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Dritte Epoche

Die eine Welt wird Tat die andre Reue

Zwei junge Edelleute vornehmsten Aussehens standen an der Ponte di Rialto auf der Riva, wo sich um diese späte Nachmittagszeit zahllose Leute aller Stände ergingen.

Trotz ihres angeregten Gespräches nickten die beiden mehr als einmal den Vorbeiwandelnden grüßend zu.

Der eine ein auffallend hochgewachsener Jüngling mit einem Römerkopf. Gleichwohl rotblondes Haar, das unter dem grünen Atlasbarett feurig hervorschimmerte. Orio von Morosini, der jüngste Sohn Gasparos und Melissas.

Eben lachte er kurz und gutmütig auf:

»Fürchtest du dich wirklich, Domenico? Ach, du kennst ihn schlecht! Er ist nur von ferne gesehen so unnahbar. Ich verbürge mich für die Freundlichkeit des großen Marco Polo!«

»Fürchten?« Domenico von Forli, der Pisaner, dessen energisches Kinn unter einem weichen Mund scharf vorragte, warf den Kopf verächtlich nach links und verdrehte die funkelnden Augen. »Fürchten?« wiederholte er ein wenig beleidigt. »Du wirst es aber vielleicht einsehen, Orio, daß dein Gedanke, ohne jede Vorbereitung schnurstracks zu Marco Polo zu gehen, etwas übereilt ist.«

»Ich gehöre doch zum engen Freundeskreis!« Morosini grüßte eben wieder einen Senator, der langsam von der Ponte di Rialto herabgeschritten kam.

»Du, Orio! Du magst dazu gehören! Mich aber kennt er nicht einmal dem Namen nach. Er ist doch kein seltenes Tier, kein Denkmal, das man sich ansehen geht, wenn man für einige Tage in Venedig weilt.«

Wieder lachte Orio Morosini.

»Du hast ja recht, Domenico! Aber der edle Polo ist eben eine Ausnahme. Da vergeht wohl kein Tag, an dem nicht einige Fremde bei ihm vorsprechen. Nie aber hat es sich noch ereignet, daß einer anders fortging, als mit Wissen bereichert und begeistert über die muntere Herablassung des reichsten Edelmannes von Italien!« Nachdenklich, als Forli schwieg: »Wie soll ich dich noch verlocken? Er hat zwei holdselige Töchter im Alter von sechzehn und achtzehn Jahren!«

Der Pisaner sah ihn eine Welle an. Er kämpfte sichtlich. Unvermittelt:

»Ich werde ihm sagen, daß du die Verantwortung trägst!«

»Bei der Madonna, da wird er nur lachen! Gut, sag es!« Morosini faßte ihn unterm Arm. »Jetzt aber komm! Wir haben bis zum Sorte del Milione nur einige hundert Schritte Weges. Der Palazzo heißt ›Hof der Millionen‹, weil – nun, das wirst du schon selbst herausfinden, daß der Name zur Größe und Pracht paßt!«

Schon zog er den Freund in eines der schmalen Gäßchen, die von der Riva in nördlicher Richtung abzweigten.

 

Morosini hatte nicht zuviel gesagt. In kurzer Zeit standen sie vor der ungeheuren Fassade eines Palastes, der in einem sonderbaren, fremdartigen Stil aus schwarzem Granit erbaut war. Goldene unverständliche Fabelwesen über dem hohen Portal. Ebenso unverständlich die Reliefs der bronzenen Torflügel.

Orio ließ den mächtigen Klopfer ohne jede Scheu gegen das Metall schmettern, daß ein langgezogener, dumpfer Ton aufdröhnte.

Forli sah zu Boden und zupfte verlegen an seiner Kleidung. Es war ihm ein wenig unbehaglich zumute.

Das Tor ging geräuschlos auf. Ein Diener verbeugte sich vor Morosini, dann vor Domenico Forli und machte eine höflich gravitätische Geste der Aufforderung, den Palazzo zu betreten.

»Die edlen Fräulein sind oben im rechten Saal!« murmelte er. »Masser Marco Polo dürfte in seinem Arbeitsraum weilen. Wenn Ihr vorläufig zu den Damen eintreten wollt, edler Masser Morosini ...?!«

»Es ist gut! Ich finde den Weg allein!« Morosini nickte dem Diener zu, der abseits trat. Zu Forli gewendet: »Wir müssen über den Hof, Domenico! Es sind eigentlich zwei Paläste. Jenseits des Mittelbaues, zu dem wir jetzt gehen, steht der alte Stammsitz der Poli mit dem zweiten Hof. Nun, siehst du jetzt ein, daß man dieses Häuschen Corte del Milione getauft hat?«

»Sehr bedrückend, dieser Reichtum! Ich möchte am liebsten umkehren. Wir haben doch selbst einen Palazzo in Pisa ...« Domenico schob sein Kinn vor.

Sie schritten über den Hof, der in spiegelglatter, schwarz und weißer Täfelung glänzte. In der Mitte erhob sich ein Brunnen aus getriebenem Silber in der Gestalt eines fremdartigen Ungeheuers.

Hohe Spitzbogenfenster des Mitteltraktes. Hinter hellen Scheiben dunkle Vorhänge. Auch diese Fassade war schwarz und glatt.

Morosini klinkte eine kleine Tür auf, die in die Eichenbretter einer großen Einfahrt eingeschnitten war.

»Erschrick mir nicht, Domenico!« sagte er über die Achsel zurück.

Der Pisaner starrte erstaunt in das Halbdunkel einer weiten, gewölbten Halle, von deren Grund rechts und links teppichbelegte, breite Stiegen hoch hinaufleiteten.

Vor ihnen aber standen allerlei seltsame Dinge. Thronsessel, Tischchen, zottige Büffel, deren Fell bis zum Boden hing, kahle Raubtierschädel auf Postamenten, Schädel in der Form von Hirschköpfen, doch mit langen, geraden, spitzen Hörnern, ein riesiger Zahn von Manneslänge. Daneben auf dem Boden Felle von Löwen, Tigern und Leoparden, Felle andrer unbekannter Tiere. Dann wieder offene Schränke voll herrlichster Vasen und Karaffen. An den Wänden Lanzen, Schilde, Streitkolben, Köcher.

»Masser Polo wird dir das alles erklären, ich will ihm nicht vorgreifen! Hier, rechts hinauf!« Orio legte lächelnd den Arm auf die Achsel Domenicos, der nicht wußte, wohin er zuerst den Blick richten sollte.

 

Als sie den Saal betraten, schlug ihnen helles Geplauder und Lachen entgegen. Auch hier erlesenste Pracht. Alles war in bunten Farben gehalten. Seidenbilder an den Wänden. Bemalte Simse. Goldene Möbel und eine Unzahl von Kristall und Spiegeln.

Ihnen gegenüber bei den Fenstern in einer Nische zwei junge Mädchen. Neben ihren Sitzen einige reich in Atlas gekleidete Edelleute.

Das eine der Mädchen hatte sich herumgewandt.

»O, ein Besuch!« rief sie unbefangen, erhob sich schnell und eilte mit zierlichen, festen Schritten den beiden entgegen.

Schwarze, geringelte Locken. Eine kleine Nase im holden Antlitz. Dazu Grübchen in den Wangen. Die großen, runden Augen hatten etwas schelmisch Fragendes und doch Reifes.

»Morosini? Der schöne Orio? Es freut mich unbändig!« plauderte sie mit unbeirrbarer Sicherheit weiter. »Warum hat man sich so lange nicht bei uns gezeigt? Haben wir etwa den anspruchsvollen Herrn nicht genügend unterhalten?«

Orio küßte die Spitzen ihrer Finger.

»Ihr verwechselt mich, Monna Moretta! Ich war das letztemal vor zwei Tagen hier!«

»So?« Moretta Polo lächelte belustigt. »Ah, ganz recht, Orio. Ich erinnere mich jetzt schon.« Es zuckte verdächtig um das Grübchen: »Damals aber war dieser andre Edelmann nicht mit Euch, darum konnte ich mich nicht entsinnen.« Sie sah dem Pisaner, dessen Schüchternheit sie sogleich bemerkt hatte, eigentümlich gerade in die Augen, daß er errötete und dem Blick auswich.

»Ihr werdet ihn vertreiben, Monna Moretta!« meinte Orio. »Vor Euch hat sich jeder das erstemal gefürchtet. Übrigens erlaube ich mir, in aller Form den edlen Domenico von Forli aus Pisa bei Euch einzuführen und ihn Eurem Schutze zu empfehlen.«

»Sehr gut! Ein glücklicher Zufall!« Moretta reichte ein wenig ernster dem Pisaner die Hand. Treuherzig: »Es freut uns wirklich, edler Forli! Gebt mir den Arm!« Sie trat zu ihm und biß sich auf die Lippe, als er ihr mit steifer Grandezza den Arm bot. Als sie sich eingehängt hatte, begeistert: »Ein äußerst glücklicher Zufall! Eine Erleuchtung! Ein Mirakel! Schon seit einer Stunde beraten wir, wie wir den Vater zu einer Erzählung hervorlocken könnten. Eben früher hat er mich aus dem Arbeitszimmer gejagt und behauptet, wir wüßten schon alle mehr vom Großkhan als er selbst.« Nach einer Pause: »Ecco! Da kommt der schöne Orio und bringt einen Pisaner mit!« Zur Gruppe beim Fenster: »Nun, wollt ihr nicht auch den edlen Retter begrüßen?«

Fantina Polo, größer als die Schwester, schlank und ernst, mit einer zart geschwungenen Nase und klugen Augen, gleichwohl heiter und beweglich, erhob sich und gab den Edelleuten, die sich im Gespräch nicht hatten stören lassen, ein Zeichen.

Alle kamen auf den Pisaner zu.

»Nichts als Verwandte!« lächelte Fantina, als sie bei Forli stand. »Meine Oheime!« setzte sie fort und weidete sich am Erstaunen des Gastes, der nicht anders denken konnte, als daß man Possen mit ihm treibe. War doch der Älteste der drei Jünglinge dem Ansehen nach kaum fünfundzwanzig Jahre alt.

»Das erkläre ich!« Moretta hatte die Hand aus dem Arm des Pisaners gezogen und blickte ihn mit gespieltem Ernst an. Zur Schwester: »Er steht unter meinem Schutz! Ich lasse meine Gäste nicht durch solche Rätsel verwirren!« Und sie tickte mit ihrem Fingerchen gegen das Atlaswams Forlis: »Also, edler Domenico! Merkt auf!«

Morosini hatte die Gelegenheit wahrgenommen, Monna Fantina und die Edelleute mit herzlicher Vertrautheit zu begrüßen. Dann sah er mit verhaltener Munterkeit den Scherzen Morettas zu.

Sie ließ sich nicht beirren.

»Also!« setzte sie noch einmal an und versuchte, ein Lehrergesicht zu mimen. »Mein Vater hatte einen Vater!«

Alle lachten hellauf.

»Ungezogenes Volk!« sagte sie mit einem vernichtenden Blick gegen die Lacher. »Kommt ein paar Schritte fort, Masser Domenico! Diese edlen Herren und Damen benehmen sich schlecht!«

Forli blickte hilflos zu Morosini. Als er aber dessen harmlos lachendes Antlitz sah, faßte er sich endlich Mut, lachte mit und sagte:

»Ich schwöre Euch, edles Fräulein, daß ich mir nach den Mauern Eures Palazzos alles eher vorstellte, als solch einen munteren Inhalt!«

»Inhalt!?« Morettas Stimme bebte in verhaltener Spottlust. »Inhalt?!« Ihre Augen wurden noch runder und die hochgezogenen Brauen zuckten verdächtig. Plötzlich beschwichtigend und liebenswürdig: »Nicht zürnen, lieber Schutzbefohlener! Ich weiß, wir sind ein übermütiges Geschlecht. Aber wir können es nicht anders. Der ›Inhalt‹ lacht den ganzen Tag!« Nach einer kleinen Pause: »Was dabei herauskommt, seht Ihr! Ich kann Euch nicht einmal die Oheime erklären.«

»Euer edler Vater hatte einen Vater!« Forli war froh, das Gespräch fortsetzen zu können.

»Sehr gut!« Moretta zwang sich, ernst zu bleiben. Schnell: »Nun, dieser Großvater Nicolo heiratete im hohen Alter noch einmal, eben als mein Vater in genuesischer Gefangenschaft war. Das sind seine drei Söhne Stefano, Maffio der Jüngere und Giovanni! Zwei Jahre danach heiratete mein Vater. Ist das Rätsel gelöst?«

»Gewiß, Monna ...« Forli verbeugte sich.

»Moretta heiße ich, meine Schwester führt den Namen Fantina! Jetzt aber, liebe Gäste, wollen wir beraten, wie wir den Vater herauslocken. Er muß heute besondere Dinge zum besten geben. Aus Pisa war noch nie ein Gast bei uns. Ihr seid ein Engel, Orio! Wir wollen uns setzen!« Sie ging schon voran.

»Außerdem wollen wir den edlen Pisaner fragen, ob er uns etwas über Dante Alighieri erzählen kann.« Fantinas schmales Antlitz überzog plötzlich eine Welle rosigen Eifers. »Er ist in Venedig, Masser Forli! Als Gesandter seit einigen Tagen. Die Venezianer stellen sich zu ihm ungemein albern.« Sie sah zu Boden. »Man fürchtet seine Beredsamkeit!« setzte sie leise hinzu. Aufblickend: »Kennt ihr die Commedia und die Vita Nuova? Habt ihr die göttlichen Terzinen schon gelesen, Morosini und Forli?«

»Wer hätte sie nicht gelesen, Monna Fantina?« antwortete der Pisaner entzückt. »Wort für Wort habe ich die Verse studiert. Ich kann Euch auch viele Stellen aufklären, soweit sie Pisa betreffen.«

»Benissimo!« Fantina sah ihn erfreut an. Zu Stefano Polo: »Du aber als ältester anwesender Polo bist so gütig, für das leibliche Wohl unseres lieben Gastes zu sorgen!«

»Wenn er mir verspricht, nicht eher von Dante zu erzählen, als bis ich wieder hier bin!« Stefano wandte sich um.

»Nun, habe ich zuviel gesagt?« Morosini, der jetzt wieder in die Nähe Forlis gekommen war, fragte es laut und unbefangen.

»Was meint Ihr?« Moretta zog die Lippen zu einem winzigen Kreis zusammen.

»Daß man sich auch als Fremder im Corte del Milione bald heimisch fühlt!« Ono nickte ihr zu.

»Ich kann es nicht leugnen. Muß es vielmehr dankbar anerkennen!« Der Pisaner blickte im Kreise umher, da er des Ernstes noch nicht ganz sicher war.

Moretta aber erwiderte mit großen runden Augen:

»Wir geben uns alle Mühe, Orio! Trotzdem gehen dann die Leute in die Welt hinaus und verspotten uns, weil sie die Erlebnisse des Vaters für Märchen halten. Das ist einmal unser Los!« Und sie senkte das Köpfchen.

 

Im Palazzo vecchio, dem alten schwarzen Palaste der Poli, summte es den ganzen Tag von Geschäftigkeit. Seine weitgedehnten Keller waren mit Kaufmannsgut angefüllt und in den oberen Geschossen arbeiteten die unzähligen Trabanten des Millionenhauses.

Nur wenige Räume hatte Marco Polo unverändert gelassen. Nicht etwa aus mangelnder Pietät. Die Lage des alten Palazzos, der an den Kanal grenzte, eignete sich eben besser als Stätte des Handels und der Betriebsamkeit.

Auch sein eigener Arbeitsraum befand sich hier. Die Fenster gegen den Hof, in dem noch die alte Zisterne mit ihrem breiten Steinrand, umgeben von den alten Bäumen, den Mittelpunkt bildete.

Das Gelaß selbst war eine Mischung großer Pracht und kühlen Ernstes: Teppiche und Brokat an den Wänden; Glasschränke ringsum, in denen aus den Vertiefungen schwarzer Bretter die Karfunkel blitzten. Mächtige Landkarten fremdartiger Zeichnung. In der Mitte ein langer Tisch, auf dem, in hellgelbes Schweinsleder gebunden, riesige Folianten, die Geschäftsbücher, aufgeschichtet lagen. Dahinter ein verschnörkelter Thronsessel.

Marco Polo, der auf diesem Stuhle saß, beugte sich eben über lange Listen und Zahlenreihen. Trotz seiner sechzig dem Ansehen nach ein Vierziger. Kaum ergraut die lockigen Haare und der kurze Bart. Aus dem sonnengebräunten frischen Antlitz, das die Jahre ein wenig voller hatten werden lassen, funkelten die lebhaften Augen der Jugend. Sein tief purpurnes Samtkoller war schalartig mit einem schmalen Streifen kostbarsten Zobels verbrämt und das Haupt zierte ein kleines Barett. Um den Hals unschätzbare Ketten aus erlesenen Steinen.

Er hob den Blick, da es gepocht hatte.

Ein hagerer Sekretär betrat mit langen, wiegenden Schritten den Raum.

Marco nickte freundlich.

»Nun?« fragte er ermunternd, als der Sekretär noch immer schwieg. Dabei merkte er erst, daß das Antlitz des Gehilfen vor Erregung zitterte.

»Verzeiht, Masser! Tausendmal Vergebung! Die Nachricht ist zu wichtig...« Es verschlug dem Keuchenden die Stimme,

»...als daß Ihr sie ohne Einleitung sagen könnt!« Marco lehnte sich in den Thronsessel zurück. »Anscheinend nichts Unangenehmes! Soll ich es erraten?«

Da öffnete sich im Hirn des getreuen Mitarbeiters eine Schleuse. Übersprudelnd:

»Nein, nichts erraten, Masser! Von mir müßt Ihr es hören, von mir! Der Gran-Capitano ist eben eingelaufen mit den drei Galeeren. Unversehrt. Vollgepfropft mit Waren. Hier die Liste!« Er machte fast einen Sprung zum Tisch und entrollte triumphierend ein riesiges Pergament.

Einen Augenblick freudiger Schreck in den Zügen Marco Polos. Sogleich jedoch wieder in beherrschter Ruhe:

»Wo ist der Capitano?«

»Gleich muß er hier sein! Der Bote, der die erste Nachricht und die Listen brachte, kann kaum sprechen vor Atemlosigkeit. Alles darf Euch der Capitano berichten, nur nicht den Warenstand. Das ist meine Angelegenheit!« Er raschelte aufgeregt mit der Rolle.

»Benissimo! Legt los!« Marco lächelte wieder.

Der Sekretär stellte sich in Positur. Wie ein Ausrufer deklamierte er:

»Teppiche und karmoisinrote Seide aus Kleinarmenien, Baumwolltücher aus Arzingan, Datteln aus Balsora, Samt mit Tierfiguren aus Bagdad, golddurchwirkte Seide aus Tauris, Türkise aus Kirman, Gewürze und Spezereien aus Ormus, Georgische Seide, rote Seide aus Tiflis, viele Wagenladungen Indische Nüsse, Spiegel von poliertem Stahl aus Kobinan, Pistazien, Ebenholz, Mandeln, Kupfer, Sesamöl!« Atemholend: »Das enthält die eine Galeere! Erlaubt, Masser, daß ich jetzt die Mengen der einzelnen Waren mitteile!« Marco nickte. Der Sekretär aber begann in Zahlen zu schwelgen, rechnete sogleich den mutmaßlichen Wert und Nutzen vor sich hin und geriet in derartige Schnelligkeit, daß Marco ihn mehr als einmal unterbrechen mußte.

 

Noch war er nicht bei der dritten Galeere angelangt, als es dröhnend an der Tür klopfte.

»Der Capitano! Bei der Madonna, nur er hat solche Sitten!« murmelte der erschrockene Sekretär.

Marco war aufgestanden.

Im nächsten Augenblick stürmte eine unheimliche Riesengestalt, angetan mit verbrämtem Ledermantel, den Stoßdegen an der Seite, die Sturmhaube im Genick, in das Gemach, warf sich klirrend vor Marco nieder, umfaßte seine Knie und küßte wild seine Hände.

»Tausend Dank, mein alter Enrico, mein bester und größter Kapitän!« Marco beugte sich nieder und streichelte die Wange des greisen Kämpen.

Der Gran-Capitano der Poli aber schluchzte auf:

»Masser Marco, geliebter Masser Marco!« Er verschluckte sich. »Das war ein Spaß! Bei allen Heiligen, es war ein Spaß! Zwei Galeeren der Genovesi haben wir gekapert und in unsre hineingepfercht. Sturm bei Otranto. Fast wären wir mit unsren überladenen Kähnen ersoffen. Porco diabolo! Auf der Höhe von Ancona haben wir noch drei Genovesi versenkt. Kein Platz war mehr für ihren Tand!« Er hatte sich langsam erhoben.

»Du bist für den Abend mein Gast, Masser Enrico!« sagte Marco und kehrte sich ab, da ihn Rührung überwältigte. »Wir werden deine letzte Fahrt feiern. Ich lasse dich nicht mehr hinaus. Du mußt hier in Venedig die jungen Kapitäne ausbilden.« Zum Sekretär: »Auch Ihr werdet uns das Vergnügen schenken!« Als der Sekretär, der schon ein jämmerliches Gesicht geschnitten hatte, linkisch und unterwürfig nickte, mit leiser Ironie: »Von Geschäften aber wird nichts gesprochen. Sonst ziehe ich mir die Feindschaft meiner Töchter zu.«

»Gewiß, hoher Masser, gewiß! Wie Ihr befehlt!«

Marco wandte sich wieder an Enrico:

»Schlaf dich aus, Freund! Wir werden inzwischen deine Verdienste rechnerisch klarstellen. Dann werden wir uns wieder um die Prozente streiten, die dir gebühren!«

»Ich will keine, Masser!« Enrico murrte es heraus.

»Siehst du, ich sagte es. Ich kann den Mund nicht auftun, ohne daß du mich beleidigst.« Und er klopfte Enrico vertraulich auf die Schulter.

Dieser aber verneigte sich und verließ klirrend den Raum, nachdem er noch dem Sekretär eine verächtliche Grimasse geschnitten hatte, der sich schon zu Marco heranpürschte und auf einer Rechentafel kritzelte.

 

»Teppiche und karmoisinrote Seide aus Kleinarmenien, Baumwolltücher aus Arzingan, Datteln aus Balsora!« höhnte es in Marco Polo, als der Sekretär den Arbeitsraum verlassen hatte, um neue Listen zu holen. Kupfer, Pistazien, polierte Spiegel! Ich soll mich freuen, jubeln. Drei Galeeren! Warum schwieg in mir alles, als ich sah, wie neuer Reichtum sich auf alten türmte?

Datteln, Seide, Türkise! Edelsteine und Baumwolltücher! So geht es seit Jahren. Ist das ein Aufstieg? Das ein Ziel für einen Mann, der Jang-tscheu-fu regierte, der königliche Flotten durch Zaubermeere, durch ambraduftende Zonen leitete?

Habe ich es je erlebt, daß meine Mitbürger auf mich wiesen und riefen: Seht, das ist er! Er, der mächtige Statthalter des östlichen Reiches!? Nicht einmal das erreichte ich! Was blieb, war Geld! Edelsteinhändler, reicher Abenteurer! Weggewischt der Ruhm des Ostens!

Wozu alles? Kann ich die ungeheuren Summen, den Reichtum überhaupt noch genießen? Sehe ich nicht täglich, wie sie mir unterwürfig lauschen, um Nutzen von mir zu ziehen, und ihr Antlitz sich dabei schon verzerrt vor Unglauben und Spott?

Ich versuchte es, versuchte alles! Kurz nach der Heimkehr fuhr ich hinaus mit den Galeeren San Marcos. Niederlage, zwei Jahre genuesischen Kerkers. Damals ist Marco Polos Drang nach Staatsgeschäften, nach äußerer Macht gestorben.

Vielleicht ein fernes Bild, das mich lähmte? Francesca, die gefeierte Gattin Malipieros, des Statthalters von Kandia? Vielleicht Rückerinnerung an Weiten, gegen die Venedig wie ein enger Käfig erscheint?

Ich weiß es nicht! Weiß nur, daß mein Antlitz in mühsamer Verstellung lächelt, wenn ich meinen Getreuen Freude über geglückte Geschäfte vorheuchle, um sie nicht zu enttäuschen; weiß, daß täglich, stündlich mich die Frage quält, ob Stillstand Abstieg sei, ob nicht doch meine Wahl, mein Weg in die Wüste führte, ob ich nicht zu früh Ziele erreichte, die andren letzte Krönung sind.

Braver Enrico! Dein Sieg, deine Heimkehr konnte mir noch Freude erwecken, die Taten meiner Galeeren aber, die mich freuen sollten, um die mich Italien beneidet, prallen an die undurchstoßbare Wand lustloser Ernüchterung ...

Habe ich nicht Stimmen gehört? Wieder Moretta?

Marco Polo stand auf und mühte sich, die schale Müdigkeit des Selbstzweifels aus seinem Antlitz zu bannen.

 

Als er auf den Gang hinaustrat, erblickte er seine Tochter, die in freudiger Erregung den Sekretär mit Fragen bestürmte.

Sie kam sogleich auf den Vater zu und sagte atemlos:

»Welch große Überraschung! Ich habe schon einiges gehört! Drei Galeeren!«

»Großer Masser! Die anderen Listen, die Ihr wünschtet!« fiel der Sekretär ein, dem die Störung äußerst unwillkommen war.

Moretta sah den Vater bittend an:

»Nur wenige Worte!«

Marco überlegte einen Augenblick. Nein, keine Geschäfte mehr! Ich will Morettas Geplauder hören. Wenn auch nur für kurze Zeit.

»Später, lieber Secretarius! In einer halben Stunde!« entschied er freundlich nickend.

Der Dienstbeflissene biß sich in die Lippen. Unverständlich! Wie soll da die Arbeit gedeihen? Va bene! Er ist der Herr, er weiß, was er will. Und er verbeugte sich steif und ging langsam eine Treppe hinunter.

Marco aber hatte Moretta in den Arbeitsraum geführt und ließ sich lächelnd auf seinen Stuhl nieder.

»Nun, Moretta,« begann er scherzend, »da wird es wohl wieder schöne Seiden, Brokate und Juwelen geben, wenn wir die Galeeren ausgeladen haben ...«

Moretta sah ihn fast beleidigt an. Schnell:

»Deshalb? Nein, nicht deshalb freue ich mich, Vater. Meine Freude gilt der Rückkehr des tapferen, treuen Enrico. Du weißt, wie ich ihn von Kind auf schätze!« Nach einer Pause: »Er ist doch für den Abend eingeladen?«

Marco nickte. Er wurde von leiser Eifersucht überkommen. Moretta war sein Lieblingskind.

»Was willst du also?« fragte er um einen Ton kälter.

Das Mädchen merkte sogleich, was im Vater vorging. Sie wollte ihn nicht kränken. Mit einigen Schritten war sie bei ihm, schwang sich mit einem Satz auf seinen Schoß und umhalste ihn.

»Ich will dir nichts abschmeicheln!« sagte sie zutraulich. »Du arbeitest aber zu viel, Vater! Wir leben ja wie Waisenkinder. Man sieht dich fast nie!« Dabei schmiegte sie sich an den Vater, den sie abgöttisch liebte.

In Marco Polo aber stieg aus dem frischen Duft dieses jungen Mädchenleibes ein sonderbarer Gedanke auf: Erfüllung meines menschlichen Glückes! dachte er, während er leise über ihr Haar strich. Tausend Weiber! Nie, nie war ich gesättigt, nie kam mein Herz zur Ruhe. Jetzt aber endlich die Erleuchtung. Ich begehrte in Wahrheit keines der Weiber. Ich suchte das Weib, das ich nur rein, nur unirdisch lieben durfte. Die Mutter? Nein, die kannte ich nicht, kannte auch nie das Gefühl, das Schutz, das Anlehnung und Führung sucht. Die Tochter ersehnte ich, sehnte mich nach dem Mädchen, das mein Ich, mein Blut ist, ohne daß mein Blut dabei spricht. Du bist es, Moretta, du bist meine tausenderste, meine wahre, meine himmlische Liebe...!

»Was wolltest du mir sagen, Liebling?« fragte er eigentümlich weich und verträumt.

»Ich wollte dich betrügen, Vater, wollte dich hinüberlocken zu uns, damit du uns wieder einmal etwas erzählst.« Sie senkte das Köpfchen. »Jetzt schäme ich mich plötzlich. Du bist manchmal so rätselhaft, Vater, daß ich mich fürchte!«

»Was fällt dir ein, liebes, kleines Mädchen?« Marco lächelte gezwungen. »Im Kopf eines beschäftigten Mannes kreuzen einander hundert Gedanken. Dann sieht er für solch ein munteres Ding rätselhaft aus!« Er streichelte ihre runde Wange.

Moretta aber glitt wieder auf den Boden.

»Ein edler Forli aus Pisa ist mit Orio zu Besuch gekommen!« sagte sie. »Darf ich ihm einen andren Tag angeben, an dem du mehr Zeit hast?« Sie sah ihn treuherzig an. Nur das Grübchen zuckte verdächtig.

Marco aber lachte auf:

»Glück, Aufrichtigkeit, Staatskunst, unwiderstehlicher Zauber der Person! Alles zugleich, alles gemischt. Du bist eine echte Polo, mein Töchterchen! Ich gebe mich geschlagen und nehme es auf mich, dem Sekretär das Herz zu brechen.« Nach einer kleinen Pause: »Allerdings mit einer Einschränkung. Ihr dürft mir nicht zürnen, Kinder, wenn ich die Erzählungen plötzlich unterbreche. Ich erwarte wichtigsten Besuch.«

Moretta, die sah, daß sich das Antlitz des Vaters verdüstert hatte, umarmte ihn und drückte einen herzhaften Kuß auf seine Wange.

»Darf man wissen, wer das ist?« Sie sah ihn mit runden Augen an.

»Nein, liebes Kind! Es ist eine Staatsangelegenheit!« Ablenkend: »Übrigens wer ist noch hier außer dem Pisaner und Orio?« »Stefano, der junge Maffio und Giovanni. Vielleicht kommen noch Vitale Giorgi und der zweitälteste Delfino mit seiner Schwester!« Sie hängte sich schnell in den Arm des Vaters, da sie fürchtete, er könnte noch andren Sinnes werden.

Marco Polo aber hatte seinen Gleichmut schon wieder gewonnen und ging langsam der Türe zu.

 

Eben schenkte Fantina dunklen Inselwein in den Pokal Domenico Forlis, der mit erhobener Stimme einige Verse des Inferno rezitierte, als Moretta mit dem Vater den Saal betrat.

Orio Morosini hatte als erster Marco Polo erblickt.

»Es ist gelungen!« flüsterte er scharf. Dann aufspringend: »Evviva unser gütiger Gastgeber!«

Der Pisaner brach mitten im Satz ab. Sogleich war seine Sicherheit verschwunden, als er der mächtigen Gestalt des berühmten Weltfahrers ansichtig wurde. Er kam aber nicht dazu, viel zu grübeln, da die anderen ein ohrenbetäubendes Gejubel erhoben hatten, ohne jede Scheu auf Marco Polo zudrängten und ihn umringten.

Lächelnd machte er eine Geste der Abwehr.

»Seid herzlich gegrüßt, Kinder!« sagte er mit voller Stimme. »Nun, mit dem Empfang könnte ich zufrieden sein! Jetzt aber möchte ich dem edlen Pisaner die Hand zum Willkomm reichen.« Er suchte mit den Augen und ging gerade auf Forli zu, dessen Wangen sich röteten und aus dessen Augen unendliche Verehrung dem Kaufherrn entgegenstrahlte.

»Ich freue mich aufrichtig, einmal auch einen Sohn Pisas in meinem Palazzo zu sehen!« setzte Marco fort, während er dem Jüngling die Hand drückte. Zu Moretta: »Wir wollen dem ehrenwerten Gast gleich zu Beginn das ›Libro‹ als Geschenk überreichen. Auch Pisa soll von der östlichen Welt Kenntnis erhalten!« Wieder zu Forli, indes Moretta davoneilte: »Ich entnahm Eurer Deklamation, daß Ihr für Bücher Liebe und Verständnis hegt. Was war es, das Ihr vortrugt? Nur den Klang erfaßte ich in der Eile...«

»Einige Verse aus dem Inferno des göttlichen Florentiners!« Forli, überwältigt von der Liebenswürdigkeit Marcos, hatte seine Unbefangenheit zurückgewonnen.

»Ah!« Marco blickte plötzlich wie abgelenkt auf Orio, der mit Stefano und Giovanni Polo einen großen Prunksessel an die Wand rückte und die anderen Stühle im Halbkreis herum gruppierte. »Was beginnst du, Schelm?« fragte er hinüber.

»Ich will die Stimmung eines östlichen Fürstenhofes erzeugen!« erwiderte der Morosini mit gespieltem Ernst. »Wenn wir aufsehen, werden wir uns einbilden, zu Füßen des Großkhans zu sitzen. Ist der Gedanke nicht sehr poetisch?« Er blickte von einem zum anderen.

»Und ich bin das fünfundzwanzigkarätige Mädchen!« lachte Moretta dazwischen, die eben hereinkam.

»Höchstens fünfzehn!« erwiderte Marco und streichelte ihre Wange. »Vorlautes Betragen gilt als zehn Karat Abzug!«

Moretta aber hatte blitzschnell einen gestickten Polster ergriffen, das kostbar gebundene Buch, das sie bisher hinter dem Rücken gehalten hatte, daraufgelegt und kniete im Übermut plötzlich vor dem erschrockenen Forli nieder:

»Gestattet, hoher Gast, daß das Haus der Poli Euch das Buch der Bücher zum ewigen Angedenken überreicht. Falls Ihr aber an einem seiner Worte zweifeln solltet, dann bitte ich Euch, die kleine Reise nach den östlichen Meeren nicht zu scheuen, um Euch von der Richtigkeit zu überzeugen!« Sie hob den Polster und sah den Pisaner mit hochgezogenen Brauen und runden Augen sonderbar an. Domenico aber, der hinter ihrer Schelmerei den tiefen Ernst herausfühlte, beugte sich tief nieder und küßte die Spitzen ihrer Finger. Dann nahm er das Buch und drückte es mit einem Blick wahrer Begeisterung ans Herz.

 

Marco Polo hatte sich der Laune Orios gefügt und auf dem Prunksessel Platz genommen. Die andren aber saßen jetzt, da der erste Jubel abgeebbt war, wie brave aufmerksame Schüler auf ihren Sitzen und wagten nicht mehr die leiseste Bewegung.

»Nun, was denken meine lieben Zuhörer?« begann Marco lächelnd nach einer Pause des Besinnens. »In welches Land sollen wir reisen?«

Fantina machte eine Geste, als ob sie sprechen wolle. Als niemand antwortete, sagte sie schlicht:

»Ich glaube, Vater, daß du uns vorerst etwas erzählen solltest, das im Buche selbst nicht enthalten ist. Vielleicht die Rückkehr nach Venedig ...«

»Ja, die Heimkehr!« Moretta schlug beifällig die Hände zusammen. »Das Gastmahl mit den Barbigos!«

»Das wird wenig Teilnahme beim edlen Pisaner erwecken!« wandte Marco ein. »Er will doch sicher etwas aus dem Osten hören!«

»Ich bin froh, hoher Masser, wenn ich überhaupt etwas hören darf!« Der Pisaner verbeugte sich leicht. Marco aber erwiderte rasch, wobei ein sogleich niedergekämpfter Schatten von Ungeduld in seinem Antlitz auftauchte:

»Va bene! Also zuerst das Gastmahl! Über den Osten werden wir vielleicht noch sprechen, wenn ich dem lieben Gast die mitgebrachten Kostbarkeiten zeige!«

Sie wurden für einen Augenblick unterbrochen. Einige Diener kamen herein und stellten winzige Lacktischchen mit dampfenden chinesischen Porzellanschalen vor die Gäste hin.

»Das Getränk des Ostens!« erläuterte Marco, zu Forli gewendet. »Es ist Tee! Aromatische Blätter einer Staude. Es berauscht nicht, regt nur an, ermuntert ...«

Er führte als erster, unbewußt in zierlichem chinesischen Zeremoniell, die Schale an die Lippen und verbeugte sich.

 

Als er die Schale abgesetzt hatte, suchte er einen Augenblick nach einem passenden Beginn. Dann ruhig und sachlich: »Wir kamen, wie Ihr vielleicht wißt, im Jahre des Heiles 1295 nach einem Vierteljahrhundert der Abwesenheit wieder nach Venedig zurück!« Er sprach, zum Pisaner gewendet, obwohl er auch die andern hin und wieder mit einem Blick bedachte. »Da fanden wir nun zu unsrem nicht geringen Erstaunen unsren Palazzo bewohnt und bewacht vor. Senator Malipiero, der als Nachbar sich früher große Verdienste um den Schutz unsres Eigentums erworben hatte, weilte nämlich schon lange Zeit nicht mehr in Venedig. Er ist auch heute noch Statthalter von Kandia!« Er sah zu Boden und das Lächeln seines Antlitzes umdüsterte sich. Plötzlich wieder unbefangen: »Gut, wir pochten also an die eigene Tür. Unsere Verblüffung erreichte den Höhepunkt. Die wackeren Barbigi hatten ihr Lebensziel erreicht und den Palazzo kurz und formlos mit Beschlag belegt. Man leugnete uns ins Gesicht, daß wir die Poli seien. Die wären längst gestorben. Verbürgte Nachrichten, Urkunden, die förmliche Todeserklärung zeigte man uns vor, als wir Einwände erhoben. Ich kann nicht schildern, was es da für einen Wirrwarr gab. Fast wäre Blut geflossen. Die geizigen Gespenster ließen nicht nach, schleppten andre Verwandte herbei, Giuseppe wies auf unsre sonderbare Kleidung, auf unsre fremden Sitten und auf unsre Betonung des Venezianischen hm, die offensichtlich dafür Zeugnis ablege, daß wir die Sprache irgendwo im Osten notdürftig von Kaufleuten erlernt hätten.« Marco lachte vor sich hin: »Der alte Teufel hatte nicht so unrecht! Wir merkten selbst, daß uns Worte fehlten, daß wir chinesische und tatarische Brocken einwarfen. Zudem hatte sich unser Aussehen durch die lange Zeit und durch Strapazen und Gefahren gänzlich verändert. Kurz, es war nahe daran, daß man uns als Betrüger ins Verlies warf. Der alte Barbigo behauptete nämlich, wir seien Abenteurer, die von den wirklichen, längstverstorbenen Poli einiges erfahren und nun den Plan gefaßt hätten, sich für sie auszugeben und ihr Erbe anzutreten. Deshalb schlugen wir vor, ein Gastmahl zu veranstalten und bei dieser Gelegenheit alles aufzuklären. Nach langem Hin und Her bewilligte man uns das Gastmahl und wir luden alle Verwandten, zahlreiche Senatoren und Adelige, große Kaufleute, kurz alles, was Namen und Rang besaß, ein.« Marco sah auf. Zu Moretta: »Laß die Reiseanzüge holen, Töchterchen! Da wird meine Erzählung lebendiger wirken.«

Moretta erhob sich sogleich und eilte aus dem Saale. Als sie wieder hereinkam, folgte ihr ein Diener, der ein mächtiges, in ein buntes Tuch eingeschlagenes Bündel trug und es zu Füßen Marcos niederlegte. Auf ein Zeichen des Kaufherrn öffnete er es und zog sich zurück.

Drei abgeschabte, gestickte Lederanzüge, deren Nähte klafften, wurden sichtbar. Über und über fleckig und voll von Spuren wilder Strapazen.

»Ecco!« sagte Marco Polo und wies auf die Ledersachen. »Das sind die Anzüge, die wir von Persien bis in die Heimat am Leibe hatten. Schön und kostbar? Nicht?« Forli lachte auf. Marco aber setzte lächelnd fort:

»Seht, ehrenwerter Pisaner, ebenso wie Ihr jetzt, lachten die versammelten Gäste, als wir im Saale erschienen und diese Koller trugen. Barbigo aber kreischte etwas von Verhöhnung der Gäste, dummen Possen und dergleichen.

Da erklärte mein seliger Vater Nicolo, die lieben Gäste mögen nicht wähnen, wir wollten sie durch den Wert unsrer Kleider bestürzen. Bloß Barbigo möge endgültig einsehen lernen, daß es für ihn vergeblich sei, die Poli zu verdächtigen.

Auf seinen Wink begannen wir, die Nähte aufzutrennen. Und da verwandelte sich das Gelächter sogleich in fassungsloses Erstaunen. Denn in den Nähten und unter dem Futter hatten wir unser ganzes Vermögen verborgen. Schüsseln von Saphiren, Rubinen, Demanten, Smaragden, Karfunkeln zauberten wir aus diesen treuen Wamsen, bis mitten in all der Sprachlosigkeit der geizige Greis in Krämpfen zusammenbrach.

Der ungeheure, alle Begriffe übersteigende Reichtum, der mit einem Male vor aller Welt sichtbar war, die nie gesehene Größe der Edelsteine, deren wenige den Wert des Palazzos überstiegen, ließ denn auch die edlen Gäste zuerst in Bewegungslosigkeit erstarren. Dann aber umbrandete uns einstimmig der Beifall und der Glaube, daß wir die echten Poli seien und es nicht nötig hätten, ein fremdes Haus zu erlisten.

Ihr könnt glauben, Forli, daß wir an jenem Abend gefeiert wurden, umsomehr, als wir jeden Gast zum Andenken an unsre Heimkehr mit einem Edelstein beschenkten.

Barbigo aber wurde, als wir auch noch die Obrigkeit überzeugt und die Schätze unsrer Galeere vorgewiesen hatten, mit Spott und Schande aus dem schwarzen Palazzo, dem Palazzo vecchio drüben, hinausgejagt.

Ich sah ihn nicht mehr nach jenem Tage. Er soll jahraus, jahrein bis spät in die Nacht alte Folianten studiert haben, um die schwarze Magie zu erlernen und damit unsre Edelsteine in Sand zu verwandeln. Jedenfalls gelang es ihm nicht. Hier eine Probe!« Marco reichte dem Pisaner einen prachtvollen Smaragdring hinüber.

Als aber Forli nach eingehender Betrachtung das Juwel mit Dank zurückgeben wollte, lächelte Marco Polo liebenswürdig:

»Er ist Euer Eigentum, edler Domenico! Ich habe den Aberglauben, nach Erzählung dieser Geschichte, die Zuhörer jedesmal durch Edelsteine in die Stimmung des Gastmahles zu versetzen.«

Der Pisaner wollte begeistert danken. Marco jedoch sagte ablenkend: »Jetzt aber, Kinder, wählt eine andre Erzählung!«

 

Nach langer Beratung hatte man sich auf die Schlacht von Curzola geeinigt.

Marco hatte in farbiger Weise zu schildern begonnen, wie Genuas sechzig Galeeren den fünfundneunzig venezianischen Schiffen rettungslos ausgeliefert schienen. Wie sich aber dann durch Übermut der Venezianer und widriges Wetter das Blatt gewendet habe, so daß fünfundsechzig Galeeren des heiligen Marcus lichterloh brannten, achtzehn jedoch dem Erzfeind in die Hände fielen.

»Schrecklich war es,« setzte er eben fort, »unausdenkbar traurig, als Lamba Dona, der Admiral Genuas, unseren greisen Befehlshaber Andrea Dandolo mit Ketten belud und in ein Zwischendeck werfen ließ. Auch meine Hände klirrten in Ketten. Und ich mußte es mitansehen, wie Dandolo sein edles Haupt so lange gegen die Planken schmetterte, bis es zerschellte...«

Marco, dem eine Träne der schmerzlichsten Erinnerung über die Wange lief, sah auf, da ein Diener eilig hereingetreten war.

»Mein Vater befehligte eine eigene Galeere, die als erste in die Reihen der Genovesi vorstieß!« flüsterte Moretta dem Pisaner zu. »In der Gefangenschaft aber verfaßte er das Buch, das ich Euch überreichte.«

Forli beugte sich zu Moretta hinüber, um noch mehr zu erfahren.

Marco hatte den Diener ins Auge gefaßt und sah ihn auffordernd an.

»Der erwartete Besuch harrt Eurer im Büchergelaß!« sagte der Diener gedämpft.

Marco zuckte auf. Sogleich aber wieder beherrscht:

»War alles in Ordnung?«

»Gewiß, hoher Masser! Er ist in der geschlossenen Sänfte eingelangt. Niemand hat ihn gesehen als ich selbst.«

»In Ordine! Du kannst gehen!« Er machte eine lässige Geste gegen den Diener. Dann aber stand er schnell auf und sagte liebenswürdig:

»Ihr müßt mich jetzt entschuldigt halten, liebe Kinder! Vielleicht können wir unser Geplauder heute noch fortsetzen. Auf Wiedersehen!« Und er reichte allen die Hand und ging mit großen Schritten der Tür zu.

Moretta jedoch, die plötzlich aus seinen Mienen Sorge gelesen haben wollte, eilte ihm nach und flüsterte:

»Gott schütze dich, Vater! Er möge dein Gemüt vor Kummer und Unheil bewahren!«

Marco lächelte sie zärtlich an und erwiderte wehmütig: »Es ist keine Gefahr, Liebling! Betreue ruhig die Gäste und mach dir keine überflüssigen Gedanken!« Er hatte schon die Türe aufgeklinkt.

 

Die langen, prächtigen Korridore, in die das schräge Licht der Nachmittagssonne in breiten Bahnen hereinragte, hallten unter dem festen Tritt des Weltfahrers.

Sein Inneres aber folgte nicht mehr der äußeren Geste. Wilder als je zuvor hatten seine Gedanken einander zu kreuzen begonnen, da er – am Rande der Lebensentwicklung – das Endgültige jeder Erkenntnis fühlte.

»Buch der Bücher!?« Liebe, muntere Moretta, ahntest du, welch grausamen Scherz du machtest, als du diese Worte sprachst? Wie klein, wie jämmerlich, wie nichtig ich die eigene Schrift fand, als ein andrer Name fiel? Wenige Augenblicke, und ich werde ihm selbst gegenüberstehen, werde das irdische Gefäß eines Geistes blicken, der um uns herum die Welt zu verwandeln beginnt.

O, weisester Vincenzo Mori! Seherisch wußtest du ihn voraus, den geheimnisvollen Gast, wußtest, daß ein Dante Alighieri erstehen würde. Wie wenn du gestern gesprochen hättest, höre ich deine Worte, gütiger Mori. Höre von dunklen Kräften, die sich regen und Gestalt werden wollen, sehe das flüssige Metall, das um uns in brodelnden Kesseln summt. Der Zapfen wird herausspringen und die heißen Ströme werden in die Formen schießen. Und die Güsse werden dastehen von Ewigkeit zu Ewigkeit!

Schon stehen sie vor uns, Mori, diese Güsse! Er selbst hat die Krusten der Gußform zerschlagen und uns das schimmernde Erz gewiesen. Nicht Venezianer mehr, nicht Florentiner, Genuesen, Römer, Ravennaten: Italiener sind wir geworden, wenn auch noch die Schwerter vom Bruderblute triefen. Alles wird unser Boden verwandeln, alle Künste und Wissenschaften werden aufblühen, Malerei in nie geahnten Farben, Musik, Baukunst, äußere Macht.

Und ich? Wo bin ich gestanden? Ich, der die Zukunft wußte, einer der ersten Streiter des Neuen hätte sein sollen? Wo war ich? Eigenen Zwecken, Abenteuern, Reichtümern habe ich nachgejagt! Tausend Weiber umgarnt, gekauft, verlockt!

Er aber, der Göttliche, ist in die Hölle hinabgestiegen, hat den Himmel errungen. Und hat mit Gedanken und Worten eine Welt erschaffen, wirklicher als die, die ich zu bezwingen suchte. Ein einziges Weib hat er geliebt, eine Beatrice! Und hat sie nie besessen, nie in tollem Drang des Genießens zu sich gezogen.

Zwei Welten! Zwei Welten, wie sie schärfer, getrennter, unversöhnlicher kein Gott erdenken konnte.

Und das Ende?

Marco Polo häuft Millionen auf Millionen, Dante Alighieri aber irrt heimatlos, fremder Gnade ausgeliefert, durch die Städte, die sein Geist einst groß und mächtig machen wird.

Wußte ich dieses Ende voraus? Wählte ich Genuß statt Geist?

Ohne Lüge will ich ihm entgegentreten und mein Haupt beugen, so bekennend, daß er das erreichte, was meines Lebens tiefste, heißeste, ursprünglichste Sehnsucht und Berufung war, wovon mich nur unerforschliches Schicksal oder Schuld stets weiter entfernte...

 

Schauer im Herzen, wagte er nicht, die Klinke niederzudrücken, als er an der Türe der Bibliothek stand.

Ich werde stammeln, er wird mich höhnisch anlächeln! raunte eine Stimme in seinen Gedanken.

Nein, auch das wird Marco Polo bezwingen! reckte sich der Stolz des Weltfahrers empor.

Durch die Wucht der Millionen wird er zu Boden gedrückt werden, wird seine Sicherheit wanken fühlen! flüsterte ein Dämon.

Marco öffnete mit hartem Griff die Tür und trat schnell in das halbdunkle Gelaß, an dessen Wänden die zahllosen Lederrücken mächtiger Folianten zwischen tiefroten Samtborden herausragten.

Seine Augen aber tranken gierig das Bild, bevor er sich zum Gruß verneigte.

Hoch und schwarz umflossen stand die königliche Gestalt des Florentiners mit zurückgeneigtem Haupt an der linken Wand vor den Büchern. Die kühne Adlernase und der durchdringende Falkenblick, umrahmt von der schwarzen Ohrenkappe. Das Antlitz bleich und steinern. Mit jedem Atemzug schien die überirdische Erscheinung zu wachsen, zu jenseitigen Maßen sich zu entfalten.

Marco war nur mehr wenige Schritte von ihm entfernt, als er sich wieder aus der Verbeugung erhoben hatte.

Dante senkte langsam und leicht den Kopf, wobei seine Lippen noch schmaler, noch unkörperlicher wurden und das gewaltige Kinn bezwingend vortrat.

»Ihr habt mich gerufen, edler Marco Polo!« tönte plötzlich seine volle, tiefe Summe. Hart und unerbittlich: »Venedig will mich nicht hören. Noch heute wird mich mein Pfad wieder heimwärts nach Ravenna zu Guido da Polenta zurückführen. Selbst den Weg zur See hat die Furcht Eurer Landsleute mir untersagt!« Nach kurzer Pause: »Habt Ihr, der mächtige Sohn der Republik, der Abweisung Eurer Mitbürger etwas hinzuzufügen?«

Marco vergaß zu antworten. Gebannt suchte er das Rätsel dieser ungeheuren Persönlichkeit zu ergründen. Tschang huschte am Saume seiner Gedanken vorbei, Pasepa, Peyen, Kublai, Achmak. Nichts! Unvergleichbar! Hier stand er dem Endgültigen gegenüber. Er zwang sich mit aller Kraft zur Ruhe.

»Ich bat Euch, großer Florentiner,« der Klang der eigenen Worte gab ihm die Sicherheit zurück, »ich bat Euch, mein Haus durch die Ehre Eurer Anwesenheit auszuzeichnen, nicht, weil ich Staatsgeschäfte im Sinne hatte. Leider konnte ich den Starrsinn der befugten Gewalten nicht brechen!«

»Was dann wolltet Ihr?« Fast drohend der Strahl des Falkenblickes.

Marcos Auge aber verlor die Beherrschung. Plötzlich hatte die Verbindung der Gedanken eine gräßliche Neugier in ihm entfesselt. Er starrte abirrend gegen das Tuch des schwarzen Gewandes, das, abgeschabt und fadenscheinig, an manchen Stellen spiegelig glänzte. Im Selbstekel schloß er die Augen.

»Euch, dem Vertriebenen, dem Verfolgten, den ich fast anbetend verehre, wollte ich meine Hilfe anbieten!« Marco Polo hatte die Worte in namenloser Erregung hervorgepreßt, da ihn schon die Furcht vor Abweisung packte.

Dante Alighieri aber lächelte. Nur für einen Herzschlag huschte das Lächeln um den bleichen Mund, um sogleich wieder zu ersterben.

»Euer Wille verdient Dank!« erwiderte er. »Gleichwohl aber könnte nur eines mich veranlassen, fremde Hilfe zu suchen. Rückkehr in die Vaterstadt heißt mein Wunsch!«

Da zuckte Marco Polo auf:

»Gott sei gepriesen, daß Ihr spracht, Göttlicher! Vertraut meiner Weltkenntnis! Ich will die Signoria von Florenz veranlassen ...«

»Wie wollt Ihr das bewerkstelligen?« Wieder alle unerbittliche Härte in der Stimme des Florentiners.

»Schelme sind es, die Euch vertrieben!« Marcos Antlitz sprenkelte sich mit grellem Rot. »Schelme kann man kaufen, Göttlicher!«

Da lachte Dante bitter auf:

»Und das sollte die rühmliche Art sein, in der Alighieri ins Vaterland heimkehrt, nachdem er fünfzehn Jahre die Verbannung getragen? Auf solche Weise sollte seine Unschuld bewiesen werden, die niemand mehr verkennt? Das der Lohn für Fleiß und Arbeit, die er auf das Wissen verwandte? Nein, Marco Polo! Fern sei von einem Weisheitliebenden die unbesonnene Demütigung eines irdisch gesinnten Herzens, fern von dem Manne, der Gerechtigkeit predigt, daß er, der Beleidigte, seinen Beleidigern, als wären sie Wohltäter, Geld und Gut verschaffte! Kärgliches Brot, hoffe ich, wird mir nie fehlen, bis ich das Werk meines Lebens vollendet, die Bahn meiner Gedanken durchlaufen habe!« Er sah zu Boden.

In Marco aber hatten die Worte des Florentiners letzte Selbstachtung zerschmettert. Auch er kennt nur eine Wahrheit, auch er verdammt unerbittlich die gewundenen Pfade der Klugheit, auf denen ich mein Leben, meinen Aufstieg, die Muße und Selbstgefälligkeit des Alters erschlich. Sprich nicht weiter, göttlicher Dichter, der mit verächtlichem Fuße die Früchte meiner heißen Mühe von sich stößt!

Er sah ihn fassungslos an. Dante aber ließ sich langsam in einen hochlehnigen Stuhl nieder, der neben ihm stand, und bat den Gastgeber mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Ein Schweigen entstand, das in seiner von Gedanken durchrasten Schrecklichkeit Äonen zu währen schien.

Plötzlich blickte der Florentiner auf. Nur einen Atemzug lang. Er hatte genug gesehen.

Nein! tönte es in ihm, nimmer hat dieser Mann, der trotz all seiner Bezwingerkraft im Innersten zerbrochen zu Boden starrt, geben wollen, um zu triumphieren oder um den Geist zu demütigen. Kein Krämer ist er, der vor Gott sich loskaufen wollte, da ihn schlechtes Gewissen peinigt. Geben wollte er, helfen, sonst nichts! Wollte seine Macht dem leihen, der die Bahn seiner eigenen unerfüllten Sehnsucht vollendet, die Bahn, die das Schicksal ihm selbst versagte! Körper war er, ohne es zu wissen, Körper, der den kalten Geist mit Blut und Leben umhüllen will, um durch den Geist erst volle Menschwerdung zu erringen. Durch dich, mächtiger Weltfahrer, Diesseitsbezwinger, habe ich die Lösung eines großen Rätsels erkannt!

Noch immer saß Marco Polo gesenkten Antlitzes da und fand keinen Ausweg aus dem Labyrinth seines Schweigens. Und merkte es nicht einmal, daß Dante schon mit sonderbar weicher Stimme zu sprechen begann:

»Nicht fruchtlos habe ich die Reise durch Hölle, Purgatorio und Himmel unternommen!« Wieder kurzes Schweigen. Dann entrückt, wie in mächtiger Vision: »Allein steht der Mensch unter allen Wesen zwischen dem Vergänglichen und dem Unvergänglichen! Darum verglichen ihn die Philosophen mit Recht einem Horizont, der die Mitte zwischen zwei Hemisphären einnimmt. Beide Ziele aber bestimmte die Vorsehung in ihrem unerforschlichen Ratschluß dem Menschen zur Erreichung. Es ist das Glück dieses Lebens, das in der Betätigung der ihm eigenen Kraft besteht, es ist die Glückseligkeit des Ewigen, die im Genuß der Anschauung Gottes wurzelt, zu der sich jedoch unsre eigene Kraft nur mit Hilfe des göttlichen Lichtes emporschwingen kann!« Laut und mächtig: »Ihr habt den ersten Weg gewählt, Marco Polo, habt den Erdkreis wirkend und kämpfend durchfahren, habt die irdische Reise bezwungen. Darum habt auch Ihr erfüllt und vollendet. Denn nur dann wird die Welt bestehen, wenn das Diesseits von Männern gleich Euch bereitet wird. Dann auch erst können wir, die die göttliche Reise vollbrachten, den Strom des bunten Lebens zum Jenseits lenken!« Er senkte das Haupt und schwieg.

Marco Polo hatte jedes Wort in zunehmendem Erstaunen vernommen. Sollte plötzlich die Lösung vor ihm liegen, die er in jahrelangem Kampf vergeblich gesucht hatte? Durfte er diese Worte glauben? Nein, nur Mitleid ist es, Gnade des Erhabenen und Dank für meinen Helferwillen! Der Vollkommene, der Erlöste begnadet den Armen, um in ihm nicht letzte Hoffnung zu töten! So wie du aber, Dante, meine Hilfe zurückstießest, muß der Weltfahrer jetzt die deine ablehnen. Nur gleichen Rechtes mit dem Größten kann ein Marco Polo bestehen!

»Euer unfaßbares Herz wollte den Verirrten trösten, göttlicher Dante!« sagte er tonlos.

Da erhob sich der Florentiner langsam, lächelte in allverstehendem Mitleid und trat ganz nahe an Marco Polo heran. Aus seinen harten Augen aber strahlten für einen Herzschlag Demut und Güte.

»Ich wollte Euch trösten, Marco Polo!« erwiderte er gedämpft. »Das aber war nicht mein vornehmster Wille. Es geht um mehr! Um ein ewiges Gesetz des Weltablaufs geht es, das mir an Euch klar wurde, das ich unsrer Begegnung verdanke! – Ich scheide jetzt von Euch, Marco Polo! Scheide aber nicht, ohne Euch dieses tiefste Geheimnis unsrer zwiegespaltenen Welt offenbart zu haben. Hört mich, Marco Polo, und vergeßt das Geständnis des Gottsuchers wieder, wenn es Eure Seele ins Gleichmaß zurückbrachte!« Er schwieg und senkte das Haupt. Aufblickend: »Wir beide umfaßten, als unser Geist erwachte, liebend beide Ziele: Das Ziel einer Bezwingung der stofflichen, den Drang nach Vollendung der geistigen Welt. Schicksal und unerforschliche Wahl wiesen uns auf entgegengesetzte Wege. Und wir müssen beide rückschauend bekennen, daß wir nur Gipfel erreichten, weil wir uns rückhaltlos entschieden. Unser Weg aber und unsere Wahl löschte nicht die Erinnerung an das zweite Ziel unserer Jugend, hindert nicht die Erkenntnis der anderen Welt, aus der wir uns selbst verbannten. Daher blieb eine der beiden Kräfte, die wir in uns fühlten, unbefriedigt im Tal der Enttäuschung, indes sich die andre in herrlichem Aufstieg entfaltete. Es ist das Urgesetz aller wahren Größe, Marco Polo, diese Ausschließlichkeit der Entscheidung!« Er hob die Stimme: »Jetzt aber, Marco Polo, gilt es, sich der grausamsten Folgerung aus diesem Weltgesetz zu unterwerfen: Die eine Welt wird Tat, die andre Reue! Keinem ist noch die Doppeltat gelungen! Erst das Jenseits, das den Geist zu sich selbst befreit, kann den Zwiespalt tilgen. Solange aber Herzen schlagen, Hirne denken, Blutströme durch Körper pulsen, wird es nicht anders sein, da den hoffärtigen Himmelstürmer, der beides erzwingen wollte, der Doppelhieb der Reue träfe: Stets wird nur eine Welt zur Tat, die andre Reue!«

Und er schritt erhobenen Hauptes zur Tür. Sein Antlitz leuchtete in jenseitiger Blässe und der Blick seiner Augen war wieder hart, gewappnet, den Kulm der Weisheit und Wahrheit ohne Zittern zu erklimmen.

Marco Polo aber neigte das Haupt und schlug das Zeichen des Kreuzes wie vor dem Göttlichen selbst.

 

Nach Stunden der Betrachtung und Läuterung betrat der Weltfahrer, nicht nur äußerlich gewandelt, glatten, heiteren Antlitzes den Saal.

Schon ging der hagere Secretarius mit aufgeregten, wiegenden Schritten, sein herausstaffiert, auf und nieder und erwehrte sich mit Mühe der derben Spaße des Gran- Capitanos Enrico, der seinen gravitätischen Eifer bewitzelte.

Die Gesellschaft hatte sich noch um die erwarteten Gäste vermehrt. Allen voran tat sich die liebliche Moretta hervor, die Laune nicht erkalten zu lassen.

Marco lächelte. Wozu sich gegen das Gesetz des Weltablaufs stemmen? Unabänderlich ist es. Stets aufs neue werden Schwermut und Reue in mir heraufdrängen über die verlorene Welt der Reinheit, des göttlichen Lichtes, des himmlischen Zieles. Zeit und Erkenntnis werden die Reue vielleicht zur Sehnsucht dämpfen. Wehmütig werden mich dann Bilder der Jugend umgaukeln, Francesca, die Gattin des großen Malipiero, Li-ping, die mein Kind in fernen Weiten heranzieht und bei den Ahnentafeln Ma-ko-pos betet. Und die düsteren Schatten Uang-tschus und all der andern, die mein Aufstieg zu Boden trat. Voll aber und ganz wurde die andre, die lachende, liebende, schimmernde Welt des Diesseits zu meiner Tat ...!

»Der edle Forli und Orio werden uns doch die Ehre geben, mit uns das Abendessen einzunehmen?« tönte die helle Stimme Morettas.

Plötzlich jubelte sie vor Entzücken auf und klatschte in die Hände. Denn feist und weißhaarig, ein Schmunzeln im roten Antlitz, war ein prächtig gekleideter Greis in den Saal getreten.

»Oheim, Großohm Maffio! Evvivano die Poli! Heute ist unser Glück vollkommen!« Das hohe Stimmchen Morettas schlug fast über.

Maffio pfiff munter durch die Zähne, verbeugte sich freundlich und sagte, als er auf Marco zutrat:

»Gott bewahre deiner holden Tochter ihre Bescheidenheit, daß ein Großoheim für sie den Gipfel des Glücks bedeutet!«

»Sie meint es sinnbildlich!« lächelte Marco zurück. »Die Poli halten zusammen! Und haben sich trotz ihres Goldes das Herz bewahrt, mit dem sie kämpften, litten und siegten!«

»Das war ein Wort, ein wahres Wort! Weiser seid Ihr als alle Dichter, großer Masser!« Enrico preßte vor Rührung die Hand gegen die Brust.

Marco lächelte. Weiser als alle Dichter? Nein, guter Enrico, diesen Weg bin ich nicht gegangen. Die Weisheit des größten Dichters hat mir vielmehr erst Erkenntnis gebracht: Kaufherr und Weltfahrer ist Marco Polo, ein gleichberechtigter Bürger des Reiches der Vollkommenheit. Vielleicht auch du, Enrico, auch Maffio! Jeder, der sich selbst vollendete und sich selbst trotz Kampf und Verzweiflung die Treue hielt, bis er endlich seine wahre Bestimmung erkannte.

Und er begrüßte herzlich und mit befreitem Lächeln auf dem Antlitz seine Gäste und wies gegen eine Tür, die sich eben geräuschlos öffnete und den Blick gegen das Funkeln herrlicher Kristallkaraffen und bunter Teller auf blumengeschmücktem Tische freigab. – – –


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