Theodor Däubler
Die Göttin mit der Fackel
Theodor Däubler

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I

Der Frühlingssturm raste durch den Berliner Tiergarten. Er jagte die Blätter des alten Jahres um die Wette mit den Automobilen über den Asphalt, klapperte heftig mit den Fahnenschnüren an dem Gesandtschaftspalais, riß ganz plötzlich in der Villa Schott ein Fenster auf und fuhr in den großen, offenen Reisekoffer hinein, der, schon halb gepackt, mitten in einem Zimmer stand. Dabei lüpfte er leichte Seidenwäsche heraus und wehte sie unsanft in die Ecken, wo sie nun, übel zerknäult, am Boden kreiselte.

Das kam davon, daß Lenchen, die Zofe, hereingekommen war und daß es Durchzug gegeben hatte. Starr vor Schreck blieb sie in der offenen Tür stehn. Aber der Wind kümmerte sich nicht um den Ausdruck tiefsten Tadels, der ihre wasserblauen, verschwommenen Äugelchen für einen Augenblick verhärtete; er benutzte vielmehr den Durchschlupf, den sie ihm bot, und fegte ihr ein Paket seidener Tücher von der flachen Hand, so daß es aussah, als ob er eine weiße Blume zerpflückt und zerwirbelt hätte.

Nun schloß Lenchen, sich endlich kräftig gegen den Luftstrom stemmend, die Tür. Aber im nächsten Augenblick öffnete diese sich wieder, wieder kreiselte der Wind durch den Raum, wieder stand die Zofe starr und griff krampfhaft mit beiden Händen nach ihrem aschblonden Haarknoten: empört über den Frühlingssturm.

Wie man dabei nur lachen konnte! dachte Lenchen.

Aber Charlotte Schott lachte, lachte, lachte. Denn es war ihr ganz und gar gleichgültig, ob's der Wind mit ihren schwarzen seidigen Kringelhaaren genau so wie mit den seidenen Tüchern trieb und sie aufplusterte wie eine Blume. Ihre großen braunen Augen wurden lustig, setzten blitzige Lichtlein auf und wurden so hell, daß der ganze Raum davon durchglitzert schien.

»Bitte, bitte, Fräulein Charlotte!« flehte Lenchen. »Machen Sie doch die Tür zu.«

»Sie haben wohl Angst, daß Ihnen der Sturm ihren Haarknoten auseinander nestelt?« antwortete das junge Mädchen.

Die Zofe kannte seit langem diese Anspielungen auf ihre Frisur, die aus einem spitzen Körbchen unlöslich verflochtener Strohsträhnen bestand. Sie war gewöhnt, nicht mehr darauf zu achten.

»Sie brauchen sich nicht zu fürchten, Lenchen«, fuhr Charlotte fort. »Ihre Haare bringt nicht einmal der Wirbelwind durcheinander! Aber sonst die Sachen da – wenn uns das in Griechenland passiert. Ich habe Mama schon vor Tagen gesagt, daß wir auf diese Reise nicht so viel Gepäck und so viel unnützes Zeug mitnehmen dürfen. Auf Schiffen, an der See, da ist immer Wind. Da können Sie noch ganz andre Überraschungen erleben. Was werden Sie erst sagen, wenn Mamas Wäsche und Taschentücher, statt im Zimmer herumzuflattern, irgendwo übers Adriatische Meer wehen?«

Lenchen erfüllte dieser Gedanke mit Entsetzen. Sie wußte zwar nicht genau, was das für ein Meer war, das Adriatische, aber ein gräßliches Meer jedenfalls. So gräßlich wie die Reise, die Schotts darauf unternehmen wollten. Was war das aber auch für ein unglücklicher Einfall, nach Griechenland zu fahren! Statt wie sonst im Frühling nach Cannes oder Bellagio. Denn daß sich das gnädige Fräulein plötzlich mit Altertümern beschäftigte – und nicht mehr mit Schneeschuhlaufen, Tennis und Schwimmen – und daß man sich deswegen auf ein so unbequemes, abenteuerliches, ja gefährliches Reisewagnis einlassen mußte, das wollte Lenchen noch immer nicht in den Kopf. Wenn auch die Koffer schon fast fertiggepackt standen; wenn's auch morgen früh ganz bestimmt losging und sich nichts mehr daran ändern ließ. Wie würde die gnädige Frau diese Reise ertragen? Bei ihrer zarten Gesundheit? Ohne die gewohnten Bequemlichkeiten? In einem Land, dessen Sprache weder sie noch Charlotte kannten – so viel Sprachen, wie die gelernt hatte! In einem Land, wo niemand aus der Schottschen Bekanntschaft oder sonst irgendein Mensch, von dem Lenchen wußte, jemals gewesen war! Und nun wollte Charlotte auch noch das Gepäck beschränken; die notwendigsten Dinge daheim lassen!

Charlotte hatte sich schon über den Koffer gebeugt und kramte mit ihren langen schmalen Händen im Gepackten herum. Verzweifelt schaute Lenchen zu. Denn das junge Mädchen angelte immer neue Stücke hervor, von denen sie fand, daß sie überflüssig seien, warf sie nachlässig auf ein Bett oder gar auf den Teppich und lachte dabei so, daß ihr langer Körper von den gekringelten Haaren bis zu den schmalen Knöcheln zu tanzen schien.

»Und nun machen Sie's fertig, Lenchen«, sagte sie schließlich. »Heute abend sollen die Koffer zur Bahn. Sie wissen, der Zug fährt um acht – nicht eine Minute später.«

Charlotte wußte, daß das alles für Lenchen ganz abscheulich zu hören war. Sie hatte sonst ein gutes Herz und viel liebevolle Aufmerksamkeit für die bewährte Zofe ihrer Mutter, aber diesmal machte es ihr Freude, sie das Gruseln zu lehren: sie mit dieser Reise zu schrecken, an der doch so wenig Erschreckliches war. Warum? Weil sich Charlotte auf diese Reise freute wie nie zuvor auf eine andere, und weil sie fand, daß man sich darauf entweder unbändig freuen müsse wie sie oder sich unsinnig davor fürchten wie Lenchen. Jedenfalls aber mußte es ein Ereignis, eine Sensation sein, im guten wie im bösen Sinne. Man hatte sich, meinte Charlotte, darüber aufzuregen.

Und, wirklich, sie fühlte sich seit Tagen so aufgeregt, daß sie nur wenig schlief. Ihre Augen waren davon noch dunkler, ihr Gesicht noch zarter geworden. Auf ihren schmalen Nasenflügeln lag ein bläulicher Ton, auf ihren hellroten Lippen ein nächtliches Violett: die Nächte, mit denen sie sooft über Griechenland gesprochen, hatten es dort zurückgelassen. Auch ihre bräunliche, gesunde Haut war nicht ganz so frisch wie sonst: das durchschimmernde Rot, das stets auf ihren ein ganz klein wenig knochigen Backen lag, fast verschwunden; die Silberhärchen, die immer darauf leuchteten, ohne Glanz. Aber müde war Charlotte nicht. Im Gegenteil. Munter von der ersten bis zur letzten Stunde des Tages, vergnügt und unternehmend, tatkräftig und herzerzgesund.

Mit neunzehn Jahren! dachte Lenchen. Da sieht man freilich das Reisen anders an! Sie dachte daran, daß ihre Gnädige nun fast vierzig war. Und sehr, sehr verwöhnt.

Über ein Abendkleid aus schwarzen Spitzen, das Charlotte für überflüssig erklärte und das Lenchen für unbedingt notwendig hielt, kam's zu offenem Streit zwischen den beiden. Sie beschlossen, den obersten Richter anzurufen.

Frau Maja Schott lag in ihrem kleinen hellblauen Wohnzimmer auf dem hellblauen Sofa und telephonierte. Charlotte und Lenchen mußten ihren Streit fürs erste begraben und zuhören:

»– – Du wunderst dich, meine Liebe. Ja, natürlich. Warum denn auch nicht? Mein Mann hat sich doch immer für die Antike interessiert, mein Vater besaß eine sehr hübsche kleine Vasensammlung. Es liegt also ein wenig in der Familie. Und nun hatten wir Doktor Hammer im Haus. Du erinnerst dich, nicht wahr? Der Große mit dem rötlichen Bart. Übrigens ein ganz reizender Mensch! Er hat Charlotte ausgezeichnet unterrichtet. Und von ihm ist denn auch die erste Anregung zur Archäologie gekommen. Ich bin sehr damit einverstanden. Wenigstens nicht das übliche: Säuglingspflege oder Nationalökonomie. Oder gar rhythmische Gymnastik! Und dann ein interessantes Studium. Reisen. Im Ausland. Später vielleicht sogar Ausgrabungen. – Ja natürlich. Ich fahre mit. Und Lenchen auch. Was wären wir ohne Lenchen? – Nein, keine Sorge. Die Reise ist sehr gut vorbereitet. Der Frühling soll die geeignetste Jahreszeit sein. Doktor Hammer ist seit Monaten unten – am Deutschen Archäologischen Institut. Er wird uns schon unterwegs treffen. Er arbeitet überhaupt den ganzen Reiseplan aus. – – Also, auf Wiedersehen. Ich denke, wir treffen uns im Herbst in Berlin. Oder?«

Mit einem freundlichen Gruß hing Maja Schott ab.

»Kind, wie du aussiehst!« sagte sie, sanft und doch ein wenig vorwurfsvoll, als sie ihre Tochter erblickte.

»Fräulein Charlotte ist eben viel zu aufgeregt«, warf Lenchen ein. »Wie wenn wir nach Afrika führen!« (Lenchen war übrigens wirklich zumute wie vor einer Afrikareise.) »Nicht einmal die Koffer darf ich allein packen! Fräulein Charlotte hat mir eben soundso viele Sachen wieder herausgeholt, die gnädige Frau unbedingt brauchen. Und nun auch noch dies schwarze Kleid! Gnädige Frau hatten mir doch gesagt, daß drei Abendkleider – –«

Dabei breitete sie das Kleid sorgfältig über ihre mageren Arme, so daß ihre bläßliche Haut durch die Spitzen schien, und hielt es vor Frau Maja hin, als ob diese ihr Schwarzes zum erstenmal zu Gesicht bekäme.

»Lassen Sie's da«, sagte Maja. »Es geht auch mit zweien. Und dann ist das vor allem Charlottens Reise. Ich glaube, daß sie am besten weiß, was wir unterwegs brauchen können.«

Geschlagen zog sich Lenchen zurück. Verzweifelt. Was mußte das für ein Land sein, in das Frau Schott nur zwei Abendkleider mitnahm!

»Nun?« fragte Charlotte, als Lenchen gegangen war. »Was hat Frau von Trettenboom am Telephon gesagt?«

»Was alle Leute hier sagen, Kind«, antwortete die Mutter. »Daß das gewiß eine sehr interessante Reise wird, daß sie uns viel Vergnügen wünschen, daß sie aber persönlich den Comersee oder die Riviera für den Frühling vorziehen.«

»Trettenbooms blieben überhaupt besser immer in Berlin!« rief Charlotte.

»Natürlich wundern sie sich auch darüber, daß du Archäologie studieren willst«, fügte Maja hinzu. »Das haben sie noch niemals gehört. Ist ja auch nicht gerade alltäglich. Und soll wohl auch nicht alltäglich sein –«

Sie unterbrach sich, suchte in einer kleinen, hellgelben Ledermappe, die neben ihr auf dem Tischchen lag, und zog einen Brief hervor.

»Hammer hat geschrieben«, sagte sie. »Er will uns nicht in Athen erwarten, wie er's ursprünglich vorhatte, sondern uns schon bis Patras entgegenfahren. Er reist dann mit uns weiter bis zum Piräus.«

»Der hat's aber eilig«, meinte Charlotte.

In dem Augenblick klingelte wieder einmal das Telephon. Flink griff Charlotte nach dem Hörer:

»Hallo! Ja? Der Herr Direktor möchte uns sprechen? – – Ja, bin ich. Ich, Charlotte. Guten Tag, Papa! Jetzt, um die Börsenzeit rufst du an? Wie hast du denn da Zeit gefunden? – – Ja, ja, Montag! Stiller Tag! – Was wir machen? Mama liegt auf dem Sofa und macht Abschiedsbesuche. Durchs Telephon natürlich. Ich zanke mich mit Lenchen wegen des Gepäcks. Sie kann sich nämlich Mama in Griechenland nicht ohne ein schwarzes Spitzenabendkleid vorstellen. Und ohne vier Dutzend seidene Schals. Hammer hat geschrieben. Er hat's so eilig, daß er uns nicht erst in Athen erwarten will, sondern uns schon bis Patras entgegenkommt. – – Was? Was sagst du? In mich? Aber das ist doch Unsinn, Papa! Wie oft soll ich's dir denn noch sagen? In Mama natürlich. Immer in Mama. Das ist nun schon so. Lenchen ist in Mama verliebt. Und Hammer ist in Mama verliebt. Ich? Natürlich ich auch! Und du vielleicht nicht?«

»Was redet ihr da für ein dummes Zeug?« sagte Frau Maja und nahm Charlotte den Hörer aus der Hand.

»Charlotte ist ein bißchen durcheinander«, erklärte sie ihrem Mann. »Weil es nun morgen wirklich losgeht. Ich glaube, daß sie nicht einmal mehr ordentlich schläft. – – Wann kommst du denn heute aus der Bank? – – Zum Abendbrot? Aber nach Tisch bist du zu Hause? – – Gut, gut, Karl! Ich freue mich so! Da sieht man sich doch wenigstens noch einmal ordentlich. – – Es ist nett von dir, daß du angerufen hast. Viel zu tun? Natürlich. Natürlich, Karl. Wir sind heute abend, wenn du kommst, vollkommen fertig mit allem.«

Maja verabschiedete sich sehr herzlich von ihrem Manne und wandte sich dann an Charlotte:

»Du mußt diesen Unsinn mit Hammer nicht immer wiederholen, Charlotte. Stell dir bloß vor, daß er's einmal irgendwie zu hören bekommt! Was soll ich dann sagen, Kind? Und es ist noch nicht einmal wahr!«

Aber Charlotte blieb dabei, daß Hammer in ihre Mutter verliebt sei, und daß er es nur deswegen so eilig habe, ihnen entgegenzureisen. Wovon ihre Mutter nun einmal so wenig hören wollte, daß sie ihr mit ungewohnter Strenge das Wort abschnitt.

Wie fast alle jungen Mädchen ihres Alters kannte Charlotte ihr Spiegelbild sehr genau. Sie konnte ihr Äußeres also mit dem Äußeren ihrer Mutter vergleichen. Und sie tat das gern und oft und immer wieder. Gewiß, sie sahen sich ähnlich. Sie hatten die gleichen seidig-schwarzen Haare. Aber die Haare ihrer Mutter waren noch feiner als die ihren. Majas Augen waren ein ganz klein wenig heller, fast haselnußfarbig, noch größer, und ihr Licht schien stärker, obwohl es weniger funkelte. Dagegen war ihre Haut so braun, daß Charlotte daneben fast bleich wirkte. Das Gesicht der Mutter war rundlicher; es fehlten die etwas vorstehenden Backenknochen, und unter der Haut leuchtete ein tieferes, rosigeres Rot. Ihre kindliche Nase war größer, die Flügel stärker geschwungen. Die Zähne nicht so weiß und so zierlich wie bei Charlotte, sondern von einer zarten Elfenbeinfarbe und etwas breiter und kräftiger. Charlotte war ungewöhnlich schlank und etwas höher als ihre Mutter, die trotzdem als eine sehr stattliche Frau erschien. Aber beide hatten die gleichen schmalen, ein wenig knochigen und zugespitzten Hände.

Charlotte fand ihre Mutter viel, viel schöner als sich selbst. Ich bin hübsch, und Mama ist schön, pflegte sie zu ihren Freundinnen zu sagen. Womit sie nicht unrecht hatte. Aber diese Feststellung bereitete ihr eher Freude als Schmerz. Die Schönheit schien ihr etwas Erwerbbares; etwas, das die Jahre bringen und das man sich mit der Zeit erobert. Auch sie hoffte, so schön zu werden, wenn sie erst einmal älter war.

Einstweilen aber fand sie's natürlich, daß die Männer nicht in sie, sondern in ihre Mutter verliebt waren. Ihr Vater behauptete zwar regelmäßig das Gegenteil. Aber sie pflegte ihm ebenso regelmäßig zu widersprechen und ganz besonders, was ihren Lehrer Hammer betraf. Und auch damit hatte sie keineswegs unrecht.

Im übrigen fand Charlotte ihre Mutter »unglaublich naiv«. Sogar Lenchen wußte ganz genau, wie es mit Doktor Hammers Gefühlen stand. Aber Mama wollte es nicht sehn. Oder konnte es nicht sehn. Denn sonst wäre sie vielleicht mit dem Verliebten doch vorsichtiger umgegangen. Überhaupt hatte Mama eine Art! Wer konnte einen Menschen so herzlich und warm und verständnisvoll ansehen wie sie? Sie legte Hammer sogar die Hand auf die Schulter und redete ihn mit »mein Lieber« an und betonte dabei das Wort »Lieber« so, so ganz auf eine besondere, auf ihre besondere Weise, daß der Doktor, sonst eine selbstsichere Natur, rot wurde, und daß seine Haare sich vor lauter Schüchternheit zusammenkringelten und seine Augen unter Angst- und Aufregungstränen nicht mehr zu sehen waren. Lenchen lachte darüber. Charlotte pflegte dann ein Liedchen zu pfeifen, das Hammer sehr genau kannte und das ihn noch ängstlicher machte, so daß er die erste beste Gelegenheit ergriff, um in eiliger Flucht das Zimmer zu verlassen. Aber Mama sah auch das nicht. Und Papa meinte dann jedesmal, er sei in Charlotte verliebt. Wenn die nur gewußt hätten, wie nüchtern es in ihren Unterrichtsstunden zuging! Was Charlotte übrigens gar nicht unrecht vorkam. Denn sie fand, daß Doktor Hammer ein sehr angenehmer Lehrer, ein guter Freund und wahrscheinlich ein hervorragender Archäologe war. Aber sonst gar nichts.

Immerhin, dachte Charlotte, wenn er nicht in Mama verliebt wäre, so hätten wir's jetzt vielleicht weniger gut, und unsre Griechenlandreise würde weniger sorgfältig vorbereitet.

Sie las den Brief Hammers, der noch immer vor ihr lag, zum zweiten Male.

»Patras?« fragte sie. »Also am dritten Tag der Seereise?«

Maja bejahte.

»Schade«, meinte Charlotte, »schade, daß diese Seereise nicht länger dauert. Eigentlich freu ich mich darauf am allermeisten. Auf das Schiff, auf die Kabinen, auf die Spaziergänge an Deck. Auf so ein schwimmendes Haus, das einen zwischen schönen Aussichten spazierenfährt.«

Und Charlotte begann ihrer Mutter ausführlich zu erzählen, was sie von einer Seereise erwarte.

Am Abend kam dann Direktor Schott heim.

Sie verbrachten zusammen einen sehr schönen Abend, legten sich erst nach Mitternacht nieder. Am folgenden Morgen frühstückten sie alle drei in Majas Schlafzimmer, und später fuhren sie gemeinsam zum Bahnhof.

»Nun, Lenchen?« fragte Charlotte, als der Zug schon über die Berliner Vorstadtgeleise rollte. »Wie ist Ihnen?«

»Mir ist so«, antwortete Lenchen, »als ob die gnädige Frau das Schwarze doch sehr vermissen wird.«

Während am Nachmittag, in der Gegend von Bamberg, Frau Maja und Charlotte im Speisewagen Tee tranken, machte Lenchen eine Reisebekanntschaft.

Der Herr hieß Emil Zapf und war aus Wien. Blonde, in der Mitte gescheitelte Haare. Dabei schwarze Augen. Kneifer. Kleiner Mund voll Goldzähne. Ein ziemlich elegantes, stark auf Taille gearbeitetes Kostüm aus Salz-Pfeffer-Stoff. Sehr blanke, rötliche Schuhe.

Es stellte sich heraus, daß der Herr auch nach Athen fuhr, und zwar mit dem gleichen Dampfer wie Schotts. Er reiste in Geschäften. Offenbar ein guter Kenner des Orients. Gesprächig. Sehr höflich. Sehr gewandt.

Lenchen war äußerst erfreut über diese Bekanntschaft: ein Landsmann, der auch nach Griechenland fuhr! Sie hatte nichts Eiligeres zu tun, als Frau Schott von Herrn Zapf zu erzählen.

»Er weiß offenbar ganz besonders gut Bescheid da unten«, erklärte Lenchen. »Wie nützlich das sein kann, gnädige Frau! Er hat mir gesagt, daß man im Orient sehr vorsichtig sein muß. Die Griechen sind sehr schlaue und heimtückische Menschen. Man hat dort unten sehr oft mit geradezu gefährlichen Gaunern zu tun. ›Kriminelle Elemente‹ – wie Herr Zapf sagt.«

Charlotte ging mit Lenchen in die dritte Klasse hinüber und sah sich Herrn Zapf an.

»Nun?« fragte Maja, als sie zurückkam. »Was hat dir Lenchens Landsmann für einen Eindruck gemacht?«

»Mistkäfer!« sagte Charlotte.

»So?«

»Und vielleicht selbst eins von den kriminellen Elementen, vor denen er Lenchen angst macht.«

Frau Maja fand, daß man so rasch nicht urteilen dürfe. Aber sie beschlossen, vorsichtig mit Herrn Zapf zu sein, der sich sehr bald wieder an Lenchen heranmachte.

Am Mittwochmorgen kamen Schotts in Venedig an. Sie wollten eine Gondel mieten. Aber an der Bahnhofslände lag bereits ein großes Motorboot, das ihnen die Schiffahrtsgesellschaft entgegengeschickt hatte. Es war blank und braun wie eine Roßkastanie, lärmte wie ein ganzer Expreßzug und zog eine ungeheure Schwade stinkenden, schmutziggrauen Rauches durch die blaßlila Lagune.

Da der Dampfer erst gegen Abend fuhr, stiegen sie in einem Hotel bei San Marco ab.

Charlotte kannte Venedig: als kleines Kind war sie mehrmals am Lido gewesen. Jedenfalls war sie heute nicht in der Stimmung, die Stadt noch einmal zu sehen. Heute erschien sie ihr nur als der Hafen: der Hafen des Schiffes, das nach Griechenland fuhr: Die Pforte zum Orient.

»Lenchen kennt Venedig noch nicht«, sagte Maja. »Willst du es ihr nicht ein wenig zeigen?«

Charlotte fühlte gar keine Lust dazu. Sie wußte nicht genau, wann ihr Dampfer, der »Quirinale«, von Triest kommend, in der Lagune einlaufen werde. Sie wollte diesen Anblick nicht versäumen. Trotzdem ließ sie sich schließlich von ihrer Mutter überreden, Lenchen durch Venedig zu begleiten. Nachdem sie im Hotel zu Mittag gegessen und Frau Maja sich zur Ruhe zurückgezogen, führte sie die Zofe aus.

Aber sie beschloß sich für den langweiligen Nachmittag zu rächen.

Schon an der Piazzetta begann sie die Erklärung der Dogenstadt, die sie sich für Lenchen zurechtgelegt hatte.

»Da sehn Sie sich mal den geflügelten Löwen auf der Säule an, Lenchen. Wissen Sie eigentlich, was der zu bedeuten hat? Früher einmal, da haben die Venezianer in Griechenland geherrscht. Und zur Erinnerung –«

Lenchen verstand gar nichts.

»Sie müssen nämlich wissen, daß geflügelte Löwen sozusagen eine griechische Spezialität sind.«

»Geflügelte Löwen?« fragte Lenchen entsetzt. »In Griechenland?«

»Das werden Sie ja nun bald mit eigenen Augen sehn«, antwortete Charlotte. »Geflügelte Löwen nach Herzenslust! Sehn Sie den Mann dort auf der anderen Säule? Der ist heiliggesprochen worden, weil er ein so besonders geschickter Jäger von geflügelten Löwen war.«

Lenchen war sprachlos.

»Schöner Platz, was?« meinte Charlotte, als sie den Markusplatz betraten.

Die Kapellen der überfüllten Kaffeehäuser spielten auf. Es herrschte, wie immer hier, eine festliche Stimmung. Aber Lenchen war trüb zumute.

»Schöne Musik«, sagte sie schließlich, eigentlich aus Verlegenheit.

»Und wissen Sie warum?« fragte Charlotte. »Das ist hier nämlich keineswegs ein so fröhlicher Ort, wie Sie sich's denken. Die vielen Kaffeehäuser – das sind die Mädchenbörsen von Venedig. Da werden die Mädchen, die man im Orient fängt, verhandelt wie bei uns in Berlin Kuxe und I.G. und Siemens. Und die Musik? Na ja – – damit man das Weinen nicht hört!«

Lenchen wurde blaß vor Schrecken.

»Das Weinen und das Klagen«, fuhr Charlotte unerbittlich fort. »Die schönen Paläste hier ringsherum sind nämlich voll von gefangenen Mädchen. Und es kommen doch schließlich sehr viel Fremde nach Venedig, die das Gejammer nicht hören dürfen. Glauben Sie vielleicht, daß Mama nach Venedig ginge, wenn sie nur ahnte, was das für eine Stadt ist? Früher war's ja noch schlimmer. Da hielt man auf dem Platze Mädchenmarkt, und der eiserne Mann mit dem Hammer, den Sie dort auf dem Glockenturm sehen, war der Auktionator. Aber da ist der Verein zum Schutze junger Mädchen vorstellig geworden und hat wenigstens das verhindert.«

»Gott sei Dank!« seufzte Lenchen.

»Zur Erinnerung an die vielen armen Mädchen«, erklärte Charlotte weiter, »die hier früher ihres Schicksals harrten, halten die Venezianer jetzt die Tauben. Wenn die Fremden wüßten, was sie da füttern! Nicht wahr, Lenchen?«

»Und woher wissen Sie das, Fräulein Charlotte?« fragte Lenchen, die inzwischen doch etwas ungläubig geworden war.

»Ich studiere doch Archäologie«, antwortete Charlotte ernst.

Lenchen glaubte wieder.

»Und auch in Griechenland werden Mädchen gefangen?« fragte sie ängstlich.

»Noch viel eifriger«, erwiderte Charlotte. »Die deutschen sind ganz besonders gefragt. Im Süden sind sie nämlich ganz närrisch auf Blonde!«

Das hatte Lenchen auch schon gehört. Sie begann zu zittern.

»Mama und ich«, fuhr Charlotte fort, »wir sind ja zum Glück schwarz. Aber Sie, Lenchen! An Ihrer Stelle würde ich mich ganz verflucht in acht nehmen, wenn wir erst einmal in Griechenland sind.«

Sie begegneten in dem Augenblick zwei Karabinieri mit Zweispitz, schwarzen Frackschößen und hochgezwirbelten Schnurrbärten. Entsetzt sah Lenchen Charlotte an.

»Mädchenfänger«, sagte Charlotte finster. »Venezianische Mädchenfänger.«

»Wie die geguckt haben!« meinte die Zofe.

»Die sehn sich eben ihre Beute ganz genau an«, antwortete Charlotte. »Und natürlich – – so blond und weiß wie Sie sind!«

Der Spaziergang durch Venedig wurde für Lenchen zur Qual. Mehr tot als lebendig kehrte sie ins Hotel zurück. Das also war Venedig! Das also erwartete sie in Griechenland!

Sie fühlte sich verloren. Bis ihre Gedanken endlich einen Trost fanden, etwas, woran man sich klammern konnte in all der Angst vor geflügelten Löwen und gefangenen Mädchen: Herrn Emil Zapf, den Landsmann. Lenchen beschloß, die ganze Angelegenheit gründlich mit diesem Orientkenner durchzusprechen, seinen Rat einzuholen und sich und ihre Herrschaft unter seinen sachkundigen Schutz zu stellen.

Der Nachmittag war trotzdem trüb. Nachdenklich und verzweifelt saß sie im Schlafzimmer hinter verriegelter Tür, während Charlotte fröhlich ausging, um zu sehn, ob der »Quirinale« einliefe.

Aber sie fand den Dampfer bereits vor San Giorgio Maggiore.

Schwarz und eisern ragte er über die Lagune; breit überschwang sein Deck Venedigs Uferkais, die sich so sanft zum Wasser neigen. Hoch stieg sein schwarzer Rauch in den blassen Himmel auf und wehte dunkel dahin über Dogenpalast und Markuskuppeln, die im Sonnenlicht schimmerten wie das perlmutterne Meer.

Als dann das prächtige Schiff seine Sirenen kurz und klingend ertönen ließ, daß das weite Rund zwischen San Giorgio und der Piazzetta davon widerhallte, schien es der Herr Venedigs. Auf ein paar Sekunden wurde es still am Ufer, so daß man die Tauben flattern hörte und den Ruderschlag der Gondeln.

Und daß Charlotte das Herz stillstehen blieb vor Erregung.

Leider war's noch zu zeitig, um an Bord zu gehen, der »Quirinale« sollte erst in der Dunkelheit die Gewässer der Lagune verlassen. Deswegen mietete sie nun ganz für sich allein eine Gondel und ließ sich an den Dampfer heranrudern. Was die junge Fremde wohl an dem Ding da fand? dachte der Gondelier. Als ob nicht hundert bessere, größere, schönere Schiffe nach Venedig kämen? Ein gewöhnlicher Levante-Postdampfer! Fünf- oder sechstausend Tonnen. Aber alles an diesen fünf- oder sechstausend Tonnen schien Charlotte bemerkenswert. Die mennigrote Kielwand, die sich rosig im blassen Wasser spiegelte. Der gebogene schwarze Leib mit den messinggeränderten runden Luken, hinter deren dicker Verglasung kleine hellgraue Vorhänge wehten, sich weiße Kissen türmten, Tafelgeschirre gestapelt standen oder gar der neugierige Kopf eines Küchenjungen erschien, der nach dem dunklen Fräulein in der Gondel lugte: lauter Dinge, die verrieten, daß es hinter der schweren Stahlwand lebendig war wie in einem dicht bewohnten Haus. In zwei großen Silbersäulen strömte das Pumpenwasser aus der Bordwand. Aus schräg geöffneten Schächten wurden allerhand Abfälle oder Kohlenschlacke ins Meer geworfen. Ununterbrochen gab der Dampfer irgend etwas, das ihm gehört, das er verarbeitet, verzehrt und verbraucht hatte, an das Meer ab. An Fische, die in kleinen Silberzügen erkennbar waren, wie sie zitternd die Bordwände entlang streiften; an die dunkelvioletten Medusen, die gierig aus allen Richtungen herbeigeschwommen kamen und sich mit ihren rundlichen Häuptern immer wieder in die Tiefe senkten. Aber Charlotte sah nicht nur den Fischen und Medusen in der Tiefe zu, sondern auch den Menschen, die auf Deck zu erkennen waren. Auf der Falltreppe hielt ein Karabiniere Wache. Auf dem unteren Deck gingen ein paar blau gekleidete Offiziere zwischen weiß gestrichenen Eisensäulen hin und her. Die Mannschaft war nicht zu sehen; da der »Quirinale« in Venedig keine Ladearbeit hatte, mußten die meisten Matrosen wohl auf Urlaub an Land gegangen sein. Auch von Passagieren, die etwa von Triest mit herübergekommen sein mochten, konnte sie nichts bemerken. Dagegen glaubte sie auf der Kommandobrücke, zwischen dem breit verglasten Steuerhaus und den weißen Rettungsbooten, die hier bauchig in den Vertauungen hingen, einen Menschen zu entdecken, der ihre Gedanken seit Tagen beschäftigt hielt: den Kapitän. Er trug breite goldene Tressen um die weiße Mütze, und diese Tressen blitzten in der Abendsonne. Im übrigen war von ihm nicht viel mehr zu sehen als von den Rettungsbooten, neben denen er stand: nämlich der Bauch. Ein dunkelblauer Bauch mit goldenen Knöpfen. Der Kapitän schaute über diesen Bauch hinweg in die Ferne, wohl nach den Türmen Venedigs zu. Dann aber neigte er sich plötzlich über das Geländer und sah gerade in die Gondel hinein, aus der Charlotte staunend zu ihm aufstarrte. Er sah offenbar schlecht, setzte erst einmal einen Kneifer auf. Schließlich griff er sogar zu dem Fernrohr, das er an einem Lederriemen um die Schultern trug, und schaute damit ohne alle Scheu hinunter.

Da hatte Charlotte das Gefühl, ihm in der Vergrößerung des Glases doch näher zu sein, als ihr lieb war, und sie gab dem Gondelier Befehl, ans Ufer zurückzukehren.

Als sie ins Hotel zurückkehrte, äußerte ihre Mutter den Wunsch, vor der Abfahrt noch einmal die Markuskirche zu besuchen. Maja und Charlotte machten sich also auf den Weg dorthin, durchquerten langsam die belebten Straßen der Stadt und standen schließlich unter den riesigen Fahnen, die vor San Marco im Abendwinde wehten.

Es dunkelte schon. Aus der Kirche drang starkes Licht. Sie betraten den goldenen Baum, der für die Abendandacht mit Hunderten von Kerzen erleuchtet war. Aber ihr Schein, unter der großen Kuppel und um den Hochaltar geballt, ließ die Seitenkapellen, die Gewölbe der Schiffe und Kreuzflügel im Schatten.

Sie setzten sich auf eine entlegene Bank, hörten der betenden Stimme zu, die aus der Ferne unter den Kuppeln echote. Sie sahen, wie Hunderte von Menschen kamen und gingen, knieten und sich bekreuzigten, staunten und still unter den Mosaikbogen standen, in denen sich die Kerzen spiegelten.

Unter den Besuchern fiel ihnen einer auf: ein langer, hagerer Mensch, der sich an eine Säule lehnte. Er trug einen hellen Anzug, hielt einen cremefarbenen, sehr breitrandigen Hut in der Hand. Auch sein Haar war hell: das Kerzenlicht gab ihm einen fast silbernen Glanz. Aber es war noch ein jüngerer Mann; man sah es an seinem rundlichen Gesicht und an seinen großen, ein wenig verträumten Augen.

»Ich möchte wetten«, sagte Charlotte, »daß das Thomas Durkley ist.«

Maja glaubte es auch.

»Aber es ist doch unmöglich«, meinte sie dann. »Soviel ich weiß, wurde er von der Berliner Botschaft nach Chile versetzt. Erst vor etwa einem Jahr. Es kommt mir unwahrscheinlich vor, daß er schon wieder in Europa ist.«

Sie beschlossen, sich den Herrn, den sie für Durkley hielten, näher anzusehen. Aber ehe sie sich von ihrem entlegenen Platz aus durch die Menschen hindurchgewunden hatten, ehe sie das überfüllte Mittelschiff durchqueren konnten, war er verschwunden. Sie eilten nun nach dem Ausgang, versuchten ihm auf dem Markusplatz zu begegnen. Aber auch das war vergeblich.

»Ich hätte ihn gerne wiedergesehen«, sagte Charlotte. »Er war unter allen, die im vorvorigen Winter zu uns ins Haus kamen, eigentlich der sympathischste.«

In dem Augenblick hörten sie wieder die Stimme des Schiffes: laut und voll ertönte die Sirene des »Quirinale« über der Lagune. Es war Abfahrtszeit.

Schon auf dem Weg zum Hotel begegneten sie einer Gondel voll Gepäck, die dem Dampfer zuglitt.

»Da!« rief Charlotte plötzlich. »In der Gondel da! Ist das nicht wieder der große Hut?«

»Es sieht wirklich so aus«, sagte Maja.

Auch sie erkannte den Hut. Aber nur den Hut. Er verschwand rasch in der Dunkelheit.

Einige Augenblicke später saßen sie im Motorboot, das sie in rasender Fahrt an den Dampfer herantrug.

Charlottens Herz schlug vor Erregung so laut, daß Frau Maja denken mußte: nur gut, daß wir endlich so weit sind!

Langsam und vorsichtig legte sich dann das Fahrzeug zwischen andere Fahrzeuge: Gondeln, Schlepper, Leichter, Pinassen. Langsam und vorsichtig wie sich ein Kind einem fremden Erwachsenen nähert.

»Wie klein die andern alle sind – gegen unser Schiff!« sagte Charlotte begeistert.


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