Joseph Conrad
Der Nigger vom ›Narzissus‹
Joseph Conrad

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II

Am nächsten Morgen, bei Tagesanbruch, ging der ›Narzissus‹ in See.

Ein leichter Dunst verschleierte den Horizont. Vor dem Hafen dehnte sich die endlose, stille Wasserfläche wie ein glitzerndes Geschmeide, fleckenlos wie der Himmel. Der stämmige schwarze Schlepper brachte, wie gewöhnlich, das Schiff mit einem letzten Ruck vor den Wind, gab dann das Tau los und stampfte noch ein paar Augenblicke lang mit gestoppten Maschinen auf einem Fleck, während der schmale, lange Schiffskörper unter schwach gefüllten Toppsegeln leise voranglitt. Die schlaffen oberen Segel begannen in der Brise zu sanftgerundeten Formen anzuschwellen und schienen kleine weiße Wölkchen, die sich in dem Taugewirr verfangen hatten. Dann wurden die Segel angeholt, die Rahen gehißt, das Schiff wurde zur hohen, einsamen Pyramide und schwebte schimmernd weiß durch die sonnigen Nebel. Der Schlepper hatte gewendet und dampfte zurück, dem Festland zu. Sechsundzwanzig Augenpaare blickten ihm nach, wie sein breites, niedriges Hinterdeck zwischen den beiden Schaufelrädern, die sich rasch drehten und in emsiger Hast das Wasser aufrührten, bedächtig über die Wellchen kroch. Der Schlepper glich einer ungeheuren Küchenschabe, die sich, vom Licht überrascht, betäubt vom Sonnenschein, fruchtlos abmühte, in das ferne Dunkel des Landes zu entkommen. Er hinterließ einen lastenden Rauchstreifen auf dem Himmel und zwei verschwimmende Schaumspuren im Wasser. An der Stelle, wo er gestoppt hatte, haftete schwankend ein runder öligschwarzer Fleck – ein trübes Zeugnis für die Rast der Kreatur.

Der ›Narzissus‹ blieb allein, Kurs nach Süden, und schien strahlend reglos stille zu stehen auf der ruhlosen See unter der wandernden Sonne. Schaumflocken tanzten den Seiten entlang; das Wasser schlug klatschend an die Wandung; hoch über den schwankenden Mastspitzen schwebten auf ruhig gebreiteten Schwingen ein paar kreischende Vögel. Das Land glitt zurück, verdämmerte, verschwand schließlich, und die Vögel flogen davon. Vom Westen tauchte das spitze Segel eines arabischen Kauffahrers auf, der auf Bombay zuhielt. Dreieckig, aufrecht stand es über der scharfen Linie des Horizonts, verweilte eine Zeit – und verging wie ein Traum. Dann zog sich des Schiffes Spur, lang und gerade, durch einen Tag voll unendlicher Einsamkeit. Die untergehende Sonne flammte unter schwerdunklen Regenwolken hervor glührot über die spiegelnde See. Die Abendbrise löste sich in einem kurzen und scharfen Regenschauer, der das Schiff über und über blinken machte und die Segel dunkelte. Die Brigg ging leicht vor einem kräftigen Monsun; das verhaltene eintönige Flüstern der Wellen begleitete sie und mischte sich mit dem leisen Reden der neuen Wachmannschaft, die achtern zur Ablösung bereit stand; von oben her ein kurzes Knarren im Segelwerk – oder ab und zu ein lauter, seufzender Windhauch.

Herr Baker kam aus seiner Kabine und rief laut den ersten Namen, bevor er die Tür hinter sich schloß. Er hatte Dienst. Auf der Heimreise übernimmt, nach altem Seebrauch, der Erste Offizier die erste Nachtwache – von acht Uhr bis Mitternacht. Herr Baker also sagte, nachdem er das letzte »Jawohl, Herr!« entgegengenommen hatte, gleichmütig »Steuer und Ausguck ablösen!« und stieg schwerfällig die Heckleiter nach Luv zu hinan. Bald darauf kam Herr Creighton herunter, pfiff leise vor sich hin und ging in die Kajüte. An der Tür lehnte der Steward, tief in Gedanken; er trug Pantoffel und hatte die Hemdärmel hoch aufgerollt. Auf dem Hauptdeck war der Koch dabei, die Kombüsentüren abzuriegeln und hatte dabei mit dem kleinen Charley eine Auseinandersetzung wegen eines Paares Socken. Man hörte ihn aus dem Dunkel heraus nachdrücklich sagen: »Du verdienst keine Güte. Ich hab' sie dir getrocknet, und nun beschwerst du dich wegen der Löcher – und fluchst noch dazu! Mir ins Gesicht! Wär' ich nicht ein Christ – was du nicht bist, du junger Rohling –, dann wollt' ich dir eins auf den Kopf geben! Fahr ab!« Die Leute standen nachdenklich herum, paarweise oder zu dritt; andere schritten schweigend die Reling entlang. Die harte Arbeit, wie sie der erste Tag einer Heimreise immer mit sich bringt, war getan und klang nun in stillen Frieden aus. Auf der Brücke ging Herr Baker scharrend auf und ab und brummte in Gedanken vor sich hin. Vorne stand der Ausguckposten aufrecht zwischen den Flügeln der beiden Anker, summte eine endlose Melodie und hielt den Blick vorschriftsmäßig starr geradeaus gerichtet. Viele Sterne kamen aus den Wolken hervor und belebten das leere Firmament. Sie umringten das fahrende Schiff von allen Seiten, eindringlicher als die Augen einer starrenden Menge und unergründlich wie die Menschenseele.

Die Überfahrt hatte begonnen; und das Schiff, von der Erde wie ein Splitter losgelöst, zog als ein kleiner Planet einsam und rasch seine Bahn. Ringsum flossen Himmel und See in unerreichbaren Weiten ineinander. Eine große, engende Einsamkeit zog mit, ewig wechselnd und ewig die gleiche, immer eintönig und doch ehrfurchtgebietend. Dann und wann tauchte weitab noch ein wanderndes weißes Pünktchen auf – und verschwand wieder –, trug seine lebende Last ihrem Geschick entgegen. Die Sonne sah alle Tage auf die Brigg herab und erhob sich jeden Morgen mit einem brennenden runden Blick voll unersättlicher Neugierde. Die Brigg hatte ihre eigene Zukunft; sie lebte mit den Wesen, deren Füße ihr Deck traten. Wie die Erde, die sie dem Meere übergeben hatte, trug sie eine schwere Last von Reue und Hoffnung; schüchterne Wahrheit lebte auf ihr und freche Lüge; und so wie die Erde, war sie sich all dessen nicht bewußt, war schön anzuschauen – und von den Menschen zu einem trüben Schicksal bestimmt. Die erhabene Einsamkeit ihrer Wanderung adelte den gemeinen Zweck. Sie eilte schaumwirbelnd nach Süden, von hohem Mute beseelt. Die lächelnde Größe der See löschte das Zeitbewußtsein aus. Die Tage jagten nacheinander hin, hell und hastig wie Blinkfeuer; und die Nächte, reich und kurz, glichen fliehenden Träumen.

Die Leute hatten sich eingewöhnt, und die halbstündigen Glockenschläge regelten ihre arbeitsreichen Tage. Tag und Nacht konnte man achtern am Steuer Haupt und Schultern eines Matrosen sehen, scharf abstechend gegen Sonnenschein oder Sternenlicht, in eiserner Ruhe über den wirbelnden Speichen. Die Gesichter wechselten im Kreislauf. Junge, bärtige, dunkle, heitere und grämliche Gesichter, – doch allen hatte die See ein Zeichen von Verbrüderung aufgedrückt. Alle hatten denselben aufmerksamen Blick und achteten sorgsam auf Kompaß und Segel. Kapitän Allistoun schritt den ganzen Tag lang die Brücke ab, tiefernst, ein altes rotes Tuch um den Hals. Nachts tauchte er oft aus dem Dunkel der Kajütentreppe auf, wie ein Gespenst aus einem Grabe, stand wachsam und stumm unter den Sternen, während sein Nachthemd wie eine Flagge wehte – dann sank er lautlos wieder zurück. Er war an der Küste des Puntland FirthMeerenge zwischen Schottland und den Orkney-Inseln geboren. In seinen jungen Jahren hatte er es auf einem Walfischfänger von Peterhead bis zum Harpunierer gebracht. Wenn er von jener Zeit sprach, dann wurden seine ruhelosen grauen Augen still und kalt wie scheinendes Eis. Später ging er, zur Abwechslung, in den ostindischen Handelsdienst. Er hatte den ›Narzissus‹ vom Stapellauf an befehligt. Er liebte sein Schiff und holte alles aus ihm heraus; denn es war sein geheimer Ehrgeiz, eines Tages damit eine glänzend rasche Überfahrt fertigzubringen, die in den nautischen Blättern erwähnt werden würde. Den Namen seines Reeders sprach er mit galligem Lächeln aus, redete selten zu seinen Offizieren und rügte Versehen in sanftem Tone, mit Worten, die ins Lebendige trafen. Sein Haar war eisengrau, sein Gesicht hart und lederfarben. Er rasierte sich jeden Tag seines Lebens – morgens um sechs –, nur einmal war er drei Tage lang nicht dazugekommen, als er achtzig Meilen Südwest von Mauritius in einen bösen Orkan geraten war. Er fürchtete nichts als einen unversöhnlichen Gott und wünschte seine Tage in einem kleinen Hause zu beschließen, mit einem Stückchen Land dabei – weit drinnen, dem Meere entrückt.

Er also, der Herrscher über diese kleine Welt, stieg selten von der olympischen Höhe seiner Brücke herab. Unter ihm, zu seinen Füßen sozusagen, lebten die gemeinen Sterblichen ihr geschäftiges und unbedeutendes Dasein. Auf dem Hauptdeck grunzte Herr Baker, blutdürstig, aber harmlos. Er spannte uns alle fest ein, – da er ja, wie er einmal bemerkte, eben dafür bezahlt wurde. Die Leute, die auf Deck herumarbeiteten, waren gesund und zufrieden – wie die meisten Seeleute, wenn sie erst einmal richtig draußen sind. Der wahre Gottesfriede beginnt etwa tausend Meilen weg vom nächsten Land. Und wenn ER dort seine Macht offenbart, dann geschieht es nicht in furchtbarem Grimme über Verbrechen, Vermessenheit und Laster, sondern väterlich, um einfache, unwissende Gemüter zu züchtigen, die nichts vom Leben wissen und Neid und Gewinnsucht nicht kennen.

Zur Abendzeit bot das klare Deck einen ruhevollen Anblick, erinnerte an den Herbst auf dem Festland. Die Sonne senkte sich zur Ruhe, eingehüllt in einen Mantel von warmen Wolken. Vorne auf den Reservespieren hockten der Bootsmann und der Zimmermann zusammen, mit gekreuzten Armen; zwei freundliche Männer, kraftvoll und breitschulterig. Der kurze, dicke Segelmacher neben ihnen, der in der Kriegsmarine gedient hatte, paffte aus seiner Pfeife und erzählte dabei unmögliche Geschichten von Admiralen. Ein paar Leute stampften auf und ab und hielten in dem engen Raum mühelos Schritt und Gleichgewicht. Schweine grunzten in dem großen Koben. Belfast lehnte sinnend mit den Ellbogen an dem Gitter und unterhielt sich schweigend mit ihnen. Auf den Taurollen, auf den Stufen der Backleiter saßen die Burschen herum, das Hemd weit offen über der sonnverbrannten Brust. Beim Fockmast wurde in einer Gruppe eifrig über die Merkmale des Gentlemans gestritten. Einer sagte: »Das Geld macht's aus!« Ein anderer dagegen: »Nein, die Art, wie sie sprechen.« Der lahme Knowles humpelte hinzu, mit ungewaschenem Gesicht (er war bekannt als der schmutzige Mann im Logis), zeigte in einem pfiffigen Lächeln ein paar gelbe Hauer und erklärte mit Nachdruck, er habe ›ein paar von ihren Hosen gesehen‹. Deren Rückseite sei papierdünn gewesen, vom ewigen Kontorhocken, im übrigen aber hätten sie erstklassig ausgesehen, als ob sie Jahre aushalten müßten. Das sei alles nur Schein. Und überhaupt, meinte er, sei es ›verdammt leicht, ein Gentleman zu sein, wenn man's im Leben gut getroffen habe‹. So stritten sie endlos, hartnäckig wie die Kinder; sie wiederholten schreiend und mit flammenden Gesichtern ihre verblüffenden Argumente; und die schwache Brise, die über ihnen das mächtige Focksegel bauschte, strich über die krausen Köpfe hin, leicht und fein, wie eine nachsichtige Liebkosung.

Sie vergaßen alle Plackerei, vergaßen sich selbst. Der Koch kam zuhören und stand nun dabei, im erhebenden Bewußtsein seines strengen Glaubens, wie ein stolzer Heiliger, der keinen Augenblick vergessen kann, daß ihm das Paradies sicher ist. Oben auf dem Backdeck hockte Donkin allein und brütete über seinen Missetaten; er rückte ein wenig vor, um die Unterhaltung unten belauschen zu können, und lehnte sich nachlässig an die Brüstung; er wandte sein gelbes Gesicht der See zu, und seine dünnen Nasenflügel bebten, wie er schnüffelnd die Brise einzog. Im tiefen Rot der Abendsonne leuchteten eifrige Gesichter auf, blitzten Zähne und Augen. Die Spaziergänger blieben stehen und grinsten behaglich; ein Mann richtete sich vom Waschbecken auf, Seifenschaum an den nassen Armen, und sprach begeistert mit. Sogar die drei Unteroffiziere lehnten sich bequem zurück und hörten mit überlegenem Lächeln zu. Belfast hatte seinem Lieblingsschwein das Ohr gekraut, unterbrach sich jetzt darin und paßte gespannt, mit offenem Munde, auf die Gelegenheit, seine Meinung anzubringen; er fuchtelte aufgeregt mit den Armen. Aus einiger Entfernung schrie Charley dazwischen: »Ich weiß mehr von Gentlemen als irgendwer von euch – ich hab' viel mit ihnen verkehrt – mußte ihnen die Schuhe putzen.« Der Koch streckte den Hals vor, um besser zu hören, und war entrüstet: »Halt du deinen Mund, wenn ältere Leute sprechen, du unverschämter junger Heide du!« – »Ganz recht, alter Halleluja, ich bin schon zugedeckt«, gab Charley besänftigend zurück. Bei irgendeinem Ausspruch des schmutzigen Knowles, den der mit besonders listiger Miene vorgebracht hatte, sprang ein Gelächter auf, stieg wie eine Woge und brach sich in lautem Grölen. Die Leute stampften mit beiden Füßen, warfen sich brüllend zurück, klatschten sich auf die Schenkel; einer oder zwei hielten sich den Leib mit beiden Händen und wanden sich wie in den furchtbarsten Schmerzen. Der Zimmermann und der Bootsmann schüttelten sich vor Lachen auf ihren Sitzen, ohne ihre Stellung zu ändern; der Segelmacher sah mürrisch drein, weil er gerade eine Geschichte von einem Kommodore auf Lager hatte; der Koch wischte sich mit einem schmierigen Fetzen die Augen; und der lahme Knowles stand, hocherstaunt über seinen eigenen Erfolg, in der Mitte und lächelte verlegen.

Plötzlich wurde Donkins Gesicht, der mit hochgezogenen Schultern über der Backreling lehnte, tiefernst. Durch die Türe des Vorderkastells hörte man etwas wie ein leises Röcheln; es steigerte sich bis zu einem Murmeln und brach in einem langgezogenen Stöhnen ab. Der Wäscher tauchte mit einem Ruck beide Arme in den Bottich vor sich; der Koch war fassungsloser als ein überführter Renegat; der Bootsmann zuckte verlegen die Schultern; der Zimmermann sprang mit einem Satz auf und ging fort – während der Segelmacher innerlich seine Geschichte aufzugeben schien und mit düsterer Entschlossenheit an seiner Pfeife zu paffen begann. Aus dem Dunkel des Türganges glühte weiß, groß und starr ein Augenpaar. Dann tauchte das Gesicht von James Wart empor; es schien zwischen den zwei Händen zu hängen, die zu beiden Seiten die Türpfosten umklammert hielten. Der Zipfel seiner baumwollenen Nachtmütze hing vor und tanzte lustig über seinem linken Auge. Er trat mit schwankenden Schritten näher. Er sah kraftvoll aus, wie immer; nur in seinem Gang zeigte sich eine merkwürdige, gekünstelte Unsicherheit; sein Gesicht war vielleicht um einen Schatten dünner, und seine Augen traten beängstigend weit hervor. Seine bloße Gegenwart schien das Schwinden des Lichtes zu beschleunigen; die sinkende Sonne tauchte jäh unter, als wollte sie vor dem Nigger fliehen; die Dunkelheit schien von ihm auszugehen – und eine schleichende, bedrückende Ausstrahlung: eine Kälte und Schwermut, die sich allen ringsum mitteilte, daß es sich wie ein Trauerschleier über die Gesichter legte. Der Kreis löste sich; das frohe Lachen erstarrte auf den Lippen. Unter der ganzen Mannschaft blieb kein Lächeln übrig. Kein Wort wurde gesprochen. Viele wandten sich weg und versuchten unbeteiligt auszusehen; andere drehten die Köpfe und sandten aus den Augenwinkeln halb unwillige Blicke; alle glichen sie weit eher Verbrechern, die sich ihrer Missetaten bewußt sind, als ehrlichen Leuten, die ein Zweifel quält; nur zwei oder drei standen mit halboffenem Mund da und sahen freimütig, aber dumm drein. Alle warteten darauf, daß James Wart etwas sagen sollte – und schienen doch auch im voraus schon zu wissen, was das sein würde. Er lehnte mit dem Rücken gegen den Türpfosten und ließ aus schweren Augen einen herrischen und gequälten Blick über uns weggleiten, wie ein kranker Tyrann, der eine Horde kriechender, doch treuloser Sklaven meistert.

Keiner ging weg. Sie warteten in starrer Furcht. Er sagte ironisch – und schnappte zwischen den Worten nach Luft:

»Dank euch . . . Burschen. Ihr . . . seid . . . freundlich . . . und . . . ruhig . . . wirklich! Brüllt so . . . vor . . . der Tür . . .«

Er machte eine längere Pause und ließ dabei in übertrieben mühsamem Atmen seine Rippen arbeiten. Es war unerträglich. Man hörte Füße scharren. Belfast stieß ein Ächzen aus; doch Donkin oben blinzelte mit den geröteten Augenlidern und den unsichtbaren Wimpern daran und lächelte bitter auf den Neger hinunter.

Dieser fuhr erstaunlich mühelos fort. Er keuchte nicht mehr, und seine Stimme dröhnte, hohl und laut, als spräche er in einem leeren Keller. Er höhnte wütend:

»Ich wollte ein wenig schlafen. Ihr wißt ja, daß ich nächtelang nicht schlafen kann. Und da kommt ihr und schnattert hier vor der Tür, wie eine verteufelte Bande alter Weiber . . . Ihr haltet euch wohl für gute Kameraden, was? . . . Kümmert euch viel um einen sterbenskranken Mann!«

Belfast fuhr vom Schweinekoben weg: »Jimmy«, schrie er zitternd, »wenn du nicht krank wärst, dann wollt' ich –«

Er brach ab. Der Nigger wartete eine Weile und sagte dann düster: »Du wolltest . . . was? Geh und rauf' dich mit deinesgleichen. Mich laß in Frieden. Lang wird's nicht dauern. Ich sterbe bald . . . es geht schnell genug dahin!«

Die Leute standen totenstill herum, mit verzweifelten Blicken, und atmeten leise. Das war es ja, was sie erwartet hatten und zu hören haßten – dieser Gedanke an den schleichenden Tod, den ihnen der verwünschte Nigger oft und oft am Tag, halb prahlend und halb drohend, vorhielt. Er schien förmlich stolz zu sein auf diesen Tod, der bisher doch höchstens seine Lebensfreude gestört hatte; er war unglaublich anmaßend darin, als habe niemand sonst auf der Welt mit dem Gesellen zu tun gehabt; er ließ ihn unaufhörlich vor uns aufmarschieren, mit einer liebevollen Beharrlichkeit, die sein Nahen gewiß und zugleich unglaublich machte. Eine so ungeheuerliche Freundschaft war keinem Menschen zuzutrauen! War er wirklich oder ein Trugbild – dieser ewig erwartete Besucher Jimmys? Wir schwankten zwischen Mitleid und Mißtrauen, während er bei der leisesten Herausforderung das elende Gebein seines verruchten Skeletts vor uns klappern ließ. Er schrotete den Gedanken unerhört aus, sprach von dem kommenden Tod, als wäre er schon da, als schritte er draußen über Deck, als könnte er jeden Augenblick hereinkommen, um in der einzigen leeren Koje zu schlafen; als säße er bei jeder Mahlzeit neben ihm. Er durchkreuzte damit unsere Beschäftigung, unsere Muße, unser Vergnügen. Abends gab es keinen Gesang und keine Musik mehr, weil Jimmy (wir nannten ihn alle liebevoll Jimmy, um unsern Haß gegen seinen Spießgesellen zu verbergen), weil also Jimmy mit seinem ewigen Gerede von seinem baldigen Hinscheiden es fertiggebracht hatte, sogar Archies seelisches Gleichgewicht zu stören. Archie war der Besitzer der Ziehharmonika; nachdem ihm aber Jimmy ein paarmal bissig die Leviten gelesen hatte, weigerte er sich, je wieder zu spielen, und sagte: »Da hört sich der Spaß auf. Wo's ihm fehlt, weiß ich nicht, aber es geht ihm schlecht, ganz schlecht. Braucht mich nicht weiter bitten – ich will nicht spielen.« Unsere Sänger verstummten, weil Jimmy ein todkranker Mann war. Aus dem gleichen Grunde konnte keiner der Leute – wie Knowles bemerkte – »einen Nagel einschlagen, um seinen armseligen Kram dran aufzuhängen«, ohne daß man ihm die Ungeheuerlichkeit vor Augen stellte, die er damit beging, daß er Jimmys endlose letzte Augenblicke störte. Statt wie bisher durch den frohen Ruf: »Glock eins! Raus! Hört ihr, da? He, hollah! Auf die Beine!« wurde nun nachts die Wachmannschaft Mann für Mann geweckt, flüsternd, um nur ja Jimmys vielleicht letzten Schlummer auf Erden nicht zu stören. Es ist wahr, daß er stets wach war und uns, wenn wir auf Deck schlichen, irgendeine bissige Bemerkung nachzuschicken wußte, so daß wir uns zunächst wie Rohlinge vorkamen und kurz darauf wie halbe Narren. Wir sprachen im Logis mit leiser Stimme, wie in der Kirche, und nahmen unsere Mahlzeiten in schweigender Furcht ein, – denn Jimmy war sehr heikel mit dem Essen, schimpfte wütend auf das Salzfleisch, den Zwieback und den Tee und behauptete, das Zeug sei ungenießbar für jeden Menschen, »und gar erst für einen Sterbenden«. Oft sagte er: »Könnt ihr kein besseres Stück Fleisch finden für einen Kranken, der gern nach Hause möchte, um sich kurieren – oder begraben zu lassen? Aber was – wenn's nach euch ginge, ihr würdet mich glatt umbringen – vergiften! Da schaut her, was ihr mir gegeben habt!« Wir bedienten ihn in seinem Bett mit unterwürfiger Wut, als wären wir die elenden Schranzen eines verhaßten Herrschers; und er vergalt es uns mit endlosen Nörgeleien. Er hatte das Geheimnis entdeckt, die Verblendung der Leute ewig rege zu erhalten, hatte den Schlüssel zum Leben gefunden, der verwünschte ›todkranke Mann‹, und warf sich zum Herrn und Meister über jeden unserer Augenblicke auf. In uns kochte die Verzweiflung – und doch blieben wir unterwürfig. Der leidenschaftliche kleine Belfast war ewig auf der Kippe zwischen Tätlichkeiten und Tränen. Eines Abends gestand er Archie: »Für einen halben Penny wollt' ich ihm seinen häßlichen schwarzen Schädel einschlagen – dem schuftigen Schleicher!« Und der biedere Archie gab vor, entrüstet zu sein! In so höllischem Bann hielt dieser hergelaufene Tölpel von Nigger unsere arglose Mannschaft! In der gleichen Nacht aber stahl Belfast aus der Kombüse die Sonntagstorte für die Offiziere, um Jimmys wählerischen Appetit anzuregen. Dabei riskierte er nicht nur seine langjährige Freundschaft mit dem Koch, sondern auch – wie es schien – sein ewiges Seelenheil. Der Koch war schmerzgebeugt; er kannte den Schuldigen nicht – er sah nur, daß die Gottlosigkeit blühte, daß Satan umging unter diesen Leuten, die er als unter seiner geistlichen Obhut stehend betrachtete. Wann immer er drei oder vier von uns zusammenstehen sah, da ließ er seinen Herd im Stich, stürzte heraus und begann zu predigen. Wir wichen ihm aus; nur Charley (der den Dieb kannte) pflegte dem Koch mit unschuldsvollem Blicke zu begegnen, was den guten Mann nur reizte. »Du bist's, glaube ich«, seufzte er bekümmert, einen Rußfleck auf dem Kinn. »Du bist's, du Höllenbraten. Deine Socken kommen mir nicht mehr in die Kombüse!« Bald darauf wurde unter der Hand die Nachricht verbreitet, daß uns die Marmelade (eine Extraportion: ein halbes Pfund pro Kopf) entzogen werden würde, falls noch ein Diebstahl vorkommen sollte. Herr Baker hörte auf, seine Lieblinge mit scherzhaften Scheltworten zu überhäufen und grunzte uns alle mißtrauisch an. Die kalten Augen des Kapitäns hoch oben auf der Brücke glitzerten verdächtig, wenn wir abends herumwanderten, um, wie es üblich ist, alle Taue anzuholen. Ein Diebstahl auf einem Handelsschiff ist schwer aufzuklären und kann leicht als eine Kundgebung der Mannschaft aufgefaßt werden, daß sie die Offiziere nicht mag. Es ist ein schlechtes Zeichen und kann weiß Gott wohin führen. Der ›Narzissus‹ war zwar noch ein durchaus ruhiges Schiff, doch das gegenseitige Vertrauen war erschüttert. Donkin verhehlte seinen Triumph nicht. Wir waren erschrocken.

Dann machte Belfast – unlogisch wie immer – dem Nigger harte Vorwürfe. James Wart stützte den Ellbogen auf das Kissen, würgte und stieß hervor: »Hab' ich dich gebeten, den Plunder zu klauen? Zum Teufel mit deiner verdammten Torte! Mir ist schlecht geworden davon – du kleiner irischer Narr, du!« Belfast stürzte sich auf ihn, mit glührotem Gesicht und zitternden Lippen. Alle Leute im Vorderkastell sprangen brüllend auf – einen Augenblick lang herrschte ein wüster Tumult. Irgend jemand schrie gellend: »Ruhig Blut! Belfast! Einhalten! . . .« Wir dachten, Belfast würde den Nigger ohne weiteres erwürgen. Staub wallte auf. Zwischendurch hörten wir den Nigger husten, metallisch, dröhnend, wie ein Gong. Dann sahen wir Belfast an ihm hängen. Er sagte kläglich: »Nicht! Jimmy, sei nicht so! Ein Engel könnte es nicht aushalten mit dir – krank wie du bist.« Er sah sich von Jimmys Bettkante her mit Tränen in den Augen nach uns um; sein komischer Mund zuckte; dann versuchte er, die zerknüllten Decken glattzustreichen. Das endlose Flüstern des Meeres füllte das Vorderkastell. War James Wart erschrocken oder gerührt, oder bereute er? Er lag auf dem Rücken, eine Hand an der Seite, so regungslos, als wäre sein längst erwarteter Besucher endlich gekommen. Belfast streichelte ihm unbeholfen die Füße und wiederholte weichmütig: »Ja, wir wissen's. Es geht dir schlecht, aber . . . Sag' nur, was du haben willst, und . . . Wir wissen's ja alle, es geht dir schlecht, sehr schlecht! . . .« Nein! James Wart war entschieden weder gerührt noch reuig. Die Wahrheit zu sagen, schien er eher peinlich überrascht. Er setzte sich unglaublich behend und leicht auf. »Ah! Ihr glaubt, mir ginge es schlecht, ja?« sagte er düster, im tönendsten Bariton (wenn man ihn manchmal sprechen hörte, dann hätte niemand geglaubt, daß irgend etwas an ihm nicht in Ordnung sei). »Glaubt ihr das? . . . Dann handelt danach! Ein paar unter euch haben nicht Grütze genug, um eine Decke richtig über einen Kranken zu breiten. Da! Laß gehen! Ich kann auch so sterben!« Belfast wandte sich müde mit einer mutlosen Geste ab. In die allgemeine Stille und Spannung hinein sprach Donkin deutlich: »Also jetzt soll mich der Teufel holen!« und kicherte dabei. Wart sah ihn an – ganz freundlich. Niemand konnte sagen, was unserm unberechenbaren Kranken Spaß machen würde: dieses verächtliche Kichern aber schien uns unerträglich.

Donkin nahm im Logis eine Sonderstellung ein, die aber nicht gefestigt war, sondern sich lediglich auf allgemeine Unbeliebtheit beschränkte. Man ließ ihn allein; und in seiner Einsamkeit hatte er nichts weiter zu tun, als an die Stürme am Kap der Guten Hoffnung zu denken und uns den Besitz der warmen Kleider und des Ölzeugs zu neiden. Unsere Wasserstiefel, Wachstaftröcke und wohlgefüllten Seekisten waren ihm ebenso viele Anlässe zu bitteren Betrachtungen: er hatte keines dieser Dinge und fühlte instinktiv, daß im Notfall ihm niemand vorschlagen würde, sie mit ihm zu teilen. Uns gegenüber war er hündisch kriechend – und gegen die Offiziere überlegt frech. Er versprach sich von diesem Benehmen die besten Erfolge – und irrte sich darin. Solche Naturen vergessen, daß im äußersten Fall die Leute doch immer gerecht sind – ob mit oder gegen ihren Willen. Donkins Frechheit gegen den langmütigen Herrn Baker wurde uns schließlich ganz unleidlich, und wir atmeten auf, als ihn der Erste einmal in einer finstern Nacht vornahm. Es war sauber gemacht, unter voller Wahrung der Schicklichkeit und des Anstands, und ging fast ohne Geräusch ab. Wir waren – kurz vor Mitternacht – gerufen worden, um Segel zu setzen, und Donkin machte – wie gewöhnlich – unverschämte Bemerkungen. Wir standen schläfrig in einer Reihe, die Fockbrasse in der Hand, und warteten auf den nächsten Befehl, da hörten wir im Dunkeln ein kurzes Trampeln, einen Ausruf der Überraschung, das Geräusch von Stößen und Schlägen, dann ein halblautes, scharfes Flüstern: »Ah! Willst du wohl! . . .« – »Nicht! . . . Nicht! . . .« – »Dann benimm dich anständig . . .« – »Oh! Oh! . . .« Gleich darauf ein weiches Aufschlagen, in das sich das Rasseln von Eisen mischte, als ob ein Mensch hilflos zwischen dem Gestänge der großen Pumpe herumkugelte. Bevor wir noch die Situation überblicken konnten, ertönte schon Herrn Bakers Stimme, ganz nahe und ein wenig ungeduldig: »Holt an, Leute! Legt euch ins Zeug!« Und das taten wir auch schleunigst. Als wäre nichts geschehen, fuhr der Erste mit seiner gewöhnlichen verzweifelten Gründlichkeit mit dem Segelsetzen fort. Von Donkin war nichts zu sehen, und wir kümmerten uns nicht um ihn. Hätte ihn der Erste über Bord geworfen, so hätte keiner von uns auch nur »Hallo! Weg ist er!« gesagt. In Wahrheit war gar nichts so Schlimmes geschehen – wenn auch Donkin dabei einen seiner Vorderzähne verloren hatte. Das bemerkten wir am nächsten Morgen und übergingen es mit taktvollem Schweigen: die Etikette des Vorderkastells gebot uns, in einem solchen Fall blind und taub zu sein, und wir hielten uns an unsere Anstandsregeln viel strenger als die gewöhnlichen Leute an Land an die ihren. Charley platzte, in unverzeihlichem Mangel an savoir vivre, heraus: »Beim Zahnarzt gewesen, was? . . . Hat's weh getan?« Dafür bekam er von einem seiner besten Freunde ein Kopfstück. Der Junge war überrascht und blieb durch wenigstens drei Stunden in Schmerz versunken. Es tat uns leid um ihn – doch Jugend braucht die Disziplin noch nötiger als das Alter. Donkin grinste giftig. Von dem Tag an wurde er rücksichtslos, nannte Jimmy einen ›schwarzen Schuft‹ und gab uns zu verstehen, daß wir eine Bande von Dummköpfen seien und uns tagtäglich von einem Nigger hineinlegen ließen. Und Jimmy schien den Kerl gern zu haben!

Singleton lebte dahin, unberührt von menschlichen Gefühlserschütterungen, schweigsam, ohne Lächeln. Er atmete die gleiche Luft mit uns – das allein war ihm mit uns gemeinsam. Wir andern mühten uns, als anständige Kerle zu erscheinen, und fanden es recht schwer; wir pendelten hilflos zwischen dem heißen Wunsch nach seelischer Vollkommenheit und der Furcht, lächerlich zu werden, hin und her; wir wollten uns vor allen Gewissensbissen schützen und uns doch auch nicht zum verächtlichen Spielzeug unserer Gefühlsduselei hergeben. Der Grabeshauch von Jimmys verhaßtem Helfershelfer schien in unsern Herzen eine ungeahnte Spitzfindigkeit geweckt zu haben. Wir waren verwirrt und feige. Das wußten wir. Singleton schien von nichts zu wissen, nichts zu begreifen. Bisher hatten wir immer geglaubt, er sei ebenso weise, wie er aussah, doch nun wagten sich dann und wann Vermutungen hervor, er sei vor Alter verblödet. Immerhin, eines Tages, als wir mittags alle um eine große Zinnschüssel hockten, die mitten zwischen uns stand, da äußerte Jimmy seinen tiefen Abscheu vor Menschen und Dingen in ganz besonders häßlichen Worten. Singleton hob den Kopf. Wir verstummten alle. Der Alte wandte sich zu Jimmy und fragte: »Dir ist zum Sterben?« Diese Frage schien James Wart in die qualvollste Verwirrung zu stürzen. Wir alle waren peinlich berührt und saßen mit offenem Mund, pochendem Herzen und glänzenden Augen da; jemand ließ eine Gabel rasselnd in die Schüssel fallen; einer erhob sich, als wollte er weggehen, und blieb dann still stehen. In weniger als einer Minute hatte sich Jimmy zusammengerissen. – »Warum fragst du? Siehst du's nicht?« antwortete er unsicher. Singleton führte einen eingeweichten Zwieback zum Munde (seine Zähne – erklärte er oft – hätten keine Schneide mehr). »Gut, dann mach' zu mit dem Sterben«, sagte er mit ehrwürdiger Milde, »und quatsch' uns nicht die Ohren voll damit. Wir können dir nicht helfen.« Jimmy sank in seine Koje zurück und lag lange Zeit ganz still – nur hin und wieder wischte er sich den Schweiß vom Gesicht. Das Eßgeschirr wurde rasch weggeräumt. Auf Deck besprachen wir flüsternd den Vorfall. Einige zeigten eine wilde Freude, andere sahen ernst drein. Wamibo versuchte nach der langen Zeit träumerischer Entrücktheit ein mißglücktes Lächeln. Einer der jungen Skandinavier, den der Zweifel hart plagte, wagte sich während der zweiten Hundewache an Singleton heran (der alte Mann ermutigte uns nicht allzusehr, mit ihm zu sprechen) und fragte dämlich: »Du glaubst, daß er sterben muß?« Singleton sah auf und meinte bedächtig: »Na, natürlich muß er sterben!« Das schien entscheidend. Und der das Orakel befragt hatte, gab es schleunigst an alle andern weiter. Mit verstohlener Wichtigtuerei trat er auf die Leute zu und sagte abgewandten Blickes seinen Spruch auf: »Der alte Singleton sagt, er muß sterben.« Es war eine Erlösung! Endlich wußten wir, daß unser Mitleid nicht falsch angebracht war, und konnten wieder unbefangen lächeln – doch wir hatten ohne Donkin gerechnet. Donkin ›wollte mit den lausigen Ausländern nichts zu schaffen haben‹. Als nun Nielssen mit der Neuigkeit zu ihm kam: »Singleton sagt, er muß sterben«, da antwortete er bissig: »Das mußt du auch – du Kubikschädel! Wollte, ihr Kerle wärt alle tot – anstatt herzukommen und unser Geld in euer verhungertes Land zu holen.« Wir waren niedergeschmettert. Wir erkannten, daß Singletons Antwort letzten Endes bedeutungslos war. Wir begannen ihn zu hassen dafür, daß er uns so verulkte. All unsere Sicherheit war dahin; unsere Beziehungen zu unsern Offizieren waren durchaus zweifelhaft; der Koch hatte uns verlorengegeben; vom Bootsmann war uns der Ausspruch zu Ohren gekommen, daß wir ein ›Haufen Trottel‹ seien. Wir beargwöhnten Jimmy, uns untereinander, sogar jeder sich selbst. Wir wußten nicht mehr aus und ein. Zu jeder Stunde unseres einförmigen Tageslaufs kreuzte Jimmy drohend unsern Weg, Arm in Arm mit seinem grauenhaften Freund aus dem Schattenreich. Es war eine elende Knechtschaft.

Eine Woche nach der Ausfahrt von Bombay fing es damit an; es überkam uns ganz heimlich – wie jedes große Unglück. Wir hatten alle bemerkt, daß Jimmy vom ersten Augenblick an recht schlapp bei der Arbeit gewesen war, hielten es aber lediglich für den sichtbaren Ausdruck seiner Lebensphilosophie. Donkin sagte: »Dich spürt man an einem Tau nicht mehr als einen elenden Spatzen.« Er verachtete ihn. Belfast rief kampfbereit und herausfordernd dazwischen: »Du bringst dich wirklich nicht um, Gevatter!« – »Und du vielleicht?« gab der andere höhnisch zurück – und Belfast verzog sich. Eines Morgens, als wir eben beim Deckaufwaschen waren, rief ihm Herr Baker zu: »Komm mit deinem Besen hierher, Wart.« Er schleppte sich mühsam fort. »He! Rühr' dich! Ouch!« grunzte Herr Baker. »Was ist denn mit deinen Hinterflossen los?« Da blieb Jim mit einem Ruck stehen und sah aus den vorstehenden Augen träge um sich, mit einem Ausdruck, der furchtlos und dabei traurig war. »'s liegt nicht an den Beinen«, sagte er endlich, »die Lungen sind's!« Alles lauschte. – »Was . . . Ouch! . . . Was ist's damit?« forschte Herr Baker. Die ganze Wachmannschaft stand auf dem triefenden Deck herum, grinsend, mit Besen und Spüleimern in den Händen. Er sagte trübe: »Zu Ende geht's damit – oder ist schon aus, vielleicht. Sehen Sie nicht, daß ich sterbenskrank bin? Ich weiß es!« – Herr Baker war entrüstet. »Warum, zum Teufel, hast du dich dann hier anheuern lassen?« – »Ich muß doch wohl leben, bis ich sterbe – nicht?« antwortete er. Das Grinsen wurde hörbar. – »Geh' fort von Deck – mir aus den Augen«, sagte Herr Baker, vollständig außer Fassung gebracht durch diesen ganz unerhörten Fall. James Wart legte gehorsam seinen Besen nieder und ging langsam nach vorne. Eine Lachsalve scholl ihm nach. Es war zu lustig. Alle Leute lachten . . . Sie lachten . . . Ach ja!

Er wurde unser ewiger Quälgeist, schlimmer als ein Alpdruck. Man konnte ihm nichts anmerken: bei einem Nigger zeigt sich das nicht. Er war nicht gerade feist, gewiß – aber doch auch nicht magerer als andere Nigger, die wir gekannt hatten. Er hustete oft, doch selbst der befangenste Beobachter hätte sehen müssen, daß er es meistens dann tat, wenn es ihm paßte. Er wollte oder konnte seine Arbeit nicht tun – und sich auch nicht hinlegen. Einmal ging er mit den Besten unter uns in die Takelage – und ein andermal mußten wir seinen schlotternden Leib mit Lebensgefahr herunterholen. Er wurde angezeigt und ausgefragt, bekam Vorwürfe, Drohungen, gütliches Zureden und Verweise zu hören. Schließlich wurde er in die Kajüte befohlen, um mit dem Kapitän zu sprechen. Wilde Gerüchte liefen um. Man erzählte sich, er habe den Alten angegrobt – andere meinten, eingeschüchtert. Charley behauptete steif und fest, ‹der Schiffer habe ihm weinend seinen Segen und einen Topf Marmelade gegeben›. Knowles wollte durch den Steward wissen, daß der jämmerliche Jimmy gegen die Möbel in der Kajüte getaumelt sei, daß er gestöhnt und sich über die Roheit und das Mißtrauen beklagt habe, womit man ihm allgemein begegne; und daß er schließlich dem Alten über seine meteorologischen Journale gehustet habe, die auf dem Tisch ausgebreitet lagen. Fest steht jedenfalls, daß Jimmy, vom Steward gestützt, nach vorne kam und daß dieser uns mit schmerzlicher Entrüstung in der Stimme aufforderte: »Da! – Fass' einer zu. Er soll sich niederlegen.« Jimmy trank eine halbe Menageschale voll Kaffee, krakeelte noch einen oder zwei von uns an und ging dann zu Bett. Dort brachte er von da ab die meiste Zeit zu; wenn es ihm aber paßte, dann kam er auf Deck und tauchte unter uns auf. Er schien geringschätzig und nachdenklich, blickte auf das Meer hinaus, und niemand hätte sagen können, was es wohl heißen sollte, daß dieser Schwarze da in brütendem Sinnen abseits saß, regungslos, wie aus Holz geschnitzt.

Er wies hartnäckig alle Medikamente zurück; Sago und Hafergrütze warf er über Bord, bis der Steward es müde wurde, sie ihm weiter zu bringen. Er verlangte ParegoricAnm. d. Übers.: ›Paregoric‹ – mit Kampfer versetzte Opiumtinktur; mitunter von gewissenlosen Ammen gebraucht, um die Kinder einzuschläfern.. Man brachte ihm eine große Flasche – genug, um ein Heer von Kindern zu vergiften. Er verwahrte sie zwischen seiner Matratze und dem Bohlenbelag der Schiffswandung; niemals sah man ihn etwas davon einnehmen. Donkin schmähte ihn ins Gesicht, verhöhnte ihn, während er nach Luft rang – und am selben Tage schenkte ihm Wart vielleicht eine warme Wolljacke. Einmal beschimpfte ihn Donkin eine halbe Stunde lang, warf ihm die Mehrarbeit vor, die seine Faulenzerei der Wachmannschaft aufbürde, und nannte ihn schließlich ›ein schwarzhäutiges Schwein‹. Uns packte dabei, trotz unserer vielgeschmähten Verrohung, das bleiche Entsetzen. Doch Jimmy machte die Schimpferei augenscheinlich Spaß. Er sah förmlich heiter aus – und warf Donkin ein Paar alte Wasserstiefel zu. »Da, du Ostendgauner«, schmunzelte er dabei, »das kannst du dir nehmen!«

Schließlich sah sich Herr Baker genötigt, dem Kapitän mitzuteilen, daß James Wart den Frieden an Bord gefährde. »Die ganze Disziplin über den Haufen schmeißen – das wird er noch . . . Ouch!« grunzte Herr Baker. Bemerkenswert ist auch, daß die Steuerbordwache um ein Haar den Gehorsam verweigert hätte, als ihr eines Morgens vom Bootsmann befohlen wurde, das Vorderkastell aufzuwaschen. Jimmy hatte anscheinend gegen die nasse Diele Einspruch erhoben – und wir waren an dem Morgen gerade mitleidig aufgelegt, hielten den Bootsmann für einen Rohling und sagten es ihm sogar ausdrücklich. Nur Herrn Bakers feinem Takt war es zu danken, daß ein furchtbarer Krawall unterblieb: er weigerte sich, uns ernst zu nehmen. Er kam schnaubend nach vorne und gab uns unterschiedliche häßliche Namen, doch in so herzlicher und seemännischer Art, daß wir uns vor uns selbst zu schämen begannen. Wir hielten ihn wirklich für einen viel zu tüchtigen Seemann, als daß wir ihn absichtlich hätten kränken wollen; und dann mochte ja Jimmy schließlich doch ein Betrüger sein – war es sogar wahrscheinlich! Es wurde reingemacht an jenem Morgen im Vorderkastell; und nachmittags wurde das Deckhaus zum Lazarett umgewandelt. Es war eine nette kleine Kabine, mit zwei Betten und freiem Ausblick. Zunächst wurden Jimmys Sachen hingeschafft und dann – trotz seinem Widerspruch – Jimmy selbst. Er sagte, er könne nicht gehen. Vier Leute trugen ihn auf einer Decke. Er beklagte sich, daß er dort würde allein sterben müssen, wie ein Hund. Wir bedauerten ihn und waren heilfroh, ihn aus dem Logis draußen zu haben. Wir pflegten ihn wie früher. Die Kombüse lag dicht nebenan, und der Koch kam öfters nachsehen. Wart wurde etwas besserer Laune. Knowles behauptete, er habe ihn eines Tages für sich allein schallend lachen hören. Andere hatten ihn nachts auf Deck herumgehen sehen. Der kleine Raum war trotz der offenen Tür ewig voll von Tabaksrauch. Wir sprachen liebevoll, manchmal auch spöttisch, durch die Türspalte, wenn wir während der Arbeit vorbeikamen. Er berückte uns. Er sollte also ganz zweifellos sterben. Damit warf er einen Schatten über das Schiff. Durch die gegründete Aussicht auf baldige Auflösung unverletzlich gemacht, trat er unsere Selbstachtung mit Füßen und führte uns täglich unsere Feigheit vor Augen; er vergiftete uns das Leben. Wären wir eine klägliche Schar niederer Geister gewesen, durch Hoffnung und Furcht zu Fall gebracht, so hätte er, um uns zu beherrschen, sein erhabenes Vorrecht nicht unbarmherziger betonen können.

 


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