Karl Wilhelm Salice Contessa
Haushahn und Paradiesvogel
Karl Wilhelm Salice Contessa

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Drittes Kapitel

»– – – So man nun immer weiter dem Fluß aufwärts entgegengeht, erhebt sich allgemach das Land umher in runden Hügeln und waldigen Bergen, die immer höher und höher heranwachsen, bis endlich einer mit seinem Gipfel alle andere überragt, wie ein König die Gaue umher beherrschend. Und will es unsereinem, der zeitlebens nichts gesehen als das flache Land und die weite See, gar wunderlich bedünken in diesem Gedränge, ja es wandelt einem im Anfang oft ein Bangen und ein Grausen an, man weiß nicht von wannen. Jedoch mag ich wohl sagen, wenn ich von einer Anhöhe auf die Berge hingeschaut, so sich grau in der Weite, grün in der Nähe zeigten, wozwischen die Wälder, Gründe und Täler, mit Sonnenschein und Schatten, blau, gelb und dunkelrot dahinliefen, ist es mir jedesmal recht frei und herrlich im Gemüte worden, es hat mir oft geschienen, als ob das ganze Land sich jauchzend und springend erheben wolle, und ich war voll Andacht.

Von diesem Gebirge nun hat mir ein gelehrter Mönch, mit dem ich oft und viel verkehret, einstmals, da die Rede darauf gekommen, eine Historie oder ein Märlein erzählt, welches ich mir, ob seiner Seltsamkeit, wohl gemerkt und bald darauf zu Papier gebracht habe.

Vor tausend und tausend und aber tausend Jahren – sprach er – war dieses Land von einem andern und bessern Menschengeschlechte bewohnt, so von der Erde selbst erzeugt und aus ihr aufgesprossen. Und weil die Erde damals noch in ihrer Jugend war und überfloß von der Zeugungskraft, die der Herr in sie gelegt, kam es, daß dieses Geschlecht sich von wundersamer Schönheit und Stärke erwies und von der Mutter Erde hoch auf zum Himmel, als zu seinem Vater, emporragte, also daß es uns Zwerglein zu jetziger Zeit wohl ein Volk von übermächtigen und ungeheuren Riesen bedünken möchte.

Alles was die Menschen heutzutage nur nach und nach mit sauerm Fleiß, schwerer Arbeit und mühseliger Rechnung herausgebracht, abgeteilt und in einzelne Kästlein aufgestapelt, so sie Wissenschaften nennen, der Lauf der Sonne, des Mondes und der Planeten, die Gestalt, Bewegung und Beschaffenheit der Erde, samt andern göttlichen und menschlichen Dingen, alles das war jenem Urgeschlecht wohlbekannt und gegenwärtig; allein sie hatten es nicht erlernt noch erworben, es war ihnen angeboren; sie wußten es, weil sie da waren, sie wußten es, weil sie lebten. Auch regierte kein Streit zwischen dem göttlichen Gesetz, das ihnen vom Himmel stammte und dem irdischen Verlangen in der aus Erd' und Leimen geformten Brust, und sie lebten darum auch untereinander in Frieden und kindlicher Eintracht. Der Krieg hatte sein blutiges Banner noch nicht aufgesteckt auf der jungfräulichen Erde; der König war nicht als der Treiber einer wilden Horde, sondern als der Vater einer friedlichen Familie anzuschauen; die große Fruchtbarkeit des Bodens gab ungezwungen jeglichem, was er zu seines Leibes Nahrung und Gedeihen brauchte, und keinem Gaumen gelüstete nach dem Fleisch der Tiere. Und also lebte dies Geschlecht, und trieb sein Wesen wohl manches Hundert Jahre.«

»Schön! Trefflich!« rief der Professor. Der Doktor nickte mit dem Kopf und fuhr fort:

»Wie nun aber auf dieser Welt, als welcher selbsten keine Ewigkeit zugemessen ward, alles des Wechsels Untertan und Leibeigner ist, so konnte auch dieser glückselige Zustand nicht immerdar bestehen. Und den allerersten Anstoß zur Veränderung sollen die Weiber gegeben haben, in welche durch den Willen des Herrn, sozusagen, der Sauerteig des Menschengeschlechts gelegt zu sein scheint, der das Gute gleichwie das Böse in selbigem erst zur Gärung, Entwickelung und vollkommenen Gestaltung bringt.«

»Ei, ei!« rief der Kammerrat, »der alte Herr ist nicht galant!« – »Und doch«, sprach Karoline, »möcht' ich im Namen meines Geschlechts mich für das Kompliment bedanken, wenn der Sauerteig nur nicht so häßlich klänge.«

Der Doktor verzog sein wunderliches Gesicht auf eine so wunderliche Art, daß man nicht wußte, ob er lachen oder weinen wollte, und las weiter:

»So ging denn nunmehro törichte Unzufriedenheit mit dem Alten und Guten und unruhiges Begehr nach Neuem und Besserem, schnöde Verachtung ursprünglicher Einfalt und unfriedliches Streben nach eitlem Gute in allen Gemütern allmählich auf. Der Eigennutz nahm seine Wohnstatt unter ihnen und ließ sein Gefolge, Neid, Habsucht und Unverträglichkeit, nicht dahinten. Dem Bösen aber ist es eigen, daß es gleich einem wuchernden Unkraut, wenn es einmal Wurzel geschlagen, überall um sich greift, den Samen des Guten erstickt, wo er sich findet, und niemals stehen oder stocken bleibt, sondern immerfort wächst und treibt und in die Höhe schießt, sich selbst befruchtend bis ins Unendliche. Und darum geschah es auch, daß dieses Volk von geringem Anfang in gar kurzer Zeit zu völliger Verderbnis fortgeschritten, im Laster tief versunken war und sich in allen schändlichen Lüsten wälzte.

Da erschien endlich der Herr in einem Traumgesicht dem Könige, der allein unter seinem Volke sich rein erhalten hatte von der Sünde, und sprach zu ihm: ,Dein Geschlecht ist reif zur Ernte; es soll verschwinden von der Erde und einem andern Platz machen. Und wenn der letzte deines Volks gefallen ist unter der Sichel, dann sollst auch du dich niederlegen zum langen Schlafe. Es wird aber eine Zeit kommen, da dieses Land nach manchem Wechsel ein weiseres und glückliches Geschlecht bewohnt, das sein Glück durch mancherlei Not und Trübsal erkauft und seine Weisheit aus Irrtum und Verderbnis erbeutet hat. Dann soll meine Stimme dich erwecken, und du sollst dich aufrichten aus deinem Grabe, noch einmal diese Fluren schauen und dann auf ewig eingehen in mein Reich.'

Als nun der König diese Worte vernommen, erwachte er und sprach: ,Herr, dein Wille geschehe!' Darauf verhüllte er sein Haupt vor Betrübnis. – Und es geschah also, wie der Herr gesprochen. Denn er schickte ein Sterben unter das Volk, das Jung und Alt darniederschlug. Auf dem Fleck aber, wo einen des Todes Hand getroffen, da begruben ihn die andern alsogleich, trugen Erd' und Steine von dem nächsten großen Gebirge herbei und wälzten mächtige Felsen übereinander, so daß bald das ganze Land umher voll Grabhügel ward, groß und klein, je nachdem sie alt oder jung, vornehm oder gering bedeckten. Und als nun endlich auch den Söhnen und Töchtern des alten Königs ihr Stündlein kommen war, wölbte das Volk ihre Gräber gleichermaßen, und der alte König ließ auch sich und seinem Weibe das Grab bereiten mitten unter seinen Kindern, und das Volk türmte einen gewaltigen Berg auf über den Gewölben.

Als dieses geschehen, ward es allgemach immer stiller und einsamer im Lande und um den alten König her; denn der Tod rührte sich mächtig und eilte mit seiner Ernte, bis daß endlich niemand, niemand mehr um ihn war als sein Weib. Und da auch diese bald darauf die Augen geschlossen, trug er sie schweigend auf seinen Armen in ihr Grab und verwahrte den Eingang. Hierauf aber stieg er langsam auf die Höhe des Berges. Dort schaute er um sich und sah das Land, so weit sein Auge reichte, voll von den Gräbern seines Volks und seiner Lieben. Die Sonne, die eben zur Rüste ging, schien freundlich auf die Hügel; seine Brust ward voll Leides, und seine Blicke löschten aus in Tränen.

Wie er nun aber so des Vergangenen gedachte, stand alles so klar und lebendig vor seinem Geiste, daß es ihm mit einem Male deuchte, er habe nur in einem bösen Traum gelegen und seine Kinder seien nur weggegangen und müßten jetzo wiederkommen, und er rief: ,Meine Kinder, meine Kinder, wo seid ihr, daß ich euch segne?' und horchte lange, ob er nicht ihre Stimme vernehme oder das Geräusch ihrer Tritte. Aber kein Laut des Lebens kam zu ihm herauf aus der Gräberwüste, die Sonne ging unter, der Nachtwind strich kühl und feucht an ihm vorüber und raschelte in den dürren, sparsamen Halmen neben ihm. Da senkte er sein Haupt zur Erde, fiel auf die Kniee nieder und verharrte lange also in Schweigen und Gebet. Dann aber erhub er sich, ging hinunter, wo der Eingang zu seinem Grabe war, trug alle seine Schätze und die Schriftrollen, auf welchen er die Geschichte seines Volks und einen Inbegriff seiner höhern Wissenschaft verzeichnet, in das Gewölbe, schritt dann freudig selbst hinein, und als er den Eingang von innen mit großen Felsstücken wohlverwahrt und versetzt hatte, legte er sich in dem stillen Kämmerlein zur Ruhe und entschlief.

Der Herr sandte darauf eine große Wasserflut, die jegliche Spur wegtilgte von dem gewesenen Geschlechte. Doch als die Wasser sich wieder verlaufen, lockte die Sonne neue Keime aus dem Boden, neue Kräuter wuchsen auf den Bergen, neue Blumen in den Gründen, neue Bäume streckten ihre grünen Kronen in die Lüfte, und überall war neues Leben. Da kam nun auch ein neues Geschlecht von Menschen, dem alten keineswegs vergleichlich weder an Größe, noch an Kraft, noch an Wissen; und die Zwerglein siedelten sich lustig an auf den Riesengräbern, führten den Pflug darüber, wo sie konnten, und klebten ihre Häuslein daran. Eine dunkle Sage aber erhielt sich unter ihnen von den alten Bewohnern, so daß sie noch heutigentages von den Riesen sprechen, die unter ihren Bergen begraben liegen.

Seitdem sind nun tausend und tausend und aber tausend Jahre vergangen, Not und Trübsal, Irrtum und Verderbnis sind oftmals dagewesen, ja sie hausieren alltäglich unter uns: das Glück und die Weisheit aber haben sich noch nicht zeigen wollen, und der alte König schläft noch immer!«

Der Doktor legte sein Papier zusammen und sah schweigend vor sich nieder. Auch bei den andern ward kein Wort laut; jeder nach seiner Art beschäftigten sich alle im stillen mit dem eben Vernommenen.

»Ich merke wohl, ich verstehe!« begann endlich der Kammerrat. »Der alte König soll das Gold bedeuten, den wahren König und Herrn der Welt, und das ganze Märchen will sagen, daß in unserm Gebirge ein ungeheurer Schatz desselben versteckt liege.«

»Ein Schatz«, rief der Doktor, »jawohl ein Schatz, wie ihn euer Verstand, ihr armen Menschlein, weder in seinem Wesen noch in seiner Größe zu fassen vermag! Die Wissenschaft aller irdischen Dinge, die Kenntnis selbst des Verborgensten, das echte, eigentliche Salz der Erde, und vor allem der Karfunkelring, in welchem das wahre Geheimnis der Welt, der Zaum und Zügel der widereinander streitenden Erd- und Himmelskräfte verwahrt ist.«

»Karfunkel, Karfunkelring!« unterbrach ihn der Kammerrat kopfschüttelnd mit einem feinen Lächeln.

»Wie kommen Sie auf den Karfunkel, Teuerster? Das ist ein anrüchiges Wort, womit man sich heutzutage nur lächerlich macht. Erzählen Sie uns lieber etwas von den veritablen Schätzen des alten Königs. Es spricht sich schon angenehm von Silberbarren, Goldstangen und Juwelen.«

»Ach!« seufzte Karoline, die lange still in sich versunken dagesessen hatte, »könnt' er mir nur mein verlornes Kind zurückgeben, ich begehrte nichts von allen seinen Schätzen, so arm ich auch bin.«

Der Professor reichte ihr seine Hand über den Tisch hinüber. Sie sah ihn an und sprach: »Du bist doch allein schuld an seinem Verluste.« Der Professor zog schnell seine Hand zurück. »Hättest du nicht damals«, fuhr sie mit weichem Tone fort, und die Tränen standen ihr dabei in den Augen, »hättest du nicht ohne Haarbeutel zum Graf Auer gehn wollen, der zu der Zeit dein Glück machen konnte, so hätte ich – es sind nun gerade drei Jahr – im Walterschen Garten nicht mit dir gezankt; hätte ich nicht mit dir gezankt, so wäre unser Theodor nicht unbemerkt aus der Laube gelaufen; und wäre er nicht aus der Laube gelaufen, so hätten wir ihn nicht verloren!«

»Verloren ist verloren! Sie müssen nicht mehr daran denken«, sagte der Kammerrat.

Unwillig rief der Professor: »Dann wäre er ja in der Tat für uns gestorben, während er jetzt wenigstens in unsrer Trauer, Sehnsucht und leisen Hoffnung uns noch lebt!«

»Verloren«, begann der Doktor, »verloren ist nichts, was man nicht selbst aufgibt. Er lebt! ich sag es euch: der Knabe lebt!«

Der Professor starrte ihn an; Karoline wollte reden, allein von dem Blick, den der Doktor auf sie warf, erstarb das Wort auf ihren Lippen. – »Wäre es möglich«, fing der Professor endlich an, »sollten Sie vielleicht wirklich – – –?«

Jener unterbrach ihn: »Nun, es ist wahrscheinlich, daß er noch lebt. Ihr müßt den alten König darum fragen.«

Mit diesen Worten stand er auf und griff nach seinem Hut.

»Erlauben Sie aber«, rief der Kammerrat, »Sie haben die Hauptsache vergessen, wertester Freund. Auf welche Art gelangt man zu dem alten König?«

Der Doktor sah ihn seltsam lächelnd von der Seite an: »Suchet, so werdet ihr finden. Wolle nur, so kannst du auch. Gute Nacht. Ich habe noch Geschäfte. Auf Wiedersehen!« Er neigte sich gegen die Professorin und ging schnell zur Türe hinaus; der Kammerrat aber lief hinter ihm her und bestand darauf, ihn bis an den Goldnen Löwen zu geleiten.

»Nun, was denkst du von unserm seltsamen Gaste?« hub Karoline an, als beide fort waren.

»Was ich denke, darf ich dir nicht sagen«, entgegnete der Professor. »Du verstehst mich nicht.«

»Ach«, rief jene, »diesmal verstehe ich dich sicherlich und bin ganz deiner Meinung.«

»Meiner Meinung? Und welcher?« fragte der Professor.

»Nun, hab' ich nicht etwa ebensogut wie du die unheimlichen Irrlichtsflammen bemerkt, die er manchmal aus den grünen Augen schoß? und das Fläschchen, das gar nicht leer werden wollte, so fleißig ihr auch zuspracht?«

Sie ging mit diesen Worten nach dem Tische und sah sich danach um, allein das Kristallfläschchen war verschwunden, und doch hatte, wie sie gewiß wußte, der kleine Doktor es nicht wieder eingesteckt.

»Da haben wir's ja!« rief sie. »Mir kam gleich ein Grauen an, als er die toten Mäuse und Frösche auspackte. Wer schon solche brotlose Künste treibt – –! Und Verse mag er wohl auch machen !«

Ärgerlich sprach der Professor: »Es ist ein Mann von außerordentlichen Kenntnissen und ganz besondern Gaben, wie mir der Freund aus Upsal schreibt, und wenn er obendrein Dichter wäre – das heißt ein guter, denn ein schlechter ist keiner – so hätte ihm der liebe Gott nur noch eine Himmelsgabe mehr, den Blumenkranz zu dem Fruchtkranze verliehen!«

»Wohl!« unterbrach ihn Karoline schnell, denn sie sah schon eine weitere Ausführung des beliebten Themas auf seinen Lippen sitzen – »mag er sein, wer er will! Wenn er nur sonst die Wahrheit gesprochen hätte, daß unser Theodor noch lebt. – Ach! dem Teufel selbst könnt' ich um den Hals fallen, der mir Nachricht brächte von meinem Kinde.«

Schnell versöhnt faßte der Professor die Hand seiner Frau; der Wächter draußen meldete die zehnte Stunde an, und nach langer Zeit wieder zum ersten Male gingen sie beide zu gleicher Zeit nach dem Schlafzimmer.


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