Michael Georg Conrad
Die goldene Schmiede
Michael Georg Conrad

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Max wurde seit einigen Tagen von einer seltsamen Unruhe gefoltert. Über die Geschäfte der Volksbank waren die widersprechendsten Gerüchte in Umlauf. Man munkelte von einem baldigen Zusammenbruch, vom Einschreiten der Polizei, Einmischung der Gerichte und ähnlichen unheilvollen Sachen, welche die Spitzeder'sche Unternehmung plötzlich im gefährlichsten Lichte erscheinen ließen. Der Mutter, die ohnehin in der letzten Zeit etwas kränkelte, mochte Max noch nichts davon mitteilen, solange die Hauszeitung über die Angelegenheit schwieg. Aber es wäre entsetzlich, wenn die bösen Zungen Recht behielten. Das ganze Schropper'sche Vermögen wäre verloren. Die Mutter müßte der Schlag treffen. Der Vater würde wahnsinnig werden...

Um sich Klarheit und Beruhigung zu verschaffen, war Max gestern Abend noch zu seinem geistlichen Bruder in die Rochusgasse geeilt. Er hatte sich schwer dazu entschlossen. Die Brüder sahen sich seit einem Jahre höchst selten und über finanzielle Sachen hatten sie noch nie mehr miteinander gesprochen, als das Gelegentlichste und Gleichgültigste. Setzten sie doch beide stillschweigend voraus, daß die eigenen wirtschaftlichen Verhältnisse in schönster Ordnung und bester Sicherheit. Keinem von ihnen wär's im Traum eingefallen, von dem andern anzunehmen, daß er die Torheit begehen und die ungeübten Hände in Spekulationen mischen würde. Sie hatten's ja nicht nötig, gottlob!

»Handwerk hat einen goldenen Boden«, sagte Joseph. »Die Alten sind wohlhabend und vorsichtig, da ist nichts zu besorgen.«

»Joseph ist versorgt, die Kirche ernährt ihren Mann«, sagte Max. »Ein Geistlicher hat geringe Bedürfnisse und hängt sein Herz nicht an den Mammon.«

Max hatte in der Rochusgasse einen schlimmen Eindruck empfangen. Als er in der Dunkelheit in das Haus seines geistlichen Bruders trat, stieß er auf eine junge Frauensperson, die sich weinend und stöhnend vor der Treppe auf dem Boden wälzte. Er prallte zurück.

»Eine Epileptische!« Er eilte die Treppe hinauf, um vereint mit dem Priester der Unglücklichen Hilfe zu bringen. Er pochte, rief aus Leibeskräften – umsonst. Die Wohnung blieb verschlossen. Der Bruder war abwesend. Zögernd wandte er sich zur Umkehr. Als er wieder die Treppe hinabstieg, war das Weib verschwunden. Auch in der engen stillen Gasse war niemand zu sehen. Er fragte sich, ob es nicht eine Sinnestäuschung gewesen, irgend ein eingebildeter Spuk... Gleichviel, er war sehr verstimmt. Die Erscheinung konnte nur von übler Vorbedeutung sein.

Er konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Immer sah und hörte er das winselnde Weib, das sich vor der Treppe der Pfarrerswohnung wälzte. Daß Joseph auch gerade an diesem Abend abwesend sein mußte!

Gegen die Frühe wollten ihm die Augen doch noch zusinken. Aber mit dem Schlummer stellten sich schreckhafte Träume ein. Das Weib an der Treppe nahm Ursulas Gestalt und Züge an. Ein Bild haarsträubender Trostlosigkeit.

Entsetzt sprang er aus dem Bett, kleidete sich an und fand, daß es Zeit sei, in die Werkstatt zu gehen. Dann kam der Auftritt mit den bezechten Gesellen. Der Gedanke an Ursula peinigte ihn so, daß er's nicht bei der Arbeit aushielt. Er mußte nach der Geliebten sehen. Seit Monaten hatte er weder Zeit noch Lust erübrigt zu einem Besuch in dem einsam gelegenen Häuschen der Deixlhofer weit draußen in der Vorstadt Giesing. Es gab so viel anderes zu denken...

Jetzt war er unterwegs. Zu dieser Tageszeit hatte er nie diesen Weg gemacht. Die Gegend in der Frühbeleuchtung nach dem Regen kam ihm ganz fremd vor. Aber in einer halben Stunde wird er Ursula sehen und ihr Kind, sein Kind! Wie bei diesem Gedanken die Brust sich stolzer hob! Sein Kind, sein Ebenbild!

*

Gestern war Ursula im Walde von Planegg gewesen. Der Tag war zu verlockend. Und wenn ihr trübe Gedanken kamen, tauchte immer das Bild des ersten und ach, so folgenschweren Liebesrausches im Walde auf. Im Walde stand ihr Heiligtum. Dorthin wallfahrtete sie, so oft sie konnte. Wie oft hat sie dort sich recht von Herzen ausgeweint in diesen drei schweren Jahren!

Jedesmal nahm sie ihr Kind mit und führte es an die unvergeßliche Stelle im Dickicht. Da... da...!

Efeu schlängelte sich auf dem Boden. Sie hatte ein Pflänzlein ausgegraben. Es grünte fröhlich daheim an ihrem Kammerfenster. Wie oft hat sie es mit ihren Tränen genetzt und dabei geseufzt: »O Liebe, wie bist du bitter, o Liebe, wie bist du süß!«

Gestern also war sie wieder im Walde gewesen mit ihrem Kinde, dem herzigen Franzl. Auch Hans und Korbinian waren dabei. Die Knaben scherzten mit dem Kinde, pflückten mit ihm Blumen und Beeren, fingen Käferchen, stellten den Eidechsen nach. Wie drollig Franzl war und wie vergnügt!

Ursula saß mit dem Strickzeug im Moos. Wenn jetzt Max auch da sein könnte! Der gute Schatz gönnt sich kein Vergnügen mehr, er arbeitet sich noch zu tot. Aber sie darf ihm nicht zürnen. Was er tut, ist ja um ihretwillen, um des Kindes willen. Die Trennung kann nicht lang mehr währen und das bedrückende Heimlichtun...

»Kinder, entfernt euch nicht zu weit! Ich fürchte, es kommt ein Gewitter. Wir müssen bald heim. Es ist so heiß. Dort kommen schon schwarze Wolken!« Dann versank sie wieder in Zukunftsgedanken.

Die Knaben hatten sich in einen schattigen Schlag verloren. Doch waren sie noch in Rufweite. Sie nickten Ursula zu. »Wir kommen gleich!«

»Nein, diese Menge Beeren!« sagte Hans.

»Trau nicht!« antwortete Korbinian. »Es gibt hier viel Giftiges, Tollkirschen und anderes Teufelskraut.«

»Kennst du alle Pflanzen?«

»Nein, aber ich weiß es und trau' nun einmal nicht.«

»Zum Beispiel diese hier!«

Es waren große buschige Pflanzen, auf je einem besonderen Stengelchen glockenförmige Blumen von violettblauer, innen rötlicher Farbe. Auch kugelförmige Früchte hatten schon einige gezeitigt, hübsche Beerchen, die meisten noch grün, andere schimmerten schon blauschwarz.

Hans pflückte davon, zerdrückte sie mit dem Finger und probierte mit der Zungenspitze den Saft. Er schmeckte säuerlich, aber gar nicht giftig. Korbinians Mahnung hatte ihn dennoch mißtrauisch gemacht. Er warf die Beeren fort. Der kleine Franz lief hintendrein, machte ein vorwitziges Gesichtchen, hob mehrere der weggeworfenen bläulichen Dinger auf, zerdrückte sie gleichfalls und schob sie in den Mund. Es schmeckte wirklich nicht schlecht und löschte den Durst.

»Kinder, kommt jetzt! Aufbruch! Wir gehen!«

Auf dem Heimweg klagte Franzl wieder über großen Durst. Das war nichts Auffallendes.

»Mama, ich bin so trocken im Mund...«

»Gedulde dich, Liebling, wir sind bald daheim, dann gibt's zu trinken. Heute bekommst du dein ganzes Gläschen Bier, du kleiner Trunkenbold!«

»Ja, liebe Mama.«

Zu Hause angelangt, greift das Kind gierig nach dem Bierglas. Merkwürdigerweise schmeckt ihm der Trunk nicht; die Flüssigkeit will nicht hinunter, das Schlingen wird so schwer.

»Mama, anderes trinken!« stößt des Kind mühsam heraus.

»Du hast Schlaf, Liebling. Die Zunge geht ja gar nicht mehr, und die Augen sind matt und müde. Komm, ich bring dich zu Bett. Du bist heute zu viel gegangen, armer Schelm. Der Schlaf wird dir gut tun, da vergeht auch der Durst. Bist du brav? Hast Mama lieb?«

Franzl schlang seine Ärmchen um Mamas Hals und ließ sich folgsam ins Bett legen.

»Das Gebetchen, Franzl! Geht's nicht mehr? Nein, du bist zu schläfrig. Ich bete für dich, Liebling. Schlaf ruhig ein! Jetzt muß ich noch etwas arbeiten, dann komm' ich wieder und schau nach meinem Franzl.«

Ein schweres Gewitter hatte sich zusammengezogen. Gegen Mitternacht entlud sich's unter fürchterlichem Donnern und Blitzen. Der Regen fiel wolkenbruchartig.

Das Kind litt schwer, aber es muckste nicht aus Angst vor dem schrecklichen Wetter. Bläulicher Blitzschein erhellte geisterhaft die kleine Kammer.

Ursula, nichts Schlimmes ahnend, war in festen Schlaf versunken. Erst gegen Morgen – der Regen viel schwächer in einer schlummerbefördernden monotonen Weise – wurde sie durch die gesteigerte Unruhe des Kindes geweckt.

»Was ist dir, Kind? Warum schließen sich deine Augen nicht?«

»Funken, Mama, Funken...« lallte das Kind mit äußerster Anstrengung.

»Funken? Es blitzt ja nicht mehr.«

Jetzt verzog sich das gerötete Gesicht des Kindes zu einem matten, nichtssagenden Lächeln, wie das eines Betrunkenen. Dann hoben sich die Ärmchen wie Flügel und wollten Anlauf nehmen zum Aufschweben. Allmählich ging die Bewegung in ein Zittern des ganzen Körpers über. Die Augäpfel quollen hervor; die Pupille wurde unbeweglich und dehnte sich so stark aus, daß der blaue Augenstern oft ganz verschwand...

»Jesusmaria, mein Kind ist krank, es fiebert, es phantasiert!« schrie Ursula in höchster Bestürzung, sprang aus dem Bette und eilte im Hemd und in bloßen Füßen die Treppe hinauf, um die Mutter zu wecken.

Der Regen hatte nachgelassen; in strahlender Pracht war die Sonne heraufgekommen und ihre heißen Strahlen tranken die Feuchtigkeit der Erde.

»Zum Doktor, schnell zum Doktor!«

Todesbange Stunden vergingen. Der Arzt war nicht aufzufinden. Endlich!

Der Doktor kam und hinter ihm drein – Max.

Ursula schrie auf, als sie des Geliebten ansichtig wurde. »Ist er's wirklich? Er ist so bleich, so verstört! Gehen Gespenster um in dieser grauenvollen Morgenstunde?«

»Wie kommt er jetzt hierher? Hat ihn eine Ahnung herausgetrieben?« rief die Mutter.

»Max, dein Kind ist vergiftet, dein Kind ist...!« und Ursula brach ohnmächtig in den Armen des Geliebten zusammen.

Inzwischen hatte der Arzt den kleinen Patienten, der wie gelähmt im Todesschlaf auf seinem Bettchen lag, eingehend untersucht... »Ein schwerer Vergiftungsfall«, murmelte er; »ich fürchte, menschliche Hilfe kommt zu spät...«

*

Einen schwereren Gang hatte Max in seinem Leben noch nicht getan, als den von Giesing heimwärts in die Sendlingergasse. Es war Abend geworden.

Vor der Schmiede traf er Hiesl, den Obergesellen.

»Es steht schlimm«, flüsterte dieser dem jungen Meister zu. »Seit Mittag liegt die Frau Mutter bewußtlos, der geistliche Herr ist bei ihr und der Arzt.«

Den traurigen Zusammenhang erratend, fragte er. »Die Spitzeder hat also Bankrott g'macht?«

»Ja«, bestätigte Hiesl, »die ganze Stadt ist voll davon.«

»Unglück auf der ganzen Linie, Tod und Verderben...« murmelte Max. »Was meint der Arzt?«

»Sie möcht' die Nacht kaum überleben.«

»Weiß es mein Vater.«

»Alles. Er sitzt in der Werkstatt und läßt niemanden hinein.«

»Mein Bruder Joseph ist bei der Mutter?«

»Ja, schon den ganzen Tag.«

»Kannst im Haus bleiben, Hiesl?«

Der Gesell nickte.

»Wenn was passiert oder wer nach mir fragt, sagst: der Max ist bei seiner Braut Ursula Deixlhofer und bei sei'm toten Kind in Giesing. Verstand'n?«

»Ja«, sagte der Gesell, aber er brachte den Mund nicht mehr zu.

Max war bereits verschwunden, und Hiesl starrte noch immer mit offenem Mund vor sich hin.

Im Laufe des Nachmittags war Ernst Gurlinger zweimal vergebens in der Rochusgasse gewesen, um mit seinem hochwürdigen Freund Joseph Schropper die erschütternden Ereignisse des Tages zu besprechen: den Bankrott der Spitzeder und Seraphinens Tod in den Wellen der Isar. Wo der Freund heute wohl stecken mochte?

Rätselhaftes Verhalten!

Sollte alle Moral nur Notlüge sein?

Der Philosoph hätte gern den schönen Moralitätsfall an dem frischen Eindrucke studiert, den die tragischen Tatsachen auf den Priester machen mußten. Schade, daß ihm die Unauffindbarkeit Schroppers die Gelegenheit dazu verdarb, und Gurlinger selbst die geplante Gebirgsreise nicht länger hinausschieben konnte.


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