Alphonse Daudet
Fromont junior und Risler senior - Zweiter Band
Alphonse Daudet

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Sechzehntes Kapitel.

Im Wartesaal

»Ja, ja, ich liebe Dich! ich liebe Dich mehr als je und für alle Zeit . . . wozu noch kämpfen und sich sträuben? Unsre Sünde ist stärker als wir. – Aber ist's denn Sünde, daß wir uns lieben? waren wir nicht füreinander bestimmt und haben wir nicht das Recht, uns wieder zu vereinigen, dem Leben zum Trotz, das uns getrennt hat? . . . Komm, komm! es ist beschlossen, wir entfliehen. Morgen abend um zehn Uhr, Lyoner Bahnhof. Ich nehme die Billets und erwarte Dich.

Franz.«

Seit vier Wochen hoffte Sidonie auf diesen Brief; seit vier Wochen hatte sie alle ihre List, alle ihre Schmeichelkünste aufgeboten, um ihrem Schwager einen schriftlichen Ausbruch seiner Leidenschaft zu entlocken. Es war ihr schwer geworden, dies Ziel zu erreichen; ein junges, ehrliches Herz, wie es Franz besaß, bis zum Verbrechen zu bethören, war nicht leicht, und in diesem eigentümlichen Ringen, wo der wahrhaft Liebende gegen sich selbst ankämpfte, hatte sie sich oft am Ende ihrer Kraft, beinahe entmutigt gefühlt. Oft, wenn sie ihn völlig besiegt glaubte, empörte sich sein gerader Sinn, und er war drauf und dran zu fliehen, sich ihr zu entreißen.

So war es denn ein großer Triumph für sie, als ihr eines Morgens dieser Brief gebracht wurde. Eben war Madame Dobson gekommen, ihr die Klagen Georges Fromonts zu übermitteln. Er sehnte sich nach seiner Geliebten und begann sich über diesen Schwager, der eifersüchtiger und anspruchsvoller war als der Ehemann, Gedanken zu machen.

»Der arme, liebe Mensch, der arme, liebe Mensch!« sagte die gefühlvolle Amerikanerin. »Wenn du nur sähest, wie unglücklich er ist!«

Dabei schüttelte sie ihre Locken, band ihre Notenrollen auf und zog die Briefe des armen, lieben Menschen daraus hervor, die sie sorgfältig zwischen die Blätter ihrer Lieder zu verstecken pflegte. Sie war glückselig, in diese Liebesgeschichte verflochten zu sein und sich in einer Atmosphäre voller Intriguen und Geheimnisse berauschen zu können, die ihren kalten Augen, ihrem nüchternen Blond eine gewisse Wärme zu geben schien.

Das Merkwürdigste dabei war, daß diese junge, hübsche Frau, die sich so bereitwillig dazu verstand, zu einer verbotenen Korrespondenz die Hand zu bieten, in ihrem ganzen Leben keinen einzigen Liebesbrief geschrieben oder erhalten hatte.

Immer unterwegs zwischen Asnières und Paris, wobei sie irgend eine Liebesbotschaft unter dem Flügel hatte, blieb diese seltsame Brieftaube ihrem Taubenschlage allezeit treu und girrte nur in tugendhaft-berechtigter Weise.

Als Sidonie ihr zeigte, was Franz geschrieben hatte, fragte sie: »Was wirst du antworten?«

»Ich habe geantwortet . . . habe ja gesagt.«

»Wie . . . mit dem Narren willst du fortgehen?«

Sidonie lachte.

»Fällt mir gar nicht ein! ich habe nur ja gesagt, damit er mich auf dem Bahnhof erwartet . . . das ist alles, was ich beabsichtige. Diese Viertelstunde der Angst hat er reichlich um mich verdient, denn wie hat er mich nun schon seit vier Wochen gepeinigt. Mein ganzes Leben habe ich, diesem Herrn zuliebe, umgestalten müssen; habe keinen Besuch empfangen dürfen, habe mich genötigt gesehen, meine Thür für alle meine Freunde, alle jungen und liebenswürdigen Menschen, für Georges, selbst für dich zu verschließen . . . denn du weißt doch, mein Liebchen, daß er auch dich nicht leiden konnte und dich gern, wie alle andern, aus dem Hause gewiesen hätte.«

Was Sidonie nicht eingestand, obwohl es sie am meisten gegen Franz erbitterte, war, daß er ihr, indem er sie mit ihrem Manne bedrohte, große Furcht eingeflößt hatte. Von jenem Augenblick an war ihr unbehaglich zu Mute gewesen, denn ihr Leben, ihr liebes Leben, das ihr über alles ging, schien ihr ernstlich in Gefahr zu sein. Diese hellblonden, scheinbar ruhigen Männer, zu denen Risler gehörte, können in eine furchtbare Wut geraten, deren Folgen nicht zu berechnen sind. Sie gleichen jenen farblosen, geruchlosen Sprengstoffen, vor deren Anwendung man zurückschreckt, weil ihre Wirkung unbekannt ist. Der Gedanke, daß ihr Mann eines Tages von ihrer Aufführung unterrichtet werden könnte, erfüllte Sidonie geradezu mit Entsetzen.

Aus ihrem früheren Leben in einem armen, volkreichen Stadtviertel tauchten allerlei Erinnerungen an unglückliche Ehen in ihr auf, an die Rache betrogener Ehemänner, an Blut, das die Schande des Ehebruchs bespritzt hatte. Düstere Todesbilder verfolgten sie . . . und der Tod, die ewige Ruhe, das Schweigen des Grabes waren ein Schrecken für dies kleine, freudendurstige, von wahnsinniger Lebenslust erfüllte Wesen.

Allen diesen Befürchtungen machte der hochwillkommene Brief ein Ende. Nun war es unmöglich, daß Franz sie anklagte; selbst in der Wut über die erfahrene Täuschung konnte er es nicht thun, nachdem er ihr eine solche Waffe in die Hände gegeben. Und selbst wenn er sprach, brauchte Sidonie nur seinen Brief zu zeigen, um Risler zu überzeugen, daß alle seine Anklagen nur Verleumdungen waren. . . . Ja, Herr Rächer, jetzt sind Sie gefangen!

Eine tolle Freude kam über Sidonie.

»Ich lebe auf . . . ich lebe auf!« sagte sie zu Madame Dobson. Sie lief durch den Garten, pflückte große Blumensträuße für ihren Salon, öffnete alle Fenster dem Sonnenschein, gab der Köchin, dem Kutscher, dem Gärtner allerlei Befehle. Das Haus sollte schön sein, denn Georges kam wieder, auch veranstaltete sie ein großes Diner für das Ende der Woche. Es war, als ob sie den letzten Monat über fort gewesen wäre, von einer langweiligen, anstrengenden Geschäftsreise heimkehrte und alles in Bewegung setzte, um wieder Lust und Leben um sich zu sehen.

Am folgenden Abend waren Sidonie, Risler und Madame Dobson im Salon bei einander. Während Risler ein dickleibiges Buch über Mechanik durchblätterte, begleitete Madame Dobson Sidoniens Gesang. Plötzlich brach diese mitten im Liede in ein lautes Gelächter aus. Es hatte eben zehn Uhr geschlagen.

Risler blickte verwundert auf.

»Warum lachst du?«

»Es ist nichts, mir fiel nur etwas ein,« antwortete Sidonie, indem sie Madame Dobson mit einem Augenblinzeln die Uhr zeigte. Es war die Stunde, des Stelldicheins und Sidonie dachte an die Qualen, mit denen Franz auf sie wartete.

Seit der Rückkehr des Boten, der dem jungen Manne Sidoniens in fieberhafter Aufregung erwartetes Ja gebracht hatte, war plötzlich eine große Ruhe über ihn gekommen . . . er fühlte sich wie erlöst. Kein Schwanken und Zaudern mehr, kein Ringen zwischen Pflicht und Leidenschaft. Mit aller Vorsicht traf er seine Vorbereitungen, holte seinen Koffer herbei, leerte Schrank und Kommode und lange vor der Zeit, die er zum Abholen des Gepäcks bestimmt hatte, saß er mitten im Zimmer auf einer Kiste, betrachtete die an der Wand befestigte Landkarte, die ihm wie ein Sinnbild seiner Irrfahrten erschien, und verfolgte mit den Augen die geraden Linien der Straßen und die wellenförmige Umgrenzung der Meere.

Nicht ein einziges Mal fiel ihm ein, daß an der andern Seite des Flurs um ihn geseufzt und geweint wurde, nicht ein einziges Mal dachte er an die Verzweiflung seines Bruders, an das furchtbare Drama, das sie hinter sich ließen. Dem allem war er weit entrückt, sah sich bereits mit Sidonie in dunkler Kleidung, wie sie zur Flucht und Reise passend ist, auf dem Perron des Bahnhofes . . . später am Ufer des blauen Meeres, wo sie eine Zeitlang blieben, um die Verfolger irre zu führen . . . und endlich in einem fernen unbekannten Lande, wo sie niemand finden und ihm entreißen konnte. Oder er dachte an den Waggon, in dem sie durch die nächtlichen Gefilde dahin fuhren; ein blasses, zierliches Köpfchen lag neben ihm auf dem Kissen, ein blühender Mund war seinen Lippen nahe und zwei tiefe Augen sahen im sanften Dämmerlicht der Lampe zu ihm auf, während Dampf und Räder sie in wiegender Bewegung forttrugen.

Und nun brause und zische, Lokomotive, erschüttere die Erde, röte den Himmel, speie Rauch und Flammen aus, stürze dich in Tunnels, eile über Berge und Ströme, fliege, brenne, berste, aber nimm uns mit, trage uns fort, weit fort vom Leben der Menschen, ihren Gesetzen, ihren Neigungen . . . fort aus dem Leben, fort von uns selbst!

Zwei Stunden ehe der Billetschalter für den bestimmten Zug geöffnet wurde, befand sich Franz bereits auf dem Lyoner Bahnhof, der in seiner häßlichen Kahlheit, seiner Entfernung vom Mittelpunkt des Pariser Lebens schon eine erste Station der Provinz zu sein scheint. Der junge Mann setzte sich in den dunkelsten Winkel und blieb da regungslos, wie betäubt. In seinem Hirn war um diese Zeit nicht weniger Unruhe und Verwirrung als rings um ihn her. Eine Ueberfülle abgerissener Gedanken, unklarer Erinnerungen, fremdartiger Vorstellungen drängte sich ihm auf. In einer Minute trug ihn sein Gedächtnis in solche Weiten, daß er sich zwei- oder dreimal fragen mußte, warum er hier sei und was er erwarte. Aber aus diesen wirren Gedanken stieg Sidoniens Bild wieder auf und überstrahlte sie mit voller Klarheit.

Sie wollte kommen!

Mechanisch, obwohl die Stunde des Stelldicheins noch nicht erschienen war, suchte er in der sich drängenden, lärmenden Menge nach ihrer eleganten Gestalt und glaubte jeden Augenblick, sie aus dem Gewühl hervortreten zu sehen, das vor ihrer leuchtenden Schönheit ehrfurchtsvoll zurückwich.

Nach wiederholtem Ankommen und Abfahren und zahllosen, wie eine Wehklage unter der Wölbung verhallenden Pfiffen trat eine plötzliche Stille auf dem Bahnhofe ein, der nun so verödet war, wie eine Kirche am Wochentage. Der Zehnuhrzug war der nächste, vor demselben ging kein andrer mehr ab. Franz erhob sich.

Es war kein Traum mehr, keine in unbegrenzter Zukunftsweite verlorene Chimäre.

In einer Viertelstunde, einer halben Stunde spätestens mußte sie da sein.

Jetzt begann für ihn die entsetzliche Qual der Erwartung, jene schmerzliche Spannung des Körpers und der Seele, in der das Herz nicht mehr schlägt, der Atem stockt, wie die Gedanken, während Gebärden und Worte unvollendet bleiben und alles harrt, alles wartet.

Hundertmal haben uns Dichter die schmerzliche Ungeduld des Liebenden geschildert, der auf jeden heranrollenden Wagen, jeden leichten Schritt auf der Treppe lauscht. Aber viel qualvoller ist's, der Geliebten auf einem Bahnhofe, in einer Wartehalle entgegensehen zu müssen. Die düster brennenden Lampen, die auf dem staubbedeckten Fußboden ohne Widerschein bleiben, die weiten Nischen der vergitterten Fenster, das unablässige Geräusch von Schritten und zufallenden Thüren, das an das Ohr schlägt, die hohen, kahlen Wände, die daran hängenden Plakate: »Vergnügungszug nach Monaco« – »Rundreise durch die Schweiz« – die eigentümliche Atmosphäre voll Reisehast und Unruhe, voll Gleichgültigkeit und Wechsel – alles trägt dazu bei, das Herz zusammenzuschnüren und die Angst zu steigern.

Franz ging hin und her, um die ankommenden Wagen zu beobachten. Sie fuhren an der breiten Steintreppe vor; der Schlag wurde geöffnet, geräuschvoll wieder zugeschlagen und aus der draußen herrschenden Dunkelheit traten die Ankommenden in das Licht, das ihnen auf der Thürschwelle entgegenfiel; da waren ruhige und aufgeregte, glückliche und gramvolle Gesichter; Federhüte, von hellen Schleiern umgeben, neben der Haube der Bäuerin; schlaftrunkene Kinder, die an der Hand fortgezogen wurden . . . Bei jeder neuen Erscheinung bebte Franz zusammen; er glaubte sie zu sehen, zaudernd, dicht verschleiert, etwas befangen . . . wie schnell wäre er an ihre Seite geeilt, sie zu beruhigen und zu schützen.

Je mehr sich der Bahnhof füllte, um so schwieriger wurde die Aufgabe des Spähenden. Die Wagen folgten sich ohne Unterbrechung, so daß er von einer Thür zur andern laufen mußte; endlich ging er hinaus, weil er glaubte, dort besser beobachten zu können. Ueberdies war er nicht im stande, mit der Angst, die ihn bedrückte, in der Stickluft der Wartehalle auszuharren.

Es war Ende September, das Wetter lau und feucht. Durch den leichten Nebel schimmerten die Wagenlaternen trübe von den abschüssigen Straßen herauf und jede derselben schien, während sie herankam, dem Ungeduldigen zuzuwinken: »Ich bin's . . . ich komme!« Aber die Aussteigende war nicht Sidonie und gleichgültig sah er den Wagen, dem er mit hoffnungsvollem Herzen, als ob er mehr als sein Leben in sich schlösse, entgegengeschaut, leicht und leer nach Paris zurückkehren.

Die Stunde der Abfahrt nahte. Franz sah nach der Uhr . . . es fehlte nur noch eine Viertelstunde. Er erschrak, aber die Glocke des Schalters, der eben geöffnet wurde, rief ihn heran und er stellte sich in die lange Reihe der Billetlösenden.

»Zwei Plätze erster Klasse nach Marseille!« forderte er und hatte das Gefühl, damit gewissermaßen von Sidonie Besitz zu ergreifen.

Durch Gepäckkarren und verspätete, hastig herbeilaufende Reisende bahnte er sich den Rückweg nach seinem Beobachtungsposten. »Achtung!« riefen ihm die Kutscher zu, aber er hörte sie nicht und blieb mit weitgeöffneten Augen im Bereich der Räder und Pferdehufe stehen. Nur noch fünf Minuten! Es war fast unmöglich, daß sie rechtzeitig kam. Die Leute stürzten in die inneren Säle, die Koffer wurden in den Gepäckwagen geworfen, große Leinwandbündel, Reisetaschen mit Messingbeschlägen, Umhängetaschen und Körbe von den verschiedensten Größen und Formen drängten voller Hast, hin und her gestoßen, derselben Thür zu.

Endlich kam sie . . .

Ja, das mußte sie sein . . . eine Dame in Schwarz, schlank und zierlich, von einer kleineren, wahrscheinlich Madame Dobson, begleitet. Aber auf den zweiten Blick erkannte er seinen Irrtum. Es war eine junge Frau, die ihr ähnlich sah, eine elegante Pariserin wie sie, aber mit glückstrahlendem Gesicht. Ein junger Mann gesellte sich zu ihr . . . sie machten wohl ihre Hochzeitsreise und die Mutter begleitete sie zur Eisenbahn. Sie gingen an Franz vorbei, wie umhüllt von dem Glücksgefühl, das sie erfüllte. Mit einer Empfindung von Neid und Zorn sah er sie, eng aneinander geschmiegt, durch die Doppelthür verschwinden, als wären sie in dem sie umgebenden Gewühl nur um so inniger vereint.

Franz war zu Mute, als hätten ihn die beiden beraubt, als nähmen sie den Platz im Zuge ein, der ihm und Sidonie gehörte.

Die wilde Hast der Abfahrt tritt ein; der letzte Glockenschlag ertönt; in das dumpfe Brausen der Lokomotive mischt sich das Geräusch eiliger Schritte, zugeschlagener Thüren und fortfahrender Omnibusse. Und Sidonie kommt nicht . . . und Franz wartet noch immer! In diesem Augenblick legt sich eine Hand auf seine Schulter.

Großer Gott!

Der junge Mann sieht sich um und erblickt Monsieur Gardinois' dicken Kopf in einer Mütze mit Ohrenklappen.

»So habe ich mich nicht geirrt . . . Sie sind es wirklich, Herr Risler, und reisen, wie es scheint, mit dem Schnellzuge nach Marseille. Auch ich fahre mit dem Zuge, aber nicht so weit.«

Er setzt Franz auseinander, daß er den Zug nach Orleans verfehlt hat und nun versuchen will, auf der Lyoner Bahn nach Savigny zu gelangen. Dann spricht er von Risler senior und der Fabrik.

»Es scheint seit einiger Zeit mit den Geschäften nicht besonders zu gehen . . . durch den Bonardelschen Bankerott haben sie eine Ohrfeige bekommen . . . und sie mögen sich nur in acht nehmen, unsre jungen Leute, wie sie die Dinge treiben, können sie in dasselbe Geleis geraten wie die Bonardels. Aber verzeihen Sie . . . ich glaube, der Schalter soll geschlossen werden. . . . Auf Wiedersehen!«

Franz hat die Worte des alten Gardinois kaum gehört; der Bankerott seines Bruders, der Zusammensturz der ganzen Welt, nichts kümmert ihn mehr . . . er wartet nur, wartet, wartet . . .

Plötzlich fällt der Schalter zu, wie eine letzte Schranke vor der Hartnäckigkeit seines Hoffens. Wiederum ist der Bahnhof verödet, die Menschenmenge strömt die Straßen entlang und ein gellender Pfiff, der im nächtlichen Dunkel verhallt, trägt ihm gleichsam einen spöttischen Abschiedsgruß zu.

Der Zehnuhrzug ist abgefahren!

Er versucht, ruhig zu bleiben und sich die Sachlage zu erklären. Wahrscheinlich hat sie den Zug von Asnières versäumt, aber da sie weiß, daß er sie erwartet, wird sie zu irgend einer andern Stunde im Laufe der Nacht zu ihm kommen. Er muß weiter warten; der Saal ist ja dazu bestimmt.

Der Unglückliche setzt sich auf eine Bank; die großen Fenster sind geschlossen und sehen mit der dahinter liegenden Finsternis aus, als wären sie schwarz lackiert. Die schlaftrunkene Bücherverkäuferin ordnet ihren Verkaufsstand. Mechanisch betrachtet Franz die buntscheckigen Bändereihen der Eisenbahnbibliothek, deren Titel er – nach vierstündigem Hiersein – bereits auswendig weiß. Es sind Bücher darunter, die er, wie ihm einfällt, in seinem Zelte in Ismailia oder auf dem Schiffe gelesen hat, mit dem er von Suez zurückgekommen ist, und alle diese unbedeutenden alltäglichen Romane haben für ihn einen Hauch der See oder des Südens an sich. Aber nach einer Weile wird der Bücherstand geschlossen und auch dies Hilfsmittel, sich auf Augenblicke seiner wachsenden Ermüdung, seinem fieberhaften Warten zu entreißen, geht ihm verloren. Auch die Spielzeugbude ist bereits von schützenden Planken eingehegt; die Pfeifen, Schubkarren, Gießkannen, Schaufeln und Rechen, das ganze Spielzeug des kleinen Parisers, der aufs Land geht, wird unsichtbar, und die Verkäuferin, eine kränklich und trübselig aussehende Frau, wickelt sich in ihren alten Mantel, nimmt ihre Kohlenpfanne in die Hand und geht.

Alle diese Leute haben ihr Tagewerk vollendet, nachdem sie dasselbe, beharrlich – thatkräftig wie ganz Paris, das seine Laternen erst im Morgengrauen auslöscht – so lange als möglich ausgedehnt.

Bei dem Gedanken an lange Nachtarbeit fällt ihm ein wohlbekanntes Zimmer ein, wo auch die Lampe noch um diese Stunde einen mit Kolibris und bunten Käfern beladenen Tisch bescheint. Aber das Bild verschwindet gleich wieder in dem Chaos abgerissener Erinnerungen, die das Fieber der Erwartung in ihm wachruft.

Plötzlich kommt ihm zum Bewußtsein, daß er vor Durst beinahe verschmachtet. Das Bahnhofrestaurant ist noch offen; er tritt hinein. Schlafende Nachtkellner liegen auf den Bänken, der Fußboden ist naß vom Gläserspülen. Es dauert eine Ewigkeit, bis er bedient wird, und als er endlich trinken will, fällt ihm ein, daß Sidonie während seiner Abwesenheit gekommen sein und nach ihm suchen könnte. Er springt auf, legt das Geld zu dem vollen Glase auf den Tisch und stürzt davon wie ein Rasender.

Sie kommt nicht mehr . . . er fühlt es.

Der einförmige, gleichmäßige Ton seiner Schritte auf dem Perron des Bahnhofes reizt seine Nerven . . . er ist ein Zeugnis seiner Wachsamkeit, seines Mißgeschicks.

Was ist denn geschehen? . . . Was kann sie zurückgehalten haben? Ist sie krank geworden, oder hat sich schon vor der That ihr Gewissen geregt? . . . Aber in diesem Falle hätte sie ihn benachrichtigt, hätte Madame Dobson zu ihm geschickt. Oder hatte sein Bruder den Brief gefunden? Sidonie war so unbesonnen, so leichtsinnig.

Während er sich in dieser Weise in Vermutungen verlor, verging die Zeit. Nach und nach traten die Giebel der Gebäude von Mazas aus der Dunkelheit hervor. Was nun beginnen? Er mußte so schnell als möglich nach Asnières gehen, sich erkundigen, Aufschluß zu erlangen suchen. Er hätte schon dort sein mögen.

Sobald sein Entschluß gefaßt war, eilte er mit raschen Schritten die Bahnhofsauffahrt hinunter und kam an Soldaten, die mit Tornistern bepackt waren, und an Scharen armer Leute vorüber, die zum Frühzuge eintrafen, dem Zuge des Elends, das zeitig aufstehen muß.

Im Morgengrauen durchschritt er Paris, ein düsteres, fröstelndes Paris, in das hin und wieder die Laternen der Polizeiposten ein rotes Licht warfen, während die Schutzmänner paarweise auf und ab patrouillierten, an den Straßenecken stehen blieben und sich forschend umsahen.

Vor einer der Polizeiwachen sah er einen Zusammenlauf von allerlei Gesindel, Lumpensammlern und Bauersfrauen. Wahrscheinlich sollte hier vor dem Polizeikommissär irgend ein nächtliches Drama seine Lösung finden. Ach! wenn Franz dies Drama gekannt hätte . . . aber er ahnte nichts . . . gleichgültig sah er aus der Ferne darauf hin.

Aber alle diese häßlichen Eindrücke, das bleiche, müde Morgenlicht, die Gaslaternen am Ufer der Seine, die wie blasse Totenkerzen brannten, die eigne Ermattung nach der schlaflosen Nacht erfüllten ihn mit tiefer Traurigkeit. Als er nach zwei- bis dreistündigem Marsch in Asnières ankam, hatte er das Gefühl des Erwachens.

Die Sonne, die in voller Pracht aufgegangen war, überstrahlte Fluß und Ebene. Die Brücke, die Häuser, der Quai, alles war von jener Morgenklarheit umflossen, die dem neuen Tage, der aus nächtlichem Dunkel emporsteigt, etwas Glänzendes, heiter Lächelndes gibt. Von weitem sah Franz das Haus seines Bruders; auch hier war alles wach; die Jalousieen standen offen und Blumen in den Fenstern. Dennoch irrte er eine Zeitlang umher und wagte nicht einzutreten.

Plötzlich wurde er vom Ufer aus angerufen.

»Sie da, Monsieur Franz, wie früh Sie heute aufgestanden sind . . .«

Es war Sidoniens Kutscher, der seine Pferde in die Schwemme führte.

»Nichts Neues bei Ihnen vorgefallen?« fragte der junge Mann in zitternder Spannung.

»Nicht daß ich wüßte, Monsieur Franz.«

»Ist mein Bruder zu Hause?«

»Nein, der Herr ist über Nacht in der Fabrik geblieben.«

»Ist niemand krank geworden?«

»Nein, Monsieur Franz; wenigstens habe ich nichts davon gehört.«

Nach diesen Worten führte er die Pferde ins Wasser, das ringsumher aufspritzte.

Nun entschloß sich Franz, an der Gartenpforte zu klingeln.

Die Gartenwege wurden geharkt; das Haus war in Bewegung und trotz der frühen Stunde hörte er Sidoniens Stimme hell und klar, wie das Gezwitscher der Vögel in den Kletterrosen am Hause.

Sie sprach mit großer Lebhaftigkeit.

Franz näherte sich tief erregt, um zu lauschen.

»Nein, keinen Creme . . . die kalte Speise genügt, aber sie muß auf Eis gestanden haben und um sieben Uhr fertig sein. Und was nehmen wir als Entree . . . was meinen Sie?« Sidonie war mit ihrer Köchin in eifriger Beratung über das große Diner, das sie am folgenden Tage geben wollte, und das plötzliche Erscheinen ihres Schwagers störte sie durchaus nicht.

»Guten Morgen, Franz«, sagte sie ganz ruhig; »ich stehe gleich zu Diensten . . . Wir haben morgen ein großes Diner . . . Kunden des Hauses, Geschäftsfreunde . . . Sie verzeihen, nicht wahr?«

Frisch und lächelnd in ihrem weißen, schleppenden Morgenkleide und zierlichen Spitzenhäubchen, fuhr sie fort, ihren Küchenzettel zu machen, während sie die frische Luft, die von Strom und Wiesen herüberwehte, in vollen Zügen einatmete. In ihrem Antlitz war keine Spur von Kummer oder Unruhe zu entdecken. Ihre glatte Stirn, der reizend verwunderte Ausdruck ihres Blicks, der sie so lange jung erhielt, ihre rosigen, halbgeöffneten Lippen standen in auffallendem Gegensatz zu dem Aussehen des jungen Mannes, den die schlaflose Nacht voll banger Erwartung völlig erschöpft hatte.

Während einer langen Viertelstunde mußte Franz, der in einem Winkel des Salons saß, die üblichen Gerichte eines bürgerlichen Diners in hergebrachter Reihenfolge an sich vorüberziehen sehen, von dem kleinen, warmen Pastetchen, der normannischen Scholle und den zahllosen Gewürzen, die zu ihrer Sauce verwendet werden, bis zu den Pfirsichen von Montreuil und den Trauben von Fontainebleau . . . nicht ein Zwischengericht wurde ihm geschenkt.

Endlich waren sie allein und er konnte sprechen.

»Haben Sie meinen Brief etwa nicht erhalten?« fragte er mit dumpfer Stimme.

»Gewiß . . . er ist richtig angekommen.«

Sie war aufgestanden, um vor dem Spiegel ein paar kleine Löckchen zu ordnen, die sich mit ihren wallenden Bändern verwirrt hatten, und fuhr, ihr Bild betrachtend, fort: »Gewiß, ich habe Ihren Brief erhalten und bin sehr froh, ihn zu besitzen. Sollten Sie jetzt jemals wieder Lust verspüren, Ihrem Bruder die häßlichen Klatschereien zu hinterbringen, womit Sie mich bedroht haben, so kann ich ihm sofort beweisen, daß nur der Rachedurst einer verbrecherischen Liebe, welche von mir in gebührender Weise zurückgewiesen wurde, zu diesen verleumderischen Angebereien Anlaß gegeben hat. Das lassen Sie sich gesagt sein, mein Bester . . . und leben Sie wohl!«

Strahlend, wie eine Schauspielerin, die einen wirkungsvollen Abgang hat, schritt sie an ihm vorüber und verließ den Salon mit lächelndem Munde, siegesfroh, ohne zornige Erregung.

Und er brachte sie nicht um!


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