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5.

Der Held war durch das Stadttor von Mykenä getreten: mit der linken Hand umklammerte er die Keule, über der rechten Schulter trug er als staunenerregende Siegestrophäe, die er mit sich brachte, den riesengroßen Löwen, dessen umwalltes Haupt ihm vor den ausschreitenden Füßen hing, während die klauenbewehrten Vordertatzen schlaff herabhingen, die Hinterpfoten über Herakles' Rücken baumelten, der Schweif gleich einer machtlosen Geißel durch den Staub der Straße schleifte. Da hatte sein Kommen ein so fürchterliches Entsetzen ausgelöst, daß Männer, Frauen und Kinder allzuhauf eilends vor ihm davonflohen und sich in ihren Häusern bargen und Türen und Fenster schlossen. Nur die Angesehenen unter ihnen drängten in den Palast des Eurystheus, dem sie zuriefen: »Herakles kommt mit dem Löwen! Herakles kommt mit dem Löwen!«

Und Eurystheus, der ihr Rufen nicht verstand, meinte, daß der Löwe den Herakles verschlungen habe und nun selber durch die Straßen Mykenäs schreite, und darum befahl er, daß man auf allen Seiten die Pforten des Palastes schließe. Doch schon hatte Herakles die Türhüter beiseite gedrängt und schritt mit seiner Beute herein, und Eurystheus entsetzte sich ob dieser Erscheinung, die ihn wie der Löwe selber anmutete, floh aus dem Kreise der verwirrten Höflinge, versteckte sich hinter seinem runden Marmorthron und flehte mit lauter Stimme Heras Beistand an, bis die Herolde ihm zuriefen:

»Fürst und Herrscher über Mykenä, herrlicher Eurystheus, strahlender Perseide, fürchtet nicht den Löwen, denn Euer Sklave Alkeios, des Zeus tapferer Bastardsohn, legt Euch seinen nun kraftlosen Körper zu Füßen.«

Eurystheus schaute hinter des Thrones Rückwand hervor und versteckte sich von neuem: er zitterte vor Todesangst und rief: »Gebietet dem Alkeios, daß er gehe und das Untier mitnehme, wohin immer er es haben will: nur hinweg aus meinen Augen, denn vielleicht ist es nicht tot, wie wir glauben, vielleicht wacht es aus einer Betäubung wieder auf.«

Da hallte dröhnend des Helden helles Lachen von den tausend dorischen Säulen wider, gleich als würde tausend gefügigen Saiten eine jubelnde Musik entlockt. Er zerrte sich seine Beute von der Schulter, schleuderte sie vor den Thron und rief:

»Herrlicher Held und Vetter, strahlender Perseide, verschwinde nicht gleich der westlichen Sonne hinter deinem Thronhimmel, sondern laß mich auf deinem strahlenden Antlitz die dankbare Freude darüber erschauen, daß ich den Löwen, der dein Land heimsuchte, erlegt habe und seinen wehrlosen Leib dir zu Füßen lege. Eurystheus, allmächtiger Herrscher der Erden, der du der strahlenden Sonne gleichst, erhebe dich gleich Phöbus Apollo, steige empor an deinem Himmel, so du nicht willst, daß mein toter Löwe vor lauter Freude darüber, daß du ihn noch immer für gefährlich erachtest, sich in ein neues Leben brülle und sich dann, ohne deiner Majestät zu achten, an deinen fürstlichen Schenkeln gütlich tue.«

Und des Herakles dröhnendes Lachen scholl an den Säulen entlang. Allein Eurystheus rief hinter dem Thron hervor: »Hinweg aus meinen Augen! Aus meinen Augen dieses Ungeheuer! Weg, weg von hier!«

Herakles gehorchte, noch immer laut lachend, riß fügsam den Löwenleib an der Mähne empor, warf ihn sich über den Rücken und rief: »Ich spute mich, Herr, ich eile, Herr, denn fürwahr: der Löwe wird wieder lebendig.«

Und im Trabe eilte er an die Pforte und warf den Löwen auf den Platz, dieweil die Türhüter hinter ihm die Pforten schlossen.

Das Volk scharte sich dicht um den Helden und den Löwen. Und alle jubelten erfreut auf, doch mit verhaltener Freude, damit Eurystheus sie nicht hören sollte, und fragten:

»Was tun wir, Herakles, mit dem toten Untier, das Eurystheus sich zu nehmen weigert?«

»Zieht ihm die Haut ab,« sagte der Held lachend, »und gerbt mir das Löwenfell, daß es mir zum Mantel werde und über meinen Rücken auf die Füße herabfalle.«

Und mit dröhnendem Lachen, einem Lachen, das Straße und Platz erfüllte, schritt er, die Keule über der Schulter, zu dem silbern leuchtenden Birkenwalde hin, der in der sinkenden Nacht schimmerte.


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