Theodor Däubler
Die Göttin mit der Fackel
Theodor Däubler

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V

Thomas Durkleys Tagebuch

»Auf der Reede von Korfu, 18. März.

Er hat große, geäderte, braune Hände mit weißblonden Härchen darauf. Rötliche, sonnenverbrannte Haut, rotblonden Bart und rötlichblonde Haare. Seine Augen sind so hell, daß sie oft weiß erscheinen unter den buschigen Brauen, und man hat den Eindruck, daß die Augäpfel bei ihm nicht konvex sind wie bei anderen Menschen, sondern konkav und nach innen blicken. Dieser Kopf eines schottischen Edelmanns aus dem Mittelalter ruht auf dem riesigen Körper eines Bauern.

Er spricht nicht viel. Aber wenn er spricht, dann macht er seinem Namen alle Ehre: was er sagen will, das hämmert dieser Hammer in die Hirne. Er sieht finster drein. Charlotte behandelt er wie ein Kind; vergißt nicht einen Augenblick, daß sie seine Schülerin gewesen. Und auch mit Maja spricht er in einem Ton, den man herrisch nennen könnte. Manchmal hat man das Gefühl, er sei mit ihr ans Befehlen gewöhnt und sie ans Gehorchen.

Mich beachtet er weiter nicht. Wahrscheinlich verachtet er mich sogar. Er spricht ausschließlich von Griechenland, von Landschaft und Altertümern (wovon er übrigens ganz ungewöhnlich viel versteht) und findet wohl, daß ich nicht unterrichtet genug bin. Hin und wieder deutet er an, daß es ein Wahnsinn sei, sich mit Politik zu befassen, und hat schon zweimal erklärt, daß er nie eine Zeitung in die Hand nimmt. (Das war gegen mich gerichtet. Aber befasse ich mich denn mit Politik oder lese ich Zeitungen?)

Ich nehme an, daß er genau so ist, wie ein Mann zu sein hat, der ein Mann und nichts anderes als ein Mann sein will. Und daß ihn die Frauen auch als Mann empfinden.

Kein Zweifel, daß er Maja liebt. Kein Zweifel, daß sie daran gewöhnt ist und es zumindest duldet. Was mehr ist, weiß ich nicht, will ich nicht wissen! Ich würde sonst wahnsinnig beim Anblick dieses Menschen. Aber da ist er. Herrscht, befiehlt. Ich gelte wohl noch weniger, als ich bisher gegolten: nämlich nichts.

Wäre nur diese Reise erst vorüber! Ich habe das Gefühl, daß ich ins Wasser springe, um schwimmend das Land zu erreichen, wenn sie nur eine Stunde länger dauert als festgesetzt. Schon als ich mit Maja allein war – allein mit ihr und den Gefühlen, von denen sie nichts ahnt –, war dies Schiff zu eng. Nun, wo auch Hammer es mit uns teilt, ist es ein qualvolles Gefängnis.

Wird's morgen abend in Athen anders sein?

Nein. Ich werde weiter mit Charlotte sprechen, denn sie weiß ganz wunderbar über meine geheimsten Dinge Bescheid. Ganz wunderbar! Aber mit Maja werde ich nicht sprechen. Das tut, in seiner Art, Herr Hammer. Ich werde Charlotte noch mehr von mir sagen. Ich werde ihr vielleicht alles sagen. (Hüte dich, Thomas Durkley!) Und Maja werde ich nichts sagen. Aber immerhin, wenn die Reise erst vorüber ist, wenn ich Maja nicht mehr auf Schritt und Tritt begegne, wenn ich nicht jeden Augenblick Charlotte sehen, wenn ich nicht immer hin und her gerissen werde von diesem, ob ja, ob nein – von dieser Unmöglichkeit, mit Maja zu sprechen, und von dieser allzu großen Möglichkeit, mich Charlotte anzuvertrauen –, wenn der Raum, über den ich verfüge, wieder aus Straßen, Ebenen, Bergen besteht – vielleicht, daß ich dann weniger leide.

Oder mehr? Auch sie wird in diesen Ebenen und Bergen mehr Bewegungsfreiheit haben als auf dem Dampfer. Auch sie wird weitere Wege gehn. Und diese Wege werden sie fort von mir führen.

Aber, wie immer: ich hoffe auf Veränderung.

Da, der Dampfer ruft. Elf Uhr. Wir fahren pünktlich. Hoffnung, auch pünktlich anzukommen. Hoffnung, fahrplanmäßig von Herrn Doktor Hammers Gegenwart befreit zu werden und Charlotte in der restlichen Reisezeit keine Vertraulichkeiten zu sagen, die ich ihr nicht sagen will.

Hoffnung auch, gescheit zu bleiben, keine Szenen zu machen, die schlaflosen Nächte loszuwerden, diese gräßlichen Mittag- und Abendessen, den Kapitän und seinen Anhang.

Aber keine Hoffnung, mich von mir selbst und von dieser Liebe zu befreien.«

 

Auch diese Zeilen hatte Charlotte gelesen; als Durkley während der Abfahrt von Korfu an Deck weilte, drang sie in seine Kabine ein, nahm das Tagebuch vom gewohnten Platz und las es, im Gange stehend, in größter Eile. Fast hätte sie ein Steward dabei überrascht. Aber sie zog sich auf einen Augenblick in ihre eigene Kabine zurück. Dann brachte sie das Heft wieder in die Koje, die dem langen Durkley als Schreibpult diente, legte die halb gerauchte Zigarette darauf, die sie zwischen den Blättern gefunden, schloß die Türe sorgfältig ab und kehrte auf Deck zurück.

Sie war sehr betroffen von diesen neuen Eintragungen Durkleys und im Grunde ein wenig empört darüber. Wieder dasselbe: diese Flucht vor sich selbst, diese ewigen Klagen, diese innere Unsicherheit. Und, unveränderlich, die gleiche Liebe.

Wie konnte Charlotte hoffen und erwarten, daß sich daran etwas geändert habe? Über Nacht? Und trotzdem: sie hatte eigentlich ganz bestimmt damit gerechnet. Das Gespräch vor Sonnenaufgang, so meinte sie, müsse Durkley endgültig geholfen, ihn von sich selbst und seinen Ängsten, ein wenig auch von dieser Liebe befreit haben.

Da stand sie nun wieder, diese ganze Liebe, schwarz auf weiß!

Ich werde es doch Mama sagen, dachte Charlotte. Besonders jetzt, wo die Dinge durch Hammers Kommen noch um vieles verwickelter wurden. Wenn nur Durkley wüßte, wie ungefährlich, wie unglaublich harmlos dieser Rivale ist. Charlotte kannte ihn so gut! Wie man einen Lehrer kennt, den man bei allem Interesse für seinen Unterricht nicht immer ganz ernst nimmt. Hammer war, so dachte Charlotte, schon deswegen nicht ganz ernst zu nehmen, weil er so unendlich viel innere Kraft verbrauchte, um die Männlichkeit in Szene zu setzen, vor der nun Thomas Durkley zitterte.

Sie hatte sich schon dafür entschieden, ihre Mutter in alles einzuweihn, als ihr wieder ihre Sünden einfielen : die unverzeihlichen Einbrüche in Durkleys schriftliches Seelenheiligtum. Charlotte wußte sehr genau, was Maja dazu gesagt hätte, sehr genau! Und so beschloß sie – auch diesmal – zu schweigen.

Und es ist besser so, dachte Charlotte. Wo kämen wir hin, wenn die Geheimnisse dieses Schiffes alle ergriffen? Wenn nun auch Mama alles wüßte, was ich aus Thomas Durkleys Tagebuch weiß? Seine Liebe, seinen Haß gegen Hammer, seine Bemerkungen über mich, die Ansichten des Kapitäns und Giorginis, die Absichten des türkischen Gesandten. Das Leben auf dem »Quirinale« würde zu einem Intrigenstück: zwei spionierende Weiber wußten Bescheid über die vielfachen Gefühle einer ganzen Reihe ziemlich naiver Männer.

Es ist besser so, dachte Charlotte, daß ich allein dies spionierende Frauenzimmer bleibe und daß diese letzten Stunden der Reise auf meinem lieben Schiff nicht gestört werden.

Sie traf ihre Mutter auf dem unteren Promenadendeck.

»Hat sich der Türke eigentlich auch von dir verabschiedet?« fragte sie ihre Tochter.

»Nein«, antwortete Charlotte. »Ich glaube, ich war in der Zeit gerade in der Kabine.«

»Aber von mir!« sagte Maja lachend. »Ein wenig komisch war er ja, dieser kleine graue Schnurrbart; und seine Art, mit einem zu reden, so altmodisch und übertrieben, daß es mir schwer fiel, dabei ernst zu bleiben. Aber ich glaube, daß wir ihm doch Unrecht getan haben. Denn du hättest sehn sollen, mit welcher Herzlichkeit er sich verabschiedet hat. Als ob wir alte Bekannte wären! Und dann hat er uns mit einer Eindringlichkeit aufgefordert, nach Konstantinopel und nach Angora zu kommen, daß es gar nicht so einfach war, nein zu sagen. Wir sollen bei ihm wohnen, in seinem Haus in Pera, in seiner Villa auf den Prinzeninseln. Er will uns dem Präsidenten der Republik vorstellen, und ich weiß nicht, was noch. Jedenfalls war er einfach reizend. Wenn du denkst, daß er uns gar nicht kennt, nicht das geringste von uns weiß. Einfach so aus lauter Liebenswürdigkeit und Höflichkeit!«

»Weißt du, was er dabei für eine Absicht hatte?« antwortete Charlotte.

»Was soll er schon für eine Absicht gehabt haben?« meinte Maja. »Ich verstehe nicht«, fügte sie ein wenig vorwurfsvoll hinzu, »daß du's nicht einfach als Liebenswürdigkeit nehmen kannst!«

Charlotte schwieg. Ist es nicht besser, dachte sie, daß Mama auch weiter so über den Türken und über alle anderen denkt?

Hammer tauchte auf: seine Riesengestalt warf einen langen Schatten voraus.

Wirklich, er hatte eine Vorliebe für praktische Kleidung!

Sein Hut war eine Art von Tropenhelm aus dickem Stroh mit schmalen hellen Lederfassungen; vorn, über den Augen, war in den Rand ein rundliches Fensterchen aus grüngelbem Marienglas eingelassen, das Stirn und Nase in ein mystisches Licht tauchte. Dazu trug der Doktor einen gelben, schlotternden Khakianzug, breite gelbe Stiefel und ein Hemd aus handgewebter dunkelgrüner Leinwand mit gleichfarbiger Krawatte.

»Sie haben sich in Ihrer Kleidung bereits der Landschaft angepaßt, Herr Doktor«, sagte Charlotte. Sie versuchte bei dieser Bemerkung so wenig spöttisch auszusehn, wie sie's vermochte.

Aber Hammer entging der kleine Angriff nicht. Er runzelte ein wenig seine Stirn, zog die weißblonden Brauen zusammen – was im mystischen Licht des Tropenhelmfensterchens ziemlich erschreckend aussah – und sagte mit seiner tiefen und ernsten Stimme:

»Glaubst du vielleicht, Charlotte, daß man sich in Griechenland wie in der Tiergartenstraße anzuziehen hat? Oder wie an der Riviera? Nach Griechenland reisen – das heißt eine Art von Expedition machen. Und wenn du erst den Reiseplan kennen wirst, den ich ausgearbeitet habe, die Seefahrten auf kleinen Schiffen, die Landtouren, die Bergritte –«

»Dann werd' ich Lenchen damit erschrecken«, sagte Charlotte lachend.

»Und dann wirst du auch einsehn, Charlotte, daß meine Kleidung sehr zweckmäßig ist.«

Doktor Hammer brachte nun in Vorschlag, den Reiseplan zu studieren. Man könnte sich im Salon niederlassen, den Führer und die Karten vornehmen. Maja war einverstanden.

»Ich hätte so gern noch die Ausfahrt mit angesehen«, sagte Charlotte. »So lange wir im Kanal von Korfu sind, haben wir doch das Land so nah.«

»Aber nicht eigentlich griechisches Land«, antwortete Hammer sofort. »Die Landschaft von Korfu hat etwas Italienisches, die Berge im Osten tragen noch albanischen Charakter. Ich denke, daß wir – auf einer Griechenlandreise – darauf verzichten können.«

Und wieder runzelte Hammer streng die Stirn, so daß Charlotte nachgab und alle drei in den Salon gingen.

Bald breitete Hammer seine Karten aus. Er legte den Schotts auch ein kleines, von ihm selbst gezeichnetes Kärtchen vor, in das er die Reiseroute genau eingetragen, auf dem er Aufenthalte, Fahrpläne, Daten angemerkt. Es wurde eine lange Reise, die sie nun auf dem Papier unternahmen. An jedem der papierenen Orte, die sie berührten, ließ Hammer seinen zeigenden Bleistift ruhen, begann zu erklären, was für Sehenswürdigkeiten dort zu erwarten seien. Hin und wieder las er aus seinen Aufzeichnungen, aus dem Reiseführer etwas vor. Oder berichtete mündlich über die Geschichte eines Orts, verlor sich in die Schilderung seiner Landschaft.

Inzwischen glitt der Dampfer in stiller Fahrt an der korfiotischen Küste entlang. Durch die Fenster des Salons konnte Charlotte hinaussehen auf die silbrigen Ölbaumhaine, die bläulich verblassenden Gipfel, die weißen Wolkenbüsche, die sie um ihre Kronen scharten. Sie wäre lieber an Deck gegangen, hätte hinabgeschaut in die blauen Wasser der Seestraße, hinüber nach der weitgeschwungenen Insel, nach den ragenden Bergen des epirotischen Ufers, deren beschneite Gipfel heute im Morgengrauen so überraschend vor ihren Augen erschienen. Aber unerbittlich, mit größter, bewundernswerter Gründlichkeit, mit einem genauen Eingehen auf kleine und große Dinge, das deutlich bewies, wie liebevoll er diese Reise seiner Schülerin vorbereitet hatte, fuhr Doktor Hammer in seiner Darstellung fort.

Charlotte aber ward ungeduldig. Denn da war nicht nur die Landschaft, da war nicht nur die See! Da zog auch vor Charlottens Augen das Leben dieses Schiffes vorüber, mit dem sie sich so eng verwachsen fühlte, dessen Geheimnisse sie belauscht hatte und noch besser erforschen, noch gründlicher studieren wollte.

Man sah durch die Fenster des Salons sehr genau, wer draußen auf dem Promenadendeck vorüberwandelte. Zuerst Lenchen mit Herrn Zapf: er sprach ihr wahrscheinlich wieder von der Göttin mit der Fackel, denn sein Mund bewegte sich ununterbrochen, seine Hände drehten sich wie Windmühlenflügel, und Lenchens Augen waren erfüllt vom maßlosesten Staunen, das Charlotte je in ihnen gesehen.

Dann Thomas Durkley. Er ging gebeugt, hielt die Hände auf dem Rücken verschränkt. Sein Kopf und seine Augen blickten traurig auf den Boden. Die hellblonden Haare waren ihm in die Stirn gefallen, und sein heller Sommerschlips flatterte ihm immer wieder ins Gesicht. Aber es schien ihn nicht zu stören: so nachdenklich und in sich gekehrt ging er seines Wegs. Auch konvexe, höchst normale Augen, dachte Charlotte, indem sie sich an Durkleys Tagebucheintragungen erinnerte, können allzuviel ins Innere sehn. Jedenfalls sahen Durkleys Augen weder die See noch die Phäakeninsel. Aber hin und wieder warf er einen Blick in den Salon hinein, auf den Kriegsrat, von dem er ausgeschlossen war, auf den Mann, der dort den beiden Frauen seinen archäologischen Willen diktierte. Denn ungefähr so dachte Durkley. Einmal, als sein Blick Charlotte besonders traurig streifte, lächelte sie ihm ein ganz klein wenig zu. Aber er war zu schüchtern, um seinerseits mit einem Lächeln zu antworten.

Armer Durkley, dachte Charlotte. Armer Junge, der sich vor den Männern fürchtet wie die Schüler vor dem Lehrer in der Schule! Sie hatte sehr aufrichtiges Mitleid mit ihm.

Aber sie wurde in ihren Gedanken unterbrochen, denn jetzt kamen, auch in lebhaftestem Gespräch, Giorgini und der Kapitän vorüber. Nun, ich weiß ja, wovon die beiden reden, dachte Charlotte. Von uns, von mir und Mama. Der Herr Türke ist fort. Ein Bewerber weniger. Die Rollen werden neu verteilt –

»Paß mal auf, Charlotte!« sagte Doktor Hammer. Denn er fand, daß seine ehemalige Schülerin die vor ihr ausgebreitete Karte etwas ungenau betrachtete. Es war wie damals beim Unterricht in der Tiergartenstraße.

Und Hammers Stimme war so streng, daß Charlotte es aufgab, durchs Fenster zu gucken und versuchte, Meer, Insel, Dampfer, die Passagiere und ihre Gespräche zu vergessen.

Der Commendatore und der Hauptmann sprachen wirklich von Schotts. Denn es gab seit der Abreise keinen anderen Gesprächsgegenstand an Bord: er mußte auch jetzt, in den Gewässern von Korfu, noch einmal herhalten.

Der Türke hatte den »Quirinale« verlassen, betrübt und doch hoffnungsvoll.

»Er sagte, daß ihm die Deutsche halb und halb versprochen, nach Konstantinopel zu kommen«, erzählte der Kapitän. »Sie hätten sehen sollen, wie er sich darum bemüht, wie er auf sie eingeredet hat! – Ich muß Ihnen ja sagen, Hauptmann, daß ich das nicht ganz verstehe. Natürlich nimmt man sich, was man so unterwegs findet. Und wenn's auch nur eine Unterhaltung bei Tisch ist. Aber die Dinge so unnötig in die Länge zu ziehn, noch in die Zukunft fortsetzen! Das nenne ich Sentimentalität!«

»Jedenfalls war er ernstlich verliebt«, erwiderte Giorgini.

»Und sie gar nicht«, antwortete Coccumella. »Nicht im geringsten! Die ist es zumindest gewöhnt, daß man ihr den Hof macht, und nimmt's hin, wie's kommt und wann's kommt. Ich glaube ja kein Wort davon, daß die nach Konstantinopel reisen, nur um Seiner Exzellenz ein Vergnügen zu machen. Die haben ganz andere Pläne im Kopf. Da möcht ich zunächst einmal wissen, was sie da in Korfu für einen neuen Zuzug bekommen haben. Sieht aus wie ein Minenarbeiter und ist wahrscheinlich ein deutscher Professor. Wenn man regelmäßig die Strecke nach Griechenland fährt wie ich, kennt man die Sorte: sie ist imstande, den elegantesten Salon im Khakikostüm zu betreten. Natürlich auch der in die schöne Frau verguckt. So auf seine Art, mit Brummen und Finstern und Augenbrauenhochheben. Aber doch.«

»Wahrscheinlich noch unglücklicher als unser Türke«, warf Giorgini ein.

»Möglich, möglich«, gab Coccumella zu. »Aber da ist er. Und der lange Engländer auch. Und irgendwie gehört das alles zusammen. – Sagen Sie mal, Hauptmann, gefällt Ihnen die Kleine immer noch so sehr?«

»Sehr ist übertrieben«, sagte Giorgini kurz.

»Verletzt man nicht Ihre zartesten Gefühle, wenn man Ihnen ein wenig aus den Borderinnerungen eines alten Seemanns auftischt?«

Giorgini schüttelte den Kopf.

»Auch nicht, wenn es sich um das neueste Kapitel handelt?« fragte der Kapitän weiter.

Wieder verneinte Giorgini.

»Also, da will ich Ihnen nur sagen«, fuhr Coccumella fort, »daß meine altbewährte Menschenkenntnis doch nicht so leicht zu täuschen ist. Hör' ich da heut nacht ein Getuschel vor meiner Kabine, ein Gewisper, zarte, einschmeichelnde Stimmen. Morgens, so gegen vier. Vor Sonnenaufgang. Dann Schweigen. Dann wieder Gewisper. Dann stummes Bestaunen des Sonnenaufgangs. Na und so weiter. Sie können sich denken, wen ich traf, als ich so gegen sechs Uhr an Deck trat – –«

Giorgini schwieg eine Weile.

»Ich möchte Sie bitten, Commendatore«, sagte er schließlich, »mir bei Tisch den Platz einzuräumen, der nun frei geworden ist: neben der Mutter.«

»Bitte, bitte«, meinte der Kapitän. »Aber eines möchte ich doch wissen: wie ist es möglich, daß eine Frau in den Jahren nicht etwas besser auf eine so junge Tochter aufpaßt?«

»Sie hatten wahrscheinlich recht«, antwortete der Hauptmann, »als Sie neulich sagten, daß das sehr eigenartige Familienverhältnisse sein müssen.«

Inzwischen war die Zeit zum Mittagessen herangekommen. Als die Schiffsglocke läutete, räumte Hammer hastig und nervös – er hatte seine Erklärung der Reise noch nicht beenden können – Karten und Bücher beiseite; Charlotte eilte noch einmal rasch an Deck, um einen Blick auf die Landschaft zu werfen; Maja ging, um sich umzukleiden, in die Kabine, wo Lenchen auf sie wartete. Dann versammelte sich die Gesellschaft im Speisesaal. Wie verabredet, bat Esposito Coccumella den Hauptmann, an Majas Seite Platz zu nehmen: Giorgini nützte diese Möglichkeit nach Kräften aus, um der Mutter die gleichen Komplimente aufzutischen, mit denen er schon Charlotte gelangweilt hatte. Hammer, der neben Charlotte saß, schwieg. Mit seiner Schülerin redete er lieber unter vier Augen, der englische Diplomat mit dem Dichterblick zu seiner Linken war gar nicht nach seinem Geschmack. So wetzte denn Coccumella sein schlechtes Französisch in einer stockenden Unterhaltung an Charlotte, soweit sein Mund in den sieben Gängen des Menüs nicht anderweitig Beschäftigung fand.

Während des Mittagessens brachte der Radiotelegraphist dem Kapitän eine Depesche. Der Commendatore klemmte seinen blau umrandeten Kneifer auf seine dicke Nase, las mit gerunzelter Stirn. Dann schien er einen Augenblick nachzudenken.

»Dies Telegramm wird Sie interessieren, meine Herrschaften«, sagte er schließlich mit Liebenswürdigkeit. »Darf ich Sie bitten, nach Tisch in meinen kleinen Salon zu kommen und den Kaffee bei mir einzunehmen, damit wir den Inhalt der Depesche besprechen können?«

Maja sah ihn ein wenig verwundert an, dankte aber freundlich für die Einladung. Coccumella erhob sich, ging auf die Kommandobrücke hinauf.

Natürlich begann sofort ein Rätselraten unter den Gästen des Kapitänstisches.

»Ob's etwas Gutes oder etwas Schlimmes sein mag?« fragte Durkley.

»Jedenfalls etwas Interessantes«, meinte Charlotte.

»Vielleicht politische Nachrichten«, sagte Giorgini.

»Sehr unangenehm«, rollte Hammers Baß.

»Nun, wir werden ja sehn«, erklärte Maja. »Und unbedingt ist es sehr freundlich vom Herrn Kapitän, uns ins Vertrauen zu ziehn.«

Als die Tafel aufgehoben war, versammelten sich die Eingeladenen allmählich auf dem Sonnendeck. Der »Quirinale« hatte inzwischen den größten Teil der Straße von Korfu passiert. Die Bergkette der Insel lief im weißen Kap nach Süden zum offenen Meer aus, verlängerte sich in zwei hellen, ölbaumbewachsenen Inseln, die wie seidige Nebel über den Wassern lagen. Im Osten senkten sich die Berge ebenfalls dem Süden zu. Man erkannte die silbrige Mündung eines Flusses.

»Der Acheron«, erklärte Hammer mit dumpfer Stimme. »Du dürftest dich erinnern, Charlotte, daß die Alten diesen Fluß für den Höllenfluß hielten?«

Durkley erschrak. Er hatte überhaupt eine unbestimmte Furcht vor diesen Mitteilungen des Kapitäns, und die Nachbarschaft des Hadesstromes, von Hammer so finster verkündet, war ihm nicht lieb.

Charlotte bemerkte es und versuchte Hammer auf ein anderes Gesprächsthema zu bringen.

In dem Augenblick öffnete sich die weiße Tür des Salons, einer der Stewards bat die Gäste des Kapitäns herein.

Es war ein kleiner rechteckiger Raum, hell gestrichen, mit rotbraunen Fenstern und grünen Gardinen, wie sie alle Wohnräume des »Quirinale« hatten. Aber die Bestückung entsprach nicht dieser schiffsmäßigen Nüchternheit: sie war darauf berechnet, den Seemann, See und Seeleben vergessen zu lassen. Eine Garnitur Lehnstühle mit gebogenen Beinen und zu kleiner Sofas, mit braunem, großblumig gemustertem Samt bezogen, stand unregelmäßig herum. Damit diese gewollte Unordnung bei Wellengang nicht in eine ungewollte ausarte, waren die Möbel mit schweren Messingklammern an den Wänden befestigt. Wie überhaupt die Messingklammern den Raum beherrschten. Ein gebrechliches Tischchen, eine spinnebeinige Etagere, Nippes aus Glas und Porzellan, ein großes Bukett trockner Blumen, das in einer Cloissonnevase auf einer gedrehten Säule schwebte, all diese empfindlichen Gegenstände wurden von schweren Messinggriffen und -banden gehalten. An den Wänden sah man in riesenhafter, leicht getuschter photographischer Vergrößerung die Gattin des Kapitäns mit breitkrempigem Federhut, ein mit Perlmutter inkrustiertes, sehr langes Panorama von Neapel (der Feuerschein des Vesuvs wurde mit Hilfe von Kupferblättchen vorgetäuscht), dazu das königliche Patent, das Esposito Coccumella zum Commendatore ernannte.

Mit großer Feierlichkeit bat der Kapitän seine Gäste Platz zu nehmen. Der Kaffee wurde in Täßchen gereicht, deren falsche Rokokoverzierungen sich schmerzend in die Hände der Trinker bohrten. Dazu gab es etwas verstaubte, mit grünlichem Zuckerguß und kandierten Veilchen geschmückte Biskuits und einen süßlichen Likör, der seinem Namen »Strega« – das heißt »die Hexe« – mit Recht führt.

Das ungewohnte gesellschaftliche Leben, das er also in seinen bescheidenen Salon hineingezaubert, erfüllte den Kapitän zunächst mit Besorgnissen. Die Stewards, die bedienten, machten verängstigte Mienen: Coccumella runzelte bei jeder ihrer Handlungen tadelnd die Stirn. Und es dauerte eine Weile, bis er die innere Ruhe fand, um sich niederzusetzen, einen Schluck aus seiner Tasse zu tun, ein Stückchen Biskuit herunterzuwürgen und schließlich die Rede zu beginnen, die er seit einer Viertelstunde in Gedanken vorbereitete.

»Sie müssen nämlich wissen, meine Herrschaften«, so begann er, »daß ich ein Telegramm unsrer Schiffahrtsgesellschaft erhalten habe. Es stellt Sie und mich und auch alle anderen Passagiere vor Entscheidungen. Ehe ich nun den Inhalt durch Anschlag dem ganzen Schiff bekannt gebe, möchte ich erst einmal mit Ihnen sprechen.«

Kriegsrat an Bord, dachte Charlotte. Und: er ist doch ein reizender Kerl!

»Also«, so fuhr Coccumella fort, »also, meine Herrschaften, die Gesellschaft gibt mir Befehl, nicht direkt nach Athen zu fahren, sondern einen Umweg über die Insel Kreta zu machen. Es befindet sich dort, im Hafen von Kandia, eine größere Ladung von Korinthen, die mit größter Eile nach dem Piräus gebracht werden soll. Die Gesellschaft will auf diese Einnahme nicht verzichten.«

»Unerhört«, murmelte Hammer.

Aber Frau Maja legte ihm beschwichtigend ihre Hand auf die Schulter, und der Archäologe ließ den Kapitän weiterreden.

»Andere Schiffe stehen zur Zeit in den griechischen Gewässern nicht zur Verfügung, und so muß der »Quirinale« diesen Umweg machen. Wie Sie wissen, kommen wir heute abend nach Patras. Statt nun, wie üblich, den Weg durch den Kanal von Korinth zu benutzen, werden wir um den Peloponnes herum nach Kandia fahren, dort etwa einen Tag laden und erst dann Kurs auf Athen nehmen. Was unsere Reise fast um drei Tage verlängert. Vor Dienstag dürften wir also kaum im Piräus sein. Die Gesellschaft ist nun bereit, Ihnen von Patras an alle Kosten der Landreise zu ersetzen. Ausschiffung, Hotel, Eisenbahnfahrt und so weiter. Sie ist ebenso bereit, Sie nach Kreta mitzunehmen, ohne daß Ihnen durch die Verlängerung der Reise oder Verpflegung irgendwelche Kosten entstehen. Ich habe Ihnen diese beiden Vorschläge zu machen. Es tut mir unendlich leid, Ihnen mit so unerfreulichen Nachrichten zu kommen – besonders nachdem unsere Reise bisher so angenehm verlaufen ist. Oder nicht, gnädige Frau?«

»Aber gewiß, lieber Kapitän«, erwiderte Maja. »Und jedenfalls brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, daß wir irgendwie – – Sie können doch gar nichts dafür!«

Indessen musterte Charlotte vorsichtig die Gesichter der Anwesenden, versuchte ihre Entscheidungen im voraus zu erkennen. Thomas Durkley, den sie zuletzt ansah, war blaß geworden. Seine Augen schienen ins Ungemessene zu wachsen: seine langen Beine, die er wie immer ineinander verflochten hatte, zitterten ein wenig. Wenn Charlotte nur nicht so genau gewußt hätte, was in ihm vorging! Gewiß, das Schiff war ihm unerträglich, er sehnte sich danach, in Athen wieder unabhängiger zu sein und Hammers Gesellschaft wieder loszuwerden. Aber wenn sich Mama und Hammer nun für den Umweg nach Kreta entschieden? Würde Durkley dann trotzdem heute abend den Mut finden, sich in Patras auszuschiffen?

Sie versuchte einen Vorstoß:

»Ich bin eigentlich dafür«, sagte sie halblaut, »direkt nach Athen zu fahren.«

Es war, als ob Durkley sie dankbar angesehen hätte.

»Warum?« fragte Hammer ziemlich barsch. Denn er hatte seine Meinung rasch geändert, sich für Kreta entschieden. Aber er besann sich, daß es vor allem an Maja war, einen Wunsch zu äußern, und er erkundigte sich bei ihr:

»Und was meinen Sie, gnädige Frau?«

»Ich möchte Ihnen und Charlotte die Entscheidung überlassen«, sagte Maja. »Ich fühle mich sehr wohl an Bord. Ich bin aber auch gerne bereit, den Landweg zu nehmen – – Und Sie, Durkley?«

Durkley fand keine Worte.

»Wie lange werden wir in Kandia bleiben?« unterbrach Giorgini.

»Hätten wir wohl Zeit, etwas von Kreta zu sehn, Herr Kapitän?« fragte Hammer.

Der Kapitän erklärte, daß man wohl für vierundzwanzig Stunden Ladearbeit haben würde.

»Zu kurz«, sagte Charlotte. »Zu kurz, Herr Doktor! Was kann man in vierundzwanzig Stunden sehn?«

»Gar nicht so wenig, Charlotte«, erwiderte der Archäologe. »Zunächst einmal das Museum. Du weißt, daß es die wertvollsten Stücke der minoischen Kunst enthält. Wir hätten so Gelegenheit, bevor wir mit dem Studium des eigentlichen Griechenland beginnen, die Ursprünge der griechischen Kultur kennenzulernen. Und dann Knossos! Das Labyrinth, der Palast! Du hast gesehn, daß ich aus Zeitmangel Kreta nicht in unsern Reiseplan aufnehmen konnte. Wir hätten auf diese Weise die Möglichkeit, wenigstens im Vorbeifahren einen Eindruck davon zu erhaschen.«

Gewiß, auch Charlotte hatte die größte Lust, diesen Umweg zu machen. Sie liebte ihr Schiff und das Leben auf See. Sie wünschte sich die unerwartete Fahrt um den Peloponnes, hinaus ins weite Meer, nach der berühmten Insel. Aber da saß neben ihr Durkley und wurde blasser und blasser. Es kam ihr sogar vor, als ob er sie mit seinen großen, erschrockenen Augen hilfeflehend ansähe. Und so beschloß sie denn auch weiter, für die Ausschiffung in Patras einzutreten.

Doch ihre Argumente waren schwach: es bestand keinerlei Notwendigkeit, daß Schotts so eilig die griechische Hauptstadt erreichten. Und Hammer beharrte auf seinem Standpunkt. Seine Augen wurden noch heller, als sie gewöhnlich waren, er kniff den Mund ein wenig zusammen, so daß sich die rötlichen Barthaare zwischen die Lippen klemmten, und alle Anwesenden spürten sehr deutlich, daß er fest entschlossen war, seinen Willen durchzusetzen.

»Ich wundere mich, Charlotte«, sagte er, »daß du diese günstige Gelegenheit vorübergehen lassen willst. Wir kommen auch Dienstag noch zeitig genug nach Athen. Die Akropolis hat zweieinhalb Jahrtausende auf dich gewartet – sie wird auch noch weitere drei oder vier Tage warten können.«

»Das bedeutet immerhin nicht, daß ich warten kann«, erwiderte Charlotte.

»Ich für meinen Teil«, erklärte nun Hammer, zu Maja gewendet, »möchte diese Möglichkeit, Kreta zu sehn, unter keinen Umständen verscherzen. Wenn Sie es vorziehen, Frau Maja, mit Charlotte direkt nach Athen zu reisen, so würde ich Sie bitten, mich bis Dienstag dort zu erwarten.«

Das kam für Schotts einer Entscheidung gleich. Der Gedanke, allein in Athen anzukommen, war Maja sehr unangenehm. So entschloß sie sich denn, Charlotte zuzureden:

»Stell dir nur einmal vor, Charlotte, wie schön diese Fahrt wird! Du hast mir doch gesagt, daß dir die Seereise das liebste an unserer ganzen Reise ist.«

»So??« sagte Hammer. Dabei zog er seine Augenbrauen unheimlich hoch. Auch sein Bart stellte sich auf, hob sich angriffslustig übers Kinn empor:

»So?? Die Seereise?«

»Und die Archäologie natürlich –«, sagte Charlotte schüchtern.

»Vom archäologischen Standpunkt aus«, antwortete Hammer, »ist dieser Umweg ein ganz besonderer Glücksfall. Ich würde an deiner Stelle – das heißt als zukünftige Archäologin – nicht einen Augenblick zweifeln! – Oder doch?«

Charlotte wußte nicht, was sie erwidern sollte.

Und der Kampf war damit zugunsten von Kreta entschieden.

Was wird Durkley tun? dachte Charlotte. Was wird der arme Durkley tun? Sie erinnerte sich einiger Sätze, die sie vorhin in seinem Tagebuche gelesen: »Szenen machen«, »schwimmend das Land erreichen«, »wahnsinnig werden«. Nein, dachte Charlotte, er hält es nicht aus! Er fährt direkt nach Athen. Und – wer weiß, was dann wird und wo wir ihn wiedersehn?

Jedenfalls wagte sie nicht, den Engländer nach seinen Plänen zu fragen. Statt dessen wandte sie sich an Giorgini.

»Und Sie, Hauptmann?«

Giorgini verneigte sich erst vor Maja, dann vor Hammer und erwiderte:

»Ich werde nicht versäumen, eine so interessante Reise in so angenehmer und so gelehrter Gesellschaft zu tun!«

»Und ich«, fügte Durkley mit verkniffenen Lippen und äußerster Anstrengung hinzu, »auch ich – wünsche mir schon seit langem, Kreta zu sehn.«

»Politisch ganz uninteressant«, brummte Hammer.

»Nicht ganz«, erwiderte der Engländer, indem er plötzlich entschlossen seine Schüchternheit überwand. »Und einmal sogar sehr interessant gewesen, Herr Doktor. Zur Venezianerzeit. Kennen Sie die diplomatischen Berichte der venezianischen Gouverneure von Kreta an die Serenissima?«

Hammer schwieg.

»Muster guter Diplomatie, Herr Doktor. Es würde mich sehr interessieren, das Land kennenzulernen, das diese klugen Leute verwalteten!«

»Und dann wird uns Doktor Hammer alles so gut zeigen!« sagte Charlotte, nun plötzlich fröhlich geworden. »Nicht wahr, Herr Doktor? Das Museum und Knossos und –«

Hammer sah seine Schülerin mit einem wohlgefälligen und ein ganz klein wenig sieghaften Lächeln an.

»Ich dachte mir doch«, sagte er, »daß dir das alles sehr viel Freude machen würde.«

Ganz besonders zufrieden war Esposito Coccumella: er hatte sich schon vor der Einsamkeit dieses Korinthenumwegs gefürchtet. Sofort ließ er den zweiten Offizier kommen und gab ihm Befehl, das Telegramm der Gesellschaft durch Aushang den übrigen Passagieren bekanntzumachen.

Als Maja den Salon verließ, fand sie Lenchen, die es gelesen und nun weinend auf einer Bank saß.

»Aber um's Himmels willen, Lenchen? Was ist denn geschehen, Lenchen?« fragte sie ihre Zofe.

»Nun müssen wir heut abend heraus«, klagte Lenchen. »Aus dem Schiff in die Nacht, in eine fremde Stadt! Nun müssen wir mit der Bahn reisen, ganz allein –«

»Wieso allein?« fragte Maja.

»Ohne Schutz, ohne Rat. Nur mit Herrn Doktor Hammer, der ja was von Altertümern verstehen mag, aber sonst – –«

»Aber wir fahren ja gar nicht mit der Bahn, Lenchen«, sagte Maja beruhigend. »Wir fahren nach der Insel Kreta.«

Lenchen sah auf: nun lachend, strahlend.

»Dabei dachte ich, Sie haßten das Schiff und alles, was dazu gehört«, meinte Maja.

»Aber Herr Zapf fährt doch mit dem Schiff weiter«, antwortete Lenchen. »Und gnädige Frau können sich vielleicht vorstellen, was wir drei arme Frauen ohne einen Menschen wie Herrn Zapf wären, der alles, alles von diesem Griechenland weiß!«

Nachdem auch Lenchen beruhigt war, kehrte in der kleinen Reisegesellschaft, die das Telegramm des Kapitäns vor so schwere Entscheidungen gestellt, die Ruhe zurück. Nur Durkley ging mit langen Schritten sorgenvoll über Deck und verschwand bald in seiner Kabine, vertraute seinem Tagebuch an, was ihn bedrückte. Hammer ließ sich im Salon nieder und kramte seine Karten und Bücher hervor: er wollte sich auf das vorbereiten, was es in Kreta zu sehen gab. Maja leistete ihm Gesellschaft und hörte sich an, was er ihr aus dem Inhalt seiner Lektüre mitzuteilen hatte.

Nun, dachte Charlotte, der ist glücklich. Wenn er Gelegenheit hat, zu dozieren, und gar sein Fach und gar Mama zu dozieren. Noch dazu nach diesem gewaltigen Sieg, den er im Salon des Kapitäns davongetragen!

Sie überließ ihre Mutter und ihren Lehrer sich selbst und verbrachte die Nachmittagsstunden in Betrachtung der Landschaft.

Die Sonne stand schon nahe dem westlichen Horizont. Ein regelmäßiger, nicht sehr starker Wind, der von Süden heranwehte, hielt die Oberfläche der See bewegt, reihte und rillte spitze Brecher hinein, gitterte dunkel die Wellentäler. Fast schwarz schien das Wasser: so dicht wurde es von Wellenschatten, die die sinkende Sonne hervorbrachte, überflattert. Und die schneeweißen Kammgefieder, die, überall aufgescheucht, über dem dunklen Grund verwehten, ließen die Fluten noch dunkler erscheinen. Es war, als ob der Dampfer seinen Weg mühselig durch eine zusammengeballte und schwere Masse zöge, fast behindert von ihrem zähen Widerstand.

Die See, in andern Breiten blau wie der schönste Himmel, grün wie der frischeste Waldgrund, kam dem Reisenden an diesem ionischen Abend fast wie ein festes Element entgegen. Sie nahm dem Schiff das Schweben, dem Wasser die Tiefe und dem Himmel sein Spiegelbild. Um so unwirklicher und geisterhafter lebten die Inseln darauf, die nun im Süden emporschwebten: Leukas, Ithaka und die ragende Kephallenia. Ihre veilchenfarbenen Kuppeln, ihre goldigen Ufer standen wie Rundgewächse aus durchsichtigem Kristall am Horizont. Ein Wind, meinte man, hätte sie heranwehen, über die Wellen schleudern können. Wie riesige Medusen aus zart glasigem Gewebe, wie abgezirkelte Wolken, die sich im Blau eines unendlichen Himmels mit sphärischem Glanz gefärbt.

Staunend sah Charlotte, wie wirklich das Wasser, wie unwirklich das Land sein konnte: wie das Licht Wellen verdunkelte und Inseln durchstrahlte; wie sich das Sein der Felsen in durchsichtiges Kristall und das Wesen der See in dunkle greifbare Massen verwandelte.

Und sie versuchte das, was Thomas Durkley über die Wirklichkeit geschrieben und gesagt hatte, mit diesen Wandlungen in Einklang zu bringen.


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