihn sich an.«

Da es nicht mehr regnete, öffnete Frau Alcide das Fenster des Arbeitszimmers und trat auf den Balkon, wohin ihr Mieter ihr folgte. Von oben aus erblickten sie auf dem vom Platzregen noch glänzenden Trottoir einen Kinderwagen, den ein großer, starker Mensch, der wie ein Hallenlastträger aussah, vor sich hinschob. Er benutzte gleich ihnen die Aufheiterung des Wetters. Das herabgelassene Wagendach ließ ein kleines, weißes Bündel nur undeutlich sehen; aber der Mann hatte maschinenmäßig den Kopf zu dem Balkon erhoben und zeigte das energische, von einem langen, roten Schnurrbart gezierte Gesicht eines tatarischen Kriegers. Eine streifenförmige Schmarre durchzog das Gesicht.

»Das ist Alcide,« sagte seine Frau ehrerbietig und stolz.

»Arbeitet er denn gar nicht?« fragte Raimund, dem das Mißverhältnis zwischen dieser Kinderfrauenbeschäftigung und diesen Muskeln auffiel.

Frau Alcide gab ihm lächelnd zu verstehen, daß es dem ehemaligen Direktor eines großen Staatstheaters nicht leicht sei, eine seiner würdige Stellung zu finden.

»Und außerdem, sehen Sie, Herr Raimund,« ihr Gesicht wurde bei diesem Geständnis ganz traurig, »wenn man, noch dazu so unschuldig wie mein Mann, zehn Jahre im Gefängnis, im Bagno zugebracht hat, wenn man sich daran gewöhnt hat, wie auf der Galeere zu gehorchen und nach dem Stock zu marschieren, so bleibt einem ein Zittern zurück, und man ist wie gebrochen. Mein armer Alcide, der Hunderte kommandiert hat, er, den ich in dem Käppi mit den fünf Borten und dem roten, goldbefransten Gürtel der Kommunemitglieder sah – nun, dem flößt jetzt der geringste Werkmeister eine schreckliche Angst ein. Wenn er in einen Laden treten soll, um eine noch so bescheidene Stelle zu verlangen, wenn er mit einem Polizisten, einem Finanzer, sogar mit einem Beamten von der Post oder von der Eisenbahn sprechen soll, so geht das schon über seine Kräfte, und ich glaube, er würde nie wieder eine Stelle bekommen, wenn nicht dieser gute Herr Antonin –«

»Ja, richtig, Sie kennen ja meinen Bruder,« sagte Raimund, und der Gedanke, daß man ihm wieder die Güte, die Großmut seines Bruders rühmen werde, machte ihn im voraus gereizt. Er hielt jedoch an sich und vermochte ohne besondere Ungeduld das Lob des braven jungen Mannes anzuhören, der sich nicht nur damit begnügt hatte, Alcide Herrn Cornat als Aufseher vorzuschlagen, sondern auch ihren kleinen Krüppel durch einen mit ihm befreundeten, berühmten Arzt untersuchen lassen wollte.

»Einen befreundeten Arzt?« murmelte der ältere Bruder in verächtlich ironischem Ton. Während er nachdachte, wer wohl dieser berühmte Arzt sein mochte, hörte Frau Alcide nicht auf, das gute Herz zu bewundern, das Zeit fand, an alles zu denken.

»Die Gnädige hat Ihren Bruder Antonin auch sehr lieb.«

Raimund hob den Kopf:

»Die Gnädige? Wer soll das sein?«

»Aber, Herr Raimund, Ihre Dame, die schöne, große Dame, die eben fortging. Sie war zwei- oder dreimal mit Ihrem Herrn Bruder da und beschäftigte sich so wie er mit der Einrichtung; darum habe ich sie gestern abend eintretenlassen. War das unrecht von mir?«

»Nein, nein – im Gegenteil, es war sehr gut, und wenn ich nicht zu Hause bin, hat nur diese Dame allein das Recht, meinen Schlüssel zu nehmen und meine Wohnung zu betreten.«

Wider Willen zitterte seine Stimme bei dem Gedanken, daß sein Bruder und das Tantchen stundenlang in traulicher Intimität hier zugebracht hatten. Entschieden, er wurde auf seinen Bruder in jeder Hinsicht eifersüchtig.

*

War es das Bewußtsein eines eignen Heims mit einer neuen Einrichtung und dreißigtausend Franken in der Schublade oder die Verantwortlichkeit für diese große, ernste Liebe, die nun in sein Leben getreten war – auf jeden Fall empfand Raimund an diesem Morgen ein seltsames Bedürfnis, männliche Taten zu vollbringen, dem Netz von Kindereien zu entschlüpfen, das, wie er fühlte, sein Leben hemmte. Die Präsidentschaft des »V. d. P. St.« erschien ihm plötzlich als etwas Unnützes und Dummes; er bemerkte zum erstenmal, daß seit dem Beginn des Vereins gerade jene, welche bei den Versammlungen im Rauchzimmer den meisten Lärm gemacht, in den Bureaus, den Komitees den größten Raum eingenommen, sich bei der ersten Berührung mit dem Leben verflüchtigt hatten, in der stummen, fernen Provinz verschwunden, untergegangen waren. Nein, diese kindische Präsidentschaft wog nicht all das Leid auf, das ihm die perfiden Angriffe Wilkies bereiten würden, noch all die Zeit, die er dadurch verlieren mußte. Das, wozu er sich entschlossen hatte, war viel besser.

Er begab sich frühzeitig in die Rue des Ecoles, trat in die Schreibstube Alexis', und dieser kopierte ihm mit seiner schönen Rechnungsführerschrift zwei oder drei Exemplare einer Erklärung, in der der künftige Präsident des »V. d. P. St.« seine »lieben Kameraden« vom Komitee und der »K. i. O.« um Entschuldigung bat, da er genötigt sei, aus privaten Gründen auf seine Kandidatur zu verzichten. Eine Abschrift dieser Erklärung wurde an dem Spiegel des Rauchzimmers, an dem des Fechtsaales, in jedem Bibliothekzimmer befestigt, und Raimund lachte im voraus über die Überraschung Wilkies, der nun bald kommen würde, um seinen Vernichtungsfeldzug zu beginnen und ihn derart vollständig beendet sehen würde.

Nachdem diese Frage erledigt war, begab er sich zu seiner Mutter, die, wie er wußte, zu dieser frühen Stunde allein war. Ohne es sich zu gestehen, grollte er der lieben Frau, weil sie gestern der demütigenden Szene beigewohnt und sich begnügt hatte, zu weinen, statt Dina Schweigen zu gebieten. Er nahm sich daher vor, sich zu rächen, und schon nach der Art und Weise, wie er beim Eintreten in die »Wunderlampe« die Türklinke herabdrückte, dachte die hinter dem Ladentisch sitzende Frau Eudeline sehr unruhig: ›Ach Gott, er ist noch immer böse!‹

Sie schloß rasch die »Memoiren Alexander Andrianes« und fragte, indem sie ihre Brille als Merkzeichen hineinlegte:

»Wirst du hier frühstücken?«

Nein, er wollte nicht frühstücken, er kam nur, um sie zu umarmen und sich ein paar Minuten neben sie hinzusetzen, um einige Wechsel an seinen Bruder auszustellen.

»Warum so rasch?« fragte die Mutter schüchtern, während sie ihm Tinte und Feder reichte, »du weißt doch, daß Toni keine Eile hat.«

»Aber ich habe Eile,« antwortete ihr Ältester sehr hochmütig.

Und der Ernst, mit dem er vor den entzückten Augen Frau Eudelines seine schimärischen Wechsel auf drei, sechs und neun Monate ausstellte, war großartig. In der Stille des glänzenden, wohlgeordneten Ladens hörte man das Knirschen der über das gestempelte Papier laufenden Feder und von Zeit zu Zeit, wenn auf der Straße ein Omnibus, ein Karren vorüberfuhr, das zarte Klirren der »Leuchtkäfer« auf den Regalen.

»Und jetzt, liebe Mutter, möchte ich dich bitten, mir deine Bücher zu zeigen,« sagte Raimund, nachdem er die Wechsel sorgfältig in seine Brieftasche gesteckt hatte.

Sie sah ihn bestürzt an.

»Ja, deine Geschäftsbücher – ich möchte wissen, was ihr, deine Tochter und du, ausgebt, was mein Bruder euch zum Leben gibt.«

In dem kleinen Fach unter dem Ladentisch befanden sich zwei solche Bücher; das eine war das Geschäftsbuch, das Toni durchsah, in das er die Anzahl der wöchentlich ein- und abgelieferten, fabrizierten und verkauften kleinen Lampen eintrug; das zweite war das Haushaltungsbuch, in das die Mama ihre täglichen Ausgaben eintrug. Das letztere, ein großes Buch, das Raimund nie aufgemacht hatte, ebensowenig übrigens wie das andre, war wunderbar ordentlich gehalten, und auf jeder dieser gleich den Schiffen eines Domes rechtlinigen, pomphaften, langen Kolonnen sprang einem eine Ziffer in die Augen, neben der das Objekt der Ausgabe stand. Als daher Raimund die ersten Blätter überflogen hatte, schlug er errötend und befangen rasch das Buch zu. Zwischen den winzigen Ausgaben, die das bescheidene Leben der zwei Frauen Tag für Tag erzählten: Pferdebahn Fr. –.30, Stopfwolle Fr. –.20, Kohlen Fr. –.15, lehrten jeden Augenblick die Ausgaben für sein eignes Taschengeld in folgender Form wieder: Raimund Fr. 20.–, Raimund Fr. 40.– . . .

Frau Eudeline mißverstand die Bewegung ihres Sohnes.

»Findest du, daß wir zu viel ausgeben?« fragte sie sanft. »Es ist wahr, man könnte vielleicht mit weniger auskommen.«

Dagegen verwahrte sich der älteste Sohn. Warum sollten sie ihre Ausgaben einschränken? Weil er sie jetzt zahlen würde?

Sie sah ihn ängstlich an.

»Aber du wirst dich doch nicht sofort mit uns belasten? Antonin kann uns bei seinen Tantiemen vom Geschäft ganz gut erhalten.«

Er nahm eine würdevolle Miene an und sprach sich nicht genau aus, denn er wußte noch nicht, wozu er sich entschließen sollte.

»Das bleibt zwischen meinem Bruder und mir, und ich bitte dich, dich nicht hineinzumischen. Ich kann dich nur versichern, an dem Tage, wo ich die Sorge für euch übernehme, wirst weder du noch Dina zu klagen haben.«

»Du bist also auf unsre Didine nicht mehr böse?«

Die Mutter nahm ihren Platz hinter dem Ladentisch wieder ein und hielt den neben ihr sitzenden Raimund zurück.

»Siehst du, sie ist ja nicht schlecht oder boshaft, aber seit einiger Zeit gehen in ihr Dinge vor, die ich nicht verstehe, die mich aber sehr quälen. Ich fühle, daß sie traurig, sorgenvoll ist, vor allem, daß sie Geheimnisse hat, denn niemand kann herausbringen, was ihr fehlt, nicht einmal das Tantchen. Ach, wenn du wolltest, ich bin sicher, du würdest sie zu einem Geständnis bringen.«

»Ich soll in dieses Wespennest stechen?« murmelte Raimund bitter. »Danke! Ich bin genug dabei zerstochen worden – durch sie habe ich mich mit Marquès überworfen, sie zwingt mich, Schritte bei Marc Javel zu unternehmen, die sie so leicht hätte ausführen können; aber wegen all dem bin ich ihr nicht böse. Launen eines hübschen Mädchens! Aber ich verlange nicht danach, mich mit ihr zu beschäftigen, ich will ihr einzig und allein beweisen, daß ich nicht eine Titularstütze der Familie bin. Und jetzt einen Kuß, ich muß fort. Sage Toni, daß er morgen seine Wechsel holen soll, ich gehe untertags nicht aus.«

Sie klammerte sich ängstlich an ihn.

»Ich werde dich also nicht sehen?«

»O nein, ich bleibe zu Hause, ich habe zu arbeiten.«

Er strich der Mutter schmeichelnd über die grauen Locken und ließ sie mit feuchten Augen und lächelndem Munde zurück.

In der Tat ging er am nächsten Tage nicht aus, aber er arbeitete auch nicht. Früh am Morgen, gerade als Geneviève nach Morangis fahren wollte, hatten sie eine kleine Eifersuchtsszene. Oh, es war fast nichts, eine Szene, wie man sie nach zweitägiger Ehe haben kann. Sie sprachen von Arbeit, von Zukunft. Raimund, der noch zu Bette lag, hielt die bereits behandschuhte Hand seiner Freundin, die wie gestern auf seinem Bettrand saß, und betäubte sie mit wunderbaren Plänen von jener üppigen Phantasie, wie sie die wagerechte Lage hervorruft.

»Ach, wenn die Medizin nicht so lange dauern würde, sie würde mich verlocken.«

»Ich könnte dir dabei mehr als bei allem andern helfen,« antwortete Geneviève. »Ich habe das ganze Jahr, das ich in London zubrachte, mit Sophie studiert, habe bei ihr gearbeitet und ihre Klinik keinen Augenblick verlassen.«

»Ja, das ist wahr, du warst in London,« dachte Raimund ganz laut. »Warum?«

Sie antwortete offenherzig wie immer.

»Weil ich mich bemühen wollte, dich zu vergessen, du Böser, das weißt du ja – in Paris war ich dir zu nahe.«

»Und du warst es nicht imstande!« rief er lachend und schmeichelnd. »Gestehe, du warst es nicht imstande!«

»Meine Rückkehr war ja ein Geständnis, und ich mußte hören, daß du eine andre liebst.«

Er versuchte zu leugnen. Männer kennen nur diese Diskretion.

»Wer hat dir das gesagt?«

»Du selbst; erinnere dich doch, deine vornehme Sängerin, für die du in der Stadt ein Klavier haben wolltest.«

Er fühlte, daß er errötete.

»Oh, damit ist es jetzt ganz aus.«

Sie lächelte freudlos und sah ihm tief in die Augen.

»Warum zu Ende? Es wäre so bequem . . . ich kann nur des Nachts kommen . . . dann hast du zwei Frauen, eine für die Nacht, eine für den Tag, und sie laufen nicht Gefahr, einander zu begegnen.«

»O Tantchen, warum kränkst du mich so?« rief er in einer aufrichtigen Aufwallung.

Sie beugte sich zu ihm herab.

»Willst du mich beruhigen? Du hast ein sehr einfaches Mittel.«

Und indem sie sich zum Gehen anschickte, zeigte sie ihm das Schränkchen mit den dreißigtausend Franken, die er eigensinnig nicht berühren wollte.

Das, was diesem Dialoge eine sonderbare Bedeutung verlieh, war eine kleine Depesche Frau Valfons, die eben ankam, und worin sie Raimund ihren Besuch für denselben Tag zwischen zehn und zwölf Uhr ankündigte. Trotz seines gestrigen förmlichen Befehls machte der dringende Ton des Telegramms, die seltsame Stunde der Zusammenkunft Raimund unruhig, und kaum war Geneviève verschwunden, so rief er Frau Alcide eilig herauf, um seine Instruktionen zu erneuern, genauer zu bestimmen.

»Zwischen zehn und zwölf Uhr wird eine etwas starke, reich gekleidete, tief verschleierte Dame erscheinen; lassen Sie sie um keinen Preis herein.«

»Sie können ruhig sein, Herr Raimund,« antwortete die ehemalige Direktorin der Komischen Oper. »Als wir noch den Saal Favart hatten, mußte ich das Zimmer meines Alcide oft gegen solche Damen verteidigen – nicht eine kam mir je herein.«

Oh, wie wachsam sich dieser kaiserliche Arm, der achtzehnknöpfige Handschuhe getragen hatte, vor der Tür ausstreckte. Trotzdem fühlte sich der Mieter Frau Alcides sehr geängstigt.

Der Tag war bedeckt und wolkig, der Himmel hing niedrig. Es war ein hübsches Wetter zur Konzentration und Sammlung, gerade recht, um dieses ganz moderne Arbeitszimmer mit den hellen Behängen, wo es weder Rips, noch Bronze, noch Mahagoni gab, und diesen zum Schreiben einladenden Tisch aus weißem Holz einzuweihen. Raimund hätte der Einladung gern entsprochen, aber der Gedanke, daß es bald zehn Uhr sei, daß der Wagen Frau Valfons vielleicht unten stehe, hinderte ihn, ruhig an einer Stelle zu sitzen.

So trat er in seinem weißen Wollanzug und seiner blauen Mütze einen Augenblick auf den Balkon und spähte rechts und links den Boulevard hinab. Ein Mietwagen, der aus der Richtung von Cluny daherjagte, verursachte ihm fünf Minuten lang Herzklopfen. Ja, sicherlich, das war sie. In der Tat hielt der Wagen vor dem Tor, aber es war Antonin, der rasch herausstieg, ins Haus stürzte und fast gleich darauf zurückkehrte, gefolgt von Herrn Alcide, der ein ganz eingewickeltes weißes Bündel auf der Schulter trug. Nun beugte sich die Büste einer dicken Dame in einer Jerseytaille und einer Toque mit schreienden Blumen heraus, um den kleinen Krüppel auf den Arm zu nehmen, und Raimund erkannte Sophie Castagnozoff. Das war zweifellos der berühmte Arzt, von dem Frau Alcide gesprochen hatte. Gleich fiel ihm ein, daß die Freundin Genevièves ihm immer mißtraut hatte, und daß sie ihm auch noch jetzt ihre Anwesenheit in Paris verbarg, als fürchte sie eine Denunziation. Antonin im Gegenteil war in alle ihre Geheimnisse eingeweiht, wußte, wo er sie zu jeder Stunde treffen sollte. Welchen Grund hatte diese Ungerechtigkeit? Was konnte ein so intelligentes, gebildetes Mädchen wie Sophie an diesem unwissenden, stotternden Arbeiter finden? Abermals spürte er diese beißende Kälte, diesen Wespenstich, dessen Stachel zurückbleibt, der ihn bereits früher durchzuckt hatte, wenn er an seinen jüngeren Bruder dachte.

Die Russin erteilte den armen Leuten über den Zustand ihres kleinen Krüppels eine richtige Konsultationsstunde im Freien. Frau Alcide stand jetzt neben ihrem Gatten, und Antonin, am Rande des Trottoirs, spitzte Augen und Ohren und versuchte, die Aussprüche des Orakels mit der naiven Gläubigkeit einfacher Seelen in sich aufzunehmen. Nach einer Weile stiegen die beiden Männer in den Fiaker, und dieser fuhr nach der Richtung der Weinhalle davon, während die ehemalige Direktorin der Komischen Oper in die Loge zurückkehrte, indem sie dem berühmten Arzte und dem kleinen weißen Bündel, die der Wagen davontrug, aus der Ferne Küsse und Bücklinge nachsandte. Offenbar hatte Sophie es für richtiger gehalten, ihren Kranken nach Hause mitzunehmen, um ihn zu untersuchen. Aber was für eine wunderliche Anomalie lag darin, daß sie sich mit solchem Vertrauen diesem Ehepaar Alcide auslieferte, das sie nicht kannte, das so geschwätzig und indiskret war, wie es eben das Volk mit seinen Versammlungen auf den Türschwellen, vor den Hausierern ist! Warum führte sie derartige Leute in ihre Wohnung ein und hielt Raimund in derartiger Entfernung?

In solchen peinigenden Gedanken stand er, mechanisch auf den Balkon gestützt, noch immer da, als ein Klavierakkord, tief und dumpf wie das Echo einer Lawine, hinter ihm ertönte und zugleich ein prächtiger Alt die berühmte Kantilene anstimmte:

»Ah! Quand la mort que rienne saurait apaiser . . .«

Er stieß das Fenster auf und blieb entsetzt stehen. Frau Valfon saß am Klavier, sie war barhäuptig, und die roten Wogen ihres Haares leuchteten auf der Beigetuchtaille, die ihr die Figur einer dreißigjährigen Frau machte. Ihre Handschuhe, ihr nach der Mode jenes Jahres ganz kleiner Hut, ein doppelter Schleier und ein entzückender Schirm mit kostbarem Griff lagen in hübscher Unordnung auf dem mit Papieren und Büchern bedeckten Arbeitstisch. Ohne den Ton zu ändern oder im Gesang aufzuhören, drehte sich die Ministerfrau schmeichelnd und geschmeidig um und bot Raimund ihre halbgeöffneten Lippen dar. Gewiß, nach dem, was er eben Geneviève geschworen, nachdem sie sich ihm so vollständig und großmütig hingegeben hatte, war das ein abscheulicher Verrat; aber mit welchem Mittel konnte er ihn vermeiden? Er hätte gern eines gefunden.

»Wieso sind Sie – bist du hereingekommen?« fragte er in der ersten Verlegenheit der Überraschung.

»Ich habe den Wagen an der Ecke des Boulevards und des Kais gelassen; unten war niemand. Sie sagten, es sei im vierten Stock, ich stieg herauf, fand den Schlüssel an der Tür, steckte ihn ins Schloß, drehte zweimal um, und da bin ich. – Ihr kleines Heim ist sehr nett,« fügte sie mit echt weiblicher Neugierde hinzu.

Er mußte ihr alles zeigen, und das Schlafzimmer, vor allem das Ankleidezimmer, das die Form eines Bootsschnabels hatte, belustigte sie sehr. Sie machte bereits Verschönerungspläne; auf den Balkon sollte eine Veranda kommen, die Küche in ein Badezimmer verwandelt werden, als handle es sich um eine nach ihrem Wunsche gemietete Junggesellenwohnung.

Die sichtliche Verlegenheit ihres lieben, schönen Jungen rührte sie; sie erklärte sie sich durch ein unmäßiges Zartgefühl. Zu arm für diese Erhöhung der Ausgaben, war er anderseits zu stolz, um von einer geliebten Frau etwas anzunehmen . . . Sie beruhigte ihn: Nein, es sollte nichts geändert werden, alles in diesem feenhaften Winkel war entzückend. Wie schade, daß sie nicht alle Tage herkommen konnte!

Diese Worte ließen ihn erröten und erinnerten ihn an die des Tantchens von den zwei so bequemen Frauen, eine für den Tag, eine für die Nacht. Wie hatte er sich gegen eine solche Schändlichkeit empört, und doch, eine Stunde nach all diesen schönen Schwüren fragte seine Tagfrau, im Dunkel der bis zur Erde herabgelassenen Vorhänge wie rasend an ihn geschmiegt, leise:

»Weißt du, woran mich dieser rosige Schatten, der uns umhüllt, erinnert?«

Raimund dachte gleich ihr an ihre erste Zusammenkunft da drüben auf dem Boulevard Beaumarchais; aber ehe er antworten konnte, hallte ein heftiges Klingeln durch die ganze Wohnung, und die Stimme Antonins lärmte im Flur:

»Öffne, ich bin es!«

»Mein Bruder, hab keine Angst,« sagte Raimund zu der entsetzensbleichen Frau Valfon. »Ich hatte vergessen, daß er kommen sollte.«

»Ach ja, der Unglückliche, von dem du mir erzähltest.«

Sie erinnerte sich an die herzzerreißende Geschichte von dem gesunkenen Bruder, dem Trunkenbold, und Mitleid, Bewunderung für den älteren erfüllte sie.

»Armer Freund, vielleicht mußt du mit ihm reden,« murmelte sie. »Geh, ich bitte dich.«

Er zögerte einen Augenblick, ob er sie in diesem Irrtum lassen sollte, aber der Stolz gewann die Oberhand. Schließlich nahm der jüngere Bruder gar zu sehr die Gewohnheit an, ihm auf den Kopf zu treten; er hatte nichts dagegen, ihm heute eine Lektion zu geben, zu beweisen, daß nicht alle Frauen Sophie Castagnozoff glichen, daß nicht alle einen gewöhnlichen Arbeiter, einen Klingelanbringer, einem gebildeten, eleganten Manne vorzogen. Das war gut für die Zeiten der George Sand und der »Compagnons du Tour de France

»Komm ein andermal wieder, Tonichen, ich kann dich im Augenblick nicht empfangen, es ist jemand bei mir.«

Aber als der ältere Bruder ins Vorzimmer lief, half es ihm nichts, daß er dieses »Es ist jemand bei mir« mit Augenblinzeln und einem leichten, bedeutungsvollen Hüsteln betonte – der jüngere, der mit rundem Rücken und schlenkernden Armen in seiner Arbeitsjoppe dastand, antwortete verständnislos:

»Gut, Raimund, ich komme wieder.«

Raimund hielt ihn zurück.

»Warte, komm hier herein, ich habe dir etwas zu übergeben.«

Sie traten in das Arbeitszimmer, und es konnte nichts Rührenderes geben als die Schüchternheit, mit der der jüngere Bruder mit seinen schweren Stiefeln über den Teppich schritt, sich zwischen den von ihm gewählten und bezahlten Möbeln bewegte, die jedoch die Gegenwart des älteren Bruders, der Gedanke, daß er hier lebte, arbeitete, verwandelt hatte.

»Sieh mal her, Kleiner,« flüsterte Raimund leise.

Da er ihm seine Weltdame nicht zeigen konnte, sollte der Bruder wenigstens das kleine Hütchen aus Spitzen und Rosen, den kostbaren Schirm mit dem ziselierten, mit Smaragden besetzten, goldenen Knopf bewundern. In der Tat, das liebte er an Frau Valfon am meisten – ihren Luxus, ihren Schmuck. Und da er bei dem jüngeren dieselben eiteln Neigungen voraussetzte, bedeutete seine Gebärde: Sieh her und platze vor Neid!

Antonin sah alles gut an und rief dann voll Bewunderung mit seiner armen stammelnden Stimme:

»Sapperment, ist das fein!«

Dann fügte er im natürlichsten Ton hinzu:

»Wenn die Dame noch dazu jung ist, und wenn sie – schließlich, nicht wahr? – der – die – so mag das ein schöner Bissen sein.«

Der ältere zuckte verächtlich die Achseln, dann nahm er die vorbereiteten drei Wechsel aus dem halb offenstehenden Schränkchen:

»Das ist für die Möbel,« sagte er, indem er Antonin die Wechsel reichte. »Das übrige werden wir später ordnen. Und jetzt mach, daß du fortkommst, du störst mich.«

Unbeweglich betrachtete der Kleine abwechselnd seinen Bruder und die Wechsel, die in seiner Hand zitterten. Er wagte nicht zu sprechen, denn er fühlte, daß ihm die Tränen nahe waren.

»Ich bitte dich, Raimund, behalte diese Papiere, der – die – Dingsda – ich glaube sonst, daß du böse bist.«

Der andre richtete sich mit boshafter, befriedigter Miene auf – jetzt hatte er seine Genugtuung. Seine Wangen färbten sich vor Zufriedenheit purpurrot.

»Genug, du hast mir neulich eine Lektion gegeben, an die ich noch denke.«

»Ich dir – eine Lektion!«

Der zärtliche Ton und die tränenvollen Augen baten um Gnade. Raimund wurde milder.

»Nun, Brüderchen, ich bin dir ja dieses Geld schuldig, ich muß es ja bezahlen, ich berichtige meine Schuld in Wechseln, aber wenn ich wollte –«

Er zog aus der Schublade mit den dreißigtausend Franken ein blaues Bündel heraus, das er ihm zeigte, und sagte, als er die verblüffte Miene des andern sah:

»Der Vorschuß eines Verlegers für das Buch, das ich schreiben soll. Du siehst, du bringst mich nicht in Verlegenheit.«

»O sapper . . .« rief der jüngere Bruder, von dieser Einträglichkeit der Literatur ganz geblendet. Er drehte sich auf seinen plumpen Absätzen um und entfernte sich strahlend, mit einem Ausdruck naiven Respekts auf seinem guten Gesicht.

Im Nebenzimmer fügte Frau Valfon das bißchen, was sie gehört hatte, mit dem, was sie von den beiden Brüdern wußte, zusammen. Sie horchte auf diesen taumelnden, schweren Schritt, diese bescheidene Arbeiterstimme, die ihr wie die eines Bittstellers klang, und sentimental wie alle Frauen ihres Alters, stellte sie sich die Szene nach ihrem Kopfe zusammen. Als Raimund wieder hereinkam, war sie ganz gerührt, streckte ihm die Arme entgegen und murmelte zärtlich:

»Ach, du armes, liebes Kind, du trägst das Kreuz, das schwere Kreuz der Familie. Weine, o weine dich an meiner Brust aus.«

*

Die Ministersfrau saß jetzt am Klavier, ihre helle Taille hing wie ein Dolman über den weißen Armen und Schultern, und während sie ihre Finger über die Tasten flattern ließ, dachte und träumte sie ganz laut vor sich hin.

»Ach, wenn ich dein Talent besäße, dann würde ich auch meinen Roman schreiben – was für eine Erleichterung wäre es, das Drama meines Lebens mit diesem Elenden zu erzählen, diesen Valfon herzunehmen, diesen Schauspielersohn, der hundertmal mehr Schauspieler ist als sein Vater, ihn in seinem öffentlichen Leben zu zeigen, wie er mit der Hand auf dem Herzen auf der Kammertribüne einherschreitet, wie er mit seiner lügenhaften Stimme mit den Worten Vaterland, Ehre, Gewissen, Republik herumwirft, die sein Mund entehrt, an denen er unaufhörlich wie an einer alten Zigarre kaut! Und dann in seinem Hause, als den Spötter, den Zyniker, der alles verachtet, alles angeifert, an nicht andres denkt, als alles zu beschmutzen, zu verderben. Und diese fixe Idee, die Leidenschaft für seine Stieftochter, die ihn verfolgt, die seine greisenhaften Hände stärker zittern läßt, die seinen lasterhaften Augen fortwährend einen verwirrten Ausdruck gibt! Meine arme Florence, seit fünf Jahren dauert dieses Martyrium für sie, seit fünf Jahren schlafe ich im Zimmer meiner Tochter, damit der Stiefvater es nicht betritt, und ich weiß, daß nichts ihn aufhalten wird. Pflicht, Moral – große Worte für die Tribüne! Gesetze? Die fabriziert er selbst. Einen Augenblick habe ich gehofft, daß die Heirat Florences –«

Sie hielt plötzlich inne, und nur das Klavier fuhr fort zu flüstern.

»Aber wirklich, warum ist denn diese Heirat zurückgegangen?« fragte Raimund, sich an sie schmiegend.

Frau Valfon sah ihn verblüfft an. Was, er wußte nichts davon, daß Claudius Jacquand seit jener Ballnacht in Dina wahnsinnig verliebt war?

»Die Kleine hat mir nie ein Wort davon erzählt, weder mir, noch meiner Mutter, noch sonst jemand. Wahrhaftig, das ist doch stark!«

Der junge Mann strich mit seiner Wange über die flaumige Haut seiner Geliebten.

»Wie hast du mich verfluchen müssen,« murmelte er, »nach all dem unfreiwilligen Leid, das ich euch angetan habe –«

Sie drückte ihn entzückt an sich.

»Dich verfluchen? Ach, mein lieber Junge, ich habe ja nur dich, du bist mein Atem, mein Leben; kann man den verfluchen, der einen geschaffen hat? Ah my alma –«

Das Französische genügte nicht mehr für die Temperatur ihrer Leidenschaft, und so suchte sie Worte in dem Portugiesisch ihrer Jugendzeit.

»Das ist gleich; es gibt im Leben doch viel zu viele höhere Fügungen,« fuhr der junge Mann fort, als er sich von ihrer Umarmung freigemacht hatte. »Diese kleine Dina braucht nur eines Abends durch Zufall in Ihr Haus zu kommen, und alles, was sein sollte, ist nicht mehr! Und dieser Dejarine, der sich gerade in dem Zimmer neben uns ermorden läßt!

Aber das ist noch nicht alles – stellen Sie sich vor, ich kenne Lupniak, den Mann, den man des Mordes bezichtigt, ich könnte beweisen, daß er der Mörder ist, es wäre sogar meine Pflicht – ich habe ihn eine Minute nach der Tat gesehen, wie er gleich einem Nachtwandler am Rande eines Daches einherschritt! Unsre Augen kreuzten sich, und er erkannte mich mit einem teuflischen Lächeln! – Aber wenn ich bei Gericht Zeugenschaft ablegen würde, müßte ich erzählen, was ich dort tat, in wessen Gesellschaft ich mich befand.

»Heilige Jungfrau!« seufzte Frau Valfon mit blutlosen Lippen.

Aber Raimund beruhigte sie.

»Erstens hindern Sie mich am Reden, und dann hat Lupniak, der kein gewöhnlicher Mörder ist, jenes auserlesene Geschöpf, Sophie Castagnozoff, von deren bewunderungswürdiger Nächstenliebe ich Ihnen oft erzählte, zur Freundin. Sie ist im Begriffe, nach Anglo-Indien abzureisen, wo sie solche Kinderhospize wie in London gründen will; ich bin überzeugt, daß sie ihre Abreise nur verzögert, um diesem Lupniak, der in irgendeinem Loch hinter dem Pantheon versteckt ist, zur Flucht zu verhelfen. Das ist auch eine, die mich knebelt, die mir jede Enthüllung unmöglich macht.«

Während der nun folgenden Zwischenpause läutete es in dem blendenden Lichte, von dem die Scheiben funkelten, überall Mittag. Die Ministerin erhob sich, fuhr rasch in die Ärmel ihres Jäckchens, dann zögerte sie noch einen Augenblick mit halb geschlossenen Augen und zugedrückten Wimpern, während ihre kleinen Hände mit einer unwillkürlichen, leidenschaftlichen Gebärde das weiße, weich gerundete Handgelenk ihres Geliebten drückten. »Weißt du, woran ich denke?« sagte sie leise mit einem tiefen Seufzer. »Wenn du mich nicht mehr lieben wirst, wenn ich meine Tochter verheiratet habe, wenn alle Freuden und Hoffnungen für mich aus sein werden, dann wird diese Sophie Castagnozoff mich vielleicht als Aufseherin, als Krankenwärterin in einem ihrer Spitäler aufnehmen. Ich habe mir die Jahrbücher ihrer Stiftung verschafft. Sie sind so fesselnd wie die ›Nachfolge Christi‹.«


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