Michael Georg Conrad
Die goldene Schmiede
Michael Georg Conrad

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Da ereignet sich Unerwartetes. Verschlungen und unerforschlich sind die Pfade des Schicksals. Eine zerknirschte Sünderin naht sich dem Beichtstuhl des Priesters und entrollt eine tränenreiche Jammergeschichte von häuslichem Elend, von Verrat und unsäglicher Pein, die sie vom Manne erduldet. Nach kurzer Zeit betritt sie wiederum die gnadenreiche Stätte im Witwenschleier und legt ihr verödetes, zerrissenes Herz bloß, das nur noch Raum habe für eine einzige Liebe – eine frevelhafte, aber seliger, denn alle Seligkeit. Der Diener Gottes leidet mit der Leidenden, aber er sündigt nicht mit der Sünderin und wäre sie hundertmal der erhabenste Liebestraum, der Abgott seiner Jugend gewesen. Und diese ist es gewesen. Er spricht sie in unerschöpflicher Barmherzigkeit aller Schuld ledig und glaubt, die Unglückliche entsühnt entlassen zu haben, als sie plötzlich umkehrt und in wahnsinnig leidenschaftlicher Sprache, die wie glühende Lava aus dem Krater ihrer Seele eruptiert, dem Priester ihre Liebe erklärt. Sie reißt mit konvulsivischer Hand am Gitter des Beichtstuhls. Der Priester entflieht und läßt sie ohnmächtig liegen. Mit Hilfe des Kirchendieners entfernt sie sich schließlich. Kein anderes sterbliches Auge hat zum Glück die schreckliche Szene gesehen. Seit jener Stunde verfolgt sie den Priester, gebärdet sich wie eine Irrsinnige, schmeichelt, droht, dichtet sich die fabelhaftesten Laster an. Noch einen Versuch hat die Güte des Priesters letzthin gewagt. Anfangs schien sie gefaßt, dann kam der Dämon wieder über sie. Sie ist keine Rettung mehr... keine...«

Die letzten Worte des Priesters waren in kaum vernehmlichem Flüsterton gesprochen.

Ernst Gurlinger hatte sich vom Kanapee erhoben und saß aufgerichtet dem Freunde gegenüber. Die Abenddämmerung war hereingebrochen. Die hohen Dächer vermehrten die Dunkelheit des Gemachs. Aus der Nachbarschaft tönte ein auf dem Klavier geschundener Walzer herüber, und ein Kanarienvogel zwitscherte sein Abendlied dazwischen. Der Priester trat ans Fenster und schloß die offnen Flügel. Lange Minuten vergingen und es fiel kein Wort.

Gurlinger wandelte nachdenklich durchs Zimmer, die Hände auf dem Rücken, den Kopf gesenkt. Dann brach er das Schweigen, indem er in eigentümlich kühlem, wissenschaftlich nüchternem Ton sagte: »Im zweiten Teile der Erzählung hat besonders ein Punkt mein Interesse gereizt. Hierüber wünschte ich näheren Aufschluß.«

»Über welchen Punkt?« fragte der Priester leise, der sich wieder im Großvaterstuhl niedergelassen hatte.

»Wo der Erzähler meldete, sie dichte sich fabelhafte Laster an. Welcher Art sind diese Laster? Ist die Erfindung derselben eine bewußte oder unbewußte? Hat sie ihre Wurzel in irrsinniger Phantasie oder berechnender, die Lasterhaftigkeit des Hörers voraussetzender Absichtlichkeit?«

»Ich kann nur auf die erste Frage eine kurze Mitteilung machen. An die Beantwortung der anderen wage ich mich heute nicht heran; soviele Fragen, soviele Probleme. Vor nicht langer Zeit bildete in München ein skandalöser Ball das Stadtgespräch. Mehrere Lebemänner und Lebefrauen, natürlich den sogenannten besseren Ständen angehörig, hatten eine nackte Tanzorgie veranstaltet. Trotz der größten Vorsicht war die Sache ruchbar geworden. Es wurden Namen genannt. Die Polizei stellte Nachforschungen an. Positive Resultate kamen nicht ans Licht. Der Skandal ist unaufgeklärt geblieben. Jene Sünderin nun verschwor sich, dabei beteiligt gewesen zu sein; sie berichtete die schamlosesten Einzelheiten, beschrieb die Gestalten, die Bewegungen, die gehabten Empfindungen – und das alles im Ton ekstatischer Reue. Es konnte aber festgestellt werden, daß ihre Teilnahme an jener Orgie zeitlich und räumlich die pure Unmöglickeit gewesen wäre.«

»Noch eine Frage: wie erklärt sich's, daß jenes Abenteuer des Studentleins in der Sendlingergasse selbst vor seinem intimsten Freunde geheimgehalten wurde bis auf den heutigen Tag?«

»Der Erzähler nimmt sich die Freiheit, in diesem Augenblick sich für überfragt zu erklären.«

»Ist auch der Name, wenigstens der Vorname jenes Mädchens nicht zu erfahren?«

»Seraphine.«

»Also Sine, da haben wir's!« rief der Philosoph schlagfertig.

»Herr des Himmels, wenn du Recht hättest!« fuhr der Priester auf.

Doch faßte er sich schnell wieder und sprach im Tone erzwungener Gelassenheit: »Laß' uns gehen, Freund; es ist spät, und ich habe noch einen notwendigen Besuch zu machen. Wenn dir's beliebt, können wir eine Strecke zusammen gehen.«

»Noch eine Bitte, Joseph, die letzte für heute und vielleicht für lange, denn ich muß morgen eine Gebirgsreise antreten.«

»Sprich!«

»Gestatte mir, deine sämtlichen Porträtbilder zu mustern.«

»Wozu?«

»Ich vermute, daß sich auf mehreren ein Zusammenhang mit Sine entdecken ließe...«

»Heute nicht mehr. Es ist zu dunkel. Wenn du wiederkehrst.«

Die Freunde verließen schweigend das Gemach. Der Vorraum und die Treppe waren noch unbeleuchtet. Es dunkelte stark. Sie tasteten sich hinaus und die Treppe hinab. An den untersten Stufen lag eine unkenntliche Gestalt und versperrte den Weg. Sie richtete sich halb empor und umklammerte das Knie des voransteigenden Priesters.

»Wer da?« schrie er halb erschreckt, halb drohend.

»Sine läßt um eine andere Antwort bitten... Sie stirbt... Die Wasser gehen ihr bis an die Seele...« klang die Antwort erschütternd dumpf wie aus Grabestiefe.

»Hebe dich von dannen, Weib! Was habe ich mit dir zu schaffen?«

Der Priester griff nach dem Arm seines Freundes, faßte ihn fest und schritt an dem Weib vorüber.

*

Wie gewöhnlich war Max auch heute der Erste in der Schmiede gewesen. Diesmal allerdings nicht aus bloßem Arbeitstrieb. Er hatte die Kohlen aufgeschüttet, die Werkzeuge untersucht, die Arbeiten für den Tag vorbereitet, sogar die Werkstatt mit dem Besen gereinigt. Wenn jetzt Vater und Gesellen kamen, war alles am rechten Platz, und sie durften nur Hand anlegen und die Arbeiten in der Reihe ausführen, wie sie Max angeordnet.

Die Gesellen traten sonst mit dem Glockenschlag herein; heute hatten sie sich alle verspätet. Sie sahen übernächtigt und duselig drein; ihre Mienen waren schlaff, ihre Augen trüb. Erklärlich! Den Abend vorher und die ganze Nacht hatten sie scharf gezecht. Einer der Kameraden hatte bei der Spitzeder sein Glück gemacht. Obzwar er nicht die geringsten Finanzkenntnisse besaß und kaum des Rechnens und Schreibens mächtig war, bekam er doch durch geistliche Protektion eine Stelle als Aushilfs-Buchhalter in der Spitzederschen Volksbank.

Der über Nacht zum Finanzmann avancierte Schmiedsgesell hatte fast nichts zu tun, bezog dafür aber ein Gehalt, dessen Tagesbetrag höher war, als früher sein ganzer Wochenlohn. Nun wollte sein gutes Herz sich nicht lumpen lassen; die alten Kameraden sollten von seinem Glück und Wohlleben auch ihr Teilchen haben. So kam die lustige Nacht zustande mit Geigen und Flöten und Dideldumdei, mit den auserlesensten Speisen, dem kräftigsten Bier, den schönsten Weinen – und »Schampus« in ungezählten Flaschen. Einmal die Schmiedsgurgel in Champagner baden dürfen, ohne einen Pfennig aus der eigenen Tasche zu ziehen, Donnerwetter, da heißt's zugreifen und seine Stärke zeigen! Herrgott, der Zaubertrunk!

Und da bekanntlich nach urältester Erfahrung »ohne Damen kein Vergnügen«, so hatte der Schmiedsgesell-Bankbuchhalter in weiser Vorsicht dafür Sorge getragen, daß auch diese Nummer des Festprogramms nicht zu schwach besetzt war.

Wie Braten und Wein, so gab's »Damen« von allen Sorten, kälberne, schweinerne, fette, magere, moussierende, stille, süße, herbe... Ja, das war ein unvergeßlicher, kreuzfideler Abend!

Der Woserl vergriff sich und nahm statt des Hammers eine lange Zange und schlug auf den Amboß – und daneben.

Hiesl zog sein großes Maul schief und schrie: »O der Halunk'!« und wollte sich schier ausschütten vor Lachen.

Woserl wurde wild. Wenn er benebelt war, verstand er keinen Spaß mehr. Ein Kollege von der Zentralwerkstätte hatte ihn ohnehin auf dem Fest beleidigt. Dreimal hatte ihm der infame Mensch die Tänzerin, eine fesche Haidhauser Dirn, auf die er den ganzen Abend ein verliebtes Auge geworfen – er hatte nur noch ein einziges – weggeschnappt. Hätte ihn nicht der Respekt vor dem generösen Festgeber zurückgehalten, er wäre imstand gewesen, dem Nebenbuhler fünf Zoll Eisen in die Rippen zu stoßen. Daß er's nicht getan, wurmt ihn jetzt noch. Vielleicht erwischt er ihn doch noch einmal, den Lackl...

»Hiesl, reiz' mich nicht! Heut' bin ich kein Guter, verstehst mich?« knurrte er und schmiß die Zange in die Ecke, daß es klirrte.

Der Sepp stieß begütigend den Hiesl mit dem Ellbogen an und summte das gemütliche Lied:

Mer san ja die lustig'n Hammerschmiedsg'sell'n,
Könna fortgehn, könna dableib'n,
könne tun was mer woll'n.

»Ja«, sagte jetzt Max, »das beste ist, Leut', ihr geht heim und schlaft euch ordentlich aus. Nach einer solchen Nacht schmeckt freilich die Arbeit nicht. Das ist begreiflich. Also macht in Gottes Namen heut einen Blauen. Ich hoff' aber, einmal ist keinmal! Die Arbeit kann ich mit dem Meister schon allein zwingen. Geht nur, geht!«

Und die Gesellen, von soviel Güte und Nachsicht überrascht, trollten, verlegen dankend, einer nach dem andern davon.

Max blieb mit dem Vater allein in der Werkstatt zurück. Der Alte machte verwunderte Augen. Der Sohn schrie ihm eine kurze Erklärung des Vorgangs in die Ohren. Meister Florian nickte mit dem struppigen Kopf: »Is so weit nit aus; bin a amal jung g'wes'n.« Dann lächelte er vor sich hin und hämmerte munter drauf los. Heute waren es gerade dreißig Jahre, daß er auf die Schmiede kam und die Tochter des vorigen Besitzers heimführte. Kein Mensch schien daran zu denken. Tut nichts. Der Alte wird sie heute Abend alle überraschen, wenn er die Gedenktafel mit dem Wahrzeichen am Hause anbringen läßt. Dreißig Jahre! Als armer Handwerksbursch war er von Tölz nach München gekommen. Nun steht er noch in Gesundheit und Kraft am eigenen Amboß; oben in der schmucken Stube hantiert sein frommes, auch noch leidlich gesundes Weib und hütet die Ehre des Hauses und die in treuer, emsiger Arbeit erworbenen Schätze; der Jüngste ist wohlbestallter Pfarrherr, der Älteste Erbe der »goldenen Schmiede«...

Meister Florian konnte nicht recht zum Entschluß kommen, ob er heute doch nicht den Max sondieren sollte und ihm nahelegen, an die Gründung des eignen Hausstandes und Übernahme des Geschäftes zu denken. Es wär' ja so natürlich, und doch kommt's ihm kurios schwer an. Der Max ist in dem Punkt aber auch ein so sonderbar verschlossener Mensch... Na, heute Abend ist auch noch Zeit. Joseph ist eingeladen, ein paar gute alte Freunde, da gibt ein Wort das andere, und es macht sich auch viel feierlicher. Freilich, wenn man auch die Gertrude Alzinger, die reiche Tölzer Witwe, die jetzt beim Schlosser Morasi auf Besuch ist, bei ihrem Onkel, mit diesem zugleich hätte einladen können... Die Mutter sieht sie sehr gern... und wenn Max an dem saubern Weibsbild... so eine wie diese Tölzerin gibt's ja doch in ganz München nicht... Das wär' ein Festtag!

Meister Florian schnalzte bei diesem Gedanken mit der Zunge und schlug mit der rotglühenden Eisenbarre in den Wasserbehälter, daß es nur so zischte und dampfte, und das Wasser wie Sprühregen umherspritzte.

Durch den Dampf hindurch schielte er zu seinem Sohn hinüber, der sich eben Hände und Gesicht reinigte und zum Ausgehen anschickte. Jetzt wär' die Gelegenheit gut... sie sind ganz allein in der Schmiede...

»Vater, ich hab' einen notwendigen Gang.«

»Ich hab' dir g'rad auch was Notwendig's sag'n woll'n.«

Der Schmied schluckte, als hätte er etwas in der Kehle stecken. Bevor er das Wort herausbrachte, war Max bereits zur Tür hinaus.

Eine Zeitlang starrte ihm der Alte nach, dann ging er in ein dunkles Gelaß neben der Werkstatt und holte ein sorgfältig verhülltes Ding hervor, das die Form eines altmodischen Dorfwirtshausschildes hatte. Er nahm die Hülle ab: es war das Wahrzeichen der Schmiede, das mit der Gedenktafel heute Abend hoch oben am Hause, genau an der weithin sichtbaren Ecke der Sendlinger- und Paradiesgasse angebracht werden sollte. Die ganze Straße hinauf und hinab, vom Sendlingertor bis zum Rosentaleck, sollte hinfort das Haus Meister Florian Schroppers durch dieses schmiedeeiserne Kunstwerk mit dem vergoldeten Zierat kenntlich gemacht werden nach gut münchnerischer Sitte...

Der Alte betrachtete und betastete das schöne Werk mit hellem Vergnügen. Als Modell hatte das alte Wahrzeichen der Tölzer Schmiede gedient, wo er einst das Handwerk erlernt; nur war die Nachahmung in größerem Umfang und mit reicherem Schmuck ausgeführt.

Nun wollte der Alte auch noch eigenhändig ein paar Schläge daran tun und die Klammern etwas länger ziehen. Nicht gestört zu werden, trat er auf die Schwelle des Vorraums, um das Flügeltor halb zu schließen. Da sah er seinen Sohn, den Priester, eilig über die Straße auf die Schmiede zuschreiten.

»Der kommt zu früh; heut' Abend ist noch Zeit genug, den Segen darüber zu sprechen.«

Schnell zog er den Kopf in das Halbdunkel der Werkstatt zurück, mit den harten, geschwärzten Händen die Torflügel übereinander haltend.

Doch im nächsten Augenblick hatte sich Joseph schon durch das Tor gezwängt.

»Nix da!« rief der Schmied, der sich die Überraschung nicht verderben lassen wollte.

»Vater, mit der Spitzeder geht's zu End'. Ihr habt doch nicht...?« schrie der Sohn dem halbtauben Alten in die Ohren, daß es in der stillen Werkstatt unheimlich widergellte. Eine bläuliche Flamme züngelte am Herde auf, um sofort in der Asche wieder zu verlöschen.

»Mit der Spitzeder geht's zu End'?« wiederholte Meister Florian wie einer, der nicht weiß, was er mit der Neuigkeit anfangen soll... »Is so weit nit aus. Die Spitzeder gehört nit zu unsrer Kundschaft...«

*


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