Alphonse Daudet
Fromont junior und Risler senior - Zweiter Band
Alphonse Daudet

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Vierzehntes Kapitel.

Erklärung.

Es war wirklich hohe Zeit, daß der Rächer kam!

Haltlos wurde die kleine Frau von den Wirbeln des Pariser Golfstroms fortgerissen. Noch schwamm sie auf den Wassern, von der eignen Leichtigkeit getragen; aber ihre maßlose Verschwendung, der Luxus, mit dem sie sich umgab, ihre Mißachtung auch der kleinsten Gebote des Anstandes, alles verkündete, daß sie dem Untersinken nahe war und die Ehre ihres Gatten, vielleicht auch Vermögen und guten Namen eines angesehnen, durch ihren Wahnsinn zu Grunde gerichteten Handlungshauses mit ins Verderben ziehen werde.

Die Umgebung, in welcher sie jetzt lebte, trug noch zu der Beschleunigung ihres Unterganges bei. In Paris, inmitten eines kleinbürgerlichen Stadtviertels, dessen Bosheiten und Klatschereien denen der kleinsten Provinzialstadt gleich kamen, sah sie sich zu einem gewissen Maßhalten gezwungen; in Asnières dagegen, wo ihr Landhaus von den Sommerwohnungen untergeordneter Schauspieler, anrüchiger Liebespaare und beurlaubter Ladendiener umringt war, nahm sie keinerlei Rücksicht mehr. Ohne Ekel atmete sie in dieser Atmosphäre des Lasters, fühlte sich wohl darin und abends in ihrem kleinen Garten erfreute sie sich der Ballmusik, die zu ihr herübertönte.

Einmal fiel nachts in einem Nachbarhause ein Pistolenschuß, der die ganze Umgegend mit einer albernen, gemeinen Liebesgeschichte bekannt machte. Fortan träumte Sidonie nur noch von ähnlichen Erlebnissen und sehnte sich nach einem »Abenteuer«. In Sprache und Benehmen ließ sie sich vollständig gehen; wenn sie nicht im kurzen Röckchen, den Spazierstock in der Hand, wie eine Modedame in Trouville oder Houlgate, auf dem Quai von Asnières einherstolzierte, blieb sie den ganzen Tag, wie ihre Nachbarinnen, im losen Morgenkleide, that nicht das geringste, bekümmerte sich nur ganz oberflächlich um ihren Haushalt, in dem sie, ohne etwas davon zu bemerken, wie eine Cocotte bestohlen wurde, und oft unterhielt sie sich stundenlang mit ihrem Dienstmädchen von den seltsamen Nachbarn, an denen sie morgens vorüber geritten war.

Nach und nach stieg sie wieder auf ihr früheres Niveau hinab, ja sogar viel tiefer, denn von der wohlhabenden, angesehenen Bürgersfrau, zu der ihre Heirat sie gemacht hatte, sank sie zur bezahlten Maitresse nieder. Die vielen Eisenbahnfahrten mit seltsam aufgeputzten weiblichen Wesen, die ihr Haar à la chien bis auf die Augen herabgekämmt oder à la Genoveva von Brabant im Rücken herunterhängend trugen, brachten sie dazu, es ihnen gleich zu thun. Zwei Monate lang wurde sie sogar zur Blondine, zu Rislers großem Erstaunen, der nicht begriff, wodurch sein Püppchen so verändert aussah. Georges aber, der eigentliche Gatte und Hausherr, freute sich dieser Launen, die ihm in dem einen Weibe gleichsam zehn andre zu eigen gaben.

Um Sidonie zu zerstreuen, hatte er sie mit einer Art von Gesellschaft umgeben, ihr einige seiner unverheirateten Freunde, einige Lebemänner aus der Kaufmannswelt zugeführt; Frauen aber nicht . . . sie haben zu scharfe Augen. Madame Dobson blieb ihre einzige Freundin.

Sidonie gab große Diners, veranstaltete Wasserfahrten und Feuerwerke. Rislers Lage wurde von Tag zu Tag lächerlicher, anstößiger. Wenn er abends todmüde und schlecht angezogen nach Hause kam, mußte er schnell in sein Schlafzimmer hinaufgehen, um sich umzukleiden.

»Wir haben Tischgäste,« sagte seine Frau; »du mußt dich beeilen.«

So setzte er sich denn oft als der letzte zu Tisch, nachdem er rings um die Tafelrunde seinen Gästen die Hand geschüttelt hatte; Freunden seines Compagnons, die er kaum dem Namen nach kannte. Und dann wurde an diesem Tische, wo Georges mit der ruhigen Sicherheit des Herrn, der die Kosten des Hauses bestreitet, seine Bekannten aus dem Klub zu versammeln pflegte, über die Geschäftsangelegenheiten der Fabrik verhandelt.

»Dejeuners und Diners im Interesse des Geschäfts«, das war in Rislers Augen vollgültige Erklärung für die beständige Anwesenheit Fromonts junior, für die Wahl der Gäste und für Sidoniens prachtvolle Toiletten, die nur um der Firma willen so geputzt und kokett war. – Georges Fromont brachte die Koketterie seiner Geliebten zur Verzweiflung; zu jeder Stunde des Tages kam er unruhig und mißtrauisch herbei, um sie zu überraschen; dies heuchlerische, bis ins Innerste verderbte Wesen längere Zeit allein zu lassen, schien ihm gefährlich.

»Was ist denn das mit deinem Manne?« sagte Vater Gardinois in spöttischem Tone zu seiner Enkelin. »Warum läßt er sich so selten hier sehen?«

Claire entschuldigte Georges, aber sein beständiges Wegbleiben fing an, sie zu beunruhigen. Sie weinte beim Empfang der Depeschen und kurzen Billets, die jetzt so oft zur Essensstunde eintrafen: »Erwarte mich heute abend nicht, liebe Claire; ich werde erst morgen oder übermorgen mit dem Abendzuge kommen können.«

Traurig saß sie dann bei Tisch seinem leeren Platze gegenüber und, ohne seine Untreue zu ahnen, fühlte sie, daß er sich ihr mehr und mehr entfremdete. Er war so zerstreut, wenn ihn Familienfeste oder andre Veranlassungen im Hause festhielten, so stumm über alles, was ihn beschäftigte. Da Claire nur wenig mit Sidonie verkehrte, blieben ihr die Vorgänge in Asnières unbekannt, aber oft, wenn Georges mit lächelndem Gesicht von ihr forteilte, quälte sie sich in ihrer Einsamkeit mit einem unbestimmten Argwohn, fühlte wie alle, denen Unheil bevorsteht, eine tiefe Leere im Herzen und das unabweisbare Herannahen der Katastrophe.

Ihr Gatte war kaum glücklicher als sie, denn mit grausamer Freude schien Sidonie darauf auszugehen, ihm Qualen zu bereiten. Von jedem ließ sie sich den Hof machen, besonders aber von einem gewissen Cazabon, genannt Cazaboni, einem italienischen Tenoristen aus Toulouse, den Madame Dobson bei ihr eingeführt hatte und der nun täglich kam, um beunruhigende Duette mit ihr zu singen. Georges, der sehr eifersüchtig war, kam darum schon nachmittags nach Asnières, vernachlässigte alles darüber und fand, daß Risler seine Frau nicht genug beaufsichtige. Nur ihm selbst gegenüber hätte er blind sein sollen.

Ach! wenn er Sidoniens Gatte gewesen wäre, wie fest hätte er sie im Zügel halten wollen! Aber er hatte keine Rechte über sie, und sie versäumte keine Gelegenheit, ihm das bemerklich zu machen. Zuweilen sagte er sich auch mit der Logik, die selbst bei dem Oberflächlichsten hin und wieder zum Durchbruch kommt, daß der Betrüger verdient, betrogen zu werden, und so war, alles in allem genommen, sein Leben ein sehr trauriges. Unablässig lief er bei Juwelieren und Modehändlern umher und mühte sich ab, Geschenke und Ueberraschungen für Sidonie aufzufinden. Er wußte nur zu gut, mit wem er es zu thun hatte . . . wußte, daß er sie mit Juwelen, wenn auch nicht fesseln, so doch unterhalten konnte, und daß, wenn sie sich eines Tages langweilte . . .

Aber noch langweilte sie sich nicht; noch hatte sie das Leben, das ihr behagte, und alles Glück, dessen sie fähig war. In ihrer Liebe zu Georges lag keine Spur von Leidenschaft oder Schwärmerei: er war für sie nur ein zweiter Ehemann, jünger und vor allen Dingen reicher als der andre. Um diesen kleinbürgerlichen Charakter ihres unerlaubten Verhältnisses zu vervollständigen, hatte sie ihre Eltern nach Asnières gezogen und sie in einem Häuschen am äußersten Ende des Ortes einquartiert, und der eitle, absichtlich blinde Vater, die zärtliche, wirklich verblendete Mutter gaben ihrem Leben einen Anstrich von Ehrbarkeit, den sie um so mehr festzuhalten suchte, je mehr sie sich vom rechten Wege verlor.

So war alles in dem kleinen verderbten Köpfchen, welches mit kalter Ueberlegung an das Laster herantrat, aufs beste geordnet und es hatte den Anschein, als ob sie in ruhigem Gleise dahin leben dürfte, als urplötzlich Franz Risler wieder auftauchte.

Sobald sie ihn eintreten sah, wurde ihr klar, daß ihre Ruhe bedroht sei und daß es zwischen ihnen zu etwas Entscheidendem kommen müßte. Ihr Plan war sofort gefaßt . . . nun handelte sich's um die Ausführung,

Der Pavillon, in den sie eingetreten waren, enthielt ein großes rundes Gemach, dessen vier Fenster vier verschiedene Landschaftsbilder zeigten, und das für sommerliche Mittagsruhe eingerichtet war, für heiße Stunden, in denen man vor dem Staube und dem Insektengesumm des Gartens Zuflucht sucht. Ein breiter, sehr niedriger Diwan zog sich rings an den Wänden hin und in der Mitte stand ein kleiner, auch sehr niedriger, lackierter Tisch, den zerlesene Zeitschriften bedeckten. Die Wände waren mit einer neuen Tapete bekleidet, deren Muster – flatternde Vögel zwischen bläulichem Schilf – den Eindruck eines Sommertraumes machte; die herabgelassenen Vorhänge, die Matte des Fußbodens, das dichte Rankenwerk, das die Außenwände des Pavillons bekleidete, gaben dem Gemach eine angenehme Kühle, welche das Rauschen des nahen Stromes und das leise Anschlagen der Wellen am Uferdamm noch erhöhte.

Sobald Sidonie eingetreten war, ließ sie sich auf den Diwan sinken, indem sie ihre lange, weiße Schleppe zurückwarf, so daß sie sich in schneeiger Leichtigkeit zu ihren Füßen ausbreitete. Dann saß sie mit hellen Augen und lächelndem Munde, den kleinen mit einer Schleife geschmückten Kopf auf die Seite neigend, erwartungsvoll da.

Franz, der sehr bleich war, blieb stehen, sah ringsumher und sagte nach kurzer Pause: »Mein Kompliment, Madame, auf Komfort verstehen Sie sich!«

Und schnell, als ob er fürchtete, daß das Gespräch, wenn er so weit ausholte, nicht zum Ziele führen möchte, fügte er hinzu: »Wem verdanken Sie diesen Luxus? . . . Ihrem Gatten oder Ihrem Liebhaber?«

Ohne sich zu regen oder auch nur die Augen zu ihm aufzuschlagen, antwortete sie: »Beiden.«

So viel Keckheit brachte ihn außer Fassung.

»Sie gestehen also, daß dieser Mann Ihr Geliebter ist?«

»Natürlich . . . warum sollte ich nicht!«

Franz sah sie einen Augenblick schweigend an; sie war, trotz ihrer Ruhe, blaß geworden und ihr gewöhnliches, leichtes Lächeln zitterte nicht mehr um ihre Mundwinkel. Er begann aufs neue: »Hören Sie mich an, Sidonie!« sagte er. »Der Name meines Bruders, dieser Name, den er seiner Frau gegeben hat, ist auch der meinige. Wenn mein Bruder wahnsinnig und blind genug ist, denselben durch Sie entehren zu lassen, so habe ich die Aufgabe, ihn zu schützen. Ich verlange daher, daß Sie Herrn Fromont ankündigen, er möge sich eine andre Geliebte suchen, sich durch eine andre zu Grunde richten lassen. Wenn nicht . . .«

»Wenn nicht?« fragte Sidonie, die, während er sprach, mit ihren Ringen gespielt hatte.

»Wenn nicht, so sage ich meinem Bruder, was in seinem Hause vorgeht, und dann werden Sie erstaunen, den Risler, den Sie bisher so sanft und nachgiebig gekannt haben, von wütender Heftigkeit zu finden. Es ist möglich, daß ihm meine Eröffnung den Tod gibt . . . vorher aber, darauf können Sie sich verlassen, wird er Sie umbringen.«

Sie zuckte die Achseln.

»Mich umbringen . . . mag er doch! was liegt daran?«

Sie sagte das mit so tiefschmerzlichem Ausdruck, so völliger Gleichgültigkeit gegen alles, daß Franz sich eines gewissen Mitleids für dies schöne, junge, glückliche Wesen, das mit solcher Ergebung vom Sterben sprach, nicht erwehren konnte.

»So groß ist Ihre Liebe?« fragte er in etwas milderem Tone; »so groß ist Ihre Liebe für diesen Fromont, daß Sie eher sterben wollen, als ihm entsagen?«

Sie fuhr auf.

»Ich diesen Gecken, diesen Waschlappen, dies alberne Mädchen in Männerkleidern lieben? . . . Unsinn! ich habe ihn genommen, wie ich jeden andern genommen hätte!«

»Aber warum denn?«

»Weil ich mußte . . . weil ich wahnsinnig war . . . weil ich eine verbrecherische Liebe im Herzen trug und noch trage . . . eine Liebe, von der ich mich um jeden Preis losmachen will.«

Sie war aufgestanden und sprach mit ihm Auge in Auge, Mund an Mund beinahe; ihr ganzer Körper bebte.

Eine verbrecherische Liebe? . . . Wen liebte sie denn? Franz scheute sich, sie danach zu fragen. Noch ahnte er nichts, aber ihr Blick, ihr Atem verrieten ihm, daß er etwas Entsetzliches hören würde . . . und sein Rächeramt verlangte, daß er alles erfuhr.

»Wen lieben Sie?« fragte er, und mit dumpfer Stimme gab sie zur Antwort: »Dich . . . das weißt du ja!«

Und sie war seines Bruders Weib.

Seit zwei Jahren hatte er ihrer nur wie einer Schwester gedacht; für ihn glich seines Bruders Frau in nichts mehr seiner ehemaligen Braut und es wäre ihm wie ein Verbrechen erschienen, hätte er in ihrem Angesicht auch nur einen Zug des Wesens wiedergefunden, zu dem er einst so oft gesagt: »Ich liebe dich!«

Und nun sagte sie, daß sie ihn liebe! Verwirrt, zerschmettert stand ihr der unglückselige Rächer gegenüber und fand nicht ein Wort der Erwiderung . . . Sie sah ihn an und wartete.

Es war einer jener Frühlingstage voll Sonnenschein und fieberhafter Erregung, deren Luft von weichem, feuchtem, melancholischem Atem kürzlich gefallenen Regens und süßen Blumendüften schwer ist. In die hohen, halbgeöffneten Fenster des Pavillons drang dieser berauschende Hauch, während aus der Ferne sonntägliche Drehorgeln und Schifferrufe und vom Hause Madame Dobsons zärtlich-schmelzender Gesang herüber klangen:

»Ist's möglich, du willst dich vermählen?
Geliebte, du bri–i–ichst mir das Herz! . . .

»Ja, Franz, dich habe ich immer geliebt,« sagte Sidonie; »und diese Liebe, der ich als junges Mädchen entsagte – weiß denn ein junges Mädchen, was das heißen will? – Diese Liebe hat durch nichts in mir ertötet oder auch nur abgeschwächt werden können. – Als ich erfuhr, daß du auch von Désirée, der armen Enterbten, geliebt wurdest, wollte ich, von einer großmütigen Regung bestimmt, ihr Glück begründen, indem ich das meinige zum Opfer brachte – habe dich zurückgestoßen, damit du dich ihr zuwenden solltest. Ach! sobald du fort warst, habe ich eingesehen, daß dies Opfer meine Kraft überstieg. Arme, kleine Désirée – – wie habe ich ihr in der Tiefe meines Herzens gegrollt! und von Stund' an – wirst du es glauben? – habe ich es vermieden, sie zu sehen, mit ihr zusammen zu sein . . . ihr Anblick that mir zu weh! . . .«

»Aber warum, wenn du mich liebst?« fragte Franz mit leiser Stimme, »warum, wenn du mich liebst, hast du meinen Bruder geheiratet?«

Sie zuckte nicht mit einer Wimper.

»Risler heiraten, hieß dir näher kommen,« antwortete sie; »ich sagte mir selbst: sein Weib habe ich nicht werden können . . . so will ich denn wenigstens seine Schwester sein. Auf diese Weise darf ich ihn immer noch etwas lieb haben und wir brauchen uns nicht unser lebenlang fern und fremd zu bleiben. Ach! das sind die kindlichen Träume eines zwanzigjährigen Herzens, deren Nichtigkeit wir nur zu bald durch Erfahrung kennen lernen! Nein, Franz . . . ich habe dich weder wie eine Schwester lieben, noch dich vergessen können; das ließ meine Heirat nicht zu. An der Seite eines andern Gatten wäre mir das Vergessen vielleicht gelungen . . . neben Risler war es unmöglich! Ohne Unterlaß sprach er von dir, deinen Erfolgen, deiner Zukunft; ›Franz hat dies gesagt . . . Franz hat das gethan . . . er liebt dich ja so zärtlich, der arme, teure Mann.‹ Das Entsetzlichste für mich aber war, daß dir dein Bruder ähnlich sieht. In eurem Gange, euren Zügen, besonders in eurer Stimme liegt eine gewisse Familienähnlichkeit, so daß ich oft bei seinen Liebkosungen die Augen geschlossen und mir gesagt habe: ›Er ist es . . . Franz!‹ Dann aber, als mich dieser verbrecherische Gedanke unablässig verfolgte, mir zur unerträglichen Qual wurde, habe ich mich zu betäuben gesucht, habe diesen Georges Fromont erhört, der mich schon lange verfolgt hat, habe mein Leben umgestaltet, Zerstreuungen, Aufregungen gesucht. Aber in all diesem lustigen Treiben – das schwöre ich dir, Franz! – habe ich nicht aufgehört, an dich zu denken, mich nach dir zu sehnen, und wenn irgend jemand das Recht hat, mich wegen meines Thuns und Lassens zur Verantwortung zu ziehen, so bist du das sicherlich nicht . . . denn du hast mich – wenn auch ohne deine Schuld – zu dem gemacht, was ich bin.«

Sie schwieg. Franz wagte nicht, die Augen zu ihr aufzuschlagen . . . er fand sie zu schön, zu begehrenswert und sie war seines Bruders Weib.

Auch zu sprechen wagte er nicht. Der Unglückliche fühlte, daß die alte Leidenschaft aufs neue herrschgewaltig in seinem Herzen erwachte, und daß fortan jeder Blick, jedes Wort, jede seiner Lebensäußerungen Liebe sein würde.

Und sie war seines Bruders Weib!

»Oh, wie elend, wie elend sind wir beide!« sagte der arme Rächer, indem er neben sie auf den Diwan niedersank.

Diese wenigen Worte schon waren eine Feigheit, ein Aufgeben des Widerstandes. Es war, als hätte ihm das Geschick durch seine Grausamkeit die Kraft zur Verteidigung genommen. Sidonie hatte ihre Hand auf die seinige gelegt. »Franz, Franz!« flüsterte sie und dann saßen sie, in glühendem Schweigen aneinander gelehnt, gewiegt durch Madame Dobsons Lied, dessen Melodie in abgerissenen Tönen durch das Buschwerk zu ihnen drang:

»Die Liebe zu dir ist mein Leben,
Die Liebe zu dir ist mein Schmerz!«

Plötzlich erschien Rislers große Gestalt in der Thür.

»Hierher, Chèbe, hierher . . . sie sind im Pavillon!« rief der gute Mann, indem er hereintrat, begleitet von seinen Schwiegereltern, die er herbeigeholt hatte.

Nun gab es herzliche Begrüßungen und immer wiederholte Umarmungen, wobei der kleine Chèbe den großen Franz, der ihn um einen ganzen Kopf überragte, mit gönnerhafter Miene betrachtete.

»Wie steht's, mein Junge? macht der Kanal von Suez die gewünschten Fortschritte?«

Madame Chèbe, für welche Franz noch immer eine Art »künftiger Schwiegersohn« geblieben war, umarmte ihn auf das zärtlichste, während Risler auf der Terrasse seiner Freude wie gewöhnlich in linkischer Weise, mit allerlei Gebärden Ausdruck gab, verschiedene fette Kälber zu schlachten versprach, um die Heimkehr des verlorenen Sohnes zu feiern, und mit einer Stimme, die in allen Nachbargärten hörbar sein mußte, der Gesanglehrerin zurief: »Madame Dobson, Madame Dobson, nichts für ungut! aber was Sie da singen, ist viel zu traurig für heute. Zum Kuckuck mit dem Ausdruck! . . . spielen Sie uns 'was Lustiges . . . einen Tanz . . . ich möchte mit Madame Chèbe 'mal herumwalzen.«

»Risler, Risler, sind Sie verrückt . . . lieber Schwiegersohn . . .«

»Vorwärts, Mama, immer vorwärts . . . es geht nicht anders . . . hopp . . . hopp . . .«

Dabei zog er seine Schwiegermutter auf den Gartenwegen in einem schwerfälligen, altmodischen sechstaktigen Walzer mit sich fort, und die arme Frau blieb bei jedem Schritte atemlos stehen, um die flatternden Hutbänder und die Spitzen ihres Shawls, des schönen Shawls von Sidoniens Hochzeit, in die gehörige Ordnung zu bringen.

Der gute Risler war wie berauscht vor Freude.

Für Franz schien der Tag voll unvergeßlicher Qual kein Ende zu nehmen. Spazierfahrt im Wagen, Spazierfahrt im Kahn, Goûter im Grase der Insel des Ravageurs, er mußte jeden Reiz des Aufenthalts von Asnières genießen, und dabei, auf der sonnigen Landstraße wie auf dem schimmernden Strome, mußte er lachen, plaudern, von seiner Reise, von der Landenge von Suez, von den Kanalarbeiten erzählen, die heimlichen Klagen Monsieur Chèbes, der wie immer gegen seine Kinder aufgebracht war, und die Auseinandersetzungen seines Bruders über die Druckmaschine anhören. »Eine rotierende Maschine, lieber Junge!« . . . Sidonie überließ sie ihren Unterhaltungen, schien in Gedanken versunken, richtete von Zeit zu Zeit ein Wort oder ein trauriges Lächeln an Madame Dobson und Franz, der sie selbst nicht anzusehen wagte, beobachtete die Bewegungen ihres blau gefütterten Sonnenschirms, das Wallen ihres Kleides.

Wie hatte sie sich in den zwei Jahren verändert . . . wie schön war sie geworden!

Und dann kamen ihm entsetzliche Gedanken. An dem Tage war Rennen in Longchamps; dicht an ihrer Equipage fuhren Wagen vorüber, die von Frauen mit geschminkten, von straffgezogenen Schleiern bedeckten Gesichtern gelenkt wurden. Steif wie Puppen saßen sie da, hielten die große Peitsche gerade in die Höhe und nichts an ihnen schien lebendig zu sein, als die feurigen, auf die Köpfe ihrer Pferde gerichteten Augen. Man sah sich um, wenn sie vorüberfuhren, und alle Blicke folgten ihnen nach, wie mit fortgerissen von der Hast ihrer Fahrt.

Diesen Geschöpfen war Sidonie gleich; auch sie hätte in derselben Weise Georges Fromonts Equipage lenken können . . . denn in Georges' Wagen fuhr Franz spazieren, und Georges' Wein hatte er getrunken, und aller Luxus, dessen man sich in Rislers Häuslichkeit erfreute, kam von Georges.

Das war schmachvoll, war empörend . . . er hätte es seinem Bruder zuschreien mögen . . . hatte geradezu die Verpflichtung, es zu thun, war ausdrücklich zu dem Zwecke gekommen . . . aber er hatte nicht mehr den Mut dazu.

Armer Rächer!

Abends nach dem Diner, als sie im Salon beisammen waren, den frische, vom Strom herüberwehende Luft erfüllte, forderte Risler seine Frau zum Singen auf; er wünschte, daß Franz ihre neuen Talente kennen lerne.

An das Klavier gelehnt, suchte Sidonie mit schwermütiger Miene die Aufforderung abzulehnen, während Madame Dobson präludierend ihre langen Locken schüttelte.

»Ich kann ja nichts . . . was sollte ich singen?«

Endlich gab sie nach. Bleich, ergebungsvoll, wie über den Dingen schwebend, begann sie im zitternden Licht der Kerzen, von denen wie ein Weihrauch der betäubende Duft der Holunderblüten und Hyacinthen auszugehen schien, ein kreolisches Lied zu singen, ein Volkslied der Louisiana, zu dem Madame Dobson die Klavierbegleitung gemacht hatte:

»Mamsell Zizi, armes Kind,
Liebe, Liebe hat geschwind
Ihr den Kopf verdreht.«

Während sie die Leiden dieser armen, aus Liebe wahnsinnig gewordenen Mamsell Zizi schilderte, sah auch Sidonie aus, als wäre sie vor Liebe krank. Mit welchem herzzerreißenden Ausdruck, welchem Aufschrei der zum Tode verwundeten Taube sang sie den Kehrreim, dem der kindliche Dialekt der Kolonien eine so süße Schwermut verlieh:

»Liebe, Liebe hat geschwind
Ihr den Kopf verdreht.«

Auch er, der unglückselige Rächer hätte darüber wahnsinnig werden können!

Aber nein . . . die Sirene hatte ihr Lied falsch gewählt. Bei dem Namen Zizi fühlte sich Franz in ein düsteres Zimmer im Marais versetzt, weit ab von Sidoniens Salon, und das Mitleid seines Herzens zauberte ihm das Bild der kleinen Désirée vor die Seele, die ihn schon so lange geliebt hatte. Bis zu ihrem fünfzehnten Jahre hatte man sie immer Zirée oder Zizi genannt, und sie war ja auch die »kleine Zizi«, das arme Kind des kreolischen Liedes, die verlassene, treue Liebende. Nun mochte Sidonie singen; Franz sah und hörte sie nicht mehr. Er saß auf dem niedrigen Schemel neben dem großen Arbeitstische, wo er so oft die Heimkehr Delobelles erwartet hatte. Dort war Rettung für ihn . . . nur dort! Zu der Liebe dieses Kindes mußte er flüchten, sich ihr völlig hingeben und bitten: »Nimm mich auf! rette mich!« . . . und wer weiß . . . sie liebte ihn so innig . . . vielleicht war sie im Stande, ihm zu helfen, ihn von seiner verbrecherischen Leidenschaft zu heilen.

»Wohin?« fragte ihn Risler, als sein Bruder, sobald der letzte Ton der Begleitung verklungen war, hastig aufstand.

»Ich gehe fort . . . es ist spät.«

»Wie . . . du willst nicht hier bleiben? Dein Zimmer ist bereit.«

»Ganz bereit!« fügte Sidonie mit seltsamem Blick hinzu.

Er lehnte die Einladung mit einer gewissen Heftigkeit ab. Die Baugesellschaft hatte ihn mit Aufträgen betraut, die seine Anwesenheit in Paris erforderten. Während man ihn noch zu halten suchte, war er bereits im Vorzimmer, eilte im Mondschein durch den Garten und durch das lärmende Treiben von Asnières dem Bahnhofe zu.

Als er fort war, ging Risler in sein Schlafzimmer hinauf, während Sidonie und Madame Dobson am offnen Salonfenster stehen blieben. Die Musik des nahen Kasinos schallte zu ihnen herüber, untermischt mit dem »Oho« der Schiffer und dem rhythmischen, an den dumpfen Ton eines Tamburin erinnernden Geräusch des Tanzes.

»Ist das ein Störenfried!« sagte Madame Dobson.

»Immerhin . . . ich habe ihn matt gesetzt,« antwortete Sidonie; »aber in acht nehmen muß ich mich . . . er ist sehr eifersüchtig und wird mich scharf bewachen. – So will ich denn an Cazaboni schreiben, daß er in der nächsten Zeit nicht herkommen soll, und du kannst morgen früh Georges benachrichtigen, daß er auf vierzehn Tage nach Savigny gehen muß.«


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