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Das erleuchtete Fenster.

Es war eine finstre Augustnacht; gewitterschwül hingen die Wolken am sternenlosen Himmel, und das breite, mit armseligen Bäumchen bepflanzte Boulevard gingen nur noch einige wenige späte Fußgänger mit schweren Schritten entlang. Die Gasflammen, deren doppelte Reihe sich fern in die Einsamkeit der Vorstadt verliert, flackerten in der erstickend heißen Luft.

Ludwig hatte sich von seinem Stuhle erhoben, einen verzweifelten Blick auf die Seite seiner Arbeit geworfen, mit der er nicht zu Ende kommen konnte, eine Seite, die er ohne Freude und ohne Begeisterung begonnen hatte, und die von Korrekturen wimmelte. Die Hitze in dem engen Stübchen und die Schwärme von Mücken, die seine Lampe umschwirrten, vertrieben ihn. Ungeduldig löschte er das Licht aus, stieg seine vier Treppen hinab, schritt über das menschenleere Boulevard und setzte sich an ein im Freien stehendes Tischchen des kleinen Restaurants, das gerade seiner Wohnung gegenüber lag.

Wie öde war dieser Abend! Das Bier, das ihm ein Kellner, in Hemdärmeln und auf Pantoffeln einherschlürfend, brachte, schmeckte abgestanden und schal; es war um nichts kühler im Freien, als im Hause, und wenn ein Luftzug über die Straße wehte, so war er heiß, wie der Hauch eines Fiebernden. Ludwig sagte sich jetzt, er hätte lieber in seinem Zimmer bleiben und vielleicht schlafen gehen sollen; das arabische Sprichwort hatte nicht Unrecht: »Liegen ist besser als sitzen; tot sein besser als liegen.« Tot sein! Ja, wahrhaftig! Das Leben eines Litteraten, der keinen Erfolg hat, wer weiß, am Ende auch kein Talent, entleidete ihm. War es denn weniger eintönig, als der Fahrplan des von zehn zu zehn Minuten an ihm auf der staubigen Chaussee vorüberrollenden Omnibus mit seinen schwerfällig dahintrottenden magern Kleppern? Auch er mußte den Karrengaul spielen und an der Leine einer Redaktion laufen, um sich sein bißchen Spreu und eine Metze Hafer zu verdienen. Welch ein Beruf, Zeitwörter und Eigenschaftswörter zu verkaufen, und dies mit achtunddreißig Jahren! Morgens beim Rasieren erschreckten ihn jedesmal die Krähenfüße, die sich von seinen Augen gegen die Schläfe hinzogen: eine verlorene Jugend! Ohne irgend eine wirklich schöne, frohe Erinnerung, ohne eine Oase; nur voll von Erinnerungen an die entsagungsreiche oder schimpfliche Liebe, wie sie in das Dasein eines armen Hagestolzen tritt. Und während er an die trübe Vergangenheit und an die trostlose, vereinsamte Gegenwart dachte, bis ihm fast die bittern Thränen kamen, erhob er den Kopf und bemerkte plötzlich in der fünften Etage seines Hauses, gerade oberhalb seines Zimmers, ein erleuchtetes Fenster.

Es war das einzige in der ganzen Nachbarschaft, denn in der Vorstadt legte man sich früh zur Ruhe. In jener Höhe und bei dem finstern Himmel verloren sich die Umrisse der Gebäude im Dunkel der Nacht, so daß der Schein des so hoch oben erstrahlenden Fensters wie das ruhige und unbewegliche Licht eines Leuchtturms erschien. Es stand offen, aber eine weiße Gardine war vorgezogen, die bei jedem Lufthauche erzitterte.

»Wer da oben wohl wohnen mag?« fragte sich Ludwig.

Und in jenem Momente fühlte er sich so verlassen, so einsam, so verzweifelt, und das erleuchtete Fenster blinkte so milde zu ihm herab, daß er in einer ironischen Laune seiner Phantasie Menschen heraufbeschwor, die – alle glücklicher natürlich als er – wohl in jenem Zimmer gelebt haben mochten. Wer von denen, die der Kummer auf die Straße getrieben und die in nächtlichen Wanderungen sich und ihren Gram müde gelaufen haben, hätte nicht schon diese Empfindung kennen gelernt. Wer unter ihnen hätte nicht schon beim Anblick eines durch die Nacht hinleuchtenden Fensters zu sich gesagt: »Da wohnt wohl das Glück!« und wer hätte nicht, im Finstern stehend, mit wehmütigem Neid im Herzen zu einem solchen Fenster aufgesehen, wie ein Verzweifelter, der nur Enttäuschungen auf Erden erlitten hat, noch Trost findet, wenn er zu einem Sterne aufschaut, von dem er erhofft, daß dort ihm einstmals ein neues, besseres Leben erblühen werde.

*

»Wer da oben wohl wohnen mag?« fragte sich Ludwig. »Wer bleibt so lange auf?«

Vielleicht einer, der arbeitete, wie er; ein Schriftsteller, ein Dichter? Er erinnerte sich jetzt, daß er zuweilen auf der Treppe einem ärmlich gekleideten, blassen, noch ganz jungen Manne begegnet war. Der ist es gewiß. Der Jüngling wird wohl die zu seinem Unterhalt unumgänglich nötigen fünf Franken mit Stundengeben verdienen müssen; am Morgen verkauft er sein Lateinisch, der Rest des Tages jedoch gehört der Kunst und der Poesie. Er ist arm, sehr arm, aber stolz und rein; er hat sich den Schatz seiner Jugend und seiner Illusionen unberührt bewahrt, und wenn ihn trotz seiner vertragenen Kleider einmal ein junges Mädchen auf der Straße wohlgefällig ansieht, errötet er, und seine langen, seidenweichen Wimpern legen sich über die tiefen Denkeraugen. Selbstverständlich strebt er nach Ruhm; er bildet sich jedoch nicht ein, ihn erringen zu können, ehe er in einem Meisterwerke sein Bestes gegeben hat; seine Feder achtet er, wie der Ritter sein Schwert, und eher würde er Hungers sterben, als Taglöhner in einer Redaktion werden. Er kennt das Leben noch nicht, aber was lehrt denn das Leben den Dichter, außer daß alles hohl ist und nichtig! Jetzt arbeitet er wohl an seinen ersten Versen, an der göttlichen Dichtung seiner Jugend, wie man nur einmal eine schreiben kann; er schafft ein verzaubertes Paradies, ein unmögliches Paradies, wo die Vögel wie Blüten duften und die Blumen Flügel haben; wo alle Frauen gut und rein sind, wie die Sterne; wo es nur Träume und Empfindungen gibt. Und wenn er dann die Lieder in die Welt senden wird, dann werden sie in der Seele derjenigen, die sie singen und lesen, ein Gefühl von bitterer Wehmut hervorrufen, weil sie wissen, wie viel weniger schön die Erde ist.

Aber bis jetzt gehört das Gedicht nur ihm; es ist noch unvollendet und ihm darum um so wertvoller, denn in der Skizze sieht er es noch so, wie es ihm als Ideal vorschwebt. Was er wohl zu so später Stunde treiben mag, der junge Dichter? Ist er zu Bett gegangen und liest bis zum frühen Morgen in einem schon hundertmal gelesenen Lieblingsbuche, aus dem sich seine stürmische und jugendfrische Phantasie Luftschlösser aufbaut? Nein, er wird wohl den ganzen Abend an einigen seiner gelungensten Strophen gearbeitet haben und dann von Müdigkeit übermannt eingeschlafen sein. Der entzückend schöne Jünglingskopf ist ihm auf die Brust herabgesunken, seine Augen haben sich geschlossen, die Feder ist ihm aus der Hand gefallen, und träumend sieht er die angefangene Seite seiner Arbeit vor sich, und die Muse, die für ihn noch immer existiert, und zwar als mütterlicher Engel, beugt sich lächelnd über ihn, streicht ihm über das Haar und küßt ihn auf die Stirne!

*

»Wer da oben wohl wohnen mag?« fragte sich Ludwig, den noch immer das geheimnisvolle Licht lockt, und dessen Phantasie immer neue Blüten treibt.

Ein Liebespaar! Bestimmt Liebende, für die es in der Welt nichts andres gibt, als ihr überströmendes Gefühl, und die nichts weiter kennen, als sich selbst, und deren Blick nicht über ihre eigenen sich umschlungen haltenden Schatten, die im Mondenlicht auf die Straße fallen, hinausreicht. Ihre Liebe hat angefangen, wie gar manche andre, als sie einmal durch Zufall auf derselben Bank saßen. Sie hatte gleich gesehen, daß er blond war, der Student, und frische rote Lippen hatte, und ihm hatte es das lustige braune Mädel gleich angethan. Und um glücklich sein zu dürfen, hatten sie niemand um Erlaubnis gefragt, als sich selbst und ihre Jugend. Seit dem Frühjahr lieben sie sich; sie sind in jenem Alter, wo morgen ewig bedeutet, und nun haben sie ihr Dachstübchen in ein reizendes Nest verwandelt.

Warum sie noch Licht brennen? Wahrscheinlich hat er heute irgend eine Einladung bei Verwandten annehmen müssen. Sie hat rasch an der Tischecke eine Kleinigkeit gegessen und ist in ihrer Einsamkeit ganz glücklich gewesen, denn sie konnte ungestört an ihn denken, an seinen hübschen Gang und seine nette Art, sich zu geben. Ohne es zu wissen, schrieb sie mit der Spitze des Messers den Namen des Geliebten aufs Tischtuch und lächelte dabei vor sich hin. Aber schließlich ist sie müde geworden und zu Bett gegangen. Jetzt schläft sie bei der brennenden Kerze; ihr reizendes Köpfchen, das wirr von den gelösten Flechten umrahmt ist, ruht in ihren beiden ineinandergefalteten Händen. Wenn er später heimkehrt, wird er sie in ihrem lieblichen Schlafe überraschen, und wird lange an ihrem Bette sitzen und ihr in die jugendfrischen Züge schauen. Dann wird sie in ihren Träumen instinktiv seine Nähe fühlen und die Augen wie ein verschlafenes Kind auf- und niederschlagen, und ihm wird es scheinen wie das Blinken der Sterne, und er wird sie küssen! ...

*

»Wer da oben wohl wohnen mag?« dachte Ludwig, der noch immer zu dem erleuchteten Dachfenster hinaufstarrte.

Warum nicht ein Paar ehrbare Eheleute mit Kindern? Der Herbst mit seinen Früchten. Es gibt ja bescheidene und entsagende Menschen, die in ihren Pflichten und durch die Pflichten glücklich sind, wie z. B. jene beiden, denen Ludwig manchmal in seiner kleinbürgerlichen Vorstadt begegnete. Die Mama, eine verblühte Blondine in einem billigen Mäntelchen, die ihren Jüngsten in einem Wägelchen schiebt, und der schon ergraute Vater, der stolz seinen Aeltesten, den Gymnasiasten, an der Hand führt. Vielleicht wohnten die dort oben, und da das Gehalt kaum über dreihundert Franken den Monat beträgt, bei zwei Kindern, so wird zum Abend gar oft ein übrig gebliebenes Stück kaltes Fleisch gegessen, und der Schuljunge schläft im Wohnzimmer auf einem Schlafsofa. Der Kleine, der so unerwartet kam und den man deshalb doch nicht weniger liebt, hat das schmale Budget aus dem Gleichgewicht gebracht. Zum Glück hat der Vater neben seiner Beamtenstellung einen Posten als Buchhalter für sechshundert Franken pro Jahr gefunden, den er in seinen Freistunden versieht. Freilich muß er darum auch sehr früh aufstehen. Aber sie beklagen sich nicht; sie sind alle gesund. Léon, der in der Quinta sitzt, hat schon drei Preise davongetragen! Und der zärtliche Blick, mit dem der Vater die Mutter ansieht, wenn sie sich des Abends die Augen fast blind näht, ist rührend. »Jetzt geh aber schlafen, Mama; für heute hast du genug!« Ja, warum legt er sich denn noch nicht zu Bett, der gute Vater, der so frühe schon auf sein muß, um die Handlungsbücher des Kaufmanns in Ordnung zu halten? Warum sitzt er noch immer bei der Lampe? Weil er gemerkt hat, daß sich Léon auf die Dauer nicht ohne Nachhilfe wird durchbringen können: deshalb versucht er, sein Griechisch wieder aufzufrischen, und ochst in seinen alten Büchern.

Aber trotz all ihrer Sorgen beneidet Ludwig dieses brave Paar, denn sie haben, was er mit seinem Herzblut bezahlen würde, ein warmes Gefühl, und sie essen ihr mageres Stück Rindfleisch in Ehrbarkeit!

*

Plötzlich fielen große Tropfen auf den Tisch, an dem Ludwig saß. Das Gewitter brach los, und er mußte nach Hause.

Trotz der vorgerückten Stunde war die Portierfrau noch auf und stopfte Strümpfe in ihrer Loge. So konnte er ja gleich erfahren, wer hinter dem hellen Vorhange wachte, dessen Schein in ihm so schmerzliche Sehnsucht nach Glück wachgerufen hatte, nach dem Glücke wenigstens, das auch dem Armen erreichbar ist: Liebe, Familie und Arbeit.

»Wer wohnt denn über mir?« fragte er die Frau. »Ja, in dem Zimmer gerade über dem meinen; es ist das einzige in dem noch Licht brennt.«

»Ach, gnädiger Herr, da wohnt niemand mehr. ... Ein alter Mann hatte das Stübchen; er war schon zweimal die Miete schuldig geblieben. ... Der Hausbesitzer hat sie ihm nie abgefordert ... aus Mitleid, denn er war schon über siebzig Jahre alt und sollte ins Armenhaus kommen. ... Aber heute ist er gestorben, mit dem Schlag vier. ... Die Dame im ersten Stock hat ein Leintuch hergegeben, damit man ihn darin einwickeln kann, und da er niemand auf der Welt hat, keinen Freund, keinen Verwandten, der bei ihm wachen könnte, habe ich eine brennende Kerze neben sein Bett gestellt. ... Und weil nun alle Mieter zu Hause sind, so werde ich jetzt auf ein Stündchen hinaufgehen und ein Vaterunser für ihn beten.«


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