Michael Georg Conrad
Die goldene Schmiede
Michael Georg Conrad

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Ernst las: »Meine Tochter! Deine Seele hungert und dürstet nach dem Ideal. Wo ist das Ideal? Das Ideal ist in Gott, nur in ihm allein, in keiner staubgebornen Kreatur. Wenn wir ganz in Gott aufgehen, mit Leib und Seele uns seinem Dienste, seiner Betrachtung, seiner Anbetung weihen, dann genießen wir schon hienieden die selige Unendlichkeit, und alles Endliche und Schmerzliche der alltäglichen Wirklichkeit hat keine Macht mehr über unsere unsterbliche Seele. Darum, meine Tochter, lasse nicht ab, Dich dem Herrn Himmels und der Erde zu opfern usw., usw.«

Der Philosoph schüttelte den Kopf.

»Was hast du gegen die Antwort, sprich?« fragte der Priester gelassen und sein Erstaunen verbergend.

»Ich halte die Antwort nicht für glücklich.«

»Da seh einer her! Sie ist dir zu feurig, zu...?«

»Im Gegenteil. Zu abstrakt, zu unpersönlich, zu...«

»Zu unpersönlich, halt! Wie schlecht du doch noch immer die Stellung eines Priesters meiner Art kennst, liebster Ernst! Zu unpersönlich – das ist kostbar naiv, erlaube mir! Wie viele Beispiele habe ich dir nicht schon erzählt von der Leidenschaft, mit welcher unsereiner von den unverstandenen Jungfrauen und Frauen verfolgt wird, wie sie im Beichtstuhl, in der Sakristei, in der Amtswohnung, auf Spaziergängen, bei Besuchen, kurz, wo sich nur die geringste Möglichkeit persönlicher Annäherung bietet, auf uns eindringen, auf uns einstürmen. Und es ist nicht immer der Geistliche, nicht immer der Gewissensrat, den sie in uns suchen – es ist der Mann, zu dem sie gelangen wollen, und jener soll nur die Hand zur Vermittlung bieten; es ist nicht immer die Sündenlast, die sie vor uns auf die Knie fallen und unsere Soutane küssen läßt, es ist die Sündenlust, der dämonische Reiz, den Mann des heiligen Amtes zum unheiligen Genossen mystisch-sinnlicher Ausschweifung zu haben; es ist andächtig schwärmende Sinnenbrunst, die an der Brust des Priesters nach Befriedigung lechzt... Das, mein Freund, ist der letzte geheime Grund der Bilder, welche fromme Damen für mich malen, der Hunderte von Briefen und Gedichten, welche sie mir schreiben, der unbelauschten Unterredungen an profanen Orten, welche sie flehentlich von mir heischen...«

»Gut, das räume ich alles ein. Wenn ich sagte, die Antwort erscheine mir zu unpersönlich, so meinte ich nur, daß sie zu wenig auf die Person der Briefschreiberin eingehe, ihre besondere geistige Individualität nicht stark genug ins Auge fasse.«

»Nehmen wir doch lieber gleich, statt aller weitschweifigen Erklärungen, ein konkretes Beispiel! Wie würdest du, Ernst, den vorliegenden Brief beantwortet haben?«

Der Philosoph besann sich einen Augenblick, dann sagte er langsam und bestimmt: »Ich hätte die Briefschreiberin, wenn sie nun doch einmal nur mit Luft bedient sein kann, nicht mit theologischer, sondern mit poetischer Luft angeblasen. Das hätte sie zunächst vielleicht noch etwas mehr erhitzt, zuletzt aber sicher um so gründlicher abgekühlt. Zu einer doppelten Dosis Mitleid noch eine Dosis feiner Ironie könnte die Wirkung nur erhöhen. Eine Briefschreiberin, die sich phantastisch mit ›Sine‹ unterzeichnet, müßte sich zunächst auch eine phantastische Anrede gefallen lassen. Meine Antwort würde ungefähr so lauten: Geliebte Illusion Sine! Du leidest wie eine Märtyrerin, Du seufzest wie eine Heilige. In schmerzlicher Sehnsucht erwartest Du einen Tag voll Licht und Befriedigung, der in diesem Tal der Tränen nie anbrechen wird, für Dich so wenig wie für andere. Es ist eine schöne Täuschung in einem Menschen, in einem Weggenossen auf der Wüstenreise dieses Lebens sein Ideal erblicken zu wollen, aber doch nur Täuschung, der neue Bitternis folgen muß. Glaube mir, bei richtiger Schätzung der Dinge wird Deine Seele auf den Wogen des Schmerzes, auf welchen Deine Leidenschaft hilferufend umhertreibt, ganz gewiß eine größere und reinere Lust empfinden lernen, als sie Dir jemals eine sinnliche Befriedigung Deiner Begierden gewähren könnte. Habe Geduld und Mitleid mit dem Weltgenossen, dessen Barmherzigkeit Du so stürmisch forderst. Er ist vielleicht nicht weniger elend als Du. Und wenn er sein Elend mit dem Deinigen vereinen wollte, wer bürgt Dir dafür, daß Ihr das Doppelelend als Glück empfinden müßtet? Von ihm weiß ich, daß er's niemals als solches empfände. Also laß ab von Deinem Verlangen! Schwinge Dich auf zu Gott und seinen Heiligen, meine geliebte Illusion, aber hüte Dich, immer wieder auf Deinen Mitmenschen zurückzufallen, und durch diesen Fall sein Leid und das Deinige zu vermehren usw.«

»O Freund«, erwiderte der Priester, »Wie wenig du die Weiber kennst! Deine Antwort hältst du für eine wirksame Abfertigung? Die meinige mag es nicht sein, aber die deinige ist es ebensowenig. Ich könnte dir Beispiele erzählen von der Unermüdlichkeit des weiblichen Angriffs, die dich von deinem poetischen Wahn rasch kurieren würden.«

»Kuriere mich! Du hast mir ja ohnehin für heute eine Überraschung versprochen, die darfst du mir nicht schuldig bleiben, und in diesem Falle wäre es sogar eine gegenseitige, denn eine gelungene Kur pflegt den aufrichtigen Arzt nicht weniger zu überraschen, als den skeptischen Kranken selbst.«

»Ich habe heute wirklich keinen guten Tag, mein Sohn.«

»Das merke ich. Darum tut dir Zerstreuung um so mehr not. Erzähle mir von den phänomenalen menschlichen Dummheiten und Lasterhaftigkeiten; ihre Tragik reicht immer noch zu einer sanften Aufheiterung der Weisen und Entsagenden aus.«

»Jetzt quälst auch du mich. Das fehlte noch!«

»Je mehr ich dich quäle, desto leichter wirst du die Quälerei der andern vergessen.«

»Das ist doppelsinnig.-

»Wie jede gute Bemerkung eines Philosophen, der sich an dem Theologen reibt. Die Schwärze färbt ab! Geh', Joseph, erzähle mir die versprochene Geschichte aus dem Martyrologium der Liebe! Irgendeinen Totentanz...«

»Gut. Der Dulder fügt sich. Nun sollst du aber auch einmal alles hören. Machen wir's uns jedoch erst wenigstens körperlich bequem. Was sagst du zu dem neuen Kanapee? Raffiniert, nicht wahr?«

»Ich bemerke überhaupt jetzt erst eine Menge neuer Einrichtungsgegenstände von einer bei dir ungewöhnlichen Solidität und Pracht...«

»Wieder doppelsinnig.«

»Nein, wahrhaftig... Kanapee, orientalische Teppichvorhänge an den Türen, ich verstehe ja von diesem Zeug nichts, aber es scheint sehr hübsch; eine verhüllte Psyche in der Ecke, na, na... Christus sogar ist im Werte gestiegen, denn dieses prächtige Elfenbeinkruzifix, welches jetzt das hölzerne von ehemals ersetzt, hat gewiß mehr als dreißig Silberlinge gekostet... Zinnkannen, Majolikakrüge... Lauter fromme Stiftungen, oder hast du einen verborgenen Schatz entdeckt?«

»Wieder ironischer Doppelsinn, lieber schlechter Mensch! Man schreitet eben mit seiner Zeit vorwärts, was auch die Welt von den reaktionären Pfaffen sagen mag. Wir essen Milchbrötchen, gegen die einst unsere französischen Kollegen geeifert, wir bedienen uns der Eisenbahnen und Telegraphen und andrer Errungenschaften der verteufelten Naturwissenschaft; warum sollen wir nicht auch in stilvoll eingerichteten Zimmern wohnen und als Römlinge, die wir nun doch einmal sein müssen, für altdeutsche Behaglichkeit schwärmen?«

»Alles zur größeren Ehre Gottes. Ich liege hier wirklich ganz köstlich. So, jetzt schließe ich die Augen, lieber Joseph, und Euer Hochwürden mögen ganz ungeniert die errötendsten Geschichten erzählen. Aber wo du all' das Heidengeld zu diesen schönen Sachen her hast, mußt du mir gelegentlich auch noch verraten... Du spekulierst doch nicht mit der Spitzeder zusammen?...«

»Du ahnungsvoller Engel, du«, murmelte der Priester.

»Hast du etwas gesagt?«

»Nein. Bestehst du noch darauf, die Geschichte zu hören?«

»Wie auf meiner Seligkeit. Vorzügliches Kanapee! Wenn ich einschlafe, soll die Schuld nicht deiner Geschichte beigemessen werden. Erzähle! Ich bin ganz Ohr und Behaglichkeit und, wenn man so göttlich gelagert ist, auch ganz Milde und Nachsicht.«

Ein schöner, sonniger Nachmittagsfriede webte in dem priesterlichen Heim. Wie die sanften Atemzüge eines glücklich Schlummernden gingen die Pendelschwingungen der großen alten Wanduhr in dem dunkelbraunen Gehäus. Nirgends störte ein zu lauter Ton, eine zu helle Farbe. Alles war milde, abgedämpfte Harmonie in der traulichen Stube, wie von selig in sich selbst versunkener Andacht überhaucht.

Der Priester lehnte sich in den Großvaterstuhl zurück, das Gesicht seinem Freunde zugekehrt, als wollte er in dessen Zügen die Wirkung der Erzählung verfolgen. Gurlinger ruhte mit geschlossenen Augen ausgestreckt auf dem Kanapee, wie eine schlummernde Statue auf dem Sarkophage, ein Bild edelster Ruhe. Das Profil des bartlosen Gesichtes zeigte die reinsten Linien, der schlanke Gliederbau elastische Jugendlichkeit.

Joseph begann mit halblauter Stimme wie einer, der ohne persönliche Teilnahme und deshalb auch ohne jede Erregung in Betonung und Modulation aus einem Buche vorliest.

»Ich sehe einen bleichen Knaben mit dem Bücherpäckchen unter dem Arm durch die Sendlingergasse schreiten. Gleichgültig, ob er von der Schule kommt oder zur Schule geht, der Ausdruck seines Gesichtes ist wie der seiner Bewegungen stets der gleiche; auch das Straßenbild scheint stets im wesentlichen das nämliche zu sein. Große und kleine Kaufläden mit farbigen Ladenschildern und Inschriften, abwechselnd mit Bäckereien und Wirtshäusern, wo man durch die großen, tiefen Fenster die Gäste auf den Holzbänken und die Reihen der steinernen Maßkrüge auf den langen, dunklen Tischen erblickt und ein dumpfes Gewirr von Stimmen vernimmt, dazwischen zuweilen den spitzigen Ton einer Geige oder das elegische Gezirpe einer Zither; dann wieder schmale Haustüren, die durch einen engen, düstern Gang in den Hof oder über eine schmale Treppe in die oberen Gemächer leiten; auf der anderen Seite eine Zeitungsexpedition in einem weitläufigen Gebäude mit einer kasernenähnlichen, geschäftsmäßig langweiligen Fassade; in der Straße ein häßliches, prosaisches Gewoge von Menschen und Fuhrwerken; Land- und Stadtleute, Vornehmere und Geringere schieben aneinander vorüber; selten daß ein liebes Wort fällt, oder ein Mund zum Gruß sich öffnet; alles scheint sich fremd zu sein, von einem Wind in diese lange, krumme, unschöne Straße zusammengekehrt und in Bewegung erhalten. Auch der bleiche Knabe mit dem Bücherpäckchen unter dem Arm schreitet fremd unter den Fremden dahin und achtet ihrer nicht. Er liest in niemandes Seele und niemand liest in seiner Seele, wo die Helden Griechenlands und Roms wieder lebendig geworden und sich ruhmvolle Treffen liefern im Wettkampf um die Palme des Siegs und herrlicher Unsterblichkeit. Denn der Knabe ist Zögling einer gelehrten Schule, und die Alltagsprosa der modernen Welt ringsum spricht nicht zu seinem ideal gestimmten Geiste. Nur wenn er sich der Ecke nähert, wo die Rosentalgasse in rascher Senkung abbiegt, dort wo das stattliche Haus steht mit dem vornehmen Erker und der darüber gemeißelten Rose aus rotem Sandstein, da kehren seine Gedanken aus Hellas und Rom zurück, ein seltsamer Zauber erfaßt sein Gemüt, seine Schritte verlieren den gewohnten Rhythmus, zögernd und sich umwendend geht er vorüber und seine leuchtenden Augen spähen nach einem Fenster empor, wo hinter roten Nelken und gelben Levkojen eine Mädchenblume blüht, schöner als alle Blumen der Welt, poetischer als alle Dichter und Helden des klassischen Altertums. Und wie oft er auch des Weges kommen mochte, eine geheime Gewalt zog sein Auge nach jenem Fenster, und eine heiße selige Empfindung nahm er mit fort, wenn er des holden Mädchens ansichtig geworden, und ein dunkeltrauriger Tag war es für ihn, wenn er ohne diesen Blick davon mußte.

Monate gingen vorüber. Es kam der Herbst in die Welt und dann der Winter, und die Sendlingergasse war im eisigen Schneegestöber des Winters nicht erfreulicher, als in den heißen Staub- und Wetterwolken des Sommers. Und doch wußte sich das bleiche Studentlein in ganz München keine liebere Gasse mehr. Ihr war fortan nichts mehr vergleichbar. Je sehnsüchtiger er nach jenem Mädchen ausschaute, und je freundlicher es seinen Blick erwiderte – o unvergeßlichster aller Neujahrstage, da war's das erstemal und lila Hyazinthen blühten am Fenster, und vom Weihnachtsfest grünte und leuchtete noch das Reisig des Christbaums – desto schöner erschien ihm auch die Sendlingergasse, desto imposanter und heldenhafter ihr Leben und Verkehr. Und als er dann noch in der Schule von dem heroischen Kampf der Bauern am Sendlingertor hörte, da erblaßte selbst der Glanz der Thermopylen, und die bayrischen Helden waren ihm bewunderungswürdiger, als die tapferen Mannen des Leonidas. So revolutionierte das Auge eines Kindes die ganze Welthistorie. Und hatten schon die Augen vom Fenster aus so viel vermocht, so geschah noch Ungeheuerlicheres, als gegen den Ausgang des Winters das Studentlein zum erstenmal dem wundermächtig herrlichen Mädchen in ganzer Lebensgröße auf der Straße begegnete. Er hätte niederknien mögen in den Straßenkot und es anbeten wie eine Madonna. Es war ihm als höbe ihn ein Zauber vom Boden, als ginge er nicht mehr auf den Füßen, sondern schwebe mit unsichtbaren Fittichen in der Luft. Dann wieder schritt er wie ein todesmutiger Held einher, wünschend, eine unerhörte Riesentat vollbringen zu können, um dem Mädchen seine unendliche Liebe zu bezeugen. Ja, jetzt war's klar, er verhehlte sich's selbst nicht mehr, der arme Junge – er war bis über die Ohren verliebt.

Als er aber in demselbigen Frühjahr aus der lateinischen Schule in die geistliche Anstalt übertreten mußte, da war's mit aller Herrlichkeit des Sehens auf lange vorbei. Doch das Bild der Holdseligen hatte sein treugehütetes Plätzchen im Herzen des Jünglings; das vermochte ihm keine klösterliche Zucht zu entreißen. Die Jubelzeit der Ferien rückte heran. Da kam, was so heiligend und beseligend gewirkt und kalte, dunkle Jahre durchglänzt und durchsonnt hatte, von selbst zu Fall. Der Jüngling im schwarzen Gewande des Klerikers war hinfort jeder Versuchung überhoben: er hatte auf seinem letzten Feriengang seine erste und einzige Mädchenliebe am Arme eines anderen Mannes, des Bräutigams, gesehen, und als sie aneinander vorübergeschritten waren und der fremde Mensch zu seiner Braut eine boshafte Bemerkung über den ›komischen Schwarzrock‹ gemacht, und jene mit einem beifälligen Kichern darauf geantwortet hatte, da war der Liebestraum der Sendlingergasse zerronnen für immer. Der Kleriker klomm Stufe um Stufe den Kalvarienberg seines gottgeweihten Berufs hinan. Jenes Mädchen, das inzwischen Braut und Frau geworden, war für ihn bis auf die Erinnerung verschollen. Wohl erschien ihm noch zuweilen im Traum die feine, schmächtige Gestalt mit dem lieblichen Kindergesicht und dem versengenden Blick der großen, glühenden Augen, aber ihre Haare waren zischendes Schlangengeringel, aus ihrem kichernden Munde kroch ekelhaftes Gewürm – und der höllische Spuk hatte keine Gewalt über die fromme Stimmung des Geweihten.


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