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Ein freiwilliger Tod.

Ich habe den Dichter Louis Miraz sehr gut gekannt. Wir speisten vor Zeiten beide im Studentenviertel bei einer alten Polin, der wir den Spitznamen Prinzessin Chokolawska gegeben hatten, wegen der großen Schüssel voll Chokoladencreme, die sie täglich in dem Schaufenster ihres Lokals ausstellte. Das Mittagessen kostete bei ihr einen Franken; verwöhntere Kostgänger legten für eine Serviette noch fünf Centimes drauf.

Mit Ausnahme von einigen jungen Leuten, die einen genialen Drang in sich verspürten, bestanden die Gäste meistens aus armen Landsleuten der Polin, die alle mehr oder weniger an der Spitze von Armeen gestanden hatten. Da war vor allem ein hypochondrischer alter Mann mit weißem Kinnbart, den die andern mit besonderer Ehrfurcht behandelten, da er drei Tage lang Diktator gewesen war! Sein abgetragener Rock, seine schmierigen Stiefel und sein Hut, der aussah, als seien Schnecken darüber gekrochen, boten das Bild äußersten Elends.

Auch ein Narr, der sich sein Brot mit Stundengeben verdiente und der behauptete, er sei zur buddhistischen Religion übergetreten, verkehrte bei der Prinzeß Chokolawska. Auf dem Kamin seiner armseligen Stube stand die recht hübsche Malachitfigur eines Buddha, der die Augen wie hypnotisiert auf seinen Nabel gerichtet hielt und seine Zehen in den Händen hatte. Diesem Idol ließ der Sprachlehrer die größte Verehrung angedeihen; nur wenn die Miete fällig war, sah er sich meist gezwungen, den Gott ins Leihhaus zu tragen. Dann verfiel der bedauernswerte Mann in dumpfes Brüten, und erst nachdem er seine pietätlose Handlung hatte wieder gut machen können, kehrte die gewohnte Heiterkeit zurück.

Louis Miraz nun hatte damals die eingesunkenen Augen, die blasse Gesichtsfarbe und das lange struppige Haar, das für diejenigen jungen Leute typisch geworden ist, die in der dritten Wagenklasse angefahren kommen, um Ruhm einzuheimsen, die mehr für Lampenöl als für Beefsteaks ausgeben und die als Besitzer einiger ungedruckter Manuskripte das ganze große Paris in die Schranken fordern. In jenen Tagen erglänzte auch der Kragen meines Rockes im Fette meiner schmachtend langen Haare. So mußten sich denn unsre Seelen finden, und Louis Miraz führte mich bald in sein im obersten Stockwerk gelegenes Zimmer in der Straße zu den Vier-Winden, wo er mich mit zweitausend Alexandrinern überfiel.

Doch Scherz beiseite, die reizenden, frühlingsduftigen Verse des jungen Poeten, die er bald darauf unter dem Gesamttitel »Freie Vögel« herausgab, werden stets einen hervorragenden Platz in der Litteratur einnehmen.

Dies blieb das einzige Werk Miraz' in gebundener Sprache. Ehrgeizig wie er war, strebte er weiter. Ich verlor ihn bald aus den Augen, las nur ab und zu seinen Namen in den Zeitungen und Journalen, wo jene kurzen, reizenden Novellen zu erscheinen begannen, die seinen Ruhm begründet haben. Fünf Jahre vergingen; da trafen wir uns eines Tages in der Redaktion einer Zeitschrift, der auch ich Beiträge lieferte.

*

Wir freuten uns herzlich über das Wiedersehen, und nach der ersten Begrüßung: »Was! Sie sind es ... du bist's?« schüttelten wir uns kräftig die Hände, und in ein fröhliches Lachen ausbrechend, wiesen wir uns die Zähne, die einst am selben Hungertuch genagt hatten. Er war unverändert; selbst die langen Haare, die er mit einer so hübschen Bewegung des Kopfes nach rückwärts zu werfen sich angewöhnt hatte, trug er noch. Nur die frische Gesichtsfarbe und der ruhige Blick verrieten den sorgenfreien Menschen; auch seine Kleidung war modern und elegant.

»Jetzt kommst du aber mit mir!« sagte er, indem er kameradschaftlich seinen Arm in den meinen legte und mich nach den Boulevards zog, wo die freundliche Aprilsonne das frische Grün der Platanen mit ihrem strahlenden Glanze vergoldete.

War das ein fröhlicher Tag! Wir hörten gar nicht mehr auf mit dem: »Weißt du noch? Weißt du noch, wie die Setzeier der Prinzeß Chokolawska so nach Spreu rochen und wie schlecht ihr ewiger Milchreis schmeckte? Und wie hypochondrisch der alte Diktator war? Und wie der Sprachlehrer alle Quartal seinen Buddha versetzte?«

Jetzt aber waren die magern Tage vorüber. Miraz hatte sich von weitem an meinen Erfolgen erfreut, und ich kannte die seinen. Nur daß er verheiratet war, wußte ich nicht; daß er eine Frau hatte, die er anbetete, und ein Töchterchen, einen Engel, wie er enthusiastisch erzählte! ...

»Du mußt sie kennen lernen; iß mit uns!«

Ich ließ ihm seinen Willen, und so schleppte er mich nach seiner Wohnung, einem mitten im Grünen gelegenen Häuschen. Alles lud zum Willkomm ein; kaum hatten wir die Thüre des Vorgartens geöffnet, als auch schon ein junger Hund freudig bellend an uns emporsprang.

»Ruhig, Gavroche! – Gib acht, er macht dich schmutzig.«

Als Miraz die Glocke gezogen hatte, trat uns Madame Miraz mit ihrem Töchterchen auf dem Arme in dem Vorflur entgegen. Sie war eine schöne, große Blondine, deren üppige Formen vorteilhaft in dem blauen Hauskleide zur Geltung kamen.

»Laß noch für eine Person decken ... ich bringe einen Gast, einen alten Freund von mir.«

Der glückliche Vater ließ sich sein Kind reichen, und dann zeigte er mir einen Teil seiner Häuslichkeit; das freundliche, mit hellen Majoliken gezierte Speisezimmer und sein mit Büchern vollgepfropftes Arbeitszimmer, aus dessen geöffnetem Fenster man ins Grüne schaute. Die rosa Blüten eines Kastanienbaumes, die der Wind hereingeweht hatte, bedeckten die auf dem Schreibtisch liegenden Druckbogen.

»Wir sind erst Anfänger, weißt du. Es ist ja noch nicht allzu lange her, da schrieb man noch ab, für fünfzehn Centimes die Zeile!«

Während ich über einen in voller Blüte stehenden Baum im Garten in Bewunderung ausbrach, hatte es sich Miraz bequem gemacht, hatte seinen Hausrock angezogen, sich in einen Lehnstuhl gesetzt und ließ nun die kleine Helene auf seinen Knieen »Hoppe, hoppe Reiter« spielen.

Ich glaube ich habe mich noch nirgends zuvor so behaglich gefühlt. Wir aßen vergnügt zu Mittag; es gab zwei Gänge, einfach aber gut. Die schöne Frau machte mit einem liebenswürdigen Lächeln die Wirtin; neben ihr saß das Kind auf einem hohen Stuhle. Madame Miraz sprach wenig, aber mit einem intelligenten und sanften Ausdruck in dem sympathischen Gesichte folgte sie unsrer paradoxen, mit tollen Einfällen gewürzten Unterhaltung, der Unterhaltung zweier gut gelaunter Männer von der Feder. Nach dem Dessert nahm sie eine Rose aus der mit Blumen gefüllten Vase, die den Tisch zierte, und steckte sie sich mit unnachahmlicher Grazie ins Haar. Sie war eine stille und schöne Gefährtin, wie geschaffen für einen Träumer.

Den Kaffee tranken wir in Miraz' Arbeitszimmer; einen Salon wollten sie sich erst von dem Honorar des Romans einrichten, der nächstens erscheinen sollte. Dann, weil der Abend kühl zu werden begann, wurde ein kleines Feuer im Kamin angezündet, und während Miraz und ich bei der Cigarre alte Erinnerungen auffrischten, schaukelte die schöne Frau auf ihrem Schoße das Kind, das behaglich mit den zierlichen nackten Füßchen strampelte und sie den wärmenden Flammen entgegenstreckte.

*

Wir sahen uns wieder; erst ziemlich häufig, dann seltener, und schließlich führte uns der aufreibende, schwere Beruf des Schriftstellers verschiedene Wege. Nochmals verstrichen Jahre, ehe wir uns einmal begegneten. Wir schüttelten uns die Hände. »Wie geht's?« »Danke, vorzüglich!« und das war alles. In der letzten Zeit fand ich den Namen Louis Miraz nur ganz vereinzelt in Zeitungen und Zeitschriften.

»Der Glückliche! Er ruht sich aus,« dachte ich, indem mir einfiel, daß man sich erzählte, er habe sich durch seine Arbeit ein kleines Vermögen erworben. Da hörte ich im verflossenen Herbste, er sei ernstlich krank.

Ich eilte zu ihm. Er wohnte noch in demselben Hause wie damals. Aber an dem unfreundlichen Novembertage nahm es sich gar traurig zwischen den blätterlosen Bäumen aus; es erschien mir kleiner, wie zusammengeschrumpft. Der Hund war wohl nicht mehr am Leben, da mich sein Bellen nicht begrüßte, als ich die Pforte öffnete und in den mit welken Blättern übersäten Garten trat, wo die Nachtfröste die letzten Blumen getötet hatten.

Nicht Madame Miraz empfing mich – sie war ausgegangen – sondern Helene, die inzwischen ein großes, schüchternes Mädchen von vierzehn Jahren geworden war. Sie führte mich in das Arbeitszimmer ihres Vaters, indem sie mir aus ihren schönen, schwarzen Augen einen scheuen, ängstlichen Blick zuwarf.

Ich fand Miraz auf einem niedrigen Sessel vor dem Kamine sitzend. Weiße Strähnen durchzogen sein Haar, und als er mir seine kalte, feuchte Hand hinreichte und mich mit einem fiebrig gläsernen Blick anschaute, ahnte ich, daß da nicht mehr viel zu helfen war. Schrecklich! Miraz bot jetzt dasselbe Bild unterwühlter Kraft, wie es uns so oft an den unglücklichen Gästen der Prinzeß Chokolawska erschüttert hatte.

»Nun, alter Freund! Es geht wohl nicht besonders?«

»Mit mir ist es aus!« erwiderte er, indem ein furchtbares Lächeln über seine Züge glitt. »Ich sterbe an der Schwindsucht ... albern ... wie im letzten Akte eines Rührstückes ... der alte Doktor fühlt den Puls der ersten Liebhaberin, hebt die Augen gen Himmel und spricht: ›Der Todeskampf naht‹. ... Der Unterschied bei mir ist nur, daß der Todeskampf sich ewig hinzieht, daß er gar kein Ende nimmt. Rauche doch weiter! Es geniert mich gar nicht,« fügte er hinzu, als ich meine Cigarre weggeworfen und er einen Hustenanfall, der einem Röcheln glich, überstanden hatte.

Ich suchte nach ermutigenden Worten. Ich faßte nach seiner Hand, während ich zu ihm sprach; ich klopfte ihm auf die Schulter, aber ich erschrak an meiner eigenen Stimme, die einen falschen, hohlen Klang hatte, und Miraz lächelte mitleidig über meine vergeblichen Bemühungen.

Da schwieg ich still.

»Sieh 'mal, seit einem halben Jahre schon kann ich nicht mehr arbeiten,« sagte er und wies nach seinem Schreibtisch, auf dem eine Menge bestaubter Manuskripte und Papiere durcheinander lagen.

Nochmals versuchte ich, ihn aufzuheitern. Ach was! In seinem Alter sterben! Kein Gedanke! Er pflegte sich jedenfalls nicht gehörig, mußte in den Süden. Er konnte sich das ja leisten ... war wohlhabend.

Aber er unterbrach mich, indem er mir die Hand auf den Arm legte.

»Höre einmal! ... Wir sehen uns zwar selten, du bist jedoch einer meiner ältesten, vielleicht mein aufrichtigster Freund ... du hast es mir schon bewiesen. ... Ich will dir etwas anvertrauen; behalte es für dich; nur wenn du bei Gelegenheit jemand damit nützen kannst, dann mache Gebrauch davon; bei jungen Brausewinden von Schriftstellern, die dir ihre Manuskripte unterbreiten. Ich habe Erfolg gehabt; man hat mir die Zeile mit einem Franken bezahlt. Ich habe Geld verdient, ich kann es nicht leugnen, und dort in jener Schublade sind eine Anzahl brauner, grüner und roter Papiere, von denen man alle halb Jahr ein Stück abschneidet und die eine Rente von drei- bis viertausend Franken repräsentieren. ... Das ist in unsrem Berufe selten genug; ich habe auch, um diese kärglichen Ersparnisse machen zu können, wie ein echter Philister leben, habe meiner Frau ein Schmuckstück, meiner Tochter ein Kleid abschlagen lernen müssen. Nun gut, das Geld ist also da, und oft sagte ich mir: wenn ich früh sterben sollte, haben die Meinen wenigstens ihr Auskommen, Helene sogar eine bescheidene Mitgift. Dann war ich so stolz und glücklich! Ich weiß nur zu gut, wie es mit unsern Witwen und Waisen bestellt ist ... da hilft freilich der Staat, aber und das ist nicht zum Leben und nicht zum Sterben ... und wenn das Mädchen hübsch und klug ist, wie meine Helene, so rät ihr der Bühnenschriftsteller – alter Freund vom Vater – zum Theater zu gehen, und macht sie zu seiner ... Bei allen Heiligen! Nein! Aber deshalb darf ich es auch nicht mehr so lange treiben. Eine solche Krankheit kostet zu viel; ich habe schon zwei oder drei meiner Obligationen verkaufen müssen. ... Um in Mentone oder Cannes in der Sonne zu liegen, wie du rätst, dazu müßte ich noch so ein Papier zu Geld machen. Da wäre bald nichts mehr in der Schublade, und wenn ich noch sechs oder sieben Jahre lebte, jetzt, wo ich nicht einmal mehr im stande bin, abzuschreiben ... zum Glück brauche ich das nicht zu fürchten. ... Was habe ich jedoch für Sorgen, seitdem ich nicht mehr verdienen kann und mir das bißchen Geld unter den Händen wegschmilzt ... du verstehst mich und wirst mir nicht mehr raten, mich besser zu pflegen, nicht wahr? Im Gegenteil, bete für mich, daß ich bald weggeholt werde!«

*

Vierzehn Tage darauf folgten wir unser dreißig dem Sarge, der Louis Miraz nach dem Kirchhofe Montmartre brachte.

Endlich war man bei dem neuaufgeworfenen Grabhügel angelangt. Unter einem schmutzig grauen Himmel schüttelten die kleinen Eibenbäume den halbgeschmolzenen Schnee von ihren Zweigen. Die Anwesenden umstanden das Grab im Kreise und sahen den Totengräbern zu, wie sie den Sarg an Seilen hinabließen. Neben einem Kreuzträger, unter dessen zu kurzem Chorhemde die Beinkleider vorsahen, harrte der Priester, den Finger im Gebetbuche. Der Hauptredner des Schriftstellerverbandes hatte seinen Hut in den linken eingebogenen Arm geklemmt, während er schon in seiner schwarz behandschuhten Rechten die Trauerrede bereit hielt, die er noch schnell mit Hilfe eines Kollegen auf der Ecke eines Restauranttisches, zwischen zwei Gläschen Cognac hinein, verfaßt hatte.

Plötzlich, als der Priester mit den Gebeten begann, zupfte mich Doktor Arnould, der Hausarzt des Verstorbenen, am Aermel und flüsterte mir zu: »Wissen Sie denn auch, daß er sich selbst das Leben genommen hat?«

Ich sah ihm verdutzt ins Gesicht. Da zeigte er auf Madame Miraz und ihre Tochter, die unter ihren langen schwarzen Schleiern fast zusammenbrachen und sich schluchzend umfaßt hielten: »Er hat es für diese gethan! ... Seit einem halben Jahre schon goß er alle Arzneien ins Feuer, beging er absichtlich die größten Unvorsichtigkeiten. Er hat es mir vor seinem Tode noch eingestanden. ... Ich begriff es einfach nicht, glaubte ihn mit Creosot noch mindestens drei Jahre lang hinhalten zu können. Schließlich gestern in der bitterkalten Nacht hat er wie aus Versehen die Fenster aufgelassen; da kam eine Lungenentzündung hinzu. ... Nur damit die beiden Frauen dort zu essen haben! Der Priester ahnt nicht, daß er einen Selbstmörder einsegnet. Schadet nichts! Miraz thront jetzt im Paradies der Braven. ... Was sagen Sie zu solch einem Tode? Gehört da nicht mehr Mut dazu, als wenn man ins Wasser geht?«


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