Charles de Coster
Vlämische Legenden
Charles de Coster

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Vorwort

Carles de Coster (1827-79), bisher nur in seiner belgischen Heimat als großer Dichter geschätzt, hat sich erst im vergangenen Jahre, als die Verdeutschung seines Hauptwerkes »Tyll Ulenspiegel« (geschrieben 1867) erschienVerlag von Eugen Diederichs, Jena, 1910; 5. Tausend. – Mit einem Nachwort des Übersetzers, das alles wesentliche über Dichter und Werk enthält, und auf das hierdurch ein für allemal verwiesen sei., in Deutschland einen posthumen Ruhm erworben und eine späte Auferstehung gefeiert. Jungdeutsche Dichter wie Stefan Zweig, Eberhard König, Hermann Hesse haben sein Werk enthusiastisch gepriesen; und die Tagesblätter vom »Vorwärts« bis zur »Deutschen Tageszeitung« sind mit seltener Einmütigkeit in diesen Applaus eingefallen – ein Zeichen, daß der Dichter allen Schichten und Ständen unseres Volkes etwas zu sagen hatte.

Unter diesen Umständen lag es nahe, dem deutschen Publikum auch den Rest seines Schaffens in geeigneter Auswahl vorzulegen, voran die »Flämischen Legenden« (Légendes Flamandes 1858), die dem »Ulenspiegel« um neun Jahre vorausgingen, und in denen de Coster seinen großen Roman präludierte, insbesondere in »Smetse der Schmied«, wo bereits der ganze Haß des belgischen Volksmannes gegen das kirchliche und weltliche Joch der spanischen Fremdherrschaft auflodert, deren Bekämpfung den Gegenstand seines »Ulenspiegel« bildet. Ebenso findet man die im »Ulenspiegel« (I, 36) nur kurz skizzierte Bruderschaft vom guten Vollmondsgesicht und die Entstehung des Festes der Bognerinnen in der ersten der vorliegenden Novellen ausführlich dargestellt. Wer jenes Hauptwerk liebgewonnen hat, der wird auch gern zu diesen kleinen Erzählungen greifen, die durch so mancherlei Fäden mit ihm verbunden sind, und die gewissermaßen seine Vorstufe bilden – freilich nicht im Sinne tastenden und skizzenhaften Versuchens; denn diese schlichten Legenden sind in ihrer Art ebenso ausgerundet und fertig, ja in ihrer Knappheit geschlossener als die große, ins Unendliche sich ergießende Dichtung von Ulenspiegels heroischen, lustigen und ruhmreichen Abenteuern. Sie zeigen die gleiche vertiefte Kenntnis des historischen Milieus, den gleichen virtuosen Auftrag der Lokalfarbe, und was noch wichtiger ist, das gleiche innere Erfassen des moralischen Dunstkreises der geschilderten Zeitausschnitte. »De Coster«, sagt Emile Deschanel in seinem Vorwort zur ersten Ausgabe der »Flämischen Legenden«, »hat das Mittelalter so dargestellt, wie es ist: rauh, roh, melancholisch, hinterlistig und kindlich. Er hat seinen Figuren nicht eine Anschauung, nicht einen Instinkt, nicht ein Gefühl gegeben, das nicht zu ihnen paßte. Er ist in ihr innerstes Leben eingedrungen, hat sie geliebt, verstanden und richtig dargestellt, und darin liegt der Reiz und die Originalität seines Werkes.«

In vielem ist er auch hier – wie im »Ulenspiegel« – seinem Meister Rabelais nachgegangen. Burleske oder anmutige Situationen, Treuherzigkeit und Unverblümtheit der Sprache, derber, bisweilen ingrimmiger Humor erfüllen diese kleinen Kabinettstücke, die bei all ihrem kunstvollen Archaismus doch so frisch und so unmittelbar wirken. Unwillkürlich vergleicht man sie mit Balzacs berühmten Contes drôlatiques, bei denen Rabelais ja nicht minder Pate gestanden hat; und man wird de Costers Geschichten die größere Natürlichkeit des Stils einräumen. Er hat sich archaistischen Künsteleien – namentlich in der Orthographie – viel ferner gehalten als sein berühmter Vorgänger, ohne der Darstellung den altertümlichen Dunstkreis zu rauben; und er hat die Lektüre dadurch für den modernen Leser bedeutend erleichtert.

Obwohl im Französisch der Renaissance gemeistert, sind diese flämischen Legenden doch so bodenständig niederdeutsch, daß sie, wie Deschanel sagt, ins Flämische übertragen, als Original gelten könnten. Auch in dem stammverwandten deutschen Idiom dürften sie mehr als Original denn als Übersetzung wirken, was ja auch schon bei der deutschen Ausgabe des »Ulenspiegel« mehrfach bemerkt worden ist. Sie sind in der Tat, wie Deschanel treffen hervorhebt, »Gedanken und Gefühle des Nordens, in ein südliches Idiom übertragen«; und so mögen sie denn auch in dieser Verdeutschung in ein stammverwandtes Idiom zurückkehren! »Die Seele des Dichters«, schließt Deschanel sein Vorwort, ganz im Sinne unsrer neueren Heimatskunst, »erwärmt sich nur am heimischen Herde recht und fühlt sich nur da wirklich wohl, wo sie gelebt, geliebt und gelitten hat, inmitten gewohnter Freunde und Feinde und unter einem Himmel, dessen Härte und dessen Liebkosungen sie kennt.«

 

Als Intermezzo zwischen den »Légendes Flamandes« und dem »Ulenspiegel« schaltete de Coster 1861 noch einen Band »Brabanter Erzählungen« einContes brabançonnes. Par Ch. de Coster, auteur des Légendes Flamandes, Paris 1861, Michel Lévy frères (im Buchhandel seit lange vergriffen), mit zahlreichen Illustrationen belgischer Künstler, u. a. Félicien Rops., auf den die ebenzitierten Worte Emile Deschanels leider im negativen Sinne mehr zutreffen als im positiven. Nicht in den Stoffen, die auch hier flämischen Ursprungs sind, wohl aber in der Erzählungstechnik ist de Coster hier seinem eignen Können vielfach untreu geworden; er hat sich ohne Glück auf modernem Gebiete bewegt, offenbar mit einem Seitenblick nach Frankreich, ohne jedoch die Vorzüge der gallischen Erzählungskunst, die straffe Komposition, das rasche Tempo und den prickelnden, geistreichen Stil zu erreichen. In diesen Novellen ist der Witz mühsam, und die Handlung schleicht in zähem, langsamem Flusse dahin. Nur wenn er seinen altertümlichen Stil oder einen phantastischen Gegenstand aufnimmt, gewinnt seine Darstellung mit einem Schlage wieder Leben und Farbe. Am deutlichsten zeigt sich dies in der Novelle »Die Masken«, die am Schluß des vorliegenden Bandes abgedruckt ist; die moderne Handlung, die ja eigentlich nur den Rahmen der Vision bildet, spinnt sich mit ermüdender Weitschweifigkeit fort (weshalb sie denn auch in der Übersetzung gekürzt wurde); sobald aber das visionäre Element einsetzt, fühlen wir, daß der Dichter in seinem Element ist; und wir verknüpfen diese moralistisch-phantastische Szene unwillkürlich mit dem wildphantastischen Sabbat der Frühlingsgeister, dem Ulenspiegel und Nele beiwohnen (I, 86). Als Ganzes aber zeigt diese Erzählung den gleichen eigenartigen Stilbruch zwischen Mystik und Realismus, den nicht nur de Costers Hauptwerk aufweist, sondern den wir auch als allgemeines Kriterium der belgischen Kunst hinstellen können – von den Malereien eines Breughel bis zu den Dramen und naturphilosophischen Werken M. Maeterlincks, welche das gleiche Janusgesicht von Romantik und Naturalismus besitzen. Da die übrigen »Brabanter Erzählungen« eigentlich nur das zeigen, was de Coster nicht konnte, so wurden sie in dieser Verdeutschung fortgelassen, mir einziger Ausnahme der Novelle »Ser Huygs«, die den flämischen Legenden inhaltlich wie formal sehr nahesteht. Manches darin erscheint geradezu als Vorform von Geschehnissen des »Ulenspiegel«, so vor allem der zwischen Groteske und blutigem Ernst hin- und herschwankende Kampf zwischen Ser Huygs und dem Moslim, der unwillkürlich an Ulenspiegels wunderliches Duell mit dem deutschen Landsknechte (III, 12) gemahnt.

Zum Schlusse sei hier ein Bruchstück aus der Novelle »Jesus« wiedergegeben, das einzige, worin es de Coster m. E. gelungen ist, die witzige, rapide, konzise Art der französischen Novellistik zu treffen; ein Maupassant brauchte sich seiner nicht zu schämen, während der Rest der Erzählung dagegen stark abfällt.

»Im Alter von sechzehn Jahren war Luise mit ihren runden, schnittigen Formen, ihrem üppigen, braunen Haar, ihrem reizenden Lächeln, ihren schwarzen Samtaugen eins der schönsten Mädchen, das an Kirmeßtagen mit frohem Fuße über die Holzdielen der flämischen Tanzsäle hingehüpft ist. Die Freier bissen in Scharen an; doch Luise fand die einen zu dick und die andern zu mager; die, welche Witz hatten, nannte sie spottsüchtig und die Gutmütigen blöde. Sie spielte mit ihren Liebhabern wie die Katze mit der Maus. Es kam ihr nicht in den Sinn, daß es ihr je an einem Gatten fehlen könnte. Doch die Jahre entschwanden, und die Uhr der Zeit schlug zwölf für die Unbesonnenheit. Die Blüte ihrer Schönheit welkte hin; viele Schmetterlinge waren schon entflogen oder folgten den andern. Sie begann nachzusinnen, war minder hochmütig und sagte sich selbst, daß die Ehe ein großes Sakrament sei, das sie um jeden Preis empfangen wolle; daß etwas Beleibtheit einem Manne wohl anstehe, daß Witz kein Spott und Gutmütigkeit keine Dummheit sei. Schließlich verlangte es sie lebhaft, zu heiraten. Das kam bald heraus und es machte sie lächerlich. Vier Jahre gingen ins Land, wo die Bauern von Uccle sich scheinbar das Wort gegeben hatten, Luise keinen Heiratsantrag zu machen. Das arme Mädchen besorgte sich ernstlich um ihre Zukunft und verzweifelte daran. Ihre Gesundheit ward schwach, ihre Augen wurden hohl und bekamen Schattenringe; ein dumpfes Feuer schwelte darin; das Weiße ward leicht gelb; die Stirn bekam Runzeln, das Gesicht, von Besorgnis durchglüht, schmolz wie Wachs am Feuer; das Kinn ward länger, der Mund schien größer und lächelte bitter . . . kurz, mit achtundzwanzig Jahren sah sie aus, als wäre sie fünfunddreißig. Sie ward unwirsch, mißtrauisch und reizbar und verwünschte ihren tollen Stolz, dessentwegen sie so viele brave Freier ausgeschlagen hatte: nun saß sie allein auf der Welt da, ohne Liebe, Stütze und Kinder« . . . (Übrigens läuft Luise noch glücklich in den Ehehafen ein.)

De Costers Produktivität ist fast ganz von dem einen großen Werke verschlungen worden, das seinen Namen, nachdem er im Elend gestorben war, auf die Nachwelt bringen sollte, und das heute als eine der großen, bleibenden Schöpfungen des 19. Jahrhunderts gepriesen wird. Seine flämischen Legenden allein hätten ihm keinen bleibenden Ruhm erworben; aber als kleine Kabinettstücke aus der Hand des Ulenspiegel-Dichters besitzen sie gleichwohl ihren Wert und dürfen unser Interesse beanspruchen.

F. v. O.-Br.

 


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