Karl Wilhelm Salice Contessa
Haushahn und Paradiesvogel
Karl Wilhelm Salice Contessa

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Achtes Kapitel

In den Tälern lagerte der Nebel; die Bergspitzen glühten im Frühlicht. Eine dichte Wolkenmasse rollte wie ein Vorhang von der Zinne des hohen Gebirges nieder, und nur durch die Lücken, welche der frische Morgenwind von Zeit zu Zeit hineinriß, schaute dieses, tiefblau, bald hier, bald da hervor wie ein dunkles Geheimnis.

Karoline ging schweigend und in sich gekehrt mit hastigen Schritten vorauf. Der Professor folgte ihr frohen Mutes und mit gleicher Eilfertigkeit; denn in seine Segel blies die Hoffnung, durch einige Worte seiner Frau erzeugt, dort im Gebirge die schöne Sängerin wiederzufinden.

»Immer bas! immer bas!« rief ihnen der Führer zu, welcher zuletzt schritt. »Mit solcher Eil' kommt man hierlandes nicht weit.« – Der Weg hob sich immer steiler; sie fanden bald durch ihre gänzliche Erschöpfung des Mannes Rede bestätigt und mußten sich bequemen, langsamer zu gehen. Jonathan, welcher unermüdlich hin- und widerspringend bald der Professorin eine seltene Blume, bald ihrem Manne einen merkwürdigen Stein zutrug, lachte sie weidlich aus.

Es offenbarte sich an ihm heut überhaupt eine ganz besondere Art von Lustigkeit und wilder Laune, die stets ausgelassener ward, je weiter sie in das Gebirge vordrangen. Er war alle Augenblicke einmal von ihrer Seite verschwunden und begrüßte sie dann unerwartet von der Spitze eines hohen Felsens herab mit gellendem Zuruf, der weit umher den Widerhall weckte, oder ließ aus dem Wipfel eines Baums ein wunderliches Konzert von Vogelstimmen erschallen, die er auf das täuschendste nachzuahmen verstand. »Gott grüß euch, Gevatter! Guten Morgen, Base!« hörten sie ihn oft hinter sich rufen; und wenn sie umschauten, wem der Gruß gelte, sahen sie ihn vor einem mächtigen Felsblock oder einer schlank emporragenden Birke stehen, mit welchen er unter lebhaften Bewegungen leise zu sprechen schien. Dabei kam es dem Professor zuweilen wirklich vor, als neigten die Bäume ihre Zweige gegen ihn und regten flüsternd ihre Blätter; ja als ihr Weg sie bei einem Wasserfall vorüberführte, schwoll der Waldstrom sichtlich, auf Jonathans Anrufen, zu doppelter und dreifacher Stärke und brauste mit so gewaltigem Ungestüm über die Klippen herab, daß sie, in Wasserstaub eingehüllt, den Boden zittern fühlten, auf welchem sie standen.

»Sie machen da eine interessante Bekanntschaft!« sagte Jonathan zum Professor. »Das ist Herr Kühleborn, Undinens Oheim.«

Als sie eine Strecke weitergegangen waren, kamen ihnen einige Bäuerinnen mit eilenden Schritten entgegen. Sie trugen leere Körbe auf dem Rücken und sahen ängstlich und erschrocken aus. »Geht nicht weiter! geht nicht weiter!« riefen sie. »Das ist heut kein guter Tag. Seht ihr nicht, wie das Gebirge braut?«

Der Professor stutzte und blieb stehen. Doch Jonathan sprach: »Kinderpossen! Was dort oben gebraut wird, das trinken die dort unten; wir nicht.« Und so schritten sie weiter. Der Führer folgte brummend.

Über eine Weile aber begegnete ihnen ein Trupp Holzhauer, die in großer Hast den Berg hinabliefen. »Ihr tätet auch wohl, wenn ihr wieder umkehrtet!« riefen diese gleichfalls. »Das haust und braust und heult dort oben heut, als ob die Hölle los wäre.«

»Laßt's gut sein!« sagte Jonathan, »wenn die Hölle los ist, so wollen wir sie wieder anbinden. Ich verstehe mich darauf, solche Ungewitter zu Paaren zu treiben.« Allein der Führer meinte, wenn sie ihre Haut zu Markte tragen wollten, so stehe dies in ihrem Belieben; er habe keine Lust, sich von dem Berggeiste den Hals umdrehen zu lassen. Damit bat er um seine Bezahlung, legte die Reisenotwendigkeiten, mit denen er belastet war, an die Erde, stellte daneben die beiden Käfige mit dem Hahn und dem Paradiesvogel, von welchen ihre Besitzer sich auch jetzt nicht hatten trennen wollen, und lief aufs eiligste den Holzhauern nach.

Jonathan sparte kein Zureden, um den bestürzten Professor wieder zu ermutigen und in Bewegung zu bringen; Karoline schien ohnedies unter allen Umständen zur Fortsetzung der Reise entschlossen. Der erstere belud seinen Rücken mit dem, was der Führer abgeworfen hatte; Karoline nahm ihren Hahn, der Professor endlich auch seinen Paradiesvogel, und so traten sie ihren Marsch von neuem an.

Der Wolkenvorhang rollte indes immer tiefer an dem Gebirge herab. Ein fernes Rauschen und Brausen ließ sich vernehmen, das fortwährend näher kam; der Wind, der ihnen frisch entgegenblies, ward zum Sturm; sie hörten das Krachen der Bäume, die er niederwarf, und mußten hinter einem Felsen Schutz suchen vor seiner Wut.

Plötzlich sahen sie sich rings von einem dichten Nebel umgeben. »Nun sind wir mitten in den Wolken!« rief Jonathan lachend. »Wer weiß, ob euer Pegasus euch je so hoch getragen hat, Herr Professor!« – Er kletterte lustig den Felsen hinauf; sie sahen durch den Nebel die schwankenden Umrisse seiner Gestalt in Riesengröße auf der Spitze stehen, und es schien ihnen, als raffte er mit den langen Armen den vorüberziehenden Nebel in ungeheure Bälle zusammen, die er jauchzend den Abhang hinunterschleuderte.

Währenddessen war es um sie her ganz ruhig und still geworden; Jonathan trieb herabsteigend zum Weitergehen. Die Wolken, in denen sie fortschritten, wurden aber bald so dicht, daß man kaum zwei Schritte weit vor sich sehen konnte; sie mußten einander öfters zurufen, um sich nicht zu verlieren. Karoline fühlte sich ermüdet und wünschte ein paar Stunden zu ruhen. Jonathan tröstete sie mit der Versicherung, daß eine von den einzeln im Gebirge zerstreuten Wohnungen in der Nähe sein müsse. Wirklich hörten sie eine Weile nachher das Läuten der Kuhglocken, bald sogar das Bellen eines Hundes und steuerten frischen Mutes darauf zu. Allein so wacker sie auch schritten, der willkommene Schall wollte nicht näher kommen, sondern schien vielmehr, bald rechts, bald links ertönend, immer in gleicher Entfernung vor ihnen herzuziehen. »Werden wir bald da sein?« fragte die Professorin oft. »Bald, bald!« tröstete Jonathan, wobei er allzeit heimlich vor sich hin lachte.

So waren sie bereits ein paar Stunden bergauf und bergab gestiegen; vor ihnen war es ganz still geworden; kein Laut des Lebens ließ sich spüren, keine menschliche Wohnung zeigte sich. Indes bemerkten sie, daß der Nebel mit beschleunigter Geschwindigkeit an ihnen vorüber abwärts trieb; es ward heller um sie her, und nach einer Viertelstunde waren sie gänzlich außer den Wolken. Über ihnen wölbte sich rein und heiter der blaue Himmel; zu ihren Füßen aber ruhte weithingedehnt das Gewölk, wie ein im krausen Wellenschlag erstarrtes Meer. Die Sonne, die schon tief im Westen stand, strömte ihr rotes Gold über die weiße Fläche, einzelne Bergspitzen ragten wie Inseln daraus hervor.

Jonathan erkletterte, einem Eichhörnchen gleich, den Wipfel einer Tanne, sah sich um und kehrte mit der Nachricht zurück, daß er sich verirrt habe und eigentlich nicht wisse, wo sie sich befänden. Dabei wollte er sich ausschütten vor Lachen über die Vorwürfe, in welche der Professor ausbrach, und über dessen Ängstlichkeit, sprang wie ein Besessener im Kreise umher, ja als Karoline endlich auch zürnend fragte: was denn nun aus ihnen werden solle in dieser Einöde? da nahm er in seiner tollen Lustigkeit plötzlich den Kopf zwischen die Beine und kollerte so den steilen Abhang einer Felsschlucht hinab, an welcher sie eben standen. Karoline schrie laut auf vor Entsetzen. Der Professor faßte erbleichend die Hand seiner Frau und bat, sie möchte doch lieber auf der Stelle mit ihm umkehren, als sich länger der Führung dieses aberwitzigen Kobolds überlassen. Indem aber stand dieser auch schon lachend wieder bei ihnen, kniete vor Karolinen nieder und beschwor sie, nicht zu zürnen: er könne nun einmal heut seinem Hang zum Necken nicht widerstehen; doch wolle er sich jetzt bestreben, vernünftig zu sein wie ein Professor und sie ohne weitern Aufenthalt an das Ziel ihrer Reise führen. Damit setzte er sich hin, öffnete den Speisekorb und ersuchte, gleichfalls zuzulangen, um sich zur Fortsetzung der Reise zu stärken: der Weg in die Felsschlucht hinab, der ihnen jetzt bevorstehe, sei ein wenig ermüdend, wofern sie nicht Lust hätten, denselben auf die schnelle und bequeme Art zurückzulegen, die er ihnen eben gezeigt.

Als die Professorin an den Abhang trat, bebte sie zurück vor der jähen Tiefe. Jonathan sprach ihr Mut ein. »Verlaßt euch nur ganz auf mich!« sprach er, ihr seine Hand reichend. »Es sind nun wohl schon über 320 Jahr' her – es war grade an dem Tage, da Doktor Luther zu Eisleben geboren ward –, seitdem ist es mir nicht wieder begegnet zu straucheln, ob ich gleich seit der Zeit merklich schwächer auf den Beinen geworden bin.«

Er führte Karolinen schnell und sicher, und sie hatten bereits das Ende des Abhangs erreicht, als sie zurückblickend noch an seinem Anfang den Professor ängstlich herumrutschen sahen. Jonathan kehrte um und holte auch ihn herab.

Indes brach die Dämmerung mächtig ein. Der Weg war rauh und ungewiß. Jonathan zog eine große papierne Laterne hervor. »Ich habe gute Freunde hier in der Nähe«, sprach er, »die uns mit Feuer aushelfen werden.« Als sie um eine Felsenecke bogen, zeigten sich ihnen seitab in einem Winkel einige Irrlichter. Jener pfiff auf dem Finger, und sogleich kam, gehorsam wie ein Hündlein, eins derselben herübergehüpft, an welchem er sein Licht ansteckte. Dem Professor lief es kalt über den Rücken. »Meinen schönen Gruß, Züngelchen, an den Herrn Vater und die Frau Mutter!« rief Jonathan. »Stehe bei Gelegenheit wieder zu Diensten.« Der Irrwisch hüpfte zurück, und sie schritten weiter.

Die hohen Felsen, welche sie nahe zu beiden Seiten des Weges begleitet hatten, fingen jetzt an auseinanderzulaufen; der Pfad hob sich allmählich wieder, und mit einem Male stand der Mond wie ein leuchtendes Panier über der Zinne der Felsen zur linken Hand.

»Nun wäre mein Licht überflüssig!« sagte Jonathan. »Allein ich finde es spaßhaft, mit der papierenen Laterne dem Monde zu leuchten, und mich dünkt, es ist dies ein treffendes Bild eurer modernen Aufklärung.«

Als sie so über die gewölbte Fläche des Berghangs hingingen, aus welcher hier und da, weißglänzend im Mondenlicht, die alten Stamm- und Wurzelreste gefällter Bäume wie gebleichte Riesengebeine hervorrageten, fiel dem Professor die Sage von den Gräbern der Riesen ein, und mit halblauter Stimme erinnerte er auch seine Frau daran.

»Hm«, sagte Jonathan ernst, »ist denn nicht die ganze Erde ein ungeheures Grab? Stehen wir denn nicht überall auf dem Staube von tausend untergegangenen Pflanzen-, Tier- und Menschengeschlechtern, unter welchen der Riesenkörper der alten Zeit begraben liegt?«

In diesem Augenblick ließ sich unter ihren Füßen ein dumpfes Rauschen und Rollen vernehmen. Jonathan blieb stehen und horchte auf. »Wir sind zur Stelle!« rief er. »Der Schoß der Erde öffnet sich. Meine Hand kann euch nicht zurückhalten, denn euch treibt eine mächtigere. Fahret wohl!« – Ihnen gegenüber zeigte sich ein Licht; es schien ihnen schnell entgegenzukommen. Jonathan löschte seine Laterne aus, und plötzlich stand vor ihnen ein kleiner Mann in Bergknappentracht, das rotflackernde Grubenlicht an der Mütze, in der Hand einen schweren Fäustel tragend. Karoline erkannte sogleich den Doktor Schachtheimer. »Weh, weh!« schrie Jonathan mit entsetzlicher Stimme. »Wahre deine drei Blumen wohl, Frau, sonst seid ihr verloren!« Der Doktor hob den Hammer drohend gegen ihn, da loderte er in einer blauen Feuergarbe hoch empor, schoß mit Blitzesschnelligkeit durch die Felsschlucht hinab, und sie hörten noch lange seinen gräßlichen Weheruf, den der Widerhall hundertstimmig nachrief; so wie er aber das weißglänzende Wolkenmeer tief unter ihnen erreicht hatte, tauchte er hinein. Ein prasselnder Donnerschlag erschütterte den Boden; in der Wolkenmasse fing es an zu gären und zu toben, hohe Wogen bäumten sich empor und stießen krachend aneinander, rote Blitze zischten nach ihnen herauf, der Sturm heulte durch die Klüfte, von den Bergen herab stürzten ungeheure Felstrümmer. »Unmächtiger Zorn!« rief der Doktor, faßte Karolinens Hand und führte sie seitwärts nach dem weitklaffenden Eingang einer Höhle, die sie nun erst bemerkten. Ein hohes Portal von Basaltsäulen baute sich drüber in die Höhe. »Basalt mitten im Granit!« sprach der Professor, dem trotz seiner Furcht die mineralische Merkwürdigkeit nicht entging, kopfschüttelnd und mit klappernden Zähnen für sich hin.

Der Doktor führte sie im Innern der Höhle weiter und begann: »Ihr befandet euch in schlechter Gesellschaft; denn dieser Jonathan war niemand anders als der närrische Kobold, welcher hier im Gebirge als Werwolf, als Alp, und sonst unter tausend andern Gestalten sein albernes Wesen treibt. Ich sah ihm zu, in jener Nacht im Walde, als er aus einem Feuermanne und einigen andern Ingredienzen seine letzte Gestalt zusammenknetete, um euch zu necken. Da der Wagen eben vorüberfuhr, kamen eure poetischen Ausdünstungen, Herr Professor, mit unter den Teig, und dies mag wohl schuld sein an der großen Ähnlichkeit mit Euch.«

Der Professor sowohl als seine Frau waren noch bis jetzt nicht recht zur Besinnung gekommen und folgten dem Doktor nur maschinenmäßig. Doch endlich blieb Karoline stehen und fragte: »Aber wohin führen Sie uns, Doktor? Das muß ich wissen, ehe ich weitergehe!« – »Nun, ich meinte«, erwiderte dieser gelassen, »es wäre Euch drum zu tun, etwas von Eurem Kinde zu erfahren.« Karoline rief: »Wenn das ist, dann weiter in Gottes Namen!« Der Doktor schnitt eine seltsame Fratze bei diesen Worten, wandte sich und murmelte etwas vor sich hin. Dem Professor klang's, als spräche er: »Die alte Erde ist sich selber Gott! Wir brauchen keinen andern.« Da kam er sich auf einmal erst recht verlassen vor in dieser unterirdischen Einöde, und wie ein vom Zufall hingeworfener Ball, und es war ihm, als würde sein Innerstes starr wie die Felsen um ihn her. Der Doktor aber schien ihn zu erraten und auf andre Gedanken führen zu wollen, kehrte sich um und sprach: »Wie froh bin ich, daß Ihr kein Finanzminister oder sonst ein Kameralist seid: die schöne Ruhe und Stille hienieden möchten sonst am längsten gedauert haben. Wir befinden uns hier in einer mächtigen Gneisschicht, durch welche überall und in allen Richtungen die reichsten Gänge setzen. Seht hier, und hier, und da – –!«

Er strich bei diesen Worten mit ausgebreiteten Fingern langsam über die Felsenwände hin, und überall, wo er sie berührte, fingen sie an in rotem, grünem und weißem Lichte zu erglänzen, und das bunte Feuer zündete in verschiedenen Richtungen weiter und bildete leuchtende Adern, die mit wunderbarer Pracht das dunkle Gestein durchzogen. »Ihr seht«, rief der Doktor lächelnd, »ich verstehe mich auch ein wenig aufs Magnetisieren.«

Immer schneller abwärts ging es nun bei dem Schein dieser bunten Erleuchtung, und immer geräumiger ward es um sie her.

Kaum vermochte der Blick die Höhe des Gewölbes über ihnen zu erreichen. Der Paradiesvogel hatte sich seit dem Eintritt in die Höhle schon sehr unruhig bezeigt, jetzt war's als ob die seltsamen Lichter, die aus den Felsen strömten, ihn ganz wild und toll machten. Der Professor blieb stehen und öffnete den Käfig, den Vogel zu besänftigen: da ersah sich dieser die Gelegenheit, schlüpfte aus der Türe und flog lustig flatternd davon. Der Professor schrie laut auf, warf den Käfig an die Erde, und alles andre vergessend, setzte er in großer Eil' dem Flüchtling nach. Der Vogel ließ sich von Zeit zu Zeit auf eine vorragende Klippe nieder, ihn erwartend; doch sobald jener nahe genug kam, um ihn greifen zu können, entschwang er sich allzeit von neuem seinen Händen. So trieben sie es eine Weile. Endlich fiel dem Professor ein, sich nach seinen Gefährten umzusehen: mit Entsetzen bemerkte er, daß es hinter ihm ganz finster geworden war. Nur vorwärts dämmerten noch die bunten Felsenadern an den Wänden hin. Eine unaussprechliche Angst überkam ihn, da er sich auf einmal so allein und verlassen sah, er wollte rufen und doch wagte er es nicht, denn ihm war, als müßte er, statt seiner Stimme, irgendeinen andern gräßlichen Laut vernehmen. Rings um ihn war Totenstille; er hörte nichts als das bange Klopfen seines Herzens. So stand er, und durch seine Glieder schlich ein allmähliches dumpfes Erstarren. Der Paradiesvogel schwebte in weiten Kreisen über seinem Haupte, flog dann wieder eine Strecke vorwärts und kehrte von neuem zurück, als wollte er ihn auffordern ihm weiter zu folgen. Und indem er so hin und wider flog, löste sich eine Feder aus seinem Fittich und sank herab, und als sie den Boden berührte, da ertönte der Felsen in einem wunderbar lieblichen Dreiklang, welcher durch die weiten Hallen zitterte. Mit diesem Tone kehrte neues Leben in des Professors Brust zurück, er ermannte sich und faßte den Entschluß, sich der Führung seines Paradiesvogels zu überlassen.

Indes war Karoline ihrem Führer gleichfalls weiter gefolgt. Als sie den Professor in einem Seitengange verschwinden sah, ward sie zwar besorgt, rief ihn bei Namen und wollte ihm nacheilen ; allein der Doktor versicherte, jener Gang stoße nach einem ganz kurzen Umwege wieder mit dem ihrigen zusammen, und dort würden sie ohne Zweifel den Verlornen wiederfinden, der es nicht wagen werde, allein weiter vorwärts zu gehen.

»Und wenn wir ihn nicht wiederfänden?« setzte er nach einer Weile lächelnd hinzu: »würde Euer Kummer denn so groß, würde Euer Verlust nicht zu ersetzen sein? Ihr paßt ja doch nicht füreinander und vertragt Euch nimmer.«

Karoline sah ihn mit Erstaunen an, denn seine ganze Gestalt wuchs höher bei diesen Worten, die Bergmannsmütze war verschwunden: ein Reif von blitzenden Steinen wand sich um seine Stirn; seine Augen funkelten. »Alle Schätze dieses unterirdischen Reichs liegen zu deinen Füßen!« fuhr er fort, ihr die Hand entgegenstreckend. »Wirf diese Blumen weg, die du am Busen trägst, und reiche mir die Hand, so sind sie dein.« Sie standen, indem er dies sagte, an dem Rande eines Felsenabsturzes. Karoline sah hinunter und erblickte ihren Mann, der nah an einem dunkeln Abgrunde hin, mit eilenden Schritten einer vor ihm her schwebenden weiblichen Gestalt folgte. »Du siehst, er hat dich bald vergessen!« rief der Doktor. »Sprich nur ein Wort; und er verschwindet für immer in jenem Abgrund, und du bist frei und Königin dieser Reiche.« Karoline schauderte zurück. »Dort in dem Abgrund«, begann er von neuem, »dort liegt auch dein Theodor. Die Zigeunerin raubte ihn dir, und Kräuter suchend auf dem Gebirge fiel der Knabe in einen Felsenspalt und hier herab. Dort liegt er nun und schläft den ewigen Schlaf. In meiner Macht liegt es, ihn zu erwecken. Stürzt jener hinab, so steigt dieser lebend herauf in deine Arme. Sprich!« – Karoline verhüllte bebend ihr Gesicht. »Mein Kind, mein Kind!« rief sie. »So werd' ich denn nur jenseits erst dich wiedersehen!« Ihr Begleiter lachte laut auf: »Jenseits! Jenseits! Eitler Wahn!« Er ergriff einen Stein und schleuderte ihn hinab in den Abgrund; eine graue Staubwolke wirbelte daraus empor. »Sieh da«, sprach er, »das sind die Überreste eines ganzen untergegangenen, bessern Menschengeschlechts, das dort unten moderte; Staub! Staub alle die Wünsche, Staub alle Sehnsucht, Liebe und Hoffnung dieser tausend und aber tausend nun zerfallenen Herzen, und ihr stolzes Jenseits schlang die Erde in ihren finstern Schoß! – Wirf deine drei Blumen dort hinab, den Staub zu dem Staube, und reich mir deine Hand!« Karoline aber stieß ihn, als er sie ergreifen wollte, mit Abscheu zurück, faßte die Blumen und hielt sie hoch empor: da schwand der Versucher plötzlich aus ihren Augen, sie sah sich allein und stieg mutig den Abhang hinunter, ihrem Manne zu folgen, den sie noch immer in weiter Ferne der voranschwebenden Gestalt nacheilen sah.

Diese Gestalt aber, welche der Professor mit solcher Hast verfolgte, war keiner andern als der Sängerin, der herrlichen Jungfrau im Walde, die auf einmal an die Stelle seines verschwundenen Paradiesvogels getreten war. Freundlich winkend schwebte das Trugbild vorauf und zog ihn mit aller Kraft des glühendsten Verlangens unwiderstehlich nach. Und wie er nun so aufwärts und abwärts dahinrannte, hörte er es hinter sich drein rauschen, und vernahm ein Gekrächze wie von Raben. Er blickte empor: eine Schar Vögel zog über ihm hin. Er bemerkte aber, als er genau zusah, daß es eigentlich keine Vögel waren, sondern Menschenköpfe, an welchen statt der Ohren große Rabenflügel saßen. Sie schrien und krächzten alle durcheinander, und einige, die ihm nahe kamen, riefen ihm zu: »Komm mit, wenn du auch unsterblich sein willst!« – Und wieder rauschte und trappelte es hinter ihm her, und ein Trupp mißgestalteter Zwerge zog an ihm vorbei und rief ihm gleichfalls zu: »Komm mit, komm mit, zur Unsterblichkeit!« – Er sah, daß einige auf Esel-, andere auf Hundegerippen einhertrabten, andere wieder sprengten auf stattlichen Greifen vorüber; alle aber trieben ein so entsetzliches Geschrei und Geschnatter unter sich, daß er ganz betäubt wurde. Da sie sämtlich der Jungfrau nachzogen, so hielt er sich die Ohren zu und folgte ihnen so schnell er vermochte.

So gelangten sie auf einen weiten, ebenen Platz, wo schon eine noch größere Gesellschaft ihrer zu warten schien. Im buntesten Gewirr drehte sich hier alles umher. Es war hell wie am Tage, und diese treffliche Erleuchtung ging von einer zahllosen Menge seltsamer, feuriger Tiergestalten aus, die teils an der Decke und an den Wänden in der schnellsten Bewegung durcheinanderschlängelten, teils sich unter den tollen Knäuel der übrigen Gesellschaft mischend das sinneverwirrende Getöse und Geschrei durch ihre Stimmen noch vermehrten. »Wir sind die Lichter!« quäkten die einen. »Wir sind die Dichter!« schnarrten die andern. »Wir sind Flammen!« schrien jene. »Wir reimen's zusammen!« jauchzten diese. Und so ging die rasende Litanei immer lauter und schneller fort ins Unendliche. Die Wut zu reimen steckte alles an, der verwegenste Unsinn schwirrte dem Professor um den Kopf, daß er fürchtete, verrückt zu werden. Er sah in der Mitte des Raumes das Bild der Jungfrau emporragen und wollte sich Platz machen durch das Gedränge; da trat einer von den Zwergen an ihn heran, in einer Hand trug er eine Schlange, in der andern einen ungeheuern Frosch, und sprach: »Steht mir doch bei, lieber Herr, und gebt mir einen guten Rat, wie ich diese beiden widerspenstigen Bestien zusammenreimen soll!« Und ein zweiter sprang herbei und rief: »Possen! Ich will Euch das ganze Geheimnis zeigen.« Er hatte in jeder Hand ein Häufchen Erde, und aus diesen Häufchen sproßten zwei Blumenstengel empor, an ihrer Spitze zwei bunte Blumen hervortreibend, wovon die eine mit sehr großen Staubfäden, die andere mit einem gleichen Pistill versehen war: die Blumen neigten sich gegeneinander, und in dem Augenblick ihrer Begattung entstand ein lieblicher Klang. »Da habt Ihr den Reim!« sprach der Zwerg. »Was wollt Ihr mehr?« Der Professor drängte sich weiter durch. Einer von den Greifenrittern sprengte ihn an und sagte: »Wie? Ihr wagt es, Euch der Herrin zu nahen, und seid nicht frei? Glaubt Ihr, wir wissen es hier unten nicht, daß Ihr an einen Vers gebunden seid, mit dem Ihr Euch im Leben nicht reimen werdet? Ich rate Euch, macht Euch los von ihm, sonst ist's um all Eure Poesie geschehen und um die Unsterblichkeit obendrein.« Dem Professor fing es an zu schwindeln, und er eilte, sich von dem Ritter loszumachen.

Da stand endlich das herrliche Frauenbild vor ihm, nach welchem sein innerstes Wesen sich sehnte; er lief darauf zu und breitete in heißem Verlangen seine Arme nach ihm, es zu umfassen. Als er aber ganz nahe kam und seine Augen zu ihm erhob, sah er, daß es nicht die milden Züge der Jungfrau waren, sondern ganz andre, fremde, vor denen er sich entsetzte und zurückbebte. Da streckte die Gestalt ihre Hand aus und berührte seine Stirn, und das Haar auf seinem Haupte ward zur Flamme, die hoch emporloderte. Ein wildes Jauchzen erhob sich; vor seinen Blicken begann alles sich im Kreise zu drehen; die ganze Versammlung sprang und tanzte mit den ausgelassensten Gebärden singend und jauchzend um ihn her; er fühlte sich wider Willen mit hingerissen in den tollen Wirbel und sprang und sang und reimte Unsinn zusammen wie die übrigen. Der Greifenritter machte sich wieder an ihn: »Sieh«, rief er, »da kommt dein hinkender Vers! Streich ihn aus: hier ist die Feder!« Er reichte ihm mit diesen Worten einen blitzenden Dolch hin; der Professor faßte ihn, wandte sich um und erblickte seine Frau. Sie schien ihn zu suchen. Auf ihrer Schulter saß der verhaßte Hahn. In seinem rasenden Wahnwitz sprang er auf sie zu. Karoline aber – denn sie war es wirklich – als sie ihren Mann mit brennendem Kopfe daherstürzen sah, lief ihm entgegen, griff mutig und entschlossen in die Flammen und drückte sie aus. Erst als sie es getan hatte, ward sie gewahr, daß sie die Handschuhe von Asbest, das Geschenk des Doktors, zufällig an den Händen trug.

Der Professor sank, zur Besinnung kommend, reuevoll vor ihr nieder; doch sie hob ihn schnell empor. »Weiter, weiter« rief sie, »es ist keine Zeit zu verlieren!« und zog ihn mit sich fort durch die wogende Menge. Noch lange hörte sie ihr Geschrei und Gelächter hinter sich drein erschallen.

Allmählich aber ward es still und einsam um sie her. Nur einzelne belebte Feuerklumpen streiften hoch über ihnen an dem Gewölbe hin, und der Professor dankte Gott in seinem Herzen, also aus der Gewalt der abscheulichen Larven erlöst zu sein.

Als sie eine kurze Strecke gewandert waren, gelangten sie an einen großen See, und indem sie an seinem Ufer, einen Ausweg suchend, hingingen, zeigte sich ihnen bald noch ein zweiter von noch größerm Umfang. Jener war weiß und klar, dieser blutrot von Farbe. Ein breiter Damm trennte beide. Und als sie so davor weilten, unschlüssig, ob sie über den Damm hinweg ihren Weg fortsetzen sollten, fuhr ein scharfer Windstoß über die Fläche des weißen Sees, der alsbald anfing zu sieden und zu schäumen und sich in spitzen Wellen erhob; und aus den Wellen drangen klagende Stimmen, die riefen: »Vergelte! Vergelte!«

Darauf fuhr der Wind auch über den roten See und regte ihn auf, und die roten Wellen riefen: »Räche, räche!« – Sie standen, und heftiges Grausen wandelte sie an vor diesen herzzerschneidenden Stimmen.

»Habt ihr das Rufen noch nicht satt?« sprach plötzlich jemand hinter ihnen, und sich umsehend, erkannten sie den Doktor Schachtheimer, der in seiner gewöhnlichen Gestalt, in dem erdfarbenen Kleide mit den goldnen Knöpfen bei ihnen stand.

»In jenem See«, fuhr er fort, »seht ihr die Tränen aller schuldlosen Dulder auf der Erde. Sie fordern nun ihren Lohn. In diesem hier schäumt alles ungerecht vergossene Blut, das Blut der Ermordeten, das Blut der Millionen, welche die Eroberer geschlachtet. Und seit vielen hundert und tausend Jahren rufen nun jene ihr: Vergelte! und dieses sein: Räche, räche! hinauf in den Himmel, aber vergebens, denn dort oben ist kein Ohr, das ihren Ruf vernimmt.«

Karolinens Herz erbebte bei diesen Worten; Entsetzen rieselte kalt durch ihre Adern, sie wollte fliehen und fühlte sich wie festgewurzelt an den entsetzlichen Fleck, wo sie standen. Und hinter ihnen erhob sich ein verworrenes Getöse; Geschrei und Jauchzen ließ sich hören; es rauschte, zischte, rasselte und klapperte immer näher herbei, und auf einmal sahen sie sich von neuem mitten unter der abscheulichen Versammlung, welcher sie vor kurzem erst entronnen waren. In höchster Angst ergriff der Professor die Hand seiner Frau und zog sie mit Gewalt auf dem Wege über den Damm mit sich fort. Allein die Höllenbrut folgte ihnen auf dem Fuße; das feurige Gewürm, Schlangen. Salamander, Molche und Drachen stürzten sich in den Tränen- und Blutsee, daß die Wogen zischend und prasselnd emporspritzten, und kamen schwimmend mit ihnen zu gleicher Zeit auf die andre Seite. Überall, wohin sie sich wandten, traten die scheußlichen Larven in ihren Weg. »Wie reimt sich das? Nun reim uns das! Wir reimen's nicht zusammen!« so schallte es ihnen im Chor von allen Seiten entgegen; ein gräßliches Hohngelächter folgte hinterdrein. Karolinen vergingen die Sinne; sie vergaß des schützenden Blumenstraußes an ihrer Brust; ihre Hand hatte auch die Kraft nicht mehr, sich zu erheben und ihn zu fassen. Sie fühlte sich schaudernd dem Wahnsinn nahe; der Professor sah in Todesangst den Augenblick kommen, wo das wütende Heer ihn wieder mit sich fortreißen würde in den Strudel seines rasenden Treibens. Da richtete der Hahn auf Karolinens Schulter sich in die Höhe, schlug mit den Flügeln und krähte dreimal mit lauter Stimme. Ein Donnerschlag krachte durch die Gewölbe. Im Nu war das ganze Gewirr um sie her zerstoben und verschwunden. Sie standen beide allein nebeneinander in tiefster Nacht.

»Gib mir deine Hand, Karoline«, sagte der Professor nach einer langen Pause, »wenigstens wollen wir miteinander sterben.« Karoline aber, die in dieser Stille schnell Besinnung und Entschlossenheit wiedergefunden hatte, faßte ihre drei Blumen und hielt sie in der Hand empor. Aus jedem Blumenkelch brach ein lichter Schimmer durch die Nacht. Sie sahen sich um. Der weiße und rote See hinter ihnen war verschwunden; vor ihnen öffnete sich ein weites Felsentor.

Sie schritten hindurch: ein geräumiger Gang empfing sie, weiter in die Tiefe führend. Kein Laut regte sich als der Widerhall ihrer Tritte. Schweigend setzten sie ihren Weg fort, und obgleich, wie rasch sie auch schritten, der lange Gang gar kein Ende nehmen wollte, spürten sie doch nicht die geringste Ermüdung; ihre Kräfte schienen vielmehr mit jedem Schritte zuzunehmen. Ein leises Lüftchen, das von Zeit zu Zeit balsamische Düfte auf seinen Fittichen tragend, ihnen entgegenhauchte, erquickte sie wunderbar und belebte ihre Brust geheimnisvoll mit dem süßen Schauer einer freudigen Erwartung.

Endlich erweiterte sich der Gang; es begann heller zu werden vor ihnen, und indem der Weg eine kleine Beugung machte, standen sie mit einemmal an dem Eingang eines ungeheuern Doms. Eine breite Treppe führte wohl mehr als hundert Stufen hinab, und aus dem Grunde herauf strebten, von den mächtigsten Felsblöcken übereinandergetürmt, rings an den Wänden zahllose Riesenpfeiler in die Höhe, auf denen die unabsehliche Wölbung ruhte. Ein sanftes Dämmerlicht, aus dem Gestein hervorströmend, erfüllte den Raum. In der Mitte des letzteren schien sich, so weit ihr Auge reichte, ein langhingedehnter Hügel zu erheben; schimmernde Farben bedeckten ihn, und vor ihnen, nicht weit von dem Ende der Treppe, lief er in zwei dicht nebeneinander hoch emporragende Felsenstücke aus. Mit klopfenden Herzen stiegen sie hinab. Und als sie den Boden erreicht hatten, wurden sie inne, daß der Hügel nichts anders sei, als eine liegende Menschengestalt von ungeheuerer Größe, in kostbare bunte Teppiche und Gewänder eingehüllt, und was sie für zwei hohe Felsstücke gehalten, das waren die emporragenden Füße derselben. Da merkten sie nun wohl, daß sie wirklich in dem Grabe des alten Königs sich befanden: eine frohe Ahnung hob ihre Brust und wehrte dem Grauen, welches sie bei dem Anblick des Riesenkörpers ergreifen wollte.

Sie wurden gewahr, daß hier und da aus den Klüften des Gesteins lichte Nebel quollen, welche dann die mannigfaltigsten und seltsamsten Formen annahmen, ja zuweilen sich in menschliche Bildungen gestalteten, die mit bedeutender Gebärde den Finger an den Mund legend an ihnen vorüberstreiften; doch ließen sie sich dadurch nicht irren, sondern schweigend zwar, aber rasch und mutig, drangen sie immer weiter vor.

Da kamen sie an eine Stelle, wo große Haufen Gold und Silber aufgeschichtet lagen, und mitten darunter saß auf einem hohen steinernen Sessel eine Figur, die einen mächtig großen Fliegenwedel hin und her bewegte, damit einen Schwarm geflügelter Menschenköpfe, wie sie deren früher schon gesehen, von den Goldhaufen hinwegscheuchend. Die wunderlichen Vögel schienen durch eine Öffnung oben in dem Dome herabzukommen, und manche Gesichter darunter dünkten ihnen recht bekannt. Und als sie näher traten, sahen sie mit Erstaunen, daß die Figur auf dem hohen Sessel niemand anders war, als der Kammerrat.

Er schien sie gleichfalls zu erkennen: sein Gesicht verzerrte sich ganz jämmerlich, Tränen rollten ihm über die Backen, die Lippen bewegten sich schnell, als ob er spräche, aber sie vernahmen keinen Laut. Dabei fuhr sein Arm mit dem Fliegenwedel immerfort perpendikelartig hin und wider. Sie machten ihm Zeichen, herabzusteigen, allein er schüttelte traurig mit dem Kopfe, und seine Tränen flossen von neuem. Da sie nun kein Mittel sahen, ihn zu befreien, so mußten sie ihn wenigstens vor der Hand seinem Schicksal überlassen und konnten nichts als ihn schmerzlich bedauern, obgleich sie wohl ahnten, daß es eine gerechte Strafe seiner Habsucht sei.

Sie hatten nun das ungeheuere Gewölbe in gerader Richtung durchschritten: das gegenseitige Ende zeigte sich nahe vor ihnen. Ihre Blicke richteten sich wieder auf die liegende Riesengestalt. Sie unterschieden die auf der hohen Brust gefalteten Hände; wie ein Staubbach, der über Felsen stürzt, floß der Bart in weißen Wellen an den mächtigen Schultern nieder, und dahinter sahen sie endlich das gewaltige Haupt, die Augen geschlossen, die königliche Binde um die Stirn, auf reichen Polstern ruhen. Mit ehrfurchtsvollem Schauer standen sie von fern und betrachteten das ernste Gesicht, welches selbst in dem starren Schlummer von überirdischer Hoheit strahlte.

So war denn nun in der Tat erreicht, was sie so lange kaum zu hoffen, so lag denn in frischer Wirklichkeit vor ihnen, woran sie kaum wie an die Verheißung eines herrlichen Traums zu glauben gewagt hatten! Sie zweifelten nun nicht länger, daß auch das übrige in Erfüllung gehn, und hier ihnen Nachricht werden würde von ihrem verlornen Kinde. Und indem Karoline sich nun wandte und forschend umhersah, woher diese Kunde ihnen kommen möchte, da erblickten sie nicht weit davon zwischen zwei Pfeilern ein Ruhebett, von zwei steinernen Sphinxen getragen, auf welchem ausgestreckt die Gestalt eines Knaben lag. Zitternd vor Freude und vor ängstlicher Erwartung, mit ungestüm klopfendem Herzen, faßte sie ihres Mannes Hand und zog ihn mit sich fort. Und als sie näher kamen, und als sie dem Knaben ins Gesicht schauten, siehe! da erkannten sie die geliebten Züge ihres Theodor!

Aber das Gesicht war bleich und starr, die Augen waren geschlossen. Laut weinend sank Karoline auf ihre Knie und streckte die Arme nach ihm aus. In der bangen Ungewißheit, ob er schlummere, oder ob er wirklich tot sei, wagte keins von ihnen den Knaben anzufassen, denn sie fürchteten die teure Gestalt vielleicht in Staub zerfallen zu sehen bei der Berührung.

Rat und Hülfe suchend, in höchster Angst, sendete Karoline ihre Blicke umher, und sie ward gewahr, daß jeder der steinernen Sphinxe einen goldnen Ring im Munde trug: wie ein Lichtstrahl fiel der Gedanke in ihre Seele, die Kraft dieser Ringe zu erproben. Sie sprang auf, ergriff einen derselben und berührte mit dem darin gefaßten roten Steine leise die Stirn des Knaben. Da hob sich seine Brust, eine schwache Röte, ein Morgenrot der höchsten Seligkeit für Karolinen, erblühte auf den blassen Wangen, er schlug die Augen empor, schaute um sich und lispelte: »Mutter, liebe Mutter, bist du da?«

Im Übermaß der Wonne warf sich Karoline von neuem vor dem Bett nieder und bedeckte des Knaben Hände und sein Gesicht mit Tränen und heißen Küssen.

»Seltsame Dinge habe ich geträumt!« fuhr dieser ganz leise fort. »Ich glaubte fern, fern von euch zu sein, und siehe! Da bist du, und da ist der Vater auch!« – Der Professor nahm ihn in seine Arme, hob ihn empor und drückte ihn an seine hochklopfende Brust. Dann aber schnell, als fürchte er ihn abermals zu verlieren, winkte er seiner Frau, und sie traten miteinander den Rückweg an, ohne sich weiter nach den kostbaren Gerätschaften, nach den Pergamentrollen und nach den Schätzen umzusehen, die rings zwischen den Pfeilern aufgestellt schimmerten: denn den kostbarsten Schatz trugen sie ja als ihre Beute mit sich davon!

Als sie an die Stelle kamen, wo der Kammerrat auf seinem steinernen Stuhle saß, fiel es Karolinen ein, auch hier die Wirkung des Ringes zu versuchen, den sie noch in der Hand trug. Sie strich damit über den Stein hin: der Kammerrat warf freudig den großen Fliegenwedel weg, kletterte von dem Sessel herab und vereinigte sich mit ihnen. Er wollte sogleich anfangen zu sprechen und zu erzählen, allein Karoline drückte ihm die Finger auf den Mund und zog ihn hinter sich drein.

So stiegen sie die breite Treppe hinauf, legten den Gang zurück und schritten durch die weiten Hallen. Der Professor trug seinen Knaben; Karoline ging, die eine Hand des Kindes in der ihrigen haltend, nebenher; der Kammerrat folgte. Finster, öde und stille war es überall; mit großen Pausen nur grollte tief unter ihnen ein dumpfer Donner. Der Schimmer der drei Blumen erleuchtete ihren Pfad.

Endlich nach langem Steigen bemerkten sie vor sich in der Höhe einen lichten Punkt, der immer größer ward: die Blumenkelche hörten auf zu leuchten, und sie sahen mit Bangigkeit einem neuen Abenteuer entgegen. Allein bald wurden sie mit Freuden gewahr, daß das Licht vor ihnen die Öffnung der Höhle war, durch welche der Tag hereinbrach. Ein leiser Wind hauchte durch das Gewölbe: fröhlich atmeten sie wieder die Luft der Oberwelt. Nur wenige Schritte noch, und sie standen oben im Freien und begrüßten mit Entzücken den blauen Morgenhimmel, und schlugen ihre Blicke dankend zu ihm auf.

Und da sie sich abwärts nach der bekannten Felsschlucht wandten, sahen sie auf einer Klippe, an welche die ersten Strahlen der Morgensonne schlugen, die Jungfrau stehen, anstatt der Harfe eine hohe Lilie in der Hand. Über ihrem Haupte kreiste der Paradiesvogel, im Sonnenglanz die wunderbare Pracht seines Gefieders entfaltend. Freudig streckte der Professor die Arme ihr entgegen. Jedes irdische Begehr aber nach der herrlichen Gestalt war aus seiner Brust gewichen; in reiner Begeisterung loderte sein Herz zu ihr empor, und wie eine milde Frühlingssonne stand sie fortan über seinem Leben, jede schöne Blüte desselben von ihr stammend und ihr geweiht.

Sie neigte freundlich den Lilienstengel gegen Karolinen und rief: »Bewahre deinen Ring, du hast ihn dir erworben!« – Aus der Felsschlucht wallten leichte Morgennebel an der Klippe hinauf, umhüllten sie und stiegen, eine goldne Wolke bildend, in die blauen Lüfte empor. Als der Felsen wieder im Sonnenlicht strahlte, war die Jungfrau verschwunden. Der Paradiesvogel aber kehrte zu dem Professor zurück und setzte sich vertraulich auf seine Schulter.

»Wenn sie nur wenigstens vorher noch für eine rechtschaffene Kollation gesorgt hätte!« seufzte der Kammerrat leise. Auch der Knabe fing an über Hunger und Durst zu klagen. Es war daher allen eine willkommene Erscheinung, als sie auf der Stelle, wo Jonathan sie gestern verließ, den Speisekorb mit den übrigen Sachen wiederfanden. Erquickt begann nun der Kammerrat zu erzählen von seinen Abenteuern: wie er, von dem verruchten Italiener, der ohne Zweifel der Böse selbst gewesen, durch manchen teuflischen Spuk hindurch in die Tiefe geführt und endlich von ihm verlassen, den ungeheuern Dom erreicht habe; wie ihm bei dem Anblick der unermeßlichen Schätze das Herz aufgegangen, als er aber zum Lohn für so viel Angst und Not sich nun die Taschen füllen wollen, unsichtbare Hände ihn ergriffen und auf den steinernen Sessel gebannt hätten, um die abscheulichen Larven fortzuwedeln. Besonders beklagte er sich bitterlich über eine derselben, die seinem, während eines Erbschaftsprozesses mit ihm verstorbenen Stiefbruder ganz ähnlich gesehen und ihm auf eine entsetzliche Weise zugesetzt habe.

Indem er nun noch so sprach, erhob sich ein heftiger Wirbelwind, der sie in eine Wolke von Staub und welken Blättern einhüllte und endlich einen dürren Baumzweig zu des Professors Füßen zurückließ. Karoline bemerkte einen daran gebundenen Zettel, hob ihn auf, und auf dem Zettel standen die Worte: "Jonathan seinem David!" Lächelnd über das seltsame Geschenk gingen sie weiter; allein immer schwerer ward es in Karolinens Händen, und als sie den Badeort am Fuße des Gebirges erreicht hatten, da sahen sie mit Erstaunen, wie der Zweig von gediegenem Golde war, und der Kammerrat wehklagte, daß er nicht für sich auch wenigstens eine Ladung von den dürren Blättern mitgenommen.

Schon der folgende Tag fand sie auf der Heimreise. Mit einer ganz andern Empfindung fuhr jetzt Karoline durch die reizenden Täler, und die mannigfach gestalteten Berge kamen ihr vor wie die Buchstaben einer unbekannten Schrift, in welcher die Natur eins ihrer schönsten Geheimnisse niedergelegt. – Dankbar und mit Wehmut blickten sie scheidend auf den blauen Gebirgszug von der Anhöhe zurück, wo er sich ihnen zuerst gezeigt; der Kammerrat jedoch konnte seine Freude nicht meistern, als sie sich wieder in der flachen Ebene befanden, und die Türme seiner Vaterstadt ersehend, schwur er hoch und teuer, dies sei seine letzte Gebirgsreise gewesen in diesem Leben, und auch in jenem, hoffe er, werde ihn der liebe Gott mit Bergen verschonen.

In dem Haushalt des Professors aber schlugen Friede, Freud' und Einigkeit von nun an ihre Wohnstatt auf; jeden Gegensatz, jeden Widerspruch zwischen ihm und seiner Frau glich die gemeinschaftliche Liebe zu ihrem Kinde aus: in ihr hatten die lange getrennten Herzen sich wiedergefunden. Sogar der Hahn und der Paradiesvogel vergaßen ihrer alten Feindschaft, wurden treue Gefährten und pickten friedlich nebeneinander ihre Körner aus einer Schüssel.

Der Kammerrat meinte, das alles gehe nicht mit natürlichen Dingen zu, sondern rühre von dem Zauberringe her, und er wolle nur wünschen, daß seine Kraft von langer Dauer sein möge. Und Karoline nickte freundlich mit dem Kopfe und sprach lächelnd: Amen!


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