Joseph Conrad
Der Nigger vom ›Narzissus‹
Joseph Conrad

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I

Herr Baker, der Erste Offizier der Brigg ›Narzissus‹, trat mit einem weiten Schritt aus seiner erleuchteten Kajüte auf das dunkle Achterdeck hinaus. Über seinem Haupte, beim Vorderschott der Hütte, schlug der Mann von der Nachtwache zweimal die Glocke an; es war neun Uhr. Herr Baker sah zu ihm hinauf und rief: »Sind alle Leute an Bord, Knowles?«

Der Mann humpelte die Heckleiter herunter und meinte nachdenklich:

»Ich denke so, Herr. Alle unsere alten Leute sind da – und eine Menge neue sind gekommen . . . Es müssen wohl alle da sein.«

»Sag' dem Bootsmann, er soll alle Mann achtern schicken«, fuhr Herr Baker fort. »Und sag' einem von den Jungen, daß er eine gute Lampe hinbringt. Ich will die Besatzung mustern.«

Das Hauptdeck lag halb im Dunkel; nur aus den offenen Türen des Logis brachen zwei grelle Lichtstreifen und durchschnitten die Schatten, die die ruhige Nacht über das Schiff breitete. Von der Back her drang das Geräusch von Stimmen; und in den erleuchteten Türgängen, back- und steuerbord, tauchten für Augenblicke die bewegten Silhouetten von Menschen auf, ganz schwarz und flächig, wie aus Zinkblech geschnitten. Das Schiff war klar zum Auslaufen. Der Zimmermann hatte die letzten Lukenschalken verkeilt, dann, mit dem Schlag fünf, den Schlegel weggelegt und sich mit großer Erleichterung die Stirn getrocknet. Die Decks waren reingewaschen, das Spill geölt und für das Ankerlichten instand gesetzt; das schwere Schlepptau lag in langen Buchten längsseit am Hauptdeck, ein Ende hochgezogen und über die Backen gehängt, fertig für den Schlepper; der würde dann, heiß und rauchig, mit Plätschern und Zischen in die klare, kühle Ruhe des frühen Morgens hineinlärmen. Der Kapitän war an Land, um ein paar neue Leute anzuheuern, die zur vollen Bemannung fehlten; und als die Tagesarbeit getan war, da hatten sich die Offiziere abseits gehalten, froh, ein wenig aufatmen zu können. Kurz nach Dunkelwerden kamen nacheinander die wenigen Urlauber und die neuen Leute an, in Landungsbooten, von weißgekleideten Asiaten gerudert, die laut kreischend Bezahlung forderten, bevor sie an der Fallreepsleiter anlegten. Das überstürzte, schrille Geschnatter der östlichen Zungen kämpfte mit den herrischen Ausrufen angeheiterter Seeleute, die den unverschämten Forderungen und betrügerischen Hoffnungen mit lästerlichem Gebrüll begegneten. Das Wutgeheul und die schneidenden Wehklagen, die sich da über Summen von fünf Annas bis zu einer halben Rupie erhoben, rissen den strahlenden Frieden der tropischen Sternennacht in klägliche Fetzen; und jedermann im Hafen von Bombay konnte gewahr werden, daß die neuen Leute vom ›Narzissus‹ an Bord gingen.

Allmählich flaute das verwirrende Getöse ab. Die Boote kamen nicht mehr in lärmenden Haufen von drei und vier, sondern legten vereinzelt längsseit an; und die unterwürfig geflüsterten Vorhaltungen wurden durch ein: »Keinen Pice mehr! Du, geh zum Teufel!« kurz abgeschnitten, von irgendeinem Mann, der, die lange Seekiste auf der Schulter, die Fallreepstreppe heraufstakelte. Im Logis standen die Neugekommenen zwischen verschnürten Koffern und Bündeln mit Bettzeug herum und biederten sich mit den alten Leuten an, die übereinander in den zwei Reihen von Kojen saßen und ihre zukünftigen Kameraden mit kritischen, doch freundlichen Blicken musterten. Die zwei Lampen im Logis waren hoch aufgedreht und gaben grelles Licht; die steifen Hüte der Urlauber saßen tief im Nacken oder rollten auf Deck zwischen den Ankerketten umher; weit offene weiße Kragen umrahmten rote Gesichter; mächtige Arme gestikulierten aus weißen Hemdärmeln hervor; das gleichmäßige Stimmengesumm wurde zeitweilig unterbrochen durch laute Lachsalven oder heisere Ausrufe: »Da, Söhnchen, nimm die Koje . . . Das laß du bleiben! . . . Was war dein letztes Schiff? . . . Ich kenne es . . . Vor drei Jahren, in Puget Sound . . . Die Koje da leckt, sag' ich dir! . . . Komm, hilf uns die Kiste raufheben! . . . Hat einer von euch Kunden eine Flasche dabei? . . . Gebt ein Stück Priem her . . . Die Brigg kenne ich, ihr Schiffer hat sich totgesoffen . . . Ein feiner Knabe war er! . . . Liebte die inwendigen Waschungen, jawohl! . . . Nein! . . . Maul gehalten, ihr Kerle! . . . Ich sag' euch, ihr seid da auf einen Kasten geraten, wo's tüchtig schuften heißt für den Lohn, beim –! . . .«

Ein kleiner Bursche, der Craik hieß und den Spitznamen Belfast führte, schimpfte heftig über das Schiff und schnitt dabei aus Prinzip auf – nur damit die neuen Leute was zum Nachdenken hätten. Archie saß mit angezogenen Knien auf seiner Seekiste und zog gleichmäßig die Nadel durch einen weißen Flicken in einem Paar blauer Hosen. In dem Gedränge mitten im Logis bewegten sich Leute in schwarzen Jacken und Stehkragen neben anderen, die bloßfüßig, mit nackten Armen dastanden, die farbigen Hemden weit offen über haariger Brust. In dem Tabaksqualm wogte und wimmelte der ganze Haufe durcheinander. Alle sprachen zu gleicher Zeit und fluchten bei jedem zweiten Wort. Ein russischer Finne, der ein gelbes Hemd mit roten Streifen trug, starrte unter einem Wust ungekämmter Haare hervor verträumt vor sich hin. Zwei junge Riesen mit weichen Kindergesichtern – Skandinavier – halfen einander ihr Bettzeug ausbreiten und lächelten schweigend und sanft zu dem Donnerwetter von gutmütigen und harmlosen Flüchen ringsum. Der alte Singleton, der älteste Matrose an Bord, saß abseits, gerade unter den Lampen, entblößt bis zum Gürtel; seine mächtige Brust und der riesige Bizeps waren über und über tätowiert wie bei einem Kannibalenhäuptling. Zwischen den blauen und roten Zeichnungen glänzte seine weiße Haut seidig hervor; mit dem bloßen Rücken lehnte er gegen das Bugspriet und hielt ein Buch auf Armeslänge vor sein großes, sonnverbranntes Gesicht. Mit den Augengläsern und dem ehrwürdigen weißen Bart glich er einem gelehrten, patriarchalischen Wilden – der ruhevollen Verkörperung heidnischer Weisheit in dem gotteslästerlichen weltlichen Getriebe. Er war ganz und gar in Anspruch genommen, und wenn er die Seiten umwandte, dann lag ein ernstes Staunen über seinen rauhen Zügen. Er las ›Pelham‹. Es ist ein erstaunliches und unerklärliches Rätsel, wie beliebt Bulwer Lytton im Mannschaftsraum der Schiffe ist, die nach Süden gehen. Welche Gefühle mögen seine geschliffenen und dabei so merkwürdig verlogenen Sentenzen in den schlichten Gemütern der großen Kinder erwecken, die diese dunklen und ewig wandernden Wohnsitze bevölkern? Welchen Sinn mögen die rauhen, unerfahrenen Seelen in seiner feingedrechselten Sprache finden? Welche Anregung – welch Vergessen oder welchen Frieden? Geheimnis! Ist es der Zauber des Unverständlichen – der Reiz des Unmöglichen? Oder bringen seine Erzählungen diesen Wesen, die außerhalb des Lebens stehen, geheimnisvolle Kunde von einer prächtigen Welt, die hinter dem Grenzstreifen voll Verbrechen, Schmutz und Hunger, Elend und Vergeudung hegt, hinter diesem Grenzstreifen, der von allen Seiten zu dem makellosen Weltmeer hinabreicht und auf den die ganze Kenntnis, das ganze Wissen dieser lebenslänglichen Gefangenen des Meeres vom Leben und vom Lande beschränkt ist? – Geheimnis!

Singleton, der seit seinem zwölften Jahre auf der südlichen Route fuhr, der in den letzten fünfundvierzig Jahren (wie wir aus seinen Papieren festgestellt haben) keine vierzig Monate an Land gelebt hatte – der alte Singleton, der in der ruhigen Art, wie sie das Bewußtsein eines wohlverbrachten Lebens verleiht, sich rühmte, daß er gewöhnlich von dem Augenblick, in dem er auf einem Schiffe ausbezahlt wurde, bis zu dem Tage, an dem er sich auf einem andern anheuern ließ, nicht in dem Zustand gewesen sei, um das Tageslicht wahrnehmen zu können – der alte Singleton also saß reglos in dem Stimmengetöse und buchstabierte sich mühsam durch ›Pelham‹ – ganz befangen in einer Versunkenheit, die fast schon ein Traumzustand schien. Er atmete regelmäßig. Und jedesmal, wenn er das Buch in seinen riesigen teerschwarzen Händen bewegte, spielten die Muskeln unter der weichen Haut seiner mächtigen weißen Arme. Halb verborgen unter dem weißen Schnurrbart bewegten sich seine Lippen in lautlosem Flüstern; der Tabaksaft, der den langen Bart hinunterrann, hatte sie gelb gefärbt. Seine trüben Augen blickten starr hinter den glitzernden, schwarzgefaßten Gläsern hervor. Ihm gegenüber, in gleicher Höhe mit seinem Gesicht, saß die Schiffskatze auf der Trommel des Gangspills, geduckt wie ein lauerndes Ungeheuer, und blinzelte ihren alten Freund aus grünen Augen an. Sie schien einen Sprung auf des alten Mannes Schoß zu planen, über den gebeugten Rücken des Leichtmatrosen weg, der zu Singletons Füßen saß. Der junge Charley war mager, mit langem Hals. Seine Rückenwirbel zeichneten sich in hügeliger Kette unter dem alten Hemde ab. Sein Gassenbubengesicht – frühreif, altklug und spöttisch, mit scharfgezogenen Falten zu beiden Seiten des schmallippigen, breiten Mundes – war tief über die knochigen Knie gebeugt. Er versuchte an einem alten Tauende einen Taljereepsknoten zu lernen. Kleine Schweißtropfen standen auf seiner gewölbten Stirn; von Zeit zu Zeit schnaufte er heftig auf und schielte aus den Winkeln der ruhlosen Augen nach dem alten Seemann; der aber beachtete den eifrigen Jungen nicht, der über seiner Arbeit murmelte.

Der Lärm nahm zu. In der drückenden Schwüle des Logis schien der kleine Belfast in drolliger Wut zu kochen. Seine Augen tanzten; aus seinem purpurroten Gesicht, das komisch wie eine Maske wirkte, gähnte die schwarze Mundhöhle in absonderlichen Grimassen. Vor ihm stand ein halb ausgekleideter Mann, hielt sich die Seiten, warf den Kopf zurück und lachte mit nassen Augen. Andere sahen verblüfft zu. Die Leute saßen zu zweit in den oberen Kojen, rauchten ihre kurzen Pfeifen und ließen die bloßen braunen Füße über die Köpfe derer baumeln, die sich unten auf den Seekisten räkelten und mit blödem oder verächtlichem Lächeln zuhörten. Über den weißen Rand der Kojen ragten Köpfe mit blitzenden Augen hervor; die Körper verloren sich in den düsteren Bettstellen, die engen Sargnischen in einem reingewaschenen, hellen Totenhause glichen. Die Stimmen dröhnten lauter. Archie preßte die Lippen zusammen, machte sich klein, schien förmlich zusammenzuschrumpfen und nähte gleichmäßig weiter, emsig und teilnahmlos. Belfast kreischte wie ein verzückter Derwisch: ». . . Also, Jungens, ich sag' zu ihm, sag' ich, ›Padohn, Herr‹, sag' ich zu dem Zweiten Offizier von dem Dampfer – ›Padohn, Herr, das Seeamt muß besoffen gewesen sein, als es Ihnen das Patent ausstellte!‹ ›Was sagst du, du –!‹ sagt er und kommt auf mich los wie ein wilder Stier . . . in seinem weißen Anzug; und ich auf mit meinem Teertopf und schütt' ihm den über sein verdammtes, süßes Gesicht und die süße Jacke . . . ›Nimm das‹, sag' ich, ›ich bin ein Seemann‹, sag' ich, ›du langnasiger, unnützer Brückenpfosten, du Maulheld . . . so ein Mann bin ich‹, brüll' ich . . . Ihr hättet sehn sollen, Jungens, wie er sprang! Über und über voll Teer – die Augen, alles! So . . .«

»Glaubt ihm nichts! Er hat keinen mit Teer begossen; ich war dabei!« schrie jemand dazwischen. Die beiden Norweger saßen nebeneinander auf einer Kiste, mit dem gleichen sanften Ausdruck, wie ein Vogelpärchen auf einem Zweig, und blickten unschuldig aus runden Augen; der Finne aber blieb reglos in dem tosenden Lachen und Geschrei, schlaff und trübe, als wäre er taub. Nahe bei ihm lächelte Archie über seiner Nadel. Ein breitgebauter Ankömmling mit trägen Augen trat verwegen vor Belfast hin und sagte, als der Lärm eben einen Augenblick aussetzte: »Ich wundere mich nur, daß noch einer der Offiziere am Leben ist – mit so einem Kerl wie du an Bord! Sie können doch nicht mehr gar so schlimm sein, wenn du sie in der Arbeit hattest, Söhnchen!«

»Nicht schlimm! Nicht schlimm!« kreischte Belfast. »Wenn wir nicht so zusammenhielten . . . Nicht schlimm! Sie sind nie schlimm, wenn sie nicht gerade das Heft in der Hand haben! Die Pest auf ihre schwarzen Seelen! . . .« Er schäumte, schwenkte die Arme, grinste dann plötzlich, zog eine Rolle schwarzen Tabaks aus der Tasche und biß mit drollig gespielter Wut ein Stück davon ab. Ein anderer von den Neuen – ein Mann mit verschlagenen Augen und einem gelben, magern Gesicht – hatte bisher im Schatten des Mittschiffskastens gestanden und mit offenem Munde zugehört. Nun warf er mit quiekender Stimme ein: »Schon gut – 's ist eine Heimreise. Da laß ich mir was gefallen – gut oder schlecht – weil's eben nach Haus geht. Aber dann will ich mir mein Recht schon suchen! Denen werd' ich's zeigen!« Alle Köpfe drehten sich ihm zu. Nur der Leichtmatrose und die Katze taten nicht dergleichen. Er stand da, die Arme in die Seiten gestemmt, ein kleiner Kerl mit weißen Wimpern. Er sah aus, als habe er alle letzten, elendesten Erniedrigungen durchgemacht, als sei er herumgestoßen, verprügelt, durch den Schmutz geschleift worden, zertreten, angespien, als sei ihm der erbärmlichste Unrat vertraut . . . und er lächelte mit einem Gefühl von Sicherheit die Gesichter ringsum an. Der verbeulte steife Hut drückte ihm die Ohren herunter. Die zerrissenen Schöße seines schwarzen Rocks hingen ihm in Fetzen um die Waden. Er öffnete die zwei einzigen Knöpfe, die noch übrig waren – und jedermann konnte sehen, daß er kein Hemd anhatte. Es war sein verdientes Mißgeschick, daß diese elenden Lumpen, deren Besitz man füglich niemand zutrauen konnte, an ihm aussahen, als habe er sie gestohlen. Sein Hals war lang und dünn, seine Augenlider waren gerötet; spärliche Haare fielen ihm über die Backen; seine Schultern hingen spitzknochig herunter wie die gebrochenen Schwingen eines Vogels; über seiner ganzen linken Seite lag eine dicke Schmutzkruste, die deutlich bewies, daß er kürzlich in einem nassen Straßengraben genächtigt hatte. Er hatte seinen elenden Leichnam vor gewaltsamer Vernichtung gerettet, indem er von einem amerikanischen Schiff entlaufen war, darauf er sich in unbedachter Torheit hatte anheuern lassen. Dann hatte er sich zwei Wochen lang an Land im Eingeborenenviertel herumgetrieben, hatte um Getränke gebettelt, gehungert, auf Kehrichthaufen geschlafen und war im Sonnenschein umhergeirrt: wie ein Sendbote der Hölle stand er da, und es war widerwärtig anzusehen, wie er in das plötzliche Schweigen hineinlächelte. Dies saubere, weiße Vorderkastell war seine Zuflucht; hier konnte er faulenzen, herumliegen, essen – und über das Essen schimpfen; hier konnte er all seine Talente entfalten, der Arbeit aus dem Wege gehen, betrügen und schnorren; hier würde er sicher einen finden, den er beschwatzen, und einen, den er einschüchtern konnte – und für all dies würde man ihn noch bezahlen. Sie kannten ihn alle. Gibt es denn einen Fleck auf Erden, wo man solche Leute nicht kennt, diese lebenden Beweise dafür, daß Lüge und Schamlosigkeit nicht umzubringen sind? Ein schweigsamer, langarmiger Seebär mit hakigen Fingern, der rauchend auf dem Rücken gelegen hatte, wandte sich auf seinem Lager, musterte ihn leidenschaftslos – und sandte dann, über seinen Kopf weg, einen klaren Speichelstrahl zur Tür hin. Oh, sie kannten ihn alle! Er war der Mann, der nicht steuern, nicht splissen kann und sich in dunklen Nächten von der Arbeit drückt; der sich, in der Takelung oben, verzweifelt mit beiden Armen und Beinen festklammert und auf den Wind, den Hagel, die Dunkelheit flucht; der Mann, der die See verwünscht, während andere arbeiten. Der Mann, der als letzter oben und als erster wieder unten ist, wenn alle Mann an Deck befohlen werden. Der Mann, der das meiste nicht tun kann und das übrige nicht tun will. Der Liebling der Philanthropen und der selbstsüchtigen Landratten. Eines der sympathischen, würdigen Geschöpfe, die ganz genau ihr Recht kennen, doch weder Mut noch Ausdauer; und die nichts wissen von dem ungesprochenen Treugelübde, dem stummen Glaubensbekenntnis, das die Besatzung eines Schiffes verbindet. Ein selbstbewußter Sproß der Armenviertel und ihrer erbärmlichen Freiheit, voll Haß und Verachtung für die erhabene Gefolgschaft des Meeres.

Jemand schrie ihm zu: »Wie heißt du?« – »Donkin«, sagte er und blickte munter und unverschämt um sich. – »Was bist du?« fragte eine andere Stimme. – »Nun, ein Seemann wie du, alter Knabe«, gab er zurück, in einem Ton, der herzlich sein sollte, doch nur frech klang. – »Gott verdamm' mich, wenn du nicht noch ein gut Stück elender ausschaust als ein gestrandeter Heizer!« murmelte der andere. Charley hob den Kopf und piepste mit dünner Stimme: »Er ist ein Mann und Matrose« – dann fuhr er sich mit dem Handrücken über die Nase und beugte sich eifrig wieder über sein Tauende. Einige lachten; andere schauten bedenklich drein. Der zerlumpte Neuling war entrüstet. – »Eine feine Art, das, einen Kameraden im Logis willkommen zu heißen«, schnarrte er. »Seid ihr Männer oder eine herzlose Kannibalenbande?« – »He, du, mußt nicht gleich die Hemdärmel aufkrempeln!« schrie Belfast und sprang vor ihn hin, hitzig, drohend – und dabei doch freundlich. – »Ist der Kerl da blind?« fragte der hartnäckige Lumpenmann und sah mit geheuchelter Überraschung nach links und rechts. »Sieht nicht einmal, daß ich gar kein Hemd anhab'!«

Er streckte beide Arme weit aus und schüttelte mit dramatischer Gebärde die Fetzen, die um seine Knochen hingen.

»Denn warum?« fuhr er mit erhobener Stimme fort. »Die verdammten Yankees wollten mir die Seele aus'm Leib trampeln, weil ich wie ein ganzer Kerl um mein Recht stritt. Bin ein Englishman, ich. Sie fielen über mich her, und ich mußte ausreißen. Darum! Habt ihr noch keinen blank gesehen? Was für ein verfluchter Kasten ist jetzt das? Ich bin glatt auf'm trocknen. Nichts hab' ich, gar nichts – keinen Koffer, kein Bett, keine Decke, kein Hemd – nichts als die lumpigen Fetzen, die ich am Leib habe. Aber gegen die Yankees hab' ich mich doch gewehrt! Ist keiner unter euch so anständig und hat ein Paar alte Hosen übrig für einen Kameraden?«

Er verstand es, die Leute bei ihrer schwachen Seite zu packen. In einem Nu waren sie mit ihrem Mitleid bei der Hand, scherzend, verächtlich oder grob; wie er so dastand und die weiße Haut als einziges Zeichen seiner Menschlichkeit durch die schmierige Lumpenhülle schimmerte, da flog ihm, als erster greifbarer Beweis von Mitgefühl, eine Decke zu. Dann fiel ihm ein altes Paar Schuhe vor die schmutzigen Füße. Mit dem Ruf: »Für unten!« sauste ihm eine zusammengerollte Hose, dick voll Teerflecken, auf die Schulter. Der allgemeine Rausch von Freigebigkeit wirkte selbst auf die verhärtetsten Gemüter zurück und weckte ein sentimentales Echo. Sie waren alle tief gerührt über ihre Bereitwilligkeit, das Elend eines Schiffskameraden zu lindern. Stimmen wurden laut: »Wir wollen dich ausstatten, alter Knabe!« Und ein Murmeln ringsum: »Eine verdammt traurige Geschichte . . . Armer Teufel . . . Ich hab' eine alte Unterjacke . . . kannst du sie vielleicht brauchen? . . . Nimm nur, Söhnchen . . .« So ging's im ganzen Vorderkastell. Er stolperte auf seinen nackten Füßen herum, türmte die Sachen auf einen Haufen und sah nach mehr aus. Der unerschütterliche Archie steuerte zu dem Stoß gleichmütig eine alte Tuchmütze bei, der der Schirm fehlte. Der alte Singleton, in eine höhere Gedankenwelt entrückt, las unbeirrt weiter. Charley, unbarmherzig in seiner jungen Weltweisheit, quiekte: »Wenn Ihr Messingknöpfe für Eure neue Uniform braucht – ich habe zwei!« Der schmierige Gegenstand der allgemeinen Mildtätigkeit drohte dem Jungen mit der Faust. »Dich will ich noch kleinkriegen, mein Lieber«, zischte er giftig. »Fürcht' dich nur nicht – dir bring' ich schon Lebensart gegen ältere Leute bei, du Esel, du dummer!« Er schoß wütende Blicke; als er aber sah, daß der alte Singleton sein Buch schloß, ließ er seine unsteten kleinen Augen von einer Koje zur andern wandern. »Nimm dir die Koje da, bei der Tür, – die ist nett«, rief Belfast. Daraufhin raffte der andere die Gaben vom Boden auf, preßte sie in einem Bündel an die Brust und spähte dann behutsam zu dem Finnen hinüber, der vor der Koje stand und traumverloren in die Luft starrte; vielleicht hatte er eines der Gesichte, wie sie die Männer seines Volkes verfolgen. »Mach' mir Platz, Gevatter«, sagte der Märtyrer der Yankee-Grausamkeit. Der Finne rührte sich nicht – hörte nicht. »Platz da, du verdrehter, taubstummer Narr. Platz!« Der Mann schwankte, erwachte gleichsam und starrte den Sprecher wortlos an. »Diese verdammten Schlafmützen muß man ducken«, wandte sich der liebenswürdige Donkin zur Mannschaft. »Die möchten sich gleich aufspielen, wenn man ihnen nicht den Herrn zeigt.« Er schleuderte all seine irdische Habe auf die leere Bettstatt, überprüfte noch mit einem raschen Blick die Gefahren des Unternehmens und sprang dann auf den Finnen zu, der teilnahmlos, tief in Gedanken, dastand. – »Ich will dich lehren, da im Weg herumstehen!« krähte er. »Ich will dir helfen, die Augen offenhalten, du Dickschädel!« Die meisten Leute lagen schon in ihren Kojen, und die beiden hatten das Logis für sich allein. Es erregte allgemeines Interesse, wie sich der armselige Donkin da entpuppte. Er tanzte, abgerissen wie er war, vor dem Finnen herum und beschimpfte ihn aus sicherer Entfernung. Der andere blieb düster und unbeweglich. Ein oder zwei Leute feuerten ihn an: »Los, vorwärts, Whitechapel!« und lehnten sich dann behaglich im Bett zurück, um den Kampf zu verfolgen. Andere brüllten: »Halt dein Maul! . . . Laß dich heimgeigen! . . .« Der Radau ging wieder los. Plötzlich wurden mit einer Handspake ein paar heftige Schläge oben gegen das Deck geführt, daß es im Vorderkastell wie Kanonendonner dröhnte. Dann erhob vor der Tür der Bootsmann befehlend die Stimme: »Hört ihr, da unten? Nach achtern! Alle Mann nach achtern zur Musterung!«

Einen Augenblick lang herrschte überraschtes Schweigen. Dann sprangen die Leute mit bloßen Füßen klatschend auf die Diele, suchten unter den zerwühlten Decken nach ihren Kappen oder schlossen gähnend den Hosenbund. Halb ausgerauchte Pfeifen wurden eilig gegen das Holzwerk ausgeklopft und unter den Kopfkissen verstaut. Einige murrten: »Was ist los? . . . Sollen wir gar keine Ruhe haben?« Donkin belferte: »Wenn's auf dem Schiff so zugeht, da werden wir wohl Mode machen müssen . . . Laßt mich nur . . . Ich will bald . . .« Niemand achtete auf ihn. Sie quetschten sich zu zweien und dreien durch die Türen – denn die Blaujacken von der Handelsmarine können nicht so ohne weiteres durch eine Türe gehen wie simple Landratten. Der umstürzlerische Donkin folgte. Singleton zwängte sich in seine Jacke und ging als letzter; er trug sein wetterfestes Seherhaupt mit väterlicher Würde auf dem hochgewachsenen, athletischen Leibe. Nur Charley blieb allein in dem leeren Raum, zwischen den zwei Reihen von Eisengestellen, die in den engen Lichtkreis ragten. Er zerrte fieberhaft an den Litzen, um noch schnell den Knoten fertigzubringen. Plötzlich fuhr er auf, warf das Tauende nach der schwarzen Katze und jagte ihr dann nach, während sie, den Schwanz wie eine Flaggenstange steif aufgerichtet, bedächtig über die Armstopper sprang.

Aus der drückenden Schwüle des Vorderkastells traten die Leute in die klare, reine Nacht hinaus, die sie mit schmeichelndem, lauem Hauche empfing; hoch über den Masttoppen hingen zahllose Sterne in leichtem, schimmerndem Dunst. Gegen die Stadt zu lag auf dem dunklen Wasser da und dort ein Lichtschein und trieb auf tanzenden Wellchen dem Ufer zu, wie feines Gespinst. Andere Lichter zogen sich in geraden Reihen hin, als wollten sie zwischen den ragenden Gebäuden Spalier bilden; auf der andern Seite des Hafens reckten dunkle Hügel ihre schwarzen Rücken empor, hinter denen vereinzelte Sterne wie verloren hervorlugten. Weit weg, an der Bycullastraße, glühten die Bogenlampen am Docktor von ihren hohen Ständern in die Nacht hinaus, mit dem bösen Blick gebannter Geister. Über die weite, dunkle Reede verstreut schaukelten verankerte Schiffe in totem Schweigen; im schwachen Schein der Ankerlichter tauchten dann und wann ihre massigen, dunklen Leiber auf – und sanken wieder in die Grabesschatten zurück, denen sie von den Menschen überantwortet schienen.

Vor der Kajütentür hielt Herr Baker Musterung. Die Leute konnten achtern sein breites, rundes Gesicht sehen, mit einem weißen Blatt davor, während sie sich noch drängend am Großmast vorbeischoben; neben seiner Schulter tauchte der Kopf des verschlafenen Schiffsjungen auf, der mit gestrecktem Arm die Lampe hochhielt. Bevor noch das Schlurren der nackten Füße auf Deck zur Ruhe gekommen war, begann der Offizier die Namen abzulesen. Seine klare Stimme paßte sich dem Ernst des Augenblicks an: denn nach dieser Musterung gingen die Leute einer bewegten, einsamen Zukunft, erbitterten, ruhmlosen Kämpfen entgegen und, was noch härter war, endlosen Entbehrungen und aufreibender Arbeit. Wenn der Erste einen Namen aufrief, dann antwortete irgendein Mann mit »Jawohl, Herr« oder »Hier!«, löste sich aus der verworrenen Masse der Köpfe, die sich über der Steuerbordreling abhoben, trat mit bloßen Füßen in den Lichtkreis und verschwand dann mit zwei lautlosen Schritten in den tiefen Schatten auf der Backbordseite des Achterdecks. Die Antworten klangen nicht gleich; manche murmelten nur undeutlich, andere meldeten sich mit klarer, klingender Stimme; noch andere schienen die ganze Szene als persönliche Beleidigung zu empfinden und antworteten in fast entrüstetem Ton. Auf Handelsschiffen ist der Sinn für Manneszucht und Unterordnung nicht sehr ausgebildet, denn die Leute fühlen sich alle einander gleich vor der starren Unendlichkeit des Meeres und den scharfen Anforderungen der Pflicht.

Herr Baker las gleichmütig fort: »Hanssen – Campbell – Smith – Wamibo. Na also, Wamibo! Warum antwortest du nicht? Immer muß ich dich zweimal aufrufen.« Der Finne ließ endlich ein unverständliches Grunzen hören und durchschritt dann in seiner fremdartigen Buntheit den Lichtkreis, mit einem Gesicht wie ein Traumwandler. Der Erste fuhr schneller fort: »Craik – Singleton – Donkin . . . Herrgott!« rief er unwillkürlich aus, als diese wandelnde Ruine vor ihm auftauchte. Donkin blieb stehen und legte in einem bösartigen Grinsen sein bleiches Zahnfleisch und die langen gelben Zähne bloß. »Paßt Ihnen etwas an mir nicht, Herr Maat?« fragte er mit gesuchter Unbefangenheit, in der ein gut Teil Frechheit mitklang. Auf beiden Seiten des Decks wurde unterdrücktes Kichern laut. »Schon gut. Geh hinüber«, brummte Herr Baker und richtete seine blauen Augen fest auf den Neugekommenen. Donkin tauchte schnell und gewandt in der Menge der Aufgerufenen unter; man klopfte ihm auf den Rücken und flüsterte ihm schmeichelhafte Dinge zu. Rings um ihn murmelten die Leute untereinander: »Der fürchtet sich nicht, er wird ihnen schon einheizen, paß nur auf . . . Das reine Kasperletheater . . . Habt ihr gesehen, wie ihn der Maat angestiert hat? . . . Verdammt will ich sein, wenn ich jemals . . .

Die Namen waren alle verlesen, und es herrschte ein kurzes Schweigen, während der Erste seine Liste überprüfte. – »Sechzehn, siebzehn«, murmelte er; dann laut: »Mir fehlt ein Mann, Bootsmann!« Der mächtige Walliser hinter ihm, schwarzgebrannt und bärtig wie ein riesenhafter Spanier, sagte in dröhnendem Baß: »Vorne ist keiner mehr, Herr. Ich hab' nachgesehen. Er wird noch nicht an Bord sein, aber er kann noch vor Tagesanbruch kommen.« – »Ja, vielleicht – oder auch nicht«, bemerkte der Erste. »Den letzten Namen da kann ich nicht lesen. Ein großer Klecks . . . 's ist gut, Leute. Abtreten!«

Die verschwommene, unbewegliche Gruppe bekam Leben, löste sich, schob sich vorwärts.

»Wart!« rief eine tiefe, klingende Stimme.

Alle standen still. Herr Baker, der sich gähnend abgewandt hatte, fuhr mit offenem Munde herum. Schließlich platzte er wütend los: »Was ist das? Wer hat ›Wart!‹ gerufen? Was? . . .«

Da sah er eine hohe Gestalt an der Reling stehen. Der Mann drängte sich durch die Menge und kam mit schweren Schritten auf das erleuchtete Achterdeck zu. Dann wiederholte die tiefe Stimme beharrlich: »Wart!« Nun fiel das Lampenlicht auf ihn. Er war hochgewachsen. Sein Kopf verschwand im Schatten der Rettungsboote, die in den Bootsgalgen über Deck ruhten. Das Weiß der Augen und Zähne schimmerte deutlich hervor, doch das Gesicht war nicht auszunehmen. Seine Hände waren groß und schienen in Handschuhen zu stecken.

Herr Baker trat unerschrocken vor. »Wer sind Sie? Wie können Sie's wagen . . .« hob er an.

Der Schiffsjunge, wie alle übrigen verblüfft, hob die Lampe und leuchtete dem Fremden ins Gesicht. Ein halblautes überraschtes Murmeln, das wie das unterdrückte Wort ›Nigger‹ klang, lief über Deck und verlor sich in der Nacht. Der Nigger schien es nicht zu hören. Er wippte leicht auf den Absätzen hin und her. Nach einer Weile sagte er ruhig: »Ich heiße Wart – James Wart!«

»Oh!« meinte Herr Baker. Dann brach nach einem sekundenlangen drückenden Schweigen sein Unwille los: »So, Sie heißen Wart! Und was weiter? Was wollen Sie hier mit Ihrem Gebrüll?«

Der Nigger war ruhig, kühl, erhaben, einfach prächtig. Die Leute waren nähergekommen und standen gedrängt hinter ihm. Er überragte den Längsten noch um einen halben Kopf. »Ich gehöre zum Schiff!« sagte er und betonte jedes Wort sanft und bestimmt. Die tiefen, rollenden Laute seiner Stimme füllten mühelos das Deck. Seine Geringschätzung und Herablassung wirkten ganz natürlich, als habe er von seiner Höhe von zwei Meter zehn die menschliche Torheit in ihrer ganzen Größe überschaut und beschlossen, ihr milde zu begegnen. Er fuhr fort: »Der Kapitän hat mich heute morgen angeheuert. Ich konnte nicht früher an Bord kommen. Als ich das Fallreep heraufkam, sah ich alle achtern und dachte mir wohl, daß die Besatzung gemustert würde. Und natürlich rief ich meinen Namen. Ich dachte, Sie hätten ihn auf der Liste und würden verstehen. Es war ein Mißverständnis.« Er brach kurz ab. Die Menge um ihn her war verwirrt. Und er war, wie immer, im Recht und wie immer bereit, zu vergeben. Die verächtlichen Worte waren verklungen, und er stand schweratmend inmitten all dieser weißen Leute. Im Schein der Lampe reckte er den Kopf hoch – einen mächtig gebauten Kopf mit tiefen Schatten und grellen Lichtern, zu dem das gequälte, schlaffe Gesicht schlecht passen wollte. Dies Gesicht, das, rührend und brutal zugleich, die unergründliche Negerseele tragisch widerspiegelte.

Herr Baker hatte seine Fassung wiedergewonnen und blickte nun auf das Ende der Liste. »Ah ja! Da steht's. 's ist gut, Wart. Trag' deine Sachen nach vorn!«

Plötzlich begann der Neger die Augen zu rollen, daß man nur das Weiße sah. Er preßte die Hand auf die Brust und hustete zweimal – ein dröhnendes, hohles und furchtbar lautes Husten. Es weckte einen Widerhall, wie zwei Schüsse in einem Gewölbe. Es schien in der Himmelswölbung und in der eisernen Schanzverkleidung des Schiffes nachzuzittern; dann ging er mit den andern nach vorne. Die Offiziere, die bei der Kajütentür lehnten, hörten ihn sagen: »Wollt ihr mir nicht einer mit dem Gepäck helfen? Ich habe eine Kiste und einen Koffer.« Die Worte kamen tönend, gelassen und über das ganze Schiff vernehmbar heraus; die Frage war in einer Art getan, die eine Ablehnung unmöglich machte. Man hörte das kurze, rasche Scharren von Leuten, die etwas Schweres fortschafften, doch die hohe Gestalt des Negers hob sich an der Großluke ruhig aus einer umgebenden Schar kleinerer ab. Wieder hörte man ihn fragen: »Ist euer Koch ein farbiger Gentleman?« Und dann ein enttäuschtes und mißbilligendes »Ah! hm!« als Erwiderung auf die Mitteilung, daß der Koch zufällig nur ein Weißer sei. Als sie aber alle zusammen nach dem Vorderkastell gingen, ließ er sich herab, den Kopf durch die Kombüsentür zu stecken und ein mächtiges »Guten Abend, Doktor!« hineinzuschmettern, daß die Pfannen rasselten. In dem trüben Licht hockte der Koch auf der Kohlenkiste, vor dem Nachtmahl des Kapitäns. Nun schnellte er auf wie unter einem Peitschenhieb und stürzte wild auf Deck, – konnte aber nur mehr die Rückansicht mehrerer Leute erhaschen, die lachend fortgingen. Wenn er später von jener Reise erzählte, dann pflegte er zu sagen: »Der arme Bursche hatte mich erschreckt – dachte, ich hätte den Teufel gesehen.« Der Koch war sieben Jahre auf dem Schiff, unter demselben Kapitän. Er war ein ernster Mann mit Frau und drei Kindern, deren Gesellschaft er durchschnittlich einen Monat von zwölfen genießen konnte. War er an Land, dann führte er seine Familie zweimal an jedem Sonntag zur Kirche. Auf See schlief er jeden Abend bei der brennenden Lampe ein, die Pfeife im Mund und die aufgeschlagene Bibel in der Hand. Immer mußte während der Nacht jemand hingehen, um das Licht auszulöschen und ihm die Bibel aus der Hand und die Pfeife aus den Zähnen zu nehmen. »Denn eines Nachts«, wie Belfast immer im Tone gereizten Tadels sagte, »wirst du, dummer Koch, deinen ollen Kreidebolzen verschlucken, und dann haben wir keinen Koch!« – »Ach, Kindchen, ich bin stets bereit für den Ruf meines Schöpfers . . . wollte, ihr wäret es alle!« gab dann der andere zurück, in einer milden Verklärung, die albern und doch rührend wirkte. Und Belfast sprang in hellem Ärger vor der Kombüsentür herum: »Du heiliger Narr! Ich will nicht, daß du stirbst!« heulte er und blickte ihn mit zärtlichen Augen in dem wutbebenden Gesicht an. »Wozu die Eile? Du gebenedeiter, holzköpfiger alter Ketzer, der Teufel wird dich noch bald genug kriegen. Denk' an uns . . . an uns . . . an uns.« Damit ging er gewöhnlich, stampfend, spuckend und verärgert, davon, während der andere, eine Pfanne in der Hand, erhitzt, rußig und milde heraustrat und mit überlegenem, selbstbewußtem Lächeln dem ›närrischen kleinen Kerl‹ nachsah, der vor Wut zitterte. Sie waren dicke Freunde.

Herr Baker kauerte auf der Achterluke und genoß gemeinsam mit dem Zweiten Offizier die feuchte Nachtluft. »Diese westindischen Neger geraten gut und groß – manche darunter . . . Ouch! . . . Nicht? Ein feiner, großer Mensch das, Herr Creighton. Gibt was aus, wenn der wo zupackt. He! Ouch! Will ihn in meine Wache nehmen, denke ich.« Der Zweite Offizier, ein eleganter junger Bursch, blond, mit entschlossenem Gesicht und prächtig gebaut, bemerkte ruhig, daß er es keinen Augenblick anders erwartet habe. Dabei klang eine Spur von Bitterkeit mit, und Herr Baker machte sich sofort mit großer Freundlichkeit daran, sie zu verwischen. »Na, na, junger Mann«, sagte er und grunzte zwischen den Worten. »Kommen Sie, seien Sie nicht gar zu gierig. Sie hatten den großen Finnen die ganze Reise über in Ihrer Wache. Ich will nicht ungerecht sein. Sie können die beiden jungen Skandinavier haben, und ich . . . Ouch! . . . ich nehme mir den Nigger und . . . Ouch! . . . den Kerl da, den abgerissenen Strandläufer, in dem schwarzen Frack. Den will ich noch . . . Ouch! . . . Mores lehren oder . . . Ouch! . . . nicht mehr Baker heißen. Ouch! Ouch! Ouch!«

Er grunzte dreimal ganz grimmig. Dieses Grunzen zwischen den Worten und am Schluß der Sätze war seine besondere Eigentümlichkeit. Es war ein feines, eindrucksvolles Grunzen, das gut zu seiner polternden Sprechweise paßte, zu der wuchtigen, stiernackigen Erscheinung und dem ruckweisen, schwankenden Gang; zu dem großen verbrannten Gesicht, den ruhigen Augen und dem galligen Mund. Nur verfehlte es schon seit langem seine Wirkung auf die Leute. Sie hatten ihn gern; Belfast – der einer seiner Lieblinge war und es wußte – machte ihn nach – nicht ganz hinter seinem Rücken. Charley imitierte seinen Gang – allerdings mit größerer Vorsicht. Einige seiner Redensarten waren zu feststehenden, täglich gebrauchten Sprichwörtern im Logis geworden. Weiter kann die Beliebtheit nicht gehen! Abgesehen davon war jeder unter der Mannschaft bereit, zuzugeben, daß der Erste gegebenenfalls ›einen Kerl zusammenstauchen konnte, daß es nur so eine Art hatte‹.

Nun gab er seine letzten Befehle. »Ouch! . . . Du, Knowles! Weck' die Leute um vier. Ich will . . . Ouch! . . . den Anker herein haben, bevor der Schlepper kommt. Sieh nach dem Kapitän aus. Ich will mich in Kleidern niederlegen . . . Ouch! . . . Ruf mich, wenn du das Boot kommen siehst. Ouch! Ouch! . . . Der Alte wird sicher was zu sagen haben, wenn er an Bord kommt«, bemerkte er zu Creighton. »Nun, gute Nacht! . . . Ouch! Morgen ein langer Tag vor uns . . . Ouch! . . . Will mich lieber gleich verziehen! Ouch! Ouch!«

Ein Lichtstreifen flitzte über das dunkle Deck, dann schlug eine Türe zu, und Herr Baker war in seiner sauberen Kajüte verschwunden. Der junge Creighton lehnte sich über die Reling und schaute verträumt in die Tropennacht. Er sah einen langen Heckenweg vor sich, auf dem die Blätterschatten mit Sonnenkringeln tanzten; alte, breitästige Bäume sah er, durch deren Kronen das zarte, schmeichelnde Blau des englischen Himmels schimmerte; und von dem Blattwerk hob sich die Gestalt eines Mädchens in lichtem Kleide ab, das unter einem Sonnenschirm hervorlächelte.

Das Vorderkastell am anderen Ende des Schiffes lag, nur mehr von einer Lampe erhellt, in öder Ruhe, die nur dann und wann durch laute Atemzüge oder jähe Seufzer unterbrochen wurde. Die Kojen gähnten schwarz, wie eine lange doppelte Reihe von Gräbern mit verrenkten Leichnamen darin. Da und dort bezeichnete ein Vorhang aus grellem Kattun die Ruhestätte eines Sybariten. Ein Bein hing über den Rand, weiß und leblos. Ein Arm ragte gerade heraus, die dunkle Handfläche nach oben gekehrt, die dicken Finger halb geschlossen. Zwei schüchterne Schnarcher, die nicht in Takt kamen, lieferten ein spaßiges Duett. Singleton, wieder entblößt – der Alte litt arg unter Hitzblattern –, stand in der Türe, um sich den Rücken zu kühlen und hielt die Arme über der nackten, verzierten Brust gekreuzt. Sein Kopf berührte den Deckbalken oben. Der Neger, halb angezogen, war dabei, die Verschnürung seiner Kiste zu lösen und sein Bettzeug in einer der oberen Kojen auszubreiten. Er ging lautlos in Socken umher, während ihm die Hosenträger um die Fersen schlenkerten. Im Schatten der Balkenstützen und des Bugspriets saß Donkin mit untergeschlagenen Beinen, kaute an einem harten Schiffszwieback und ließ die Augen ruhelos umherwandern; er hielt das Gebäck mit der ganzen Faust hoch und biß von Zeit zu Zeit mit wütendem Gesicht hinein. Die Krumen fielen ihm zwischen die Füße. Dann stand er auf.

»Wo ist unser Wasserbottich?« fragte er halblaut.

Singleton deutete, ohne ein Wort zu reden, mit seiner großen Hand, die eine kurze qualmende Pfeife hielt. Donkin beugte sich über den Bottich, trank schlürfend aus dem Zinnbecher, wandte sich dann und erblickte den Neger, der ihn über die Schulter weg mit kaltem Hochmut musterte. Er machte einige Schritte auf ihn zu.

»Ein feines Abendessen für einen Menschen, das!« flüsterte er bitter. »Mein Köter zu Haus möcht's nicht haben. Aber für dich und mich ist's gut genug. Ein sauberes Schiff! . . . Nicht der kleinste Fetzen Fleisch in den Menageschalen. Ich hab' in allen Kästen nachgesehen! . . .«

Der Neger starrte verblüfft, wie ein Mann, der unerwartet in fremder Sprache angeredet wird. Donkin änderte den Ton: »Rück' ein bissel Tabak heraus, Maat«, raunte er vertraulich, »ich hab' den letzten Monat über nichts zu rauchen gehabt, keinen Priem, nichts. Ich bin schon ganz verrückt drauf. Geh her, Alter!«

»Werde nicht familiär«, sagte der Neger. Donkin fuhr zusammen und setzte sich in heller Verwunderung auf eine Kiste in der Nähe. »Wir haben nicht Schweine gehütet zusammen«, fuhr James Wart mit tiefer, gedämpfter Stimme fort. »Da hast du deinen Tabak.« – Dann, nach einer Pause, fragte er: »Welches Schiff?« – »›Golden State‹«, murmelte Donkin undeutlich und biß in den Tabak. Der Neger pfiff leise durch die Zähne. »Ausgerissen?« fragte er kurz. Donkin nickte mit vollen Backen. »Natürlich ausgerissen«, brummelte er. »Erst haben sie 'nem Dego›Dego‹, Spitzname für Spanier, Portugiesen und Italiener (korr. aus ›Diego‹) die Seele aus'm Leib geschunden – und dann wollten sie über mich her. Da gab ich Fersengeld.« – »Gepäck dortgelassen?« – »Ja, das Gepäck und das Geld«, antwortete Donkin und hob die Stimme ein wenig. »Ich hab' gar nichts. Keine Kleider, kein Bettzeug. So ein krummbeiniger kleiner Ire hier hat mir eine Decke geschenkt. – Werde heute wohl im Stagsegel schlafen müssen, schätze ich.«

Er ging auf Deck und zog die Decke an einem Zipfel hinter sich her. Singleton rückte, ohne ihn anzublicken, ein wenig beiseite, um ihn vorbeizulassen. Der Neger hatte seine Landkleider weggetan und saß nun in sauberem Arbeitsgewand auf einer Kiste, einen Arm über die Knie gelegt. Nachdem er Singleton eine Weile angesehen hatte, fragte er, ganz obenhin: »Was für eine Art Schiff ist das hier? Anständig? Ja?«

Singleton rührte sich nicht. Nach einer langen Pause sagte er mit unbewegtem Gesicht: – »Schiff! . . . Die Schiffe sind alle recht. Die Leute darauf machen's aus!«

In dem tiefen Schweigen rauchte er weiter. Aus seinem alten Munde hatte unbewußt alle die Weisheit gesprochen, die er durch ein halbes Jahrhundert im Donner der Wogen erlauscht hatte. Die Katze schnurrte auf dem Gangspill. Dann hatte James Wart einen Anfall von röchelndem, dröhnendem Husten, der ihn wie ein Orkan schüttelte und herumschleuderte und endlich der Länge nach, mit stieren Augen, auf seine Seekiste warf. Ein paar Leute wachten auf. Einer sagte schläfrig aus seiner Koje heraus: »Zum Henker! Ein verdammter Lärm!« – »Ich bin arg erkältet«, keuchte Wart. – »Erkältet nennst du das«, brummte der Mann, »dächte, 's wäre was mehr . . .« – »Oh, denkst du so!« sagte der Neger, wieder in seinem kühlen, abweisenden Ton. Dann kletterte er in seine Koje und begann heftig und andauernd zu husten; dabei steckte er den Kopf heraus und stierte durch das ganze Vorderkastell. Es widersprach niemand mehr. Er sank auf das Kissen zurück, und man konnte ihn in regelmäßigen Abständen ächzen hören, wie in einem schweren Traum.

Singleton stand in der Tür, das Gesicht dem Lichte und den Rücken dem Dunkel zugekehrt, allein in der stummen Öde des schlafenden, Vorderkastells. Dabei erschien er größer, überlebensgroß – und ganz alt; alt wie Vater Chronos, der an diesen grabesstillen Ort gekommen wäre, um den kurzen Triumph des Trösters Schlaf mit anzusehen. Und doch war er nur das Kind einer Zeit, ein einsames Überbleibsel einer untergegangenen, vergessenen Generation, die kein unnützes Grübeln gekannt hatte. Ungebeugt rüstig stand er da: ein ganzer Mann, mit einer langen, ereignislosen Vergangenheit und ohne Zukunft, in dessen tätowierter Brust die kindlichen Impulse und die männlichen Leidenschaften gleichermaßen abgestorben waren. Die Männer, die sein Schweigen verstehen konnten, waren dahingegangen, – jene Männer, die einem Leben außerhalb der gewöhnlichen Grenzen, angesichts der Ewigkeit, gewachsen gewesen waren. Stark waren sie, – stark wie alle, die weder Zweifel noch Hoffnung kennen; ungeduldig und ausdauernd, stürmisch und gläubig, unbändig und treu. Manche haben es, in der besten Absicht, versucht, diese Männer so zu schildern, als ob sie jeden Bissen mit Tränen benetzt hätten und in steter Angst um ihr Leben an ihre Arbeit gegangen wären. In Wahrheit hatten sie Mühe und Entbehrung, Gewalttätigkeit und Ausschweifung gekannt – doch keine Furcht; und die Bosheit hatte keinen Platz in ihren Herzen. Schwer zu lenken waren sie, doch leicht zu begeistern; vielen Worten feind – doch Manns genug, in ihrer Brust jede sentimentale Regung über ihr hartes Geschick niederzuhalten; es war ein einzig dastehendes Geschick – und es war das ihre; es zu tragen, schien ihnen das Vorrecht der Auserwählten! In stummer, strenger Arbeit lebten sie ihr Leben, kannten keine zärtlichen Empfindungen; kein Heim bot ihnen Zuflucht – und kein Grab drohte ihnen mit seiner dunklen Enge; sie starben frei; ihre Mutter, die See, ließ sie in ewiger Kindheit. Gefolgt sind ihnen die erwachsenen Kinder der mißmutigen Erde. Die sind weniger schlimm, doch auch weniger unschuldig, nicht so unehrerbietig vielleicht, doch auch nicht so gläubig; und wenn sie reden gelernt haben, so auch klagen. Die andern aber waren stark und stumm; sie blieben, gebeugt unter ihrer Bürde, im Schatten, wie Karyatiden, die in tiefer Nacht die glänzenden Hallen eines ragenden, lichtstrahlenden Baues stützen. Nun sind sie dahingegangen – und niemand fragt danach. Die See und die Erde sind lieblos zu ihren Kindern: eine Wahrheit, ein Glaube, eine Generation schwinden – und sind vergessen – und niemand fragt danach. Ausgenommen vielleicht die wenigen, die sich zu der Wahrheit, dem Glauben bekannt – oder die Menschen geliebt haben.

Eine Brise sprang auf. Das Schiff, das auf Strom gelegen hatte, begann heftiger zu rollen; und plötzlich straffte sich die Ankerkette, die lose zwischen Gangspill und Klüsgat gelegen hatte, schob sich rasselnd einen Zoll vor und glitt dann leicht über Deck, daß es aussah, als habe heimliches Leben in dem Eisen versteckt gelauert. Das Knirschen der Kettenglieder im Klüsgat tönte durch das Schiff wie das leise Stöhnen eines Mannes unter schwerer Last. Nun kam das Zerren bis ans Gangspill, die Kette spannte sich zitternd, wie eine Saite – und der Handgriff der Schraubenbremse begann leicht zu rucken. Singleton trat vor.

Bisher hatte er in gedankenloser Versunkenheit, rastend und hoffnungslos, mit leerem, finsterem Gesicht dagestanden – ein sechzigjähriges Kind des Meeres. Die Gedanken, die er zeit seines Lebens gehabt, wären in sechs Worten zusammenzufassen gewesen; doch als Leben in die Dinge da kam, die ebensogut ein Teil seines Ichs waren wie sein schlagendes Herz, da blitzte ein Schein raschen Verständnisses über sein teilnahmloses altes Gesicht. Die Flamme der Lampe flackerte, und inmitten des wilden Reigens der tanzenden Schatten stand der Alte in reglosem Spähen über den Bremsgriff gebeugt, die buschigen Brauen gerunzelt. Dann gab das Schiff dem Zug des Ankers nach und rollte leicht vor; die entlastete Kette senkte sich, schwankte unmerklich und schlug endlich hart auf Deck. Singleton faßte den Bremshebel, stemmte sich mit einem heftigen Ruck dagegen und zog die Bremse noch um eine halbe Drehung an. Dann richtete er sich schweratmend auf und starrte eine Weile auf die mächtige, wuchtige Maschine herunter, die zu seinen Füßen auf Deck kauerte wie ein zahmes, ruhendes Ungeheuer.

»Du . . . halt aus!« brummte er ihr herrisch zu, aus dem ungepflegten Gewirr seines weißen Bartes.

 


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