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6.

Dort legte er sich zur Ruhe, und ihm war traurig zu Sinne. Ringsum erhoben sich die zarten Birken wie silberne Springbrunnen, und ihr herabhängendes Laub glich langsam herniedertropfenden Wasserstrahlen, die vom Schein des aufgehenden Mondes beschienen waren. Wie ein weißes, weites Meer breitete sich der Hain in der weiten weißen Nacht aus, und über diesem mattschimmernden Wasser lag wie stille Wehmut ein weißer Nebel. Flüsternde Halme und silbern leuchtendes Schilf und hell zitternde Iris erblühten am sacht rauschenden Meeresufer. Eine klare Luft, ein wolkenloser, stiller, blauer, klarer Himmel wölbte sich darüber, und matt leuchteten die Sterne.

Unter dem herabhängenden Birkenlaube lag Herakles, und ihm war trübe zu Mute. Seine Kräfte waren erschöpft, seine Muskeln entspannten sich und wurden schlaff, seine matten Augen, die so groß waren und an Glanz dem lichten Himmel glichen, blickten müde und träumerisch über das Meer. Gleich einem jungen und kräftigen schlafenden Freunde lag ihm zur Seite die Keule, die er liebgewonnen hatte und die seine Hand behutsam streichelte, als wollte er des Freundes Ruhe nicht stören.

Kaum ein Laut drang durch die Nacht, nur das Rauschen der Wasser war zu vernehmen und das wehmütige Singen der Halme, die von dem Winde bewegt wurden. Allein Herakles schlief nicht neben seiner ruhenden Keule. Er gedachte voller Kummer an die Seinen, die er getötet hatte, als Hera ihn mit Raserei erfüllte: an Alkmene, die Mutter, an Megara, die Gattin, an seine starken Söhne, seine schönen Töchter, an alle, die ihm lieb gewesen waren und die er in wilder Wut, verblendet, erschlagen hatte, daß ihr Blut ihm zu Füßen floß, als er aus seinem Wahn erwachte. Er gedachte seines Kummers um den lieben Knaben Hylas, den man ihm so grausam geraubt hatte: sein einziges Glück, seinen einzigen Trost, die Freude seiner unfrohen Tage, und in ihm war Gram und nicht endendes Leid ob seiner erniedrigenden Sklaverei. Er, der Sohn des Zeus, er, der einzig würdige Perseide, er, der kräftigste von allen, kaum Mensch noch, beinahe Gott schon, er, den die erhabene Hera, ihr selber unbewußt, an ihrem Busen genährt hatte – nun Sklave des Mißgestalteten, ihres Lieblings, des Eurystheus, den sein Fuß leichtlich zertreten konnte wie eine Kröte! Zeus und Athena wachten über ihm, doch war es selbst diesen beiden Gottheiten unmöglich, das unbarmherzige Schicksal zu ändern. Das heiligste Orakel hatte ihm geboten, ohne Murren die zehn Werke zu vollführen, die Eurystheus ihm gebieten würde. Doch sollte es ihm möglich werden, Unmöglichkeiten zu vollbringen? Den Löwen von Nemea zu vernichten, war ihm ein nichtig Spiel gewesen: doch was würde Eurystheus jetzt in seinem spitzen Schädel grübelnd ersinnen? Und wenn nun das Schicksal am Ende wollte, daß ihm das nächste Werk mißlänge und daß er mit Schmach und Unehre beladen zu des Tartaros Tiefen hinabstiege?

Der Held seufzte tief und traurig auf, und seine traurige Mattigkeit ward noch größer als die Wehmut, die seine gespannten Muskeln und seine Kräfte schlaff machte. So erschöpft war er, daß ihm die Tränen in die Augen kamen. Und seine Hand streckte sich unwillkürlich nach der Keule aus, als wollte er in seinem Schmerz den schlafenden Freund wecken, nun Hylas nicht mehr dort ruhte. Er richtete die Keule schräg auf und stellte sie an einen Birkenbaum, unter dem sie nun beide, Held und Keule, Erquickung suchten; sein müdes, trauriges Haupt lehnte sich an die Knorren der Keule, und so schlummerte er ein, gleich als läge sein Kopf auf den Knieen eines jugendlichen Freundes.

Die weiße Nacht schwand, und das weiße Meer begann rosig zu schimmern, indes die Winde ganz still geworden waren und die Zweige der mattglänzenden Birken, Bronnen gleich, ihre Zauberstrahlen allüberall in den stillen Wald herabtropfen ließen, den die aufgehende Sonne mit rosigem Scheine färbte.


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