Joseph Conrad
Der Nigger vom ›Narzissus‹
Joseph Conrad

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IV

Die unsterbliche See in ihrer unendlichen Weisheit und Gnade läßt die Menschen, die sie ihrer Willkür unterworfen sieht, nie zur Ruhe kommen, läßt ihnen keine Muße, über die vielfachen und herben Reize des Daseins zu grübeln. Sonst könnten sie, mit Bedauern vielleicht, gewahr werden, daß der Kelch voll befeuernder Bitterkeit, der ihnen so oft gereicht und so oft von den starren und verlangenden Lippen weggezogen wurde, ein allzu ärmliches Entgelt ist. Stündlich werden sie daran gemahnt, daß sie ihr Leben der ewigen Barmherzigkeit verdanken, die ihnen harte, unaufhörliche Arbeit auferlegt, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang: bis sie nach vielen qualvollen Nächten und Tagen voll stachelndheißer Wünsche nach Glück und Himmelsfrieden sich durchgerungen haben zu dem großen Schweigen, das sie, in schwermütiger Furcht und Tapferkeit, Plage und Arbeit, überdauern läßt – ihr dunkles und hartes Los.

Der Kapitän und Herr Baker trafen zusammen und starrten sich einen Augenblick lang prüfend und erstaunt an, wie Leute, die sich nach sorgenreichen Jahren unerwartet treffen. Beide hatten die Stimme verloren und konnten nur angestrengt flüstern. »Fehlt jemand?« fragte Kapitän Allistoun. – »Nein. Alle hier.« – »Jemand verletzt?« – »Nur der Zweite Offizier.« – »Will gleich nach ihm sehen. Glück haben wir.« – »Gewiß«, brachte Herr Baker mühsam heraus. Er hielt sich an der Reling und rollte die blutunterlaufenen Augen. Der kleine graue Mann machte eine verzweifelte Anstrengung, seine Stimme über ein heiseres Murmeln zu erheben, und sah seinen Ersten mit kaltem, messerscharfem Blick an. »Lassen Sie Segel setzen«, sagte er im Befehlston; dabei lag unbeugsame Entschlossenheit um seine schmalen Lippen. »Lassen Sie Segel setzen, sobald wie möglich. Das ist ein günstiger Wind. Sofort, Herr – lassen Sie die Leute nicht zur Besinnung kommen. Sonst klappen sie zusammen und wir werden nie . . . Wir müssen jetzt vorwärts kommen.« . . . Er taumelte, von einem langen schweren Rollen des Schiffes; die Reling tauchte in das leuchtende, zischende Wasser. Er faßte nach einer Wante und stieß hilflos gegen den Ersten . . . »Jetzt haben wir wenigstens guten Wind. – Segel setzen.« Sein Kopf rollte zwischen den Schultern hin und her. Seine Augenlider begannen heftig zu arbeiten. – »An die Pumpen – Pumpen, Herr Baker.« Er spähte angestrengt, als wäre das Gesicht eine Spanne vor ihm eine halbe Meile weit weg. »Halten Sie die Leute in Atem, damit – damit wir vorwärts kommen«, murmelte er schlaftrunken, wie im Einnicken. Dann riß er sich plötzlich zusammen. »Darf nicht stehn bleiben. Tut nicht gut«, meinte er, mit einem schwachen Versuch zu lächeln. Er ließ seinen Halt fahren und rannte, von dem Schlingern des Schiffes gedrängt, wider Willen nach achtern, in kleinen Schritten, bis er am Kompaßhäuschen zur Ruhe kam. Dort hing er und schaute wie abwesend zu Singleton hinauf, der, ohne ihn zu beachten, den Klüverbaum scharf im Auge behielt. – »Steuerung in Ordnung?« fragte er. In der Kehle des alten Matrosen gab's ein Geräusch, als rasselten die Worte dort erst durcheinander, bevor sie herauskamen. »Steuert . . . wie ein kleines Boot«, sagte er endlich mit rauher Zärtlichkeit, ohne den Schiffer auch nur halb anzusehen. Dann ließ er achtsam das Rad herumwirbeln, hielt es an, schwang es wieder zurück. Kapitän Allistoun riß sich von dem Genuß los, sich gegen das Kompaßhäuschen zu lehnen, und begann das Achterdeck abzuschreiten, schwankend und schleudernd, um das Gleichgewicht zu bewahren . . .

Die Pumpenstangen klirrten und stampften in kurzen Stößen; am Fuß des Hauptmastes drehten sich in stummer Eile die Schwungräder und rissen mit unerbittlicher Regelmäßigkeit die zwei schlaffen Bündel Menschen vor und zurück, die an den Handgriffen hingen. Die Leute ließen sich gehen und schwangen aus den Hüften hin und her, mit zuckenden Gesichtern und starren Augen. Der Zimmermann rief von Zeit zu Zeit, um den Takt anzugeben, mechanisch: »Hoch auf! Immer drauf!« Herr Baker konnte nicht sprechen, fand aber zum Brüllen noch Stimme. Angespornt von seinem Wettern, sahen die Leute die Bändsel nach, zogen neue Segel auf; und obwohl sie sich kaum imstande fühlten, sich zu rühren, schleppten sie schwere Stapelklötze hinauf – besserten das Geschirr aus. Sie gingen mit unsicheren, krampfhaften Bewegungen in die Takelung. Der Kopf schwindelte ihnen, wenn sie den Stand wechselten; sie traten blindlings, wie im Dunkel, auf die Rahen oder vertrauten sich dem erstbesten Tau an, mit der Fahrlässigkeit der Erschöpfung. Es störte ihren trägen Herzschlag nicht, wenn sie mit knapper Not einem Sturz entgingen; das Tosen der Wellen, die tief unter ihnen schäumten, klang ihnen beständig leise in die Ohren wie ein unbestimmtes Geräusch aus einer andern Welt; der Wind trieb ihnen die Tränen in die Augen und suchte sie mit schweren Stößen aus ihren unsicheren Stellungen zu reißen. Mit strömenden Gesichtern und fliegendem Haar sausten sie zwischen Himmel und Wasser hin und her, saßen rittlings auf den Rahnocken, hockten auf den Pferden, hielten Toppnanten umarmt, um die Hände frei zu haben, oder stemmten sich gegen Kettenbindungen. Ihre Gedanken flatterten haltlos zwischen dem Wunsch nach Ruhe und dem Wunsch zu leben, während sie mit klammen Fingern Splissen lösten, nach Messern suchten oder sich mit zähem Griff gegen die heftigen Stöße der flatternden Segel festklammerten. Sie warfen einander wilde Blicke zu, fuchtelten wütend mit einer Hand, während sie ihr Leben in der andern hielten, sahen auf das überflutete Deck hinab, das als schmaler Streifen unter ihnen lag, brüllten nach Lee hinüber: »Schnell, dort! . . .« »Ausholen! . . .« »Festmachen!« Ihre Lippen bewegten sich, ihre Augen rollten unheimlich in dem Bestreben, sich verständlich zu machen, doch der Wind wehte ihre Worte ungehört auf die hochgehende See hinaus. Sie plagten sich in unerträglicher rastloser Anspannung, wie Leute, die in einem bösen Traum unter Eis oder Flammen arbeiten müssen. Sie glühten und fröstelten abwechselnd. Ihre Augäpfel schmerzten heftig, wie vom Rauch eines großen Brandes; bei jedem Schrei schien ihnen der Kopf springen zu wollen. Es war, als ob harte Finger sich um ihre Kehle krallten. Bei jedem Rollen dachten sie: »Jetzt muß ich auslassen. Es wird uns alle hinunterschütteln« – und während sie oben herumgeschleudert wurden, schrien sie wild: »Paß auf dort – fang das Ende! . . .« »Scher ein! . . .« »Dreh den Block da! . . .« Sie nickten verzweifelt, schnitten wütende Gesichter. »Nein! Nein! Von unten herauf!« Sie schienen einander tödlich zu hassen. Die Sehnsucht nagte ihnen am Herzen, es möchte das alles vorbei sein, und doch hatten sie wieder den brennenden Wunsch, die Arbeit gut zu tun. Sie verfluchten ihr Geschick, verachteten ihr Leben – und vergeudeten ihren Atem in greulichen Verwünschungen gegeneinander. Der Segelmacher hatte seinen kahlen Kopf entblößt, arbeitete fieberhaft und vergaß ganz seine engen Beziehungen zu so vielen Admiralen. Der Bootsmann kletterte mit Splißeisen und Schiemannsgarn herum oder kniete auf den Rahen, immer auf der Kippe, mit dem Mitteldeck unten Bekanntschaft zu machen; dabei schwebten ihm deutliche Bilder von seiner ›Alten‹ und den Gören in dem Marschdorfe vor. Herr Baker fühlte sich jämmerlich schwach, stakelte aber, grunzend und unbeugsam wie ein Mann von Eisen, hin und her; er paßte die Leute ab, die aus der Takelage kamen und herumstanden, um Atem zu schöpfen. Er kommandierte, ermutigte, wetterte. »Los, vorwärts – das Großmarssegel jetzt! Holt mir das Jolltau da an! Steht nicht so herum!« – »Gibt's gar keine Rast für uns?« murmelten Stimmen. Er fuhr grimmig herum – dabei tat ihm selbst das Herz weh. »Nein! Keine Rast, bis die Arbeit getan ist. Arbeitet, bis ihr umfallt. Dazu seid ihr da.« Ein alter Seebär hinter ihm lachte kurz auf. »Arbeit' oder verreck'«, krächzte er bitter, spuckte sich in die breiten Hände, hob die langen Arme und faßte das Tau hoch über seinem Kopf; dann stieß er einen wehklagenden Ruf aus, um die andern zu einem gemeinsamen Anrucken aufzufordern. Eine See schlug übers Achterdeck und schickte sie allesamt strampelnd nach Lee. Mützen und Handspaken schwammen umher. Aus dem weißen Gischt ragten klammernde Hände, zappelnde Beine und da und dort ein prustendes Gesicht. Herr Baker war mit den andern niedergeworfen worden; er kreischte: »Laßt das Tau nicht aus! Haltet fest! Haltet!« Und die Leute, jämmerlich zerschlagen von dem bösen Sturz, hielten fest, als gälte es ihr Lebensglück. Das Schiff schlingerte schwer, und schaumigbleiche Köpfe reckten sich nach ihm. Die Pumpen waren geklart, die Brassen eingeschert, die drei Toppsegel und das Focksegel gesetzt. Die Brigg flog schneller dahin und überholte die hastig treibenden Wogen. Das drohende Donnern ferner Sturzseen erhob sich hinter ihr, erfüllte die Luft mit zitterndem Dröhnen. Und verwüstet, zerschlagen und wund eilte sie schäumend nach Norden, wie beseelt von Mut und Ausdauer . . .

Im Vorderkastell herrschte dumpfe Verzweiflung. Die Leute sahen sich betrübt in ihrer Behausung um. Alles triefte von schlammiger Nässe. Der Wind strich sausend durch, und ringsum lagen formlose Trümmer verstreut, wie in einer halbüberfluteten Grotte an einer felsigen stürmischen Küste. Viele hatten alles verloren, was in der Welt ihr eigen gewesen war; die von der Steuerbordwache aber hatten zum großen Teil ihre Kisten gerettet; allerdings rann das Wasser in kleinen Bächen heraus. Die Betten waren durchweicht, die Decken auseinandergezerrt; manche hatten sich zum Glück an vorstehenden Nägeln oder so verfangen. Die Leute zogen aus übelriechenden Winkeln nasse Lumpen, wrangen das Wasser heraus und suchten ihr Eigentum zu erkennen. Einige lächelten gezwungen, andere sahen sich ausdruckslos und schweigend um. Es gab Jubelschreie über alte Unterjacken und schmerzliches Stöhnen über formlose Dinger, die sich unter dem schwarzen Trümmerwerk zerbrochener Bettstellen fanden. Eine Lampe wurde entdeckt, unter das Bugspriet geklemmt. Charley wimmerte ein wenig. Knowles humpelte herum, schnüffelte, stöberte in dunklen Ecken nach ›Strandgut‹. Er ließ das schmutzige Wasser aus einem Stiefel rinnen und mühte sich, den Eigentümer zu finden. Manche saßen, von ihren Verlusten überwältigt, auf der Vorstevenluke, hielten die Ellbogen auf die Knie, die Wangen in die Fäuste gestützt und verschmähten es aufzublicken. Er hielt ihnen den Stiefel unter die Nase. »Ein guter Stiefel das! Deiner?« Sie schnarrten: »Nein – fahr' ab!« Einer fuhr ihn an: »Geh' zum Teufel damit.« Er schien überrascht. »Warum? 's ist ein guter Stiefel.« Dann fiel ihm plötzlich ein, daß er alle seine Kleider verloren hatte, er ließ seinen Fund fallen und begann zu fluchen. Durch das Halbdunkel schallten Verwünschungen. Ein Mann kam herein, stand still, ließ die Arme sinken und wiederholte von der Schwelle aus: »Da schaut's gut aus! Na, da schaut's gut aus!« Ein paar wühlten in den triefenden Kisten fieberhaft nach Tabak. Die atmeten schwer, lärmten mit gesenktem Kopf. »Da schau her, Jack! . . .« »Da! Sam! Mein Ausgehzeug für immer ruiniert.« Einer hielt ein paar klatschnasse Hosen hoch und lästerte grauenhaft. Niemand sah auf ihn. Die Katze kam irgendwo heraus; man huldigte ihr, reichte sie von Hand zu Hand, streichelte sie und murmelte ihr Kosenamen zu. Man wunderte sich, wo sie es ›übertaucht‹ hatte, stritt darüber. Eine heftige Auseinandersetzung begann. Zwei Leute brachten einen Krug frischen Wassers, und alle drängten sich herum. Tom aber zwängte sich miauend vor und trank als erster. Ein paar liefen nach achtern, um Öl und Zwieback zu holen.

Dann begannen sie in dem gelben Dämmer das Deck zu reiben; zwischendurch kauten sie an hartem Brot und schickten sich an, ›irgendwie durchzuhalten‹. Man teilte sich in die Betten, stellte die Reihenfolge fest, in der die Stiefel und das Ölzeug getragen werden sollten; sie nannten einander gutgelaunt ›Alter‹ und ›Söhnchen‹; man hörte freundschaftliche Klapse und lautgebrüllte Späße. Ein paar streckten sich auf das nasse Deck, legten den Kopf auf die verschränkten Arme und schliefen; andere saßen auf der Luke und rauchten; ihre müden Gesichter mit den glänzenden Augen verschwammen in dem blauen Qualm. Der Bootsmann steckte den Kopf durch die Tür. »Löst einer das Ruder ab«, schrie er herein – »'s ist sechs. Hol' mich der Teufel, wenn der alte Singleton nicht länger als dreißig Stunden dort war. Ihr seid eine feine Bande!« Er schlug die Tür wieder zu. »Der Erste hat Deckwache«, sagte jemand. – »He, Donkin, du bist dran!« riefen drei oder vier zugleich. Der war in eine leere Koje gekrochen und lag still auf den feuchten Brettern. »Donkin, ans Steuer!« Er gab keinen Laut von sich. – »Donkin ist tot«, scherzten einige. – »Verkauft seinen Kram«, rief ein anderer. – »Donkin, wenn du nicht ans Steuer gehst, werden sie dir deinen Kram verkaufen, hörst du?« neckte ihn ein dritter. Er stöhnte aus seiner schwarzen Höhle hervor, klagte über Schmerzen in allen Gliedern, winselte kläglich. »Er will nicht«, rief eine verächtliche Stimme. »Davies, du bist an der Reihe!« Der junge Matrose erhob sich mühsam und reckte die Schultern. Donkin streckte den Kopf vor; in dem gelben Licht sah er geisterhaft verkümmert aus. »Ich geb' dir ein Pfund Tabak«, bettelte er weinerlich, »sobald ich ausfasse. Ich will – bei Gott . . .« Davies holte mit der verkehrten Hand aus, und der Kopf verschwand. »Ich geh'«, sagte er, »aber du zahlst mir dafür.« Dabei schritt er unsicher, aber entschlossen zur Tür. »Das will ich auch«, gellte Donkin und tauchte hinter ihm wieder auf. »Das will ich auch – bei Gott . . . ein Pfund . . . Drei Schilling rechnen sie dafür.« Davies riß die Tür auf. »Du zahlst mir das . . . bei gutem Wetter«, brüllte er über die Schultern zurück. Einer der Leute knöpfte rasch seinen nassen Rock auf und warf ihn ihm an den Kopf. »Da, Taffy, nimm das, du Gauner!« – »Dank' dir!« schrie der andere aus dem Dunkel durch das tosende Wetter. Man hörte ihn davonwaten; eine Sturzsee schlug krachend über Deck. »Hat schon sein Bad weg«, bemerkte ein alter Seebär. »Ja, ja!« brummten andere. Dann, nach einer langen Pause, gab Wamibo merkwürdige Laute von sich. »Hallo, was ist mit dir los?« fragte ihn jemand mürrisch. – »Er sagt, er wäre gern für Davies gegangen«, erklärte Archie, der dem Finnen gewöhnlich als Dolmetscher diente. »Ich glaub's!« riefen ein paar . . . »Mach' dir nix draus, Dutchie . . . kommst schon noch früh genug dran . . . Du weißt auch nicht, wann's dir gut geht.« Sie verstummten und blickten allesamt nach der Tür. Singleton kam herein, machte zwei Schritte, stand still und schwankte leicht. Die See zischte und sprudelte um den Bug, und das Vorderkastell zitterte von dem dröhnenden Lärm; die Lampe pendelte flackernd hin und her. Singleton starrte verträumt und verwundert um sich, als könnte er die reglosen Leute von den tanzenden Schatten nicht unterscheiden. Rings um ihn tönte ehrfürchtiges Gemurmel: »Hallo, hallo!« . . . »Wie schaut es jetzt draußen aus, Singleton?« Die Leute auf der Luke hoben schweigend die Augen, und der zweitälteste Matrose an Bord (die beiden verstanden einander, wenn sie auch kaum drei Worte am Tag wechselten) sah seinen Freund einen Augenblick lang aufmerksam an, nahm dann die kurze Gipspfeife aus dem Mund und hielt sie ihm wortlos hin. Singleton streckte den Arm danach aus, verfehlte sie, strauchelte, stürzte plötzlich vornüber und krachte hin, steif, der Länge nach, wie ein entwurzelter Baum. Es gab ein hitziges Durcheinander. Die Leute drängten sich, lärmten: »Er ist fertig!« . . . »Dreht ihn um!« . . . »Macht Platz da!« Unter der Menge erschrockener Gesichter, die sich über ihn beugten, lag er auf dem Rücken und stierte unverrückt nach oben; es war unerträglich. In das atemlose Schweigen der allgemeinen Verblüffung hinein sagte er heiser und leise: »Geht mir schon gut« – und krampfte die Hände. Sie halfen ihm auf. Er murmelte verzagt: »Alt werd' ich – alt.« – »Du nicht«, rief Belfast mit schnell bereitem Feingefühl. Er wurde von allen Seiten gestützt und ließ den Kopf hängen. – »Geht's dir besser?« fragten sie ihn. Er sah sie aus großen dunklen Augen unter den starken Brauen an; sein langer weißer Bart fiel ihm wirr auf die Brust. »Alt! Alt!« wiederholte er stumpf. Man half ihm weiter bis zu seiner Koje. Darin lag ein schlüpfrigweicher Haufe von irgendwas, das einen Geruch ausströmte wie ein schlammiger Strand bei niederem Wasser. Es war sein durchweichter Strohsack. Mit einer krampfhaften Anstrengung streckte er sich darauf aus; man hörte ihn in dem dunklen, engen Raum ärgerlich brummen wie ein gereiztes wildes Tier, das sich in seinem Käfig nicht wohl fühlt. – »Kleine Brise . . . gar nichts . . . kann nichts mehr aushalten . . . alt!« Endlich schlief er ein, in den hohen Stiefeln und dem Südwester. Er atmete schwer, und sein Gummimantel knisterte, wenn er sich mit dumpfem Ächzen umdrehte. Die Leute unterhielten sich über ihn, flüsternd und angeregt. »Das übersteht er nicht« . . . »Stark wie ein Roß« . . . »Ja, ja; aber er ist nicht mehr, was er sonst war.« . . . Sie gaben ihn in traurigem Murmeln auf. Um Mitternacht aber trat er zum Dienst an, als wäre nichts geschehen, und antwortete, als er aufgerufen wurde, mit einem düsteren »Hier!« Mehr als je brütete er allein für sich, in undurchdringlichem Schweigen, mit trübem Gesicht. Durch lange Jahre hatte er sich den ›alten Singleton‹ nennen hören und hatte den Namen hingenommen als einen Ausdruck des Respekts, wie er einem Manne zukam, der durch ein halbes Jahrhundert, in guten und bösen Tagen, seine Kräfte mit dem Meere gemessen hatte. Für sein sterbliches Ich hatte er nie einen Gedanken gehabt. Er lebte unbeirrt fort, als wäre er unverwüstlich, gab allen Versuchungen nach und trotzte vielen Stürmen. Er hatte im Sonnenschein gekeucht, im Frost gebebt, Hunger, Durst, Ausschweifungen durchgemacht, hatte manche Probe bestanden, und keine Tollheit war ihm fremd geblieben. Alt! Ihm war, als wäre er schließlich zerbrochen. Und wie ein Mann, den man verräterisch gebunden hat, während er schlief, wachte er auf und fühlte, wie die lange Kette der mißachteten Jahre hinter ihm dreinschleppte. Mit einem Schlag begann die Bürde seines ganzen Lebens auf ihm zu lasten, und er fand sie fast zu schwer für seine Kraft. Alt! Er bewegte die Arme, schüttelte den Kopf, befühlte seine Glieder. Alt werden . . . und dann? Er blickte auf die unsterbliche See hinaus, in der jäh erwachten quälenden Erkenntnis ihrer herzlosen Macht; er sah sie unverändert, schwarz und schäumend unter den ewig forschenden Sternen. Er hörte ihre ungeduldige Stimme ihn rufen, aus der unbarmherzigen Wüste voll Unrast, Aufruhr und Schrecken. Er blickte hinaus in die ungeheuren Weiten, in denen blindwütiges, heulendes Ringen tobte; alle die Tage seines zähen Lebens hatten dem Meere gehört; und wenn sein Leben um war, dann würde das Meer noch den zerrütteten Leib seines Sklaven fordern.

Die Wucht der Brise war gebrochen. Sie sprang nach Südost um, verwehte und trieb den ›Narzissus‹ drängend nach Norden, durch frohen Sonnenschein. Weißbeschwingt eilte die Brigg auf geradem Wege heim, über die ebene blaue See, unter dem blauen Himmel. Sie trug Singletons vollendete Lebensweisheit, Donkins listige Verschlagenheit und unser aller dünkelhafte Torheit. Die Stunden quälender Ohnmacht waren vergessen; in dem lichtstrahlenden Frieden der schönen Tage dachte niemand mehr an die Angst und Pein jener dunklen Augenblicke. Denn es schien, als habe von jener Zeit an unser Leben neu begonnen, als wären wir gestorben und wiedererstanden. Der ganze erste Teil der Reise, der Indische Ozean auf der andern Seite des Kaps, all das verlor sich im Nebel, wie verschwommene Erinnerungen an ein früheres Dasein. Es hatte geendet – dann kamen weiße Stunden – dann ein fahles Dämmern – und wir lebten wieder. Singleton war zu einer trüben Erkenntnis gekommen, Herr Creighton zu einem kranken Bein, der Koch zur Berühmtheit – und der nützte die Vorteile seiner Sonderstellung schamlos aus. Donkin hatte eine neue Beschwerde. Er ging herum und wiederholte hartnäckig: »Er hat gesagt, er wollt' mir den Schädel einschlagen – habt ihr's gehört? Jetzt möchten sie uns schon wegen der kleinsten Kleinigkeit gleich umbringen.« Schließlich begannen wir selbst zu denken, daß es eigentlich schrecklich war. Und wir waren so selbstbewußt! Wir taten uns was zugute auf unsern Mut, unsere Tüchtigkeit und Tatkraft. Wir erinnerten uns an ehrenvolle Geschehnisse: unsere Ergebenheit, unsere unerschütterliche Ausdauer – und wir waren stolz darauf, als wäre das alles der Ausfluß unseres eigensten Antriebs gewesen. Wir erinnerten uns an die Gefahren, die Plackerei, die wir durchgemacht hatten – und vergaßen zartfühlend unsere schauerliche Panik. Wir schimpften über die Offiziere – die gar nichts getan hatten – und hörten auf Donkin, der uns betörte. Der unverändert spöttische Ton unserer Reden, unsere verächtlichen Blicke nahmen ihm nicht den Mut, sich um unser Recht zu sorgen und selbstlos über unsere Ehre zu wachen. Wir verachteten ihn grenzenlos – und konnten es doch nicht lassen, diesem vollendeten Künstler gespannt zu lauschen. Er sagte uns, wir seien gute Leute – ›ganz verdammt gute Leute‹. Wer dankte uns? Wer kümmerte sich im geringsten um unsere Leiden? Führten wir nicht ›ein Hundeleben für zweieinhalb Pfund im Monat‹? Dächten wir vielleicht, diese elende Bezahlung reiche aus, um uns für die ständige Lebensgefahr und den Verlust unserer Kleider zu entschädigen? »Jeden elendesten Fetzen haben wir verloren!« schrie er. Er ließ uns vergessen, daß er wenigstens nichts von eigenen Sachen verloren hatte. Die jüngeren Leute hörten zu und dachten – dieser Donkin da ist ein heller Kopf, wenn auch kein ganzer Kerl. Die Skandinavier erschreckte seine Kühnheit; Wamibo verstand nicht; und die alten Matrosen nickten gedankenvoll, daß die dünnen goldenen Ohrringe in ihren fleischigen, behaarten Ohrläppchen glitzerten. Finstere, sonnverbrannte Gesichter lagen auf den tätowierten Unterarmen. In knotigen braunen Fäusten qualmten schmutzigweiße Gipspfeifen. Die Schultern breit gebeugt, saßen die Leute in unerschütterlichem, grimmigem Schweigen da und hörten zu. Er sprach mit Feuer, geringschätzig und unwiderleglich. Seine bilderreiche, schmutzige Beredsamkeit floß dahin wie ein trüber Strom aus einer vergifteten Quelle. Seine runden, kleinen Augen tanzten nach rechts und links, fortwährend nach dem Nahen eines Offiziers spähend. Mitunter schob sich Herr Baker, wenn er nach den Klüverschoten sehen wollte, in seiner ungeschlachten Art durch den jäh verstummenden Kreis der Leute; oder Herr Creighton hinkte vorbei, das glatte junge Gesicht ernster als je, und durchforschte unser kurzes Schweigen mit einem raschen Blick seiner klaren Augen. Donkin warf ihm verstohlene schiefe Blicke nach und begann wieder: »Das ist auch einer. Ein paar unter euch haben ihn damals festgebunden. Schönen Dank habt ihr davon. Hetzt er euch nicht ärger herum als jemals? . . . Hättet ihr ihn doch über Bord gehn lassen! . . . Warum nicht? Da gäb's einen Quälgeist weniger. Warum nicht?« Er beugte sich vertraulich vor, trat wirkungsvoll zurück; er flüsterte, kreischte, schwenkte seine jämmerlichen Arme, so dick wie Pfeifenrohre, – streckte seinen magern Hals – überstürzte sich – schnitt Gesichter. In den Pausen zwischen seinen leidenschaftlichen Ansprachen seufzte der Wind leise in der Takelung, und die ruhige See rann mit unbeachtetem, warnendem Flüstern den Seiten des Schiffs entlang. Wir verabscheuten den Kerl und konnten uns doch nicht der erleuchteten Wahrheit seiner Ausführungen verschließen. Es war alles so offenkundig. Wir waren zweifellos gute Leute; unsere Verdienste waren groß und unser Lohn klein. Durch unsere Anstrengungen hatten wir das Schiff gerettet, und der Schiffer würde den Ruhm davon haben. Was hatte er getan? Das wollten wir wissen. Donkin fragte: »Was hätte er ohne uns machen können?« und wir wußten keine Antwort. Wir waren niedergedrückt von der Ungerechtigkeit der Welt und überrascht, zu sehen, wie lange wir unter diesem Druck gelebt hatten, ohne unsere unglückliche Lage zu erkennen; die unerfreuliche Entdeckung dieser unserer kritiklosen Dummheit ärgerte uns. Donkin versicherte uns, dies alles mache nur unsere ›Gutherzigkeit‹ – doch diese seichte Sophisterei konnte uns nicht trösten. Wir waren Manns genug, um uns selbst mutig unsere geistigen Mängel einzugestehen; jedoch hörten wir von da ab auf, ihn zu schlagen, in die Nase zu zwicken oder wie zufällig herumzustoßen; dies letztere war förmlich zur Volksbelustigung geworden, seitdem wir am Kap vorbei waren. Davies stichelte nicht mehr über schwarze Augen und platte Nasen. Charley, der seit dem Sturm sehr zahm war, verhöhnte ihn nicht mehr. Knowles warf ehrerbietig und mit listiger Miene Fragen auf, wie zum Beispiel: »Könnten wir alle die gleiche Kost haben wie die Offiziere? Könnten wir alle an Land bleiben, bis wir's durchgesetzt hätten? Und wenn ja, was müßte man dann zunächst versuchen?« – Donkin antwortete schlagfertig, mit geringschätziger Sicherheit. Er spreizte sich selbstbewußt in Kleidern, die viel zu groß für ihn waren, als hätte er sich maskieren wollen. Es waren meistens Jimmys Kleider – obwohl er alles und von jedermann annahm; nur hatte niemand, außer Jimmy, etwas übrig. Seine Ergebenheit Jimmy gegenüber kannte keine Grenzen. Er hockte beständig in der kleinen Kajüte herum, bediente Jimmy, heiterte ihn auf, nahm seine mürrischen Launen hin, lachte oft mit ihm. Nichts konnte ihn von dem guten Werk abhalten, den Kranken zu besuchen, besonders wenn auf Deck eine schwere Arbeit zu tun war. Herr Baker hatte ihn zweimal zu unserer unsagbaren Entrüstung beim Kragenzipfel von dort herausgezerrt. Sollte ein Kranker ohne Wartung bleiben? Sollten wir uns mißhandeln lassen, weil wir einen Kameraden pflegten? – »Was?« knurrte Herr Baker, wandte sich drohend nach der Richtung, aus der das Murmeln kam – und der ganze Halbkreis trat wie ein Mann einen Schritt zurück. »Obersegel setzen. Vorwärts, Donkin, hinauf!« befahl der Erste unbeugsam. »Segel aufbringen. Niederholer unterschlagen. Los!« Dann, wenn das Segel gesetzt war, ging er langsam nach achtern, stand lange Zeit und sah auf den Kompaß, verhärmt, nachdenklich und schweratmend, als würgte ihn die unerklärliche Mißstimmung, die über dem Schiffe lag. ›Was haben sie nur?‹ dachte er. ›Verstehe das nicht, dieses Zusammenstecken und Murren, 's ist doch eine gute Mannschaft – was man heutzutage so nennt.‹ Die Leute auf Deck wechselten bittere Worte, ergingen sich in haltlosen Betrachtungen über die unleugbare Ungerechtigkeit; und lange nachdem Donkin zu sprechen aufgehört hatte, flüsterten sie einander noch in die Ohren. Unsere kleine Welt zog ihre feste Bahn und trug unzufriedene, aufrührerische Bewohner. Es gewährte ihnen einen trüben Trost, mit endloser Gründlichkeit ihren verkannten Wert zu erörtern; und, durchdrungen von Donkins hoffnungsfrohen Lehren, träumten sie begeistert von der Zeit, in der die Besatzung jedes einzelnen Schiffes auf der weiten See aus reichen, wohlgenährten Schiffern bestehen würde.

Es sah aus, als sollte es eine lange Überfahrt werden. Der Bereich der leichten, unbeständigen Südostbrisen lag weit zurück; am Äquator, unter niederem, grauem Himmel und bei drückender Hitze, schaukelte das Schiff auf der glatten See, die einer Mattglasscheibe glich. Fernab am Horizont hingen Gewitterwolken, umdrängten mit bösem Knurren das Schiff in weitem Kreise, wie eine Horde wilder Tiere, die keinen Angriff wagen. Die unsichtbare Sonne wanderte über den aufrechten Masten hin und zeichnete sich als weiße glanzlose Scheibe in den Wolken ab; unten, auf dem bleifarbenen Wasserspiegel, hielt ihr trübes Abbild von Ost nach West mit ihr Schritt. Nachts lohten breite Flammenbüschel lautlos durch die undurchdringliche Finsternis von Himmel und Erde; für den Bruchteil einer Sekunde erschien das blindliegende Fahrzeug mit den Masten und der Takelage, jedes Segel, jedes Tau scharf schwarz erkennbar, im Mittelpunkt des feurigen Aufruhrs, wie ein verkohltes Schiff in einem Flammenkegel. Und dann wieder blieb es für lange Stunden verloren in den endlosen Weiten von Nacht und Schweigen; nur leise Seufzer, die wie verdammte Seelen herumirrten, machten die stillen Segel flattern wie in jäher Furcht; und von weit her flüsterte unter seinem Leichentuch hervor der Ozean, mit klagendleiser Stimme . . .

Wenn die Lampe ausgedreht war und die gerade Linie der Reling sich vor der offenen Tür in verschwommene Umrisse verlor, dann wandte sich Jimmy in seinen Kissen und genoß die rasch aufeinanderfolgenden Ausblicke in eine Märchenwelt aus sprühenden Flammen und schlafendem Wasser. Die Blitze weckten einen grellen Widerschein in seinen großen traurigen Augen, daß sie sich in roter Glut zu verzehren schienen in dem schwarzen Gesicht; dann wieder lag er geblendet und unsichtbar in tiefstem Dunkel. Er hörte auf dem ruhigen Deck leichte Tritte, das Atmen irgendeines Matrosen, der auf der Treppe herumlungerte, das leise Knacken der schwingenden Masten oder die ruhige Stimme des wachthabenden Offiziers, die hart und laut von den reglosen Segeln widerhallte. Er lauschte gierig, flüchtete sich aus den Qualen der Schlaflosigkeit in die ruhevolle Beobachtung der kleinsten Geräusche. Es beruhigte, ermutigte, erheiterte ihn, wenn er das Tauwerk knarren, die Wache sich regen und flüstern oder das halblaute Gähnen eines schläfrigen, müden Matrosen hörte, der sich bedächtig zu einem Nicker auf die Planken niederließ. Das Leben schien unbesieglich. Es nahm durch Nacht, Sonnenschein und Schlaf seinen Lauf; unermüdlich umwebte es lockend das Märchen von seinem nahen Tode; es war licht wie der zackige Schein der Blitze – und reicher an Überraschungen als die dunkle Nacht. Es gab ihm ein Gefühl von Geborgensein; und die Ruhe der allbeherrschenden Dunkelheit war ihm gleich wert wie das rastlose, gefahrdrohende Licht.

Gegen Abend aber, während der Hundewachen, und sogar bis tief in die erste Nachtwache hinein waren immer eine Menge Leute vor Jimmys Kajüte versammelt. In friedfertiger Anteilnahme lehnten sie mit gekreuzten Beinen zu beiden Seiten der Tür, standen plaudernd quer über der Schwelle oder saßen zu zweit schweigend auf Jimmys Seekiste; drei oder vier lümmelten in einer Reihe an der Bordwand längs der Reservestenge und schauten nachdenklich drein, während der Lichtkegel von Jimmys Lampe auf ihre einfachen Gesichter fiel. Der kleine weißgestrichene Raum glänzte in der Nacht wie ein silberner Schrein, darin ein schwarzes Götzenbild steif unter einer Decke ruhte und mit müden, halbgeschlossenen Augen unsere Verehrung entgegennahm. Donkin leitete diesen Gottesdienst. Er gebärdete sich, als habe er ein Phänomen zu demonstrieren, eine merkwürdig einfache und verdienstliche Offenbarung, die den Zuschauern zur gründlichen und dauernden Lehre dienen sollte. »Seht ihn euch nur an, der kennt sich aus – keine Angst!« rief er ab und zu und schwenkte seine Hand, die hart und fleischlos war wie eine Vogelkralle. Jimmy lag auf dem Rücken und lächelte zurückhaltend, ohne ein Glied zu rühren. Er spielte den völlig Entkräfteten, um es uns zum Bewußtsein zu bringen, daß die verzögerte Befreiung aus seinem furchtbaren Kerker, dann die Nacht auf dem Achterdeck, wo wir so selbstsüchtig seine Pflege verabsäumten, ihn ›umgebracht‹ hätten. Er sprach mit Vorliebe davon – und uns interessierte es natürlich immer. Er sprach krampfhaft, in überstürzten Sätzen, mit langen Pausen dazwischen, so wie ein Betrunkener geht . . . »Koch hatte mir grade einen Topf heißen Kaffee gebracht . . . stellte ihn dahin, auf die Kiste – schlug die Tür zu . . . Ich fühlte, daß ein schweres Rollen anging; suchte den Kaffee zu retten, verbrannte mir die Finger . . . fiel aus der Koje heraus . . . Sie schlug so rasch um . . . Wasser kam durch den Ventilator herein . . . ich konnte die Tür nicht aufkriegen . . . finster wie im Grab . . . versuchte in die obere Koje zu kriechen . . . Ratten . . . Eine Ratte biß mich in den Finger, als ich hinauf langte . . . Ich hörte sie unter mir herumschwimmen . . . Dachte, ihr kämt gar nimmer . . . Dachte, ihr wärt alle über Bord . . . natürlich . . . konnte nichts als den Wind hören . . . Dann kamt ihr . . . nach dem Leichnam sehen, denke ich; etwas später, und . . .«

»Mann! Du hast doch einen Riesenkrach geschlagen hier drin«, bemerkte Archie nachdenklich.

»Ihr Kerle habt doch oben so einen Teufelslärm gemacht . . . Genug, um jeden zu erschrecken . . . Ich wußte nicht, was los war . . . Schlugt in die verdammten Bohlen . . . Mein Kopf . . . ganz närrische, verängstigte Bande . . . Hat mir nicht viel genutzt . . . Ebensogut . . . ertrinken . . . Pah!«

Er stöhnte, biß die großen weißen Zähne zusammen und sah uns verächtlich an. Belfast hob mit wehem Lächeln seine schmerzgetrübten Augen und ballte heimlich die Fäuste; der blauäugige Archie fuhr sich zögernd durch den rötlichen Backenbart; der Bootsmann in der Tür sah erst verwundert drein und ging plötzlich mit lautem Auflachen fort. Wamibo träumte . . . Donkin fingerte an seinem unfruchtbaren Kinn nach den spärlichen paar Haaren und sagte triumphierend, mit einem Seitenblick auf Jimmy: »Schaut ihn an! Wollt', ich wär' halb so gesund wie er – das wollt' ich!« Er deutete mit dem kurzen Daumen über die Schulter weg nach dem Achterdeck. »So muß man's ihnen machen«, belferte er mit gezwungener Wärme. Jimmy sagte: »Sei kein Narr«, in gemütlichem Ton. Knowles rieb sich die Schulter am Türpfosten und bemerkte tiefsinnig: »Wir können uns nicht alle krank melden – das wär' Meuterei.« – »Meuterei – Schöps!« höhnte Donkin, »da gibt's kein Gesetz – gegen's Kranksein.« – »Auf Dienstverweigerung stehn sechs Wochen Zuchthaus«, beharrte Knowles. »Ich denk' noch dran, wie ich einmal in Cardiff die Besatzung eines überladenen Schiffs sah – zu guter Letzt war's gar nicht überladen; nur so ein väterlicher alter Knabe mit einem weißen Bart und 'nem Regenschirm kam auf den Kai und redete mit den Leuten. Sagte, es wäre grausam hart, so im Winter ertrinken zu müssen, grade um dem Reeder ein paar Pfund mehr reinzubringen – sagte er. Weinte ungefähr über sie – das tat er; hatte auch'n Rock wie'n Großsegel und'n Hut wie'n Gaffeltoppsegel – ganz sauber. Da gingen also die Kerle bei, und da sagten sie, sie wollten nicht im Winter ertrinken – kalkulierten, der alte Knabe würde ihnen bei Gericht beistehen. Dachten, 's gäbe 'nen Mordsspaß und zwei, drei Tage Bummeln. Und der Richter gibt ihnen sechs Wochen – warum? Weil das Schiff gar nicht überladen war. Irgendwie haben sie's bei Gericht rausgekriegt, daß es nicht überladen war. Im Penarth Dock gab's überhaupt gar kein überladenes Schiff. Scheint, daß der alte Gauner nur bezahlt und angestellt war von so 'ner Sorte Leute und sollte nach überladenen Schiffen ausschauen und kapierte nichts, was über seinen Regenschirm hinausging. Ein paar von uns, aus dem Kosthaus, wo ich lebe, wenn ich in Cardiff auf'n Schiff passe, also wir lauerten und wollten den alten Heulpeter im Dock tauchen. Wir hielten scharf Ausguck – aber er machte sich gleich dünn, als er aus dem Gericht rauskam . . . Jawohl. Sechs Wochen Arbeitshaus haben sie gekriegt . . .«

Sie hörten voller Neugier zu und nickten in den Pausen mit den rauhen Köpfen. Donkin öffnete ein- oder zweimal den Mund, hielt sich aber zurück. Jimmy lag still, mit offenen Augen und gänzlich teilnahmlos. Ein Matrose gab der Ansicht Ausdruck, daß nach solch einem grausam parteiischen Urteil ›die verteufelten Richter hergehn und auf der Reeder ihre Kosten trinken‹. Andere stimmten bei. Es war klar, natürlich. Donkin meinte: »Was, sechs Wochen ist nicht so arg. Im Kittchen hat man sein Regelmäßiges, schläft die ganzen Nächte durch.« – »Du bist dran gewöhnt, was, Donkin?« fragte jemand. Jimmy ließ sich zu einem Lachen herab. Das heiterte alle wunderbar auf. Knowles änderte mit erstaunlicher Gewandtheit seinen Standpunkt: »Wenn wir alle krank werden, was wird dann aus dem Schiff? Eh?« Er stellte das Problem und grinste in die Runde. – »Soll's zum Teufel gehn«, meinte Donkin höhnisch. »Dir gehört's nicht.« – »Was? Grad so treiben lassen?« fragte Knowles in ungläubigem Ton weiter. – »Jawohl! Treiben lassen, zum Henker«, wiederholte Donkin mit schlauer Nachlässigkeit. Der andere bemerkte es nicht – grübelte. »Der Proviant würde ausgehen«, murmelte er, »und . . . wir kämen nirgends hin . . . und was wär's mit dem Zahltag?« fügte er mit größerer Sicherheit hinzu. – »Jack hat einen guten Zahltag gern«, rief ein Zuhörer von der Schwelle her. – »Ja, weil dann die Mädels ihn mit einem Arm um den Hals fassen, und mit 'm andern greifen sie ihm in die Tasche; und nennen ihn Herzchen. Nicht wahr, Jack?« – »Jack, du bist ein Teufel mit den Mädels.« – »Er nimmt drei davon auf einmal ins Schlepptau; so wie einer von den neuen Schleppern mit zwei Schornsteinen; die strampeln auch davon mit drei Schonern hinterher.« – »Jack, du bist ein lahmer Schuft.« – »Jack, erzähl' uns von der mit einem blauen Aug' und einem schwarzen Aug'. Geh!« – »Da gibt's eine Masse Mädel mit einem schwarzen Aug', längs der Hauptstraße in . . .« – »Nein, das ist eine besondere – komm, Jack!« – Donkin sah streng und angeekelt drein, Jimmy verärgert; ein grauhaariger Seebär schüttelte stillvergnügt den Kopf und lächelte mit der Pfeife im Mund. Knowles drehte sich bestürzt im Kreis, stammelte erst dem einen, dann einem andern zu: »Nein! . . . Ich – nie! . . . Kann mit euch nicht vernünftig reden . . . alles Jux bei euch.« Er zog sich verschämt murmelnd – und doch geschmeichelt – zurück. Sie lachten schallend, rings um Jimmys Bett; dessen eingesunkenes schwarzes Gesicht bewegte sich ruhelos in dem grellen Licht. Ein Windstoß kam und machte die Lampe flackern; draußen flatterten die Segel, hoch oben, und nahebei schlug der Fockschotblock dröhnend an das eiserne Schanzkleid. Eine Stimme weit weg rief: »Ruder anlegen!« und eine andere, schwächere, antwortete: »Hart an, Herr!« Die Leute verstummten – warteten gespannt. Der grauhaarige Matrose klopfte seine Pfeife an der Schwelle aus und stand auf. Das Schiff legte sich leicht über, und die See schien mit schläfrigem Murmeln zu erwachen. »Da springt eine kleine Brise auf«, sagte einer ganz leise. Jimmy drehte sich langsam um, dem Lufthauch zu. Die Stimme in der Nacht rief laut und befehlend: »Besan ausholen!« Die Gruppe vor der Tür verschwand aus dem Lichtkreis. Man hörte sie nach achtern trampeln und dabei in verschiedenen Stimmlagen wiederholen: »Besan bei!« . . . »Ausgeholt, Herr!« Donkin blieb allein mit Jimmy. Es gab ein Schweigen. Jimmy öffnete und schloß ein paarmal die Lippen, als schluckte er die frische Luft in kleinen Zügen; Donkin bewegte die Zehen seiner nackten Füße und sah tief in Gedanken darauf hinab.

»Willst du nicht hingehn und denen mit dem Segel helfen?« fragte Jimmy.

»Nein. Wenn die zu sechs nicht Schmalz genug haben, um den verdammten, räudigen Besan zu setzen, dann soll sie der Teufel holen«, antwortete Donkin mit ärgerlicher hohler Stimme, als spräche er vom Boden eines tiefen Lochs aus. Jimmy betrachtete das spitze, eulenhafte Profil mit scheelem Interesse; er lehnte sich aus der Koje, mit der prüfenden, ungewissen Miene eines Menschen, der gerade überlegt, wie er am besten ein fremdartiges Geschöpf anpacken könnte, das aussieht, als möchte es stechen oder beißen. Er sagte aber nichts als: »Der Erste wird dich vermissen – und dann gibt's wieder Radau.«

Donkin schickte sich zum Gehen an. »Dem werd' ich's schon noch einmal zeigen, in einer finstern Nacht, paß auf, ob ich's nicht tu'!« sagte er über die Schulter zurück.

Jimmy fuhr rasch fort: »Du bist grad wie ein Papagei, wie ein schnatternder Papagei.« Donkin blieb stehen und neigte aufmerksam den Kopf. Seine großen Ohren standen ab, durchsichtig und geädert, wie Fledermausflügel.

»So?« sagte er; er kehrte Jimmy den Rücken zu.

»Ja! Plapperst alles aus, was du weißt – wie . . . wie ein schmieriger weißer Kakadu.«

Donkin wartete; er konnte den andern atmen hören, tief und langsam, als säße ihm ein Zentnergewicht auf der Brust. Dann fragte er ruhig: »Was weiß ich?«

»Was? . . . Was ich dir sage . . . nicht viel. Was willst du denn damit . . . daß du immer so über meine Gesundheit sprichst . . .«

»'s ist ein blutiger Schwindel. Ein blutiger, niederträchtiger, erstklassiger Schwindel – aber ich fall' dir nicht drauf rein. Ich nicht.«

Jimmy schwieg. Donkin steckte die Hände in die Taschen und kam in einem langen Schritt bis hart an die Koje.

»Ich sag's – wie's ist. Das sind keine Männer hier – Schafe sind's! Eine Herde Schafe, die sich treiben lassen. Ich halte dich . . . warum nicht? Du kommst gut weg dabei.«

»Ich bin . . . Ich spreche nicht davon . . .«

»Gut. Sollen sie's sehn. Sollen sie lernen, was ein Mann imstande ist. Ich bin ein Mann, ich weiß genau, wie's mit dir steht . . .« Jimmy schob sich weiter in die Kissen zurück; der andere streckte seinen häutigen Hals vor und bog sein Vogelgesicht hinunter, als wollte er ihm nach den Augen hacken. »Ich bin ein Mann. Ich hab' mir lieber alle Kittchen in den Kolonien von innen angeschaut, bevor ich auf mein Recht verzichtet hab' . . .«

»Du bist ein Zuchthäusler«, sagte Jimmy schwach.

»Das bin ich . . . und bin stolz drauf. Du! Du hast nicht das Herz dazu . . . da hast du den Schwindel da erfunden . . .« Er machte eine Pause und fragte dann gedehnt und hinterhältig: »Du bist gar nicht krank, was?«

»Nein«, sagte Jimmy fest. »Bin im letzten Jahr hin und wieder 'n bißchen marod gewesen«, murmelte er dann mit plötzlichem Senken der Stimme.

Donkin schloß ein Auge, freundschaftlich-vertraulich, und flüsterte: »Du hast's früher schon aufgeführt – nicht?« Jimmy lächelte – dann, als könnte er nicht länger an sich halten, legte er los: »Auf'm letzten Schiff – ja. Ich war marod während der Reise. Verstehst du? 's war leicht. In Kalkutta haben sie mich ausgezahlt, und der Schiffer hat auch gar keine Geschichten deswegen gemacht . . . Hab' mein Geld richtig bekommen. Achtundfünfzig Tage im Bett gelegen! Die Narren! O Gott! Die Narren! Zahlen mich richtig aus!« Er lachte krampfhaft. Donkin kicherte mit. Dann hustete Jimmy heftig. »Mir geht's so gut wie nur je«, sagte er, sobald er wieder atmen konnte.

Donkin machte eine spöttische Gebärde. »Natürlich«, meinte er hämisch, »das sieht jedes Kind.« – »Die sehn's nicht«, sagte Jimmy und schnappte wie ein Fisch. – »Oh, die schlucken alles«, versicherte Donkin. – »Verlaß dich nicht zu sehr darauf«, mahnte Jimmy mit erschöpfter Stimme. – »Wegen deiner kleinen Komödie, was?« bemerkte Donkin lustig. Dann, plötzlich angeekelt: »Du denkst nur an dich, solang' dir's gut geht . . .«

Bei diesem Vorwurf der Selbstsucht zog James Wart die Decke bis zum Kinn hoch, lag eine Weile still und ließ die dicken Lippen maulend hängen. »Warum bist du so versessen drauf, Unfrieden zu stiften?« fragte er dann nebenhin.

»Weil's eine Affenschande ist! Wir werden geschunden . . . schlechtes Essen, schlechter Lohn . . . ich möchte, daß wir einmal einen tüchtigen Krach schlagen; einen richtigen, festen Krach, daß sie dran denken! Leute rumstoßen . . . Schädel einschlagen . . . Wirklich! Sind wir keine Männer?« Er flammte vor selbstloser Entrüstung. Dann sagte er ruhig: »Ich hab' deine Kleider gelüftet.« – »Ganz recht«, meinte Jimmy matt, »bring' sie herein.« – »Gib mir den Schlüssel zur Kiste, ich will sie für dich einräumen«, sagte Donkin bittersüß. – »Bring' sie herein, ich will sie selbst einräumen«, antwortete James Wart streng. Donkin sah zu Boden und murrte. – »Was sagst du? Was sagst du?« forschte Wart ängstlich. – »Nichts. Die Nacht ist trocken. Lassen wir sie bis zum Morgen hängen«, sagte Donkin mit seltsam zitternder Stimme, als hielte er Lachen oder Wut zurück. Jimmy schien befriedigt. – »Gib mir ein wenig Wasser für die Nacht in meinen Krug – da«, sagte er. Donkin schritt über die Schwelle. »Hol' dir's selbst«, gab er schroff zurück. »Das kannst du wohl, wenn du nicht wirklich krank bist.« – »Natürlich kann ich's«, meinte Wart, »nur . . .« – »Gut, dann tu's«, unterbrach ihn Donkin giftig. »Wenn du dich um deine Kleider kümmern kannst, dann kümmer' dich auch um dich selbst.« Er ging auf Deck, ohne sich einmal umzusehen.

Jimmy langte nach dem Krug. Kein Tropfen. Er stellte ihn langsam, mit einem schwachen Seufzer, zurück – und schloß die Augen. Er dachte: der verrückte Belfast wird mir wohl Wasser bringen, wenn ich's verlange. Narr. Ich bin sehr durstig . . .

Es war sehr heiß in der Kajüte, und es schien, als ob diese sich langsam drehte, vom Schiff loslöste und sanft in einen lichten, luftigen Raum schwebte, wo eine schwarze Sonne schien, die rasend im Kreis wirbelte. Ein Ort ohne Wasser! Kein Wasser! Ein Polizeimann mit Donkins Gesicht trank ein Glas Bier am Rande eines leeren Brunnens und flog mit kräftigen Flügelschlägen fort. Ein Schiff, dessen Mastspitzen den Himmel durchdrangen und nicht zu sehen waren, lud Korn aus; und der Wind wehte die dürre Spreu in Schneckenwirbeln den Kai eines wasserlosen Docks entlang. Jim selbst wirbelte mit der Spreu herum – ganz müde und leicht. Seine Eingeweide waren fort. Er fühlte sich leichter als die Spreu – und noch viel dürrer. Er dehnte seine hohle Brust. Die Luft strömte ein und riß eine Menge merkwürdiger Dinge mit sich fort, die Häusern, Bäumen, Leuten, Laternenpfosten glichen . . . Nicht mehr! Es gab keine Luft mehr – und er hatte seinen langen Atemzug noch nicht beendet. Aber er war ja im Kerker! Man sperrte ihn ein. Eine Tür schlug zu. Man drehte den Schlüssel zweimal um, goß einen Eimer Wasser über ihn – puh! Warum?

Er öffnete die Augen und dachte, der Sturz sei reichlich schwer gewesen für einen leeren Mann – leer – leer. Er war in seiner Kabine. Ah! Ganz recht! Sein Gesicht war schweißüberströmt, seine Arme schwerer als Blei. Er sah den Koch im Türrahmen stehen, einen Messingschlüssel in einer Hand und einen blanken zinnernen Henkeltopf in der andern.

»Ich habe für die Nacht abgeschlossen«, sagte der Koch, strahlend vor Wohlwollen. »Eben acht Glasen durch. Ich hab' dir einen Topf kalten Tee gebracht, Jimmy, damit du in der Nacht was zu trinken hast. Hab' ihn sogar mit weißem Messezucker gesüßt. Was – das Schiff wird nicht untergehen deswegen.«

Er trat ein, hängte den Topf an die Ecke der Koje, fragte leichthin: »Wie geht's?« und setzte sich auf den Koffer. – »Hm«, grunzte Wart unwirsch. Der Koch trocknete sich mit einem schmutzigen Baumwollfetzen das Gesicht und band sich ihn dann um den Hals. »So machen's die Heizer da auf den Dampfern«, sagte er heiter und ungemein selbstgefällig. »Meine Arbeit ist mindestens so hart wie die ihre – schätze ich – und längere Stunden. Hast du sie jemals unten im Heizraum gesehen? Wie die Teufel sehen sie aus – feuern – feuern – feuern – da unten.«

Er wies mit dem Zeigefinger auf Deck. Ein trüber Gedanke verdüsterte sein strahlendes Gesicht, trieb darüber hin, wie der Schatten einer reisenden Wolke über die leuchtendklare See. Die abgelöste Wache trappte lärmend nach vorn und kam in einer Masse an der erleuchteten Türöffnung vorbei. Einige riefen: »Gute Nacht!« Belfast blieb einen Augenblick stehen und sah nach Jimmy herein, zitternd und sprachlos, wie vor verhaltener Rührung. Er wechselte mit dem Koch einen Blick wehevollen Einverständnisses und verschwand. Der Koch räusperte sich. Jimmy stierte zur Decke und blieb mäuschenstill.

Die Nacht war klar, mit einer leichten Brise. Das Schiff krängte ein wenig und glitt ruhig über die dunkle See, der unnahbaren festlichen Pracht des Horizonts zu, der mit flackernden Feuerpünktchen besät schien. Hoch über den Mastspitzen bog sich die strahlende Linie der Milchstraße über den Himmel, wie ein Triumphbogen von ewigem Licht, über die dunkle Bahn der Erde gespannt. Auf dem Backdeck pfiff ein Mann mit scharfer Betonung eine lustige Tanzweise, und man hörte, wie ein anderer im Takt scharrte und stampfte. Von vorne tönte verworrenes Murmeln – Gelächter – abgerissene Klänge von Liedern. Der Koch schüttelte den Kopf, sah Jimmy von der Seite an und begann zu murren: »Ja, Tanzen und Singen. Das ist alles, woran sie denken. Ich wundere mich, daß die Vorsehung es nicht müde wird . . . Sie vergessen den Tag, der sicher kommen muß . . . aber du . . .«

Jimmy trank einen Schluck Tee, hastig, als hätte er ihn gestohlen, verkroch sich unter die Decke und drückte sich an die Wand. Der Koch stand auf, schloß die Türe, setzte sich wieder hin und sagte gemessen:

»Immer, wenn ich in der Kombüse das Feuer schüre, muß ich an euch Burschen denken. – Ihr flucht, stehlt, lügt und tut noch Ärgeres, – als gäb's nichts derart wie eine andere Welt . . . Keine schlechten Kerle wiederum, andrerseits«, gab er zögernd zu; dann fuhr er nach kurzem, trübem Sinnen in ergebungsvollem Tone fort: »Gut, gut. Heiß werden sie's haben, dann. Heiß! Sagt' ich so? Die Feuerung von einem der White-Star-Dampfer ist nichts dagegen!«

Eine Zeitlang schwieg er. Es gab einen gewaltigen Aufruhr in seinem Hirn; unklare Gesichte voll strahlender Helle wechselten mit den aufreizenden Klängen rauschender Gesänge und qualvollen Seufzern. Er litt, genoß, staunte, war zufrieden, erfreut, erschrocken, verzückt – wie an jenem Abend (zum einzigen Mal in seinem Leben – vor siebenundzwanzig Jahren; er liebte es, die Zahl der Jahre zu betonen), an jenem Abend, als er sich als junger Mann in einem Tingeltangel von Ostend in schlechter Gesellschaft betrunken hatte. Eine heiße Gefühlswelle riß ihn von seinem Körper los, er schwang sich auf, erschaute die Geheimnisse des Jenseits, das sich in einladender Pracht vor ihm breitete. Er liebte es, liebte sich selbst, alle die Leute und Jimmy; sein Herz strömte über von Zärtlichkeit, Verständnis, von dem innigen Wunsch, sich des Seelenheils dieses Schwarzen da fürsorglich anzunehmen; von dem stolzen Machtgefühl, daß ihm selbst der Himmel sicher sei. Ihn hochreißen und mitten auf den Weg des Heils drängen . . . die schwarze Seele – schwärzer – Haut – verderbt – Teufel! Nein! Reden – Kraft – Simson . . . Ein lauter Schall wie von Zimbeln tönte ihm in den Ohren; er sauste durch ein ekstatisches Gewirr von strahlenden Gesichtern, Lilien, Gebetbüchern, überirdischer Freude, weißen Hemden, goldenen Harfen, schwarzen Röcken, Fittichen. Er sah flatternde Gewänder, glattrasierte Gesichter, ein Meer von Licht – einen Pechpfuhl. Süße Düfte, Schwefelgeruch – rote Flammenzungen, die durch weißen Nebel leckten. Eine furchtbare Stimme donnerte! . . . Es währte drei Sekunden.

»Jimmy!« schrie er begeistert. Dann zögerte er. Ein Funke menschlichen Mitgefühls glimmte noch unter dem höllischen Wust seines überspannten Eigendünkels.

»Was?« sagte James Wart unwillig. Es herrschte Schweigen. Er wandte den Kopf ein wenig und spähte vorsichtig. Die Lippen des Kochs bewegten sich lautlos; sein Gesicht war verzückt, seine Augen nach oben gerichtet. Er schien die Deckbalken, den Messinghaken der Lampe und zwei Kakerlaken stumm anzuflehen.

»Hör', du«, sagte Wart, »ich möchte schlafen; ich glaube, es ginge eben.«

»Jetzt ist keine Zeit, zu schlafen!« rief der Koch schmetternd. Er hatte sich im Gebet von den letzten Anwandlungen menschlicher Schwäche befreit. Er war nur noch Stimme – ein wesenloses, erhabenes Geschöpf, wie in jener denkwürdigen Nacht – der Nacht, als er durch die Fluten geschritten war, um für untergehende Sünder Kaffee zu kochen. »Jetzt ist keine Zeit, zu schlafen«, wiederholte er, zitternd vor Erregung. »Ich kann nicht schlafen.«

»Das kümmert mich verdammt wenig«, sagte Wart mit gemachter Energie. »Ich kann. Geh, verschwind!«

»Fluchen . . . Und steckst schon im Rachen! . . . Steckst schon im Rachen! Siehst du nicht die Flammen . . . fühlst du sie nicht? Verblendeter, hartgesottener Sünder! Ich sehe sie für dich. Ich kann's nicht ertragen. Ich höre die Weisung, dich zu retten. Nacht und Tag. Jimmy, laß dich von mir retten!« Die Worte, halb flehend, halb drohend, brachen wie ein tosender Wildbach aus ihm heraus. Die Kakerlaken rannten davon. Jimmy schwitzte, wand sich, unter der Decke verborgen. Der Koch heulte . . . »Deine Tage sind gezählt! . . .« – »Hinaus, da!« brauste Wart heftig auf. – »Bete mit mir! . . .« – »Ich will nicht! . . .« – Die kleine Kajüte war heiß wie ein Backofen; sie umfaßte unendliche Ängste und Schmerzen; Schreien und Stöhnen; Gebete, die wie Lästerungen klangen und geflüsterte Flüche. Charley hatte die Mannschaft im Tone höchsten Entzückens davon benachrichtigt, daß bei Jimmy ein Streit im Gange sei; nun drängten sie sich vor der geschlossenen Tür, zu verblüfft, um ans Öffnen zu denken. Alle waren sie da. Die Dienstfreien waren im bloßen Hemd auf Deck gesprungen, wie nach einem Zusammenstoß. Die Letztgekommenen fragten: »Was gibt's?« – Andere sagten: »Hört zu!« Das verworrene Geschrei ging weiter: »Auf die Knie! Auf die Knie!« – »Halt's Maul!« – »Nein! Du bist in meine Hände gegeben . . . Dein Leben wurde gerettet . . . Vorsehung . . . Gnade . . . Reue!« – »Du bist ein elender Narr! . . .« – »Bin verantwortlich für dich . . . dich . . . nie mehr schlafen auf dieser Welt, wenn ich . . .« – »Fahr ab!« – »Nein! . . . Feuerschlund . . . denk' dran! . . .« Dann ein leidenschaftliches, kreischendes Durcheinander, wo die Worte wie Hagel prasselten. – »Nein!« brüllte Jim. – »Ja! Du bist! . . . Keine Hilfe . . . Jedermann sagt's.« – »Du lügst!« – »Ich seh' dich sterben, in diesem Augenblick . . . vor meinen Augen . . . schon so gut wie tot.« – »Hilfe!« schrie Jimmy durchdringend. – »Nicht in diesem Erdental . . . blicke aufwärts«, heulte der andere. – »Geh weg! Mörder! Hilfe!« brüllte Jimmy. Seine Stimme überschlug sich. Dann gab's Ächzen, halblautes Murmeln, ein paar Seufzer. – »Was ist da los?« sagte eine selten gehörte Stimme. – »Platz da, Leute! Zurück!« wiederholte Herr Creighton streng und drängte sich durch. – »Da kommt der Alte«, flüsterten einige. – »Der Koch ist drin, Herr«, riefen andere und gaben den Weg frei. Die Tür flog auf; ein breiter Lichtstrahl fiel auf die erstaunten Gesichter; ein warmer, verpesteter Brodem schlug heraus. Die beiden Offiziere ragten mit Kopf und Schultern hoch über den dürftigen, grauhaarigen Mann, der verschwindend klein zwischen ihnen stand, in abgetragenen Kleidern, steif und eckig, wie aus Holz geschnitzt, mit magerem, beherrschtem Gesicht. Der Koch erhob sich von den Knien. Jimmy saß aufrecht in der Koje und umklammerte seine hochgezogenen Beine. Der Zipfel der blauen Nachtmütze zitterte unmerklich über seinen Knien. Sie sahen verblüfft auf seinen langen, gekrümmten Rücken, während das Weiße des einen Auges aus dem Winkel blind zu ihnen hinstarrte. Er fürchtete sich, den Kopf zu wenden, kroch in sich selbst zusammen; es lag etwas unglaublich Tierisches in seiner reglosen Erwartung: ein geängstigtes Tier, das sich gedankenlos, aus Instinkt, ruhig verhielt.

»Was tust du da?« fragte Herr Baker scharf. – »Meine Pflicht«, erwiderte der Koch feurig. – »Deine . . . Was?« begann der Erste. – Kapitän Allistoun berührte leicht seinen Arm. »Ich kenne seine Mätzchen«, sagte er leise. »Komm hier heraus, Podmore«, befahl er laut.

Der Koch rang die Hände, schüttelte die Fäuste über dem Kopf, und die Arme sanken ihm nieder, als wären sie zu schwer. Einen Augenblick stand er geistesabwesend und sprachlos da. – »Nie«, stammelte er. »Ich . . . er . . . ich.« – »Was – sagst – du?« fragte Kapitän Allistoun gedehnt. »Komm sofort heraus – sonst –« – »Ich gehe schon«, sagte der Koch mit raschem, düsterem Verzicht. Er trat entschlossen über die Schwelle – zögerte – machte ein paar Schritte. Sie sahen ihm schweigend zu. – »Ich mache euch verantwortlich!« schrie er verzweifelt und wandte sich halb um. »Der Mann liegt im Sterben. Ich mache euch . . .« – »Bist du noch da?« rief der Schiffer drohend. – »Nein, Herr«, gab er schnell und erschrocken zurück. Der Bootsmann führte ihn am Arm weg; einige lachten; Jimmy hob den Kopf zu einem verstohlenen Blick und sprang mit einem jähen Satz aus der Koje; Herr Baker fing ihn geschickt auf und fühlte ihn ganz schlaff in seinen Armen; die Gruppe vor der Tür grunzte vor Überraschung. – »Er lügt«, keuchte Wart, »er sprach von schwarzen Teufeln – er ist ein Teufel – ein weißer Teufel – mir geht's gut.« Er reckte sich, und Herr Baker ließ ihn versuchsweise los. Er taumelte ein oder zwei Schritte. Kapitän Allistoun beobachtete ihn ruhig und scharf; Belfast sprang zur Unterstützung herbei. Jimmy schien niemanden um sich her zu bemerken; eine Zeitlang stand er schweigend da und focht allein gegen Legionen namenloser Schreckgespenster, grauenhaft verlassen in der undurchdringlichen Einsamkeit seiner Angst; die aufgeregten Leute verfolgten ihn von fern mit gespannten Blicken. Schwere Atemzüge tönten durch die Nacht. Die See gurgelte durch die Speigatten, wie sich das Schiff unter einer kurzen Bö überlegte.

»Haltet ihn weg von mir«, sagte James Wart endlich mit seinem klaren Bariton und lehnte sich mit dem ganzen Gewicht auf Belfasts Nacken. »Mir geht es besser seit der letzten Woche . . . Ich bin gesund . . . wollte wieder Dienst machen – morgen – jetzt, wenn Sie wollen, Kapitän.« Belfast straffte die Schultern, um ihn aufrecht zu halten.

»Nein«, sagte der Schiffer und sah ihn fest an.

Unter Jimmys Achselhöhle zuckte Belfasts rotes Gesicht verlegen. Eine Reihe glänzender Augen starrten in den Lichtschein. Die Leute stießen einander mit den Ellbogen an, drehten die Köpfe, flüsterten. Wart ließ das Kinn auf die Brust fallen und sah sich mit gesenkten Lidern mißtrauisch um.

»Warum nicht?« schrie eine Stimme aus dem Schatten. »Der Mann ist ganz in Ordnung, Herr.«

»Ich bin in Ordnung«, sagte Wart lebhaft. »Krank gewesen . . . besser . . . Dienst machen jetzt.« Er seufzte. – »Heilige Mutter!« rief Belfast und zog die Schultern an, »stell' dich auf, Jimmy.« – »Dann bleib du fort von mir«, sagte Wart, gab Belfast launisch einen Stoß und faßte schwankend nach dem Türpfosten. Seine Backenknochen glänzten wie gefirnißt. Er riß seine Nachtmütze herunter, trocknete sich das schwitzende Gesicht damit, warf sie auf Deck. »Ich komme heraus«, sagte er, ohne sich zu rühren.

»Nein. Das tust du nicht«, sagte der Schiffer kurz. Nackte Füße scharrten, ringsum hörte man mißbilligendes Murren; er fuhr fort, als habe er nichts gehört: »Du hast beinahe die ganze Reise über gefaulenzt, und jetzt möchtest du herauskommen. Glaubst wohl, du bist jetzt nah genug am Zahltisch. Riechst Land, he?«

»Ich war krank . . . nun – besser«, murmelte Wart und stierte ins Licht. – »Du hast dich krank gestellt«, gab Kapitän Allistoun streng zurück. »Was . . .«, er zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, »was, jedes Kind sieht das. Dir fehlt weiter gar nichts, du bist nur im Bett geblieben, weil's dir Spaß machte – und jetzt sollst du im Bett bleiben, weil's mir Spaß macht! Herr Baker, ich befehle, daß dieser Mann bis zum Ende der Reise nicht auf Deck kommt!«

Es gab Ausrufe der Überraschung, des Triumphs, der Entrüstung. Der dunkle Haufe von Leuten schob sich durch den Lichtkreis. »Warum?« – »Hab's ja gleich gesagt . . .« – »Blutige Schande . . .« – »Da haben wir auch was dreinzureden«, krähte Donkin aus dem Hintergrund. – »Mach' dir nix draus, Jim – wir helfen dir schon durch«, schrien ein paar zugleich. Ein älterer Matrose trat vor. »Wollt Ihr damit sagen, Herr«, fragte er bedeutungsvoll, »daß ein kranker Mann sich auf dem Kasten da nicht wieder gesund melden darf?« Hinter ihm flüsterte Donkin aufgeregt inmitten der gaffenden Menge; niemand schenkte ihm einen Blick; Kapitän Allistoun schüttelte den Zeigefinger gegen das ärgerliche braune Gesicht des Sprechers. »Du – du halt den Mund«, sagte er warnend. – »Das ist keine Art«, lärmten zwei oder drei jüngere Leute. – »Sind wir nichts als Maschinen?« rief Donkin durchdringend und tauchte unter den Ellbogen der ersten Reihe auf. – »Werden's ihm bald zeigen, daß wir keine Buben sind . . .« – »Der Mann ist ein Mann, wenn er auch schwarz ist.« – »Wir werden doch nicht das verdammte Schiff mit zu wenig Leuten bedienen, wenn der Nigger gesund ist . . .« – »Er sagt, er ist's.« – »Gut, dann streikt, Jungens, streikt!« – »Das ist das Wahre!« – Kapitän Allistoun sagte scharf zu dem Zweiten Offizier: »Bleiben Sie ruhig, Herr Creighton«, stand selbst unbeweglich in dem Tumult und horchte mit gespannter Aufmerksamkeit auf das verworrene Grölen und Schreien, auf jeden Ausruf und jeden Fluch des plötzlichen Ausbruchs. Jemand schmetterte mit einem Fußtritt die Kabinentür zu; die drohende Finsternis verschlang gierig den schmalen Lichtstreif; die Leute wurden zu tanzenden Schattenfiguren, die erregt schrien, zischten, lachten. Herr Baker flüsterte: »Kommen Sie fort von hier, Herr.« Herrn Creightons große Gestalt drängte sich schützend vor den kleinen Kapitän. – »Wir sind die ganze Reise über betrogen worden«, sagte eine rauhe Stimme, »aber die Geschichte da schlägt dem Faß den Boden aus.« – »Der Mann ist ein Kamerad.« – »Sind wir denn Kücken?« – »Die Backbordwache will den Dienst verweigern.« – Charley, von seinen Gefühlen fortgerissen, pfiff schrill und gellte dann: »Gebt uns unsern Jimmy!« Dies schien die Erregung in eine neue Bahn zu lenken. Abermals erfolgte ein vielstimmiger Ausbruch. Ein Durcheinander von Zänkereien ging los. – »Ja.« – »Nein.« – »Niemals krank gewesen.« – »Gehn wir gleich los auf sie.« – »Halt den Mund, Jüngster, – das ist eine Sache für Männer.« – »Ist's das?« murmelte Kapitän Allistoun bitter. Herr Baker grunzte: »Ouch! Die sind toll geworden. Den ganzen letzten Monat haben sie immer gebrütet.« – »Ich hab's bemerkt«, sagte der Schiffer. – »Jetzt haben sie untereinander das Streiten angefangen«, bemerkte Herr Creighton verächtlich. »Gehen Sie lieber nach achtern, Herr. Wir wollen sie beruhigen.« – »Halten Sie an sich, Creighton«, sagte der Schiffer. Und die drei Männer begannen langsam auf die Kajütentüre zuzugehen.

Im Schatten der Focktakelage stampfte eine dunkle Masse, wirbelte, drängte vor und zurück. Man hörte vorwurfsvolle, anfeuernde, ungläubige, entrüstete Rufe. Die älteren Matrosen, verwirrt und ärgerlich, erklärten brummend, sie wollten es irgendwie durchhalten. Die jüngere Schule aber, vorgeschrittener im Denken, setzte unter gegenseitigen Zänkereien ihre und Jimmys Klagen in sinnlosem Gebrüll auseinander. Sie drängten sich um diese menschliche Ruine, das richtige Abbild ihrer Bestrebungen, feuerten einander an, schoben sich trampelnd auf einem Fleck herum und brüllten, sie wollten sich nicht ›drankriegen‹ lassen. In der Kabine half Belfast Jimmy in seine Koje, zitterte vor Begierde, den Radau draußen nicht zu versäumen, und hielt dabei mit Mühe die Tränen seiner schnell bereiten Rührung zurück. James Wart lag unter der Decke flach auf dem Rücken und ächzte Wehklagen hervor. – »Wir halten zu dir, keine Angst«, versicherte Belfast und machte sich am Fußende des Lagers zu schaffen. – »Ich will morgen früh antreten . . . lass' es drauf ankommen . . . ihr Burschen müßt . . .« murmelte Wart, »ich tret' morgen früh an . . . Kapitän hin oder her.« Er hob mühsam einen Arm und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Laß du den Koch nicht . . .« Der Atem ging ihm aus. – »Nein, nein«, sagte Belfast und wandte sich ab, »der kriegt's mit mir zu tun, wenn er dir nahekommt.« – »Ich schlag' ihm die Fratze zuschanden«, rief Wart matt, in ohnmächtiger Wut. »Ich will niemand umbringen, aber . . .« Er keuchte hastig, wie ein Hund, der in der Sonne gerannt ist. Draußen vor der Tür schrie eben jemand: »Er ist so gut beisammen wie irgendwer unter uns!« Belfast legte die Hand auf den Türgriff. »Hier!« rief James Wart hastig und mit so klarer Stimme, daß der andere mit einem Ruck herumfuhr. James Wart lag in dem blendenden Licht schwarz und totenähnlich da; er wandte Belfast den Kopf zu und starrte ihn flehend und unverschämt an. »Ich bin recht schwach von dem langen Liegen«, sagte er deutlich. Belfast nickte. – »'s geht mir ganz gut jetzt«, beharrte Wart. – »Ja. Ich hab's bemerkt, daß es dir besser ging diesen . . . letzten Monat«, meinte Belfast und blickte zu Boden. »Hallo! Was ist das?« rief er dann und rannte hinaus.

Er wurde sofort von zwei Leuten, die ihn anrannten, flach an die Wand des Deckhauses gedrückt. Eine allgemeine Streiterei schien im Gange. Er machte sich frei und sah undeutlich drei Gestalten in dem lichteren Schatten unter dem geschweiften Rand des Großsegels stehen, das sich über ihren Köpfen erhob wie die gebauchte Mauer eines hohen Baues. Donkin zischte: »Geht los auf sie – 's ist finster!« Die Leute nahmen geschlossen einen kurzen Anlauf nach achtern – dann gab's einen jähen Halt. Donkin flitzte geschmeidig vor; sein rechter Arm schwang wie ein Windmühlenflügel – dann hielt er plötzlich, gerade über den Kopf gereckt, an. Man hörte das Sausen eines kleinen, schweren Gegenstandes; er flog zwischen den Köpfen der beiden Offiziere durch, sprang ein paarmal schwer auf Deck und traf dann mit wuchtigem, gedämpftem Schlage die Achterluke. Die massige Gestalt von Herrn Baker wurde erkennbar. »Kommt zur Besinnung, Leute«, schrie er und ging auf die haltende Gruppe los. – »Kommen Sie zurück, Herr Baker!« rief die ruhige Stimme des Schiffers. Er gehorchte unwillig. Eine Minute lang blieb alles ruhig, dann ging ein betäubender Radau los. Archie übertönte ihn mit einem schrillen Schrei: »Wenn du's nochmal tust, zeig' ich's an!« Andere brüllten durcheinander: »Nicht!« – »Auslassen!« – »Wir sind nicht von der Sorte!« Der dunkle Schwarm von menschlichen Gestalten schwankte gegen das Schanzkleid, dann wieder zurück gegen das Deckhaus. Man sah schattenhafte Körper schwanken, niederfallen, aufspringen. Ringbolzen klirrten unter den tastenden Füßen. »Laß los!« – »Laß mich!« – »Nein!« – »Verflucht . . . Ha!« Dann ein Geräusch, als würde jemand ins Gesicht geschlagen; ein Stück Eisen fiel auf Deck; ein kurzes Ringen – und eine undeutliche Gestalt verschwand blitzschnell in der Großluke, unter einem unsichtbaren Hieb. Eine wütende Stimme krähte einen Schwall schmutziger Worte. – »Werfen Sachen – guter Gott!« grunzte Herr Baker betrübt. – »Das ging auf mich«, sagte der Schiffer ruhig. »Ich fühlte den Luftzug von dem Ding; was war's – ein eiserner Belegnagel?« – »Beim Himmel!« murmelte Herr Creighton. Die verworrenen Stimmen der Leute mittschiffs mischten sich mit dem Plätschern der See, stiegen empor zu den schweigend ausgebreiteten Segeln, – schienen in die Nacht hinauszufliegen, weiter als der Horizont, höher als der Himmel. Die Sterne leuchteten still über den geneigten Mastspitzen. Lichtstreifen lagen über dem Wasser, brachen sich beim Nahen des Schiffskörpers und zitterten noch lange nachdem er vorüber war, wie in Ehrfurcht vor der murmelnden See.

Inzwischen hatte der Mann am Steuer, begierig, zu erfahren, was der Lärm zu bedeuten habe, das Rad im Stich gelassen und war, tief niedergebeugt, mit langen, lautlosen Schritten nach der Achterhütte gerannt. Der ›Narzissus‹, sich selbst überlassen, kam langsam vor den Wind, ohne daß es jemand bemerkte. Er rollte leicht, die schlafenden Segel erwachten plötzlich und schlugen alle zugleich laut klappernd an die Masten; dann füllten sie sich eines nach dem andern mit rasch aufeinanderfolgendem Knallen, das die mächtigen Spieren durchzitterte, bis endlich das schlaffe Großsegel mit heftigem Ruck aufflog. Das Schiff bebte von den Rackkugeln bis zum Kiel; die Segel knatterten weiter wie Gewehrfeuer; die Kettenschoten und losen Schäkel klingelten leise dazwischen; die Rollen ächzten. Es war, als hätte eine unsichtbare Hand dem Schiff einen ärgerlichen Stoß gegeben, um die Leute darin in die Wirklichkeit, zur Pflicht und Wachsamkeit zurückzurufen. – »Ruder auflegen!« schrie der Schiffer scharf. »Laufen Sie doch achtern, Herr Creighton, und sehen Sie, was der Narr dort macht!« – »Klüverschoten anholen! Steht klar bei den Luvfockbrassen«, dröhnte Herr Baker. Die aufgeschreckten Leute rannten eifrig und wiederholten die Befehle. Die dienstfreie Mannschaft sah sich mit einem Male von der Deckwache verlassen und verzog sich langsam, unter lärmenden Erörterungen, dem Vorderkastell zu. »Morgen wollen wir sehen«, schrie eine laute Stimme, wie um mit einer Drohung den unrühmlichen Rückzug zu decken. Dann hörte man nur noch Befehle, das Fallen schwerer Taubuchten, das Rasseln der Blöcke. Singletons weißer Kopf flitzte da und dort durch die Nacht, hoch über Deck, wie das Gespenst eines Vogels. – »Am Wind, Herr!« brüllte Herr Creighton von achtern. – »Nicht höher!« – »Ganz recht . . .« – »Klüverschoten nachlassen. Ist gut mit den Brassen. Taue aufschießen«, grunzte Herr Baker und eilte geschäftig herum.

Allmählich hörten das Trampeln und der Stimmenlärm auf; die Offiziere kamen bei der Achterhütte zusammen und besprachen die Ereignisse. Herr Baker war beunruhigt und grunzte, Herr Creighton war in kalter Wut, Kapitän Allistoun aber beherrscht und nachdenklich. Er hörte auf Herrn Bakers brummende Ausführungen, auf die scharfen Bemerkungen, die Creighton dazwischenwarf, sah dabei auf den Boden und wog den eisernen Belegnagel in der Hand, der eben erst seinen Kopf knapp gefehlt hatte, als wäre jener das einzig Greifbare an dem ganzen Vorfall. Er war einer von jenen Kommandanten, die wenig sprechen, nichts zu hören, niemand anzusehen scheinen – und die alles wissen, jedes Flüstern hören und jeden fliehenden Schatten in dem Leben an Bord sehen. Seine beiden hochgewachsenen Offiziere überragten seine magere, kurze Gestalt; sie sprachen über seinen Kopf weg; sie waren betrübt, überrascht, ärgerlich – während der stille kleine Mann zwischen ihnen seine schweigsame Seelenruhe in den Tiefen einer reicheren Erfahrung wiedergefunden zu haben schien. Im Vorderkastell brannte Licht; dann und wann erhob sich dort ein lauter Schwall hitziger Reden, flutete über Deck und verwehte, als habe das Schiff, das unbekümmert durch den unendlichen Frieden des Meeres glitt, das törichte Lärmen erregter Menschenkinder für immer hinter sich gelassen. Doch es erneuerte sich immer wieder. Fuchtelnde Arme, Köpfe mit offenem Mund, im Profil, erschienen für Augenblicke in den erleuchteten Türrahmen; schwarze Fäuste zuckten – verschwanden wieder . . . »Ja. Es war ganz verteufelt, daß uns dieser grundlose Radau da ins Gesicht platzte«, gab der Schiffer zu . . . Er glaubte nicht, daß es jetzt noch weitere Unruhe geben würde . . . Achtern wurde eine Glocke angeschlagen, vorn antwortete ihr eine andere mit tieferem Ton; der Schall des klingenden Metalls zitterte in schwingenden Kreisen rings um das Schiff und verebbte dann in die stillen, unermeßlichen Weiten der Nacht und der See . . . Kannte er die Leute denn nicht? Und ob! In früheren Jahren . . . Besserer Schlag noch . . . Ganze Männer, die einen nicht in der Klemme sitzen ließen. Schlimmer als Teufel auch mitunter – richtige, gehörnte Teufel. Pah! Das hier – gar nichts. Meilenweit gefehlt . . .

Die Ruderablösung erfolgte wie gewöhnlich. »Voll und bei«, sagte der abgehende Mann sehr laut. – »Voll und bei«, wiederholte der andere und griff in die Speichen. – »Dieser Gegenwind peinigt mich«, rief der Schiffer aus und stampfte in plötzlichem Zorn mit dem Fuß. »Gegenwind! Alles andere ist nichts.« Im Nu war er wieder ruhig. »Halten Sie heute nacht die Leute im Schwung, meine Herren; nur damit sie sehen, daß wir die ganze Zeit über das Heft nicht aus der Hand verloren haben – in aller Ruhe, versteht sich. Passen Sie auf, daß Sie mir keinen anrühren, Creighton. Morgen will ich ihnen eine Moralpauke halten. Verrückte Pfuscherbande! Jawohl, Pfuscher! Ich könnte die richtigen Seeleute unter ihnen an einer Hand abzählen. Können sich nicht anders helfen als mit Krawall – natürlich!« Er unterbrach sich. »Glauben Sie, daß ich dabei einen Fehler gemacht habe, Herr Baker?« Er schlug sich an die Stirne und lachte kurz auf. »Wie ich ihn da so stehen sah, dreiviertel tot und so verschreckt – schwarz unter der gaffenden Bande – nicht das Herz, das hinzunehmen, was auf uns alle wartet –, da sah ich auf einmal ganz klar, bevor ich noch nachgedacht hatte. Tut mir leid um ihn – wie's einem um ein krankes Tier leid täte. Wenn je ein Geschöpf so wahnsinnige Angst vorm Sterben hatte! . . . Dachte, ich wollte ihn auf seine Art eingehen lassen. Beste Absicht. Fiel mir keinen Augenblick ein, daß diese Narren . . . Hm! Müssen nun dabei bleiben – selbstverständlich.« Er steckte den Belegnagel in die Tasche, schien sich zu schämen; dann scharf: »Wenn Sie Podmore noch einmal bei seinen Künsten erwischen, dann sagen Sie ihm, ich wollte ihn unter die Pumpe halten lassen. Mußte es schon einmal tun. Der Kerl bekommt mitunter solche Anfälle. Guter Koch sonst.« Er machte ein paar rasche Schritte und kam wieder zur Lukenkappe zurück. Die beiden Offiziere folgten ihm mit erstaunten Augen durch das Sternenlicht. Er ging drei Stufen hinunter, bis er mit dem Kopf in Deckhöhe war, wandte sich und sagte in verändertem Ton: »Ich will mich heut nacht nicht niederlegen, falls was passieren sollte; rufen Sie mich nur, wenn . . . Haben Sie die Augen von dem kranken Nigger gesehen, Herr Baker? Ich hatte das Gefühl, er bitte mich um irgendwas. Was? Keine Hilfe mehr. Ein so schwarzer Kerl, ganz verloren unter uns allen; schien durch mich durch direkt in die Hölle zu sehen. Unglaublich, der verteufelte Podmore! Gut, lassen wir ihn in Frieden sterben. Schließlich bin ich Herr hier. Kann sagen, was ich will. Lassen wir ihn in Ruhe. Mag einmal halbwegs ein Mann gewesen sein . . . Passen Sie gut auf.« Damit verschwand er nach unten; seine Offiziere blieben zurück, sahen einander an und waren weit tiefer bewegt, als hätten sie eben ein Steinbild durch ein Wunder eine Träne des Mitleids vergießen sehen, über die Ungewißheit von Tod und Leben . . .

In den Pfeifenköpfen glimmten die aufrechten Tabakröllchen; der blaue Dunst ließ das Vorderkastell groß wie eine Halle erscheinen. Zwischen den Deckbalken hing eine schwere Wolke; die Lampen waren von purpurnen Lichthöfen umgeben und brannten mit toter, strahlenloser Flamme. Der Qualm verdichtete sich zusehends. Die Leute räkelten sich auf dem Boden, saßen in nachlässigen Stellungen herum oder lehnten, ein Knie angezogen, mit der Schulter an der Wand. Man sah zuckende Lippen, blitzende Augen; durch hastige Armbewegungen entstanden jähe Wirbel in den Rauchschwaden. Das Stimmengesumm wuchs und schwoll, als könnte es nicht rasch genug durch die engen Türen entweichen. Die Leute waren im Hemd, stelzten auf langen, weißen Beinen einher und glichen irren Schlafwandlern; hin und wieder kam einer von der Deckwache hereingestürzt – er nahm sich inmitten der andern merkwürdig angekleidet aus –, horchte einen Augenblick, warf einen raschen Zwischenruf in den Lärm und rannte wieder hinaus; nur ein paar blieben wie gebannt nahe an der Tür und lauschten mit einem Ohr auf Deck hinaus. – »Haltet zusammen, Jungens«, grölte Davies. Belfast versuchte sich Gehör zu verschaffen. Knowles grinste träge. Ein stämmiger Bursch mit dichtem, gestutztem Bart rief unaufhörlich: »Wer hat Angst? Wer hat Angst?« Ein anderer sprang erregt mit flammenden Augen auf, brüllte eine Blütenlese zusammenhangloser Flüche hinaus – und setzte sich ruhig wieder hin. Zwei Leute stritten gutmütig und strichen einander abwechselnd über die Brust, um ihre Beweisführung zu unterstützen. Drei andere steckten vertraulich die Köpfe zusammen und schrien dabei aus Leibeskräften durcheinander. Es war ein stürmisches Chaos von Reden, aus dem nur dann und wann verständliche Bruchstücke das Ohr erreichten. »Im letzten Schiff.« – »Wen kümmert das? Probier's bei einem von uns, ob . . .« – »Runterdrücken« – »Kein Handgriff« – »Er sagt, er ist gesund« – »Hab's immer gedacht« – »Macht nichts . . .« Donkin kauerte wie ein Häufchen Elend beim Bugspriet, hatte die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen und ließ die hakige Nase hängen; er sah aus wie ein kranker Geier mit zerzaustem Gefieder. Belfast spreizte die Beine und warf die Arme hoch, daß er ein Malteserkreuz bildete; sein Gesicht war rot vom Schreien. Die beiden Skandinavier saßen in einer Ecke und schauten verschüchtert und verängstigt drein, als ginge die Welt unter. Außerhalb des Lichtkreises stand Singleton; seine mächtigen Umrisse waren durch den Rauch nur undeutlich zu erkennen; sein Kopf reichte bis an die Deckbalken; er glich einer riesenhaften Statue in einem Grabgewölbe.

Er trat unbewegt und kraftvoll vor. Der Lärm flaute ab, wie eine gebrochene Woge, – nur Belfast schrie nochmals, mit erhobenen Armen: »Der Mann ist im Sterben, sag' ich euch!« setzte sich dann unvermittelt auf die Luke und barg das Gesicht in den Händen. Alle sahen gespannt auf Singleton, vom Fußboden empor oder aus dunklen Ecken heraus. Sie waren erwartungsvoll und beschwichtigt, als kenne dieser alte Mann, der niemand ansah, das Geheimnis ihrer heißen Entrüstung und ihrer Wünsche, besäße schärferen Blick, tieferes Wissen. Und wirklich, wie er so unter ihnen stand, da hatte er das gleichmütige Aussehen eines Mannes, der ungezählte Schiffe gesehen, oft und oft Stimmen wie den ihren gelauscht und alles erlebt hatte, was auf der weiten See vorkommen kann. Sie hörten seine Stimme in der breiten Brust rumpeln, als rollten die Worte aus rostiger Vergangenheit zu ihnen empor. »Was wollt ihr tun?« fragte er. Niemand antwortete. Nur Knowles murmelte: »Ja, ja«, und irgendeiner sagte leise: »'s ist 'ne blutige Schande.« – Er wartete, machte eine verächtliche Gebärde. »Ich habe Krawalle auf Schiffen mitgemacht, bevor noch einige unter euch geboren waren«, sagte er langsam, »mit und ohne Grund; aber nie für so was.« – »Der Mann liegt im Sterben, sag' ich euch«, wiederholte Belfast wehklagend und setzte sich zu Singletons Füßen. – »Und ein Schwarzer noch dazu«, fuhr der alte Matrose fort. »Die hab' ich sterben sehn wie die Fliegen.« Er hielt gedankenvoll inne, als versuchte er, schauerliche Erinnerungen wachzurufen, grauenhafte Einzelheiten, Hekatomben von Niggern. Sie blickten wie gebannt auf ihn. Er war alt genug, um sich an Sklavenhändler, blutige Meutereien, vielleicht sogar an Piraten zu erinnern; wer konnte wissen, was für blutige, gewalttätige Zeiten er durchlebt hatte! Was würde er sagen? Er sagte: »Ihr könnt ihm nicht helfen; sterben muß er.« Wieder machte er eine Pause. Sein Bart zitterte. Er zerkaute die Worte, murmelte hinter dem weißen Bartgewirr, unverständlich und aufregend, wie ein Orakel hinter einem Vorhang . . . – »An Land bleiben – krank. – Anstatt – den Gegenwind da zu bringen. Fürchtet sich. Die See will ihr Eigentum. – Sterben in Sicht von Land. Immer so. Wissen das – lange Überfahrt – mehr Tage, mehr Dollars. – Ihr bleibt ruhig. – Was wollt ihr? Könnt ihm nicht helfen.« Er schien aus einem Traum zu erwachen. »Ihr könnt euch selbst nicht helfen«, sagte er erhaben. »Schiffer ist kein Narr. Hat was vor. Paßt auf, sag' ich euch! Ich kenn' die Art!« Die Augen starr geradeaus gerichtet, wandte er den Kopf von rechts nach links, von links nach rechts, als überblickte er eine lange Reihe verschmitzter Schiffer. – »Er hat gesagt, er wollt' mir den Schädel einschlagen!« schrie Donkin in herzbrechendem Ton. Singleton spähte überrascht und aufmerksam hinab, als könnte er ihn nicht finden. – »Verdammt, du!« sagte er nebenhin und gab es auf. Er atmete unsagbare Weisheit, eiserne Fassung und kaltblütige Ergebung. Alle die Hörer rund um ihn fühlten sich förmlich erleichtert durch den Mißerfolg; sie drückten sich schweigend herum, mit der sorglosen Trägheit von Leuten, die den unabänderlichen Verlauf ihres Lebens klar erkannt haben. Er schwenkte tiefsinnig und teilnahmlos den Arm und schritt ohne ein Wort weiter auf Deck hinaus.

Belfast war in rundäugige Meditation versunken. Ein paar kletterten schwerfällig in die oberen Kojen und begannen zu seufzen, sobald sie darin lagen; andere tauchten kopfüber in die unteren Bettstellen und drehten sich sofort um sich selbst, wie Tiere, die sich lagern. Man hörte ein Messer auf gebranntem Gips kratzen. Knowles grinste nicht mehr. Davies sagte im Ton tiefster Überzeugung: »Dann ist unser Schiffer verrückt!« Archie murmelte: »Meiner Seel'! Wir kriegen noch was zu hören darüber!« Es schlug vier Glasen. – »Die halbe Wache zur Koje ist um«, schrie Knowles aufgeregt; dann dachte er nach und bemerkte tröstend: »Was, zwei Stunden Schlaf ist auch was wie Rast.« Einige stellten sich bereits schlafend; Charley sprach plötzlich aus tiefem Schlaf ein paar geringschätzige Worte mit mürrischer, tonloser Stimme. – »Der verdammte Junge hat Würmer«, bemerkte Knowles unter der Decke hervor in gelehrtem Ton. Belfast stand auf und näherte sich Archies Bett. »Wir haben ihn rausgezogen«, flüsterte er betrübt. – »Was?« fragte der andere verschlafen und übellaunig. – »Und jetzt werden wir ihn über Bord werfen müssen«, fuhr Belfast fort, und seine Unterlippe zitterte. – »Was werfen?« fragte Archie. – »Den armen Jimmy«, hauchte Belfast. – »Den soll der Teufel holen«, sagte Archie mit gemachter Roheit und setzte sich im Bette auf. »'s ist alles seinetwegen. Wenn ich nicht gewesen wär', dann hätt's Mord gegeben auf diesem Schiff.« – »Da kann er nichts dafür, nicht?« warf Belfast halblaut ein. »Ich hab' ihn ins Bett gelegt . . . und er ist nicht schwerer wie 'ne leere Fleischkiste«, fügte er mit Tränen in den Augen hinzu. Archie sah ihn ruhig an und kehrte sich dann entschlossen der Wand zu. Belfast wanderte herum, als habe er sich in dem halbdunklen Vorderkastell verirrt, und fiel beinahe über Donkin. Er sah ihn eine Zeitlang von oben an. »Legst du dich nicht nieder?« fragte er. Donkin sah hoffnungslos auf und flüsterte vom Boden aus im Ton völligster Verzweiflung: »Der niederträchtige Hundesohn von einem Schotten hat mich gehauen.« – »Und recht hat er gehabt«, sagte Belfast noch sehr niedergeschlagen. »Du warst heut nacht dem Galgen so verdammt nahe wie nur was, Söhnchen. Daß du mir meinen Jimmy mit deinen Mordgelüsten zufrieden läßt! Du hast ihn nicht rausgezogen! Denk' dran! Denn wenn ich einmal anfang' dich zu prügeln« – er ermunterte sich etwas –, »wenn ich einmal anfang', dann wird's amerikanisch – da geht was entzwei!« Er klopfte leicht mit den Knöcheln auf den gebeugten Kopf. »Merk' dir das, mein Junge!« schloß er munter. – Donkin ließ es über sich ergehen. »Werden die mich verklatschen?« fragte er angstgequält. – »Wer – klatschen?« zischte Belfast und kam einen Schritt zurück. »Ich wollt' dir gleich jetzt eins auf die Nase klatschen, wenn ich nicht nach Jimmy sehen müßte! Wofür hältst du uns denn?« Donkin erhob sich und sah Belfast nach, der sich durch die Türe schob. Ringsum tönte das ruhige Atmen unsichtbarer Schläfer. In dem stillen Frieden schien Donkin wieder wütigen Mut zu gewinnen. Sein bösartiges mageres Gesicht stierte aus den schlotternden geborgten Kleidern. Sein Herz pochte wild in der engen Brust. Sie schliefen! Er fühlte die Begierde, Hälse umzudrehen, Augen auszureißen, jemand ins Gesicht zu speien, irgendwas zu zerschlagen. Er schüttelte die schmutzigen mageren Fäuste gegen die schwelenden Lampen. »Ihr seid keine Männer«, rief er gedämpft. Niemand rührte sich. »Ihr habt nicht soviel Courage wie 'ne Maus!« Seine Stimme hob sich bis zum heiseren Krächzen. Wamibo steckte seinen unförmigen Kopf heraus und sah wild nach ihm. »Ihr seid 'ne verkommene Bande! Hoffe, ihr sollt alle vor die Schweine gehn, bevor ihr sterbt!« Wamibo zwinkerte verständnislos, aber angeregt. Donkin setzte sich wuchtig nieder; er blies heftig durch die bebenden Nüstern, knirschte und klappte mit den Zähnen; und wie er das Kinn hart gegen die Brust preßte, sah es aus, als wollte er sich durchnagen, um ans Herz zu kommen . . .

Am Morgen, am Beginn eines neuen Tages ihres Wanderlebens, machte die Brigg den Eindruck prächtiger Frische, wie der Frühling auf dem Land. Das gewaschene Deck dehnte sich in langer glänzender Flucht, die schrägen Sonnenstrahlen flirrten über gelbes Messing, vergoldeten die polierten Stangen, und die vereinzelten Salzwassertropfen auf der Reling glitzerten tauklar, wie verstreute Diamanten. Die Segel schliefen, von einem leisen Windhauch gewiegt. Die Sonne, die sich in einsamer Pracht an dem blauen Himmel erhob, sah ein einsames Schiff, das dicht am Wind über die blaue See glitt.

Die Mannschaft hatte sich in drei Gliedern querab vom Hauptmast gegenüber der Kajütentür aufgestellt. Die Leute scharrten, drängten sich unentschlossen herum und machten dumme Gesichter. Bei jeder kleinen Bewegung stolperte Knowles schwerfällig mit seinem kurzen Bein auf. Donkin glitt ruhelos und ängstlich hinter den Reihen herum, als suchte er ein Versteck. Plötzlich trat Kapitän Allistoun heraus. Er ging vor der Front auf und nieder, grau, schmächtig, gewandt, fadenscheinig im Sonnenlicht und stahlhart. Er hatte die rechte Hand in der Seitentasche seiner Jacke, und noch etwas Schweres war darin, das längs der ganzen Seite Falten zog. Ein Matrose räusperte sich bedeutungsvoll. – »Ich hatte bisher an euch Leuten soweit nichts auszusetzen«, sagte der Schiffer und machte kurz halt. Er wandte ihnen seinen müden, stählernen Blick zu, der sich, einer allgemeinen Sinnestäuschung zufolge, pfeilgerade in jedes einzelne der zwanzig Augenpaare vor ihm bohrte. Herr Baker hinter ihm, düster und stiernackig, grunzte leise. Herr Creighton hatte rosigfrische Wangen und sah tatkräftig und entschlossen aus. – »Und hab's jetzt auch nicht«, fuhr der Schiffer fort. »Aber ich bin da, um dieses Schiff zu kommandieren und alle Mann an Bord, bis zum letzten, im Zügel zu halten. Wenn ihr eure Arbeit so gut verstündet wie ich die meine, dann gäb's keinen Verdruß. Ihr habt nachts was gebrüllt wie ›wollen morgen früh sehen!‹ Gut, jetzt seht ihr mich. Was wollt ihr?« Er wartete, ging rasch auf und ab und sah sie forschend an. Ja, was wollten sie? Sie traten von einem Fuß auf den andern, wiegten die Körper; manche schoben die Mützen zurück und kratzten sich die Köpfe. Was wollten sie? Jimmy war vergessen; niemand dachte an ihn, während er dort vorn in seiner Kabine mit grauen Schatten kämpfte, sich an eherne Lügen klammerte und verzweifelt an seinem durchsichtigen Selbstbetrug festhielt. Nein, nicht Jimmy; er war gründlicher vergessen, als wäre er tot gewesen. Sie wollten große Dinge. Und auf einmal schienen sich alle die einfachen Worte, die sie wußten, in die Unendlichkeit ihrer haltlosen brennenden Sehnsucht zu verlieren. Sie wußten, was sie wollten, doch es fiel ihnen nichts ein, was irgendwie der Rede wert gewesen wäre. Sie drängten sich auf einen Fleck und schlenkerten die muskulösen Arme mit den großen teerigen Händen und den gekrümmten Fingern. Ein Flüstern erstarb. – »Was ist's – Essen?« fragte der Schiffer. »Ihr wißt doch, daß die Vorräte am Kap verdorben sind.« – »Das wissen wir, Herr«, sagte ein bärtiger Matrose in der ersten Reihe. – »Arbeit zu hart – he? Zuviel für eure Kräfte?« fragte er wieder. Ein beleidigtes Stillschweigen war die Antwort. – »Wir wollen nicht mit zu wenig Leuten arbeiten, Herr«, hob schließlich Davies unsicher an, »und dieser Schwarze da . . .« – »Genug!« schrie der Schiffer. Er stand einen Augenblick überlegend da und begann dann auf und ab zu gehen und sie abzukanzeln, mit kalten Worten, die wütend bissen wie die Stürme der Eismeere, die er in seiner Jugend gekannt hatte. »Soll ich euch sagen, woran's liegt? Ihr wollt oben hinaus. Haltet euch für verdammt tüchtige Leute. Kennt eure Arbeit halb. Tut eure Pflicht halb. Findet's noch zuviel. Wenn ihr zehnmal mehr tätet, dann wär's auch noch nicht genug.« – »Wir haben unser Bestes getan fürs Schiff, Herr«, rief jemand, zitternd vor Erregung. – »Euer Bestes«, wetterte der Schiffer weiter. »Ihr hört eine Menge an Land, nicht wahr? Die sagen euch aber nicht, daß ihr euch auf euer Bestes auch nicht viel einzubilden braucht. Ich sag's euch – euer Bestes ist nicht besser als schlecht. Ihr könnt nicht mehr tun? Nein, ich weiß und sag' nichts. Aber macht mit dem Krakeel Schluß, sonst tu' ich es für euch. Ich warte nur drauf! Macht Schluß damit!« Er schüttelte drohend den Finger. »Und was den Mann dort angeht«, dabei erhob er die Stimme sehr stark, »wenn der ohne meine Erlaubnis nur die Nase auf Deck steckt, dann lasse ich ihn in Eisen legen. So!« Der Koch vorn hörte ihn, rannte aus der Kombüse heraus, mit erhobenen Armen, entgeistert, ungläubig, verblüfft, – und rannte wieder hinein. Während des kurzen lautlosen Schweigens, das nun folgte, trat ein krummbeiniger Matrose beiseite und spuckte mit Anstand in das Speigatt. »Da ist noch eine andere Sache«, sagte der Schiffer ruhig. Er machte einen raschen Schritt und zog mit einem Ruck einen eisernen Belegnagel aus der Tasche. »Das da!« Seine Bewegung war so unerwartet und plötzlich, daß die Mannschaft zurückwich. Er sah sie fest an, und einige machten überraschte Gesichter, als hätten sie nie zuvor einen Belegnagel gesehen. Er hielt ihn hoch. »Das geht mich an. Ich frage euch nichts, aber ihr wißt es alle; der soll wieder dahin, wo er hergekommen ist.« Seine Augen wurden ärgerlich. Die Leute drückten sich verlegen herum. Sie sahen von dem Eisenstück weg, schienen ängstlich, verwirrt, empört, als handelte es sich um etwas Schauerliches, grob Anstößiges, das man füglich nicht so am hellen Tag herzeigen dürfte. Der Schiffer beobachtete sie aufmerksam. »Donkin«, rief er kurz und scharf.

Donkin verkroch sich hinter dem und jenem, doch die Leute sahen über die Schultern zurück und traten zur Seite. Die Glieder öffneten sich vor ihm, schlossen sich hinter ihm, bis er endlich allein vor dem Schiffer stand, wie aus dem Deck gewachsen. Kapitän Allistoun trat dicht an ihn heran. Sie waren ziemlich gleich groß, und der Schiffer wechselte aus nächster Nähe einen tödlichen Blick mit den unsteten Augen, die nicht standhalten konnten. – »Du kennst das?« fragte der Schiffer. – »Nein, gar nicht«, antwortete der andere bebend und frech. – »Du bist ein Hundsfott. Nimm's!« befahl der Schiffer. Donkins Arme schienen an den Hüften festgewachsen; er stand da, Augen geradeaus, wie auf Parade. »Nimm's!« wiederholte der Schiffer und trat näher; sie atmeten einander an. »Nimm's!« sagte Kapitän Allistoun nochmals mit einer drohenden Gebärde. Donkin riß sich einen Arm von der Seite los. – »Warum habt Ihr's mit mir?« greinte er mühsam, als hätte er Teig im Mund. – »Wenn du's nicht nimmst . . .« begann der Schiffer. Donkin haschte nach der Pinne, als wollte er damit davonrennen, blieb aber stocksteif stehen und hielt sie wie eine Kerze vor sich. »Tu's wieder hin, wo du's hergeholt hast«, sagte Kapitän Allistoun und sah ihn finster an. Donkin trat zurück und riß die Augen auf. »Geh, du Schuft, sonst helf' ich dir!« schrie der Schiffer und trieb ihn durch einen drohenden Vorstoß langsam zurück. Er duckte sich und suchte mit dem gefährlichen Eisen seinen Kopf vor einem Faustschlag zu schützen. Herr Baker hörte einen Augenblick auf zu grunzen. – »Gut! Bei Gott!« murmelte Herr Creighton beifällig mit Kennermiene. – »Rührt mich nicht an!« knurrte Donkin im Zurückweichen. – »Dann geh! Schneller!« – »Schlagt mich nicht! . . . Ich bring' euch vor Gericht . . . Werd's euch schon zeigen!« Kapitän Allistoun machte einen langen Schritt, und Donkin wandte sich schnell um und rannte ein Stück weiter; dann blieb er stehen und zeigte über die Schulter weg die gelben Zähne. »Weiter! Focktakelung!« drängte der Schiffer und wies mit dem Arm. – »Wollt ihr ruhig zusehen, wie ich da gepeinigt werde?« kreischte Donkin der Mannschaft zu, die ihn schweigend beobachtete. Kapitän Allistoun ging hart auf ihn los; da sprang er auf, stürzte zur Focktakelung und rammte den Nagel wütend in sein Gatt. »Mit euch werd' ich noch quitt«, gellte er dem ganzen Schiff zu und verschwand hinter dem Fockmast. Kapitän Allistoun drehte sich um und kam mit gelassenem Gesicht zurück, als hätte er den ganzen Vorfall schon vergessen. Die Leute wichen ihm aus. Er sah niemand an. »Das genügt, Herr Baker. Lassen Sie die Mannschaft abtreten«, sagte er ruhig. »Und ihr, Leute, nehmt euch in Zukunft zusammen!« fügte er mit fester Stimme hinzu. Er sah den Leuten, die sich verschüchtert zurückzogen, eine Weile nachdenklich nach. »Frühstück, Steward!« rief er dann aufatmend durch die Kajütentür. – »Ich sah das nicht gern – Ouch! – wie Sie dem Kerl die Pinne gaben, Herr«, bemerkte Herr Baker; »er hätte Ihnen damit den Kopf – Ouch! – den Kopf zertrümmern können wie eine Eierschale.« – »Oho!« murmelte der Schiffer geistesabwesend. »Verrückte Bande«, fuhr er dann halblaut fort. »Denke, 's ist nun wieder alles in Ordnung. Man kann zwar nie wissen, heutzutage, mit solchen . . . Vor Jahren einmal – war noch ein junger Kapitän damals – auf einer Chinareise hatte ich eine Meuterei; richtige Meuterei, Baker. Andere Leute auch. Ich wußte, was sie wollten: wollten die Ladung erbrechen und an den Schnaps gehen. Ganz einfach . . . Wir jagten sie zwei Tage lang herum, und wie sie genug hatten – fromm wie die Lämmer. Gute Mannschaft. Und eine feine Überfahrt hab' ich gemacht.« Er sah zu den scharf angebraßten Rahen hinauf. »Gegenwind, einen Tag um den andern!« rief er bitter aus. »Sollen wir denn diesmal gar keine anständige Brise kriegen?« – »Fertig, Herr«, meldete der Steward und tauchte wie durch Hexerei vor ihnen auf, eine fleckige Serviette in der Hand. – »Oha! Schon recht! Kommen Sie, Herr Baker – 's ist spät geworden – mit all dem Unsinn.«

 


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