Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweite Epoche

Die beiden Drachen kämpfen um die Perle der Vollkommenheit

Am Hange der Westberge von Kambalu. Schwebende Terrassen mit Brüstungen, deren Marmorpfeiler bizarrste Skulptur trugen. Alles weich, verschnörkelt, ineinanderfließend.

Mächtige viereckige Steinplatten als Belag eines halbrunden Terrassenabsatzes.

Steil hinauf eine von durchmeißelten Kalksteingeländern gesäumte Stiege, die sich zwischen weißrindigen Kiefern und Zypressen verlor. Noch höher oben am Hange, hervorglitzernd aus den Hainen, die Glasurdächer des Landsitzes.

»Ruhe, endlich Ruhe! Sammlung zur Arbeit! Muße zur Rückschau!«

Marco Polo saß, knapp an der Balustrade, vor einem Bambustischchen und atmete befreit die frische Luft des Augustnachmittags, die aus den satten Ebenen heraufwehte.

Schärfer das Antlitz. Ein Zug gereiften Wissens und durchkämpften Erlebnisses. Prächtigste Gewandung. Trotzdem jede Bewegung in würdiger Selbstverständlichkeit.

Eine große Lackkassette vor ihm auf dem Tischchen. Papier, Pinsel, Tusche.

Er blickte hinaus.

Ja, dort unten liegt sie, die wimmelnde, hastige Stadt Kambalu-Peking! Wie die blauen, grünen und gelben Glasurziegel der Dächer an Gefunkel mit den Silberschlangenwindungen des Hun-Ho wetteifern. Weiten, nur Weiten! Dort, nahe im Norden, die kahlen Falten der Grenzberge von Tschili, über die das weiße Wunder der großen Mauer sich schützend spannt.

Und im Süden das Reich, das unendliche Reich der Mitte.

Tausend Gedanken begannen sich in seinem Kopfe zu kreuzen. Abgerissene Bilder jagten vorüber:

Was war das Reich der Mitte gegen das andre, das größere, das unendliche Reich Kublais, des Khans der Khane?

Mochte sich das Mittelreich immerhin Tausende Meilen weit erstrecken! Mochten – ja, da hinter mir am Rande des Wasserbeckens ein Sinnbild: Der Marmordrache, der sich mit dem Kopfe gegen das Wasser senkt und mit den Pranken schwer auf dem Boden ruht. Du bist die Urform dieses Landes, Drache! So sehen die Berge im Süden aus, fern an den Grenzen der Malayen. Wild gezackt. Wie Märchen. Dein Leib aber sind die Gegenden Tibets, wo die Städte auf den hohen Sandsteinebenen in Schutt und Asche liegen, zertreten vom tatarischen Eroberer.

Und du, Volk von Kataja, konntest dein Riesenreich formen, durchsetzen, dein ungeheurer Baugedanke hat alles gebändigt, einen Garten, einen einzigen Garten aus den Tausenden Meilen gemacht.

Dort drüben auf den Hügeln, lugend aus Dickichten, über Wege gespannt, Hauseinfahrten verstellend, Flüsse in schlankem Bogen wie Kamelrücken überquerend: Überall die weich geschwungene Linie. Schwebend und strebend, bunt und naturnah. Wo ist hier die Grenze von Kunst und Wirklichkeit?

Ich muß mich den Papieren zuwenden. Meine Muße darf nicht Vorwand sein für Träumereien.

Was das Reich der Mitte ist, dachte ich! Es war recht, daß ich so dachte. Nur ein kleiner Teil ist es im Weltreiche Kublais. Und der Mittelpunkt dieser Welt ist mir näher, als ich es je zu hoffen wagte.

Er hat Wohlgefallen gezeigt, er, der Herr der Welt hat meine Aufzeichnungen gelobt, er liebt mich, umgibt mich mit Gunst und Zuneigung.

Wo ist mein Vater? Fern im Westen dürfte er weilen. Er sucht Edelsteine, Rubine, Jade und Türkis. Maffio ist bei Kublai. Warum bin ich zurückgeblieben?

Eine müßige Frage! Sicher weile ich nicht hier, um mich der Arbeit zu entziehen! Meine nächste Aufgabe ist es doch, die Übersicht des Reiches, soweit ich es kenne, zu gestalten.

Ruhe, endlich Ruhe!

Marco Polo begann das weiche Papier zu glätten, der Kassette stets neue Zettel zu entnehmen, sie zu sondern und Zusammenhänge aufzusuchen.

Welches Jahr schreibt man im Abendlande? Man kann ja rechnen.

Und schnelle Schriftzeichen und Zahlen bedeckten ein Blatt.

In späten Zeiten wird dieses Jahr noch genannt werden. Kublai, Urenkel des furchtbaren Dschingiskhan, du hast vollendet, hast geerntet. Als Dschingis in düsteren Steppen geboren wurde, ein hilfloses Kind in einer Nomadenhorde, da – ich kenne diese düsteren Steppen. Wir sind durchgezogen, als wir nach Karakorum gingen. Richtig! Wir schreiben im Abendlande 1279. Ich irre mich nicht. Was fiel mir ein von Dschingis? Er soll ein Stück geronnenes Blut im Munde getragen haben, als er das Licht erblickte! Grausiges Symbol!

Dort unten, wo der Rauch aufsteigt, lagern die Zehntausendschaften der Nomaden. Weiseste Maßregel. Vermeidung Capuas. Was wißt ihr von Capua, ihr Khane? Aber klüger seid ihr als Hannibal. Nur kleine Scharen der Truppen liegen als Besatzungen in den Städten. Alle anderen draußen in den Reisfeldern.

Ja, das Jahr wird denkwürdig bleiben. Der letzte Kaiser des Mittelreiches, der letzte der Sung-Dynastie, Ti-ping das Kind, irrt zwischen den Drachenfelsen des Südens in einer Dschunke mit wenigen Getreuen.

Uns gehört das Reich, uns!

Uns? Wer bin ich? Ein Günstling, ein Allerweltsberater, ein Kaufmann! Wo ist mein Amt?

Mein Amt? Dieser Gedanke, dieser Wunsch meines Ehrgeizes hat derart von mir Besitz ergriffen, daß seine Erfüllung für mich durch nichts anderes ersetzbar ist. Und ich war schon so nahe an der Erreichung des Zieles. Wie gütig und verstehend der große Kublai war, als ich ihm zum erstenmal meine Bitte vortrug. Kein Hindernis schien mehr zu bestehen.

Kublai hat mich damals an seinen ersten Ratgeber, den allmächtigen Minister Achmak gewiesen.

Ist es Haß oder Scham, was mich jetzt in der bloßen Erinnerung erbeben läßt?

Gleißnerisch hat er mich empfangen, der Minister. Mit der Geste größter Teilnahme.

Plötzlich das bedauernde Achselzucken und ein hämisch glattes Lächeln:

»Ein Amt, das Eurer Bildung und Eures Ansehens würdig wäre, ist wohl gegenwärtig im ganzen Reiche nicht frei! Zum Verwalter irgend einer Wüstenstadt seid Ihr zu hervorragend, zum Staatsrat viel zu jung!«

Das waren seine Worte. Ich höre sie noch, diese umschleierte, undurchdringliche Stimme. Dann hat er hinzugefügt:

»Ich bin Seiner Majestät verantwortlich für Eure Zukunft und Zufriedenheit. Vertraut mir. Es ist doch auch nicht ganz ohne amtlichen Beigeschmack, Ehrenbegleiter Seiner Majestät zu sein!«

Was hätte ich erwidern sollen? Ein Engel bewahrte mich davor, überhaupt zu erwidern. Lag doch in seinen letzten Sätzen eine gefährliche Falle. Er hoffte, ich würde mich zu einer herabsetzenden oder zweideutigen Äußerung über die Würde des Ehrenbegleiters hinreißen lassen.

Kublai hat mich damals enttäuscht, als ich ihm von der Antwort Achmaks Meldung erstattete. Willenlos beugte er sich seinem Abgott und vertröstete mich auf später.

Zu dieser Zeit war China von den Tataren noch nicht erobert.

Gut, ich wartete ab, ob in den neu unterworfenen Reichen die Stelle sich finden würde. Inzwischen stiegen rechts und links von mir die Günstlinge Achmaks auf der Stufenleiter der Macht empor. Mehr als ein Amt wurde besetzt, das mich beglückt hätte.

Alle weiteren Versuche, alle Vermittlungen durch Freunde ebenso fruchtlos. Stets neue Ausflüchte. Jahr um Jahr verstrich.

Vor zwei Wochen endlich das Entscheidendste: Unten bei Achmak in Kambalu. Zuerst endlose Fragen um meine Ansicht über die Eroberung des Mittelreiches und die Ausbeutung seiner Handelsschätze. Als ich schließlich zu einer Wendung ansetzte, die meinen Wunsch ins Gespräch zog, holte ich mir nur eine neue Schlappe. Ämter gebe es sicher in Hülle und Fülle. Auch solche, die mir in allem entsprächen. Auch er, Achmak, könne es nicht leugnen. Jedoch – dieses Grinsen des Dämons treibt mir das Blut zu Kopf – jedoch, hat er weitergehöhnt, wäre es sehr unklug von mir, mich festzulegen und etwas anzustreben, das mich sozusagen in eine Sackgasse führe. Er habe viel Größeres mit mir vor, das dadurch gefährdet werden würde. Nur noch wenige Jahre, dann wären alle Voraussetzungen für dieses Größere gegeben.

Am selben Tage noch erfuhr ich zufällig, daß ich und einige andere tüchtige Männer auf der Liste derer ständen, die niemals in das Gefüge der staatlichen Macht eindringen dürften. »Zu begabt, zu ehrgeizig!« lautet unsere Spitzmarke.

Lassen wir diese Dinge! Vielleicht wird auch Achmak einmal stürzen. Grund hiezu wäre genug vorhanden. Bisher hat nur keiner gewagt, mit Kublai über ihn zu sprechen, keiner war imstande, unwiderlegliche Beweise seiner Verwerflichkeit zu sammeln.

Noch einmal! Ich will mich jetzt lieber selbst prüfen, ob ich wirklich zur Ausfüllung großer Würdenstellen tauge.

Bin ich noch jener zwiespältige Marco Polo, der in seiner Jugend alles mit spielerischem Selbstbewußtsein anging und in kurzem durch die Niederlage über den Grad seiner Bedeutung Aufschluß erhielt?

Nein, der bin ich nicht mehr! Trotz Achmaks Sieg bin ich nicht mehr jenes Kind. Maffios und meines Vaters Schule, die große Welt, die unendlichen Weiten haben mich verwandelt.

Ich bin ein anderer! Entschieden und eingeschworen auf die äußere Tat. Jeder Tag bestärkt mich in diesem Glauben.

Nie wieder wird jenes zerflatternde Schwanken mich lähmen und hindern!

Übermut? Versuchung Gottes?

Nein, mein wahrer Charakter ist erstanden, hat sich durchgesetzt! Die Kälte geglühten Stahles ist in mir und die Härte dieses Metalles. In solchen Erkenntnissen gibt es keine Täuschung. Besonders, wenn auch die schärfste Probe für die Wahrheit des Erkennens zeugt.

Jetzt aber zurück zur Arbeit!

Dieser, eben dieser Arbeit, muß neue Gunst Kublais entspringen. Der Khan der Khane ist gerecht, er läßt sich nichts schenken.

Ah! Wer kommt da?

 

Zwei Männer standen in ehrerbietiger Haltung vor Marco Polo, der sich herumgedreht hatte und mit hartem Blick die Meldung erwartete. Gegensätze, wie man sie kaum erdenken konnte. Straff und soldatisch der eine. Nach Tracht und Abzeichen ein junger tatarischer Edelmann. Biegsam, lächelnd, schmaläugig, glatt der andere. Ein Katajer, vielleicht ein Beamter, ein niederer Mandarin.

»Wir bringen Euch das Gehalt, hoher Herr!« sagte schlicht der Tatare. »Verzeiht, daß wir nicht schon gestern kamen. Der große Minister Achmak ließ sich die Listen vorlegen. Das war die Verzögerung!«

Marco Polo blickte erzürnt auf. Wozu noch einmal die Listen prüfen? Was wollte Achmak wieder?

»Hier ist die Summe, hier die Quittung!« Der Chinese legte das Bündel Geldscheine unter zahllosen Verbeugungen auf den Tisch.

»Im papierenen Gelde?« Marco konnte ein böses Lächeln nicht ganz unterdrücken. Also Achmak zahlte entgegen der Versicherung Kublais die Gehälter in diesem sonderbaren, nie dagewesenen Gelde? Und er nahm die wohlbekannten gedruckten Zettel aus schwarzem Maulbeerpapier, von denen sich das Siegel leuchtend rot abhob. Ein flüchtiger Blick in die Quittung. »Ein Zehntel fehlt! Wer hat's gestohlen?« Marco brauste auf.

Hilflos sah der Tatare auf den Chinesen.

Neuerliche Verbeugungen des Schlitzäugigen. Dann schnell und betont:

»Niemand, hoher Herr, niemand! Lest die Erklärungen, die der Quittung beigefügt sind! Es ist eine Auflage, eine Sammlung aller Reichsbeamten. Seine Majestät, der größte Khan, soll zum nächsten Geburtstag von allen Beamten und Würdenträgern ein Geschenk erhalten, wie es die Erde noch nicht sah. Achmak selbst wird es kaufen und übergeben. Damit aber Seine Majestät nichts vorher erfährt, müssen die vollen Quittungen unterschrieben werden ...«

»Ich verstehe!« Marco Polo lachte grimmig auf. »Wer den Mund nicht hält, begeht Majestätsverbrechen!«

»Eine Elefantenladung Gold und Perlen soll es sein ...« Der Tatare versuchte, die Form zu wahren.

Der Chinese grinste versteckt. Dann ernst und formell:

»Wir danken, hoher Herr! Habt ihr weitere Befehle?«

Marco winkte die beiden fort.

 

Achmak, das traurigste Kapitel des großen Reiches! Was mochte den armen Teufeln abgezogen worden sein, die nicht Günstlinge Kublais waren? Eine teuflische Erfindung, dieses papierene Geld. Todesstrafe auf Nichtannehmen! So sog der Eroberer den Reichtum des Landes an sich. Alchimie! Aus Papier wird Gold! Ihn selbst schädigte es ja weiter nicht! Morgen konnte er in Kambalu Edelsteine oder Seiden um das Gehalt kaufen. War doch auch sein Vermögen in diesen Jahren so sehr gewachsen, daß das Gehalt nur eine Zugabe bedeutete. Wer würde es wagen, die Geldscheine des Günstlings, des großen Marco Polo, zurückzuweisen? Versuche es einer! Morgen der Henker! Nein, er würde keine Anzeige machen. Achmak ließ genug jammervolle Menschen über die Klinge springen.

Ist er ein Tatare? Nein, auch er ist ein Fremder, ein Sarazene. Achmed nennen ihn seine Landsleute.

Und Marco Polo blätterte fieberhaft in seinen Aufzeichnungen zurück.

Ah, hier ist es: »Jerusalem, gelobtes Land, heiliges Ol, der alte Prophet, Kreuzfahrer, Assassinen, Mose ben Maimun!« Ja, jetzt ist mir wieder alles gegenwärtig!

Er lehnte sich zurück und sog den süßen Duft der Blumen und Koniferen ein. Weit draußen auf einer Vorkuppe flirrte plötzlich die Glasur einer hohen Pagode auf, daß sie weißglühend erschien.

Sein Geist aber vergaß die Umgebung und sprang zehn Jahre zurück. Zehn Jahre, an denen wohl kein Tag unausgefüllt geblieben war von Wunderbarem und Gefahrvollem.

Im Hospiz der Kreuzritter zu Jerusalem hatte das Erlebnis begonnen.

Mit Maffio und Nicolo war er eingeladen worden. Sie waren in einem niederen, schmucklosen Saale gesessen.

Ein langer Tisch. Enrico drüben bei den Knechten und Knappen. Hohe Zinnhumpen voll starken Weines. Alle Sprachen des Abendlandes schwirrten durcheinander. O, diese Antlitze, die als schmales Oval aus den Kettenhauben blickten. Sonnverbrannt, narbenzerrissen. Wie von Falken und Adlern die Nasen. Harte Furchen unerbittlichsten Willens. Dunkelglimmende Augen voll Verbissenheit und Gottbegeisterung.

Der Wein löste die Zungen.

»Heilige wollen unsre Könige werden! Nichts leichter als das. Man schmeißt die Blüte der Ritterschaft in den glühenden Sand, läßt einen Ritter gegen hundert Ungläubige fechten, betet Sonntags in Paris für den Sieg der gerechten Sache. Parbleu!« Der französische Ordensritter hieb mit der Faust auf den Tisch.

»Recht, sehr recht!« Ein Ungar mit starken Backenknochen nickte. »Und die Tataren fallen inzwischen in unser Land.«

Sie wurden unterbrochen. Ein großer Deutscher, über und über bestaubt, war eingetreten, hatte den bunten Schild an die Wand gelehnt und sich schwer hingesetzt. Jetzt starrte er mit sonderbar fernen, versunkenen Augen vor sich hin und trank gierig einen Becher Weins nach dem andern.

Keiner der anderen Ritter wagte zu fragen.

Marco, verlegen und erstaunt, musterte die Wappenschilder, die allenthalben umherstanden. Rot und weiß und blau und gold und schwarz. Tiere, Balken, Turmzinnen, Halbmonde, Speerspitzen, Sterne, Schwerter.

Plötzlich wandte sich der Deutsche an ihn.

»Wer bist du, Jüngling? Ich sah dich noch nie.« Er sprach lateinisch.

»Ich bin Marco aus dem Hause der Poli. Meine Heimat ist Venedig. Wir sind keine Kreuzfahrer. Wir ziehen zum größten Khan!«

Das allgemeine Gespräch war wieder in Gang gekommen.

Maffio unterhielt sich mit dem Franzosen.

Der Deutsche blickte starr vor sich hin. Plötzlich laut und dröhnend:

»Ich komme eben den Libanon herunter. Fünfzig Ritter sind wir hinaufgezogen. Zehn liegen, zerdroschen und verbunden, oben in unsren Zimmern. Die übrigen...« Er stockte. Dann wild: »Die übrigen düngen die Zedern des Libanon!« Ohne sich um das Entsetzen der anderen zu kümmern, leise zu Marco: »Fünf Jahre dorre ich hier schon aus, Fremdling! Fünf Jahre! Weißt du, wie lang das ist?« Mit irrem Lächeln: »Am Rhein habe ich eine Burg. Felder ringsum. In der nahen Stadt bauen sie ein Münster mit himmelragenden Türmen. Ein junges Weib sitzt auf der Burg. Mein Weib! Alles zur höheren Ehre Gottes! In maiorem Dei gloriam! Es muß sein!« Und er sank in dumpfes Brüten und schlürfte gierig den Wein.

Bevor noch Marco, den der Ton der Worte tief erschüttert hatte, sich eine würdige Antwort zurechtlegte, entstand eine starke Bewegung beim Eingange. Gedränge. Bleich und feierlich ein gewappneter Diakon.

Der Lärm der Gespräche verstummte auf ein gebieterisches Zeichen des Priesters.

Schon klangen Worte durch den Raum, Worte, die so groß und zukunftschwer waren, daß keiner sie mit dem Verstande auffaßte. Nur die Herzen wußten sofort den Sinn.

» Gaudium magnum vobis annuntio!« Der Diakon hob beide Hände wie segnend zur Höhe. »Ich verkünde euch die große Freude!« » Papam habemus!Eminentissimum et reverendissimum Tebaldum Vesconti di Piacenza, qui nomen sibi imposuit Gregorius Decimus!« Die Christenheit hatte den Papst! Endlich wieder der Stellvertreter Gottes auf Petri Stuhl! Und wer? Der Name war es, der das Herz der Ritter fast stillestehen ließ. Tebaldo Vesconti! Unser Legat! In Acre saß der Papst. Er, er, der uns getröstet, geführt, die ganzen furchtbaren Leidensjahre.

Auch über den Leib der Poli rieselten Schauer der Begeisterung und Freude. Offen der Weg nach dem Osten. Endlich frei! Er selbst würde ihnen die Wünsche des großen Kublai erfüllen, er selbst, ihr Freund, ihr Berater!

Noch einen Herzschlag lang Schweigen.

Dann brach es los. Keine düstere Miene mehr, kein Hohn, keine Bitternis!

»Habemus Papam!« »Wir haben einen Papst!« »Vesconti di Piacenza!« »Heil Gregor dem Zehnten!« »Jetzt zittert, Ungläubige!« »Er kennt den Feind!« Und traumschnell, gleichsam aus allgemeinem, unausgesprochenem Willen, klirrten die Rüstungen von den Sitzen. »Hinaus! Knappen, bringt Fackeln! Zum heiligen Grab!«

Wenige Augenblicke später dröhnte schon der Zug durch die nachtdunklen Straßen Jerusalems.


Marco Polo war plötzlich aus seinem Traum gerissen worden. O, das Ereignis kam erst. Warum jetzt gerade die Unterbrechung?

Schon wieder die tonlose Stimme eines seiner chinesischen Diener. War das die Ruhe? Er hatte Mühe, die Worte aufzufassen.

Plötzlich volles Begreifen. Fast leises Erschrecken. Ein Name war gefallen.

»Tschang-li-sun? Was sagst du da?« Marco Polo sah auf den Diener, der vor ihm bis zur Erde gebückt seine Kotaus machte und eine zierlich geschriebene Karte auf einer Silberschüssel vor sich niedergestellt hatte.

»Seine Exzellenz übersendet dem hohen Herrn seine Karte. Er wird sich erdreisten, sagt er, Euch heute bei Einbruch der Dämmerung mit seinem Besuch zu belästigen. Er würde es nie gewagt haben, wenn nicht dringende Angelegenheiten...«

»Gut! Geh! Die Karte gib mir!« Marco blickte auf die Schrift, während der Diener entschwand. Es war kein Irrtum. Tschang-li-sun, einer der weisesten Minister des gestürzten einheimischen Sung-Kaisers, wollte mit ihm sprechen. Wieder Achmak im Hintergrunde? Vermutungen blitzten durch seinen Kopf.

Marco Polo legte die Karte hin. Es ist noch viel Zeit bis zur Dämmerung. Die Erlebnisse in Jerusalem hängen enge mit Achmak zusammen. Ich muß mich sammeln und weiterdenken. Ja richtig, beinahe hätte ich den rätselhaften Talisman vergessen!

Wieder begann er, die Papiere zu ordnen, zu durchsuchen. Jeder Blick erregte neue Erinnerungen. Karakorum, Tibet, Persien, der chinesische Süden. Der große Kanal, der das Land durchschneidet und unter Kublaikhans hartem Willen der Vollendung entgegenschritt. Kriegszüge, Belagerungen, Aufstände. Seltsame Stimmen in der Wüste Gobi. Geister der Wüste, Wahnbilder, die den Wanderer in rieselnden Dünentod lockten. Jetzt verstand er, was sein Vater einst erzählt hatte von der Vision San Marcos.

San Marco! Einen Augenblick erfaßte es ihn und wollte Gestalt werden, wollte sich heraufzwängen, liebend, bittend, flüsternd, von heimatlichster Trautheit und dem Hauch seiner Jugend umweht.

Noch konnte er es ins Unbewußte hinabstoßen. Er blickte wieder hinaus zur Landschaft. Drachenwolken hatten sich auf der Bläue des Himmels geballt. Zackige, rosenfarbene Dschunken segelten über das Firmament. Ihre Schatten liefen unten mit und sprenkelten die Ebene, teilten sie in Felder düsteren Brauns und hellsten Glastes.

Kambalu-Peking war im Dunst versunken.

Ah! Hier der Talisman! Schon oft hat mich seine Kraft in Staunen gesetzt. Schon oft suchte ich mir den Sinn zu deuten. Wozu? Im Osten soll man das Wunder als Natur, das Natürliche aber als Wunder hinnehmen.

Ein Mann aus dem Westen wenigstens soll so denken. Nicht fragen! Rechnen und grübeln bis an die Spitze der geistigen Fassungskraft. Nie aber fragen. Nie den Kreis verlassen, der sich uns als unübersteiglich bietet.

Vielleicht denke ich da Unsinn, Widersprüche! Fragen hier die Weisen etwa nicht? Oder fragen sie anders? Oder ist nur der Gegenstand der Frage ein anderer?

Genug, zurück nach Jerusalem! Zehn Jahre zurück! Achmaks Rätsel will gelöst sein!


Auf der Rückkehr vom heiligen Grabe war es geschehen.

Fahles erstes Morgenlicht. Anbruch eines schwülen Tages. Tiefer Schatten, fast Finsternis noch in den winkeligen Gassen. Geisterhaft leuchteten die Mäntel der Ritter. Weiße Mäntel, das dunkle Kreuz auf der Brust.

Der Zug hatte sich zerstreut. Aus Nebengassen Gesang und Klirren andrer Gruppen.

Marco mit Enrico, Maffio, dem riesigen deutschen Ritter, dem Franzosen und einigen Polen.

Ein enger Durchgang mit hohen Mauern rechts und links. Blitzartige Erinnerung Marcos an den Kampf, die erste Begegnung mit dem nächtlichen Enrico. Vorahnung?

Wieder kam es so plötzlich, daß keiner später sich Rechenschaft geben konnte. Ein heiserer, wilder Schrei des Deutschen. Schon lag er auf den Fliesen der Gasse. Knapp vor ihnen, an die Mauer gedrückt, ein Mann mit langem, weißem Barte. Wie ein Prophet vergangener Zeiten. Abgründige, lodernde Augen.

»Ah! Der Jude dort! Da liegt der Dolch!« Der Franzose bückte sich geschmeidig, hob den blutigen Dolch hoch und wollte sich auf den Greis stürzen.

»Er hat den Schenkel getroffen! Gott sei gepriesen. Er wollte ihn mir ins Eingeweide stoßen!« Der Deutsche röchelte und versuchte mit dem Mantel das Blut zu stillen. Schon breiteten sich schwarze Flecken auf dem Linnen aus.

Der sonderbare Fremde wich nicht von der Stelle. Murmelnd hob er die Hände wie abwehrend gegen den Franzosen.

Maffio kniete mit dem einen Polen an der Seite des Verwundeten und versuchte ihn aufzurichten.

Er selbst aber, Marco, hatte mehr gesehen als alle anderen. Ein Schatten war es gewesen, ein schleichender, geduckter Schatten, der von der entgegengesetzten Seite gegen den Deutschen gestoßen hatte.

»Laßt den Alten! Der Täter ist dorthin entflohen!«

Marco wies mit der Hand in die dunkle Schlucht einer Seitengasse.

»Haut ihn trotzdem nieder!« Der andre Pole sprang neben den Franzosen. »Haut den Juden nieder!« Zu Marco: »Was willst du, Fremder? Was geht's dich an!« Schon hatte er das Schwert aus der Scheide.

»Er sieht Gespenster!« höhnte der Franzose.

Marco, der im Jagen dieser Zurufe und Ereignisse gleichwohl an seine Wahrnehmung glaubte und den Tod des Unschuldigen hintanhalten wollte, wußte nur mehr ein Mittel: List!

»Enrico, bring ihn in Sicherheit!« zischte er dem Diener ins Ohr. Dann laut: »Wirf den Unhold die Stadtmauer herunter, Enrico! Natürlich war's der Jude!«

Eben hatte der Pole, der sich an dem Blick des Opfers noch weidete, zum tödlichen Streich ausgeholt.

Der Deutsche war auf die Füße gekommen und knickte aufstöhnend ein.

Da fuhr Enrico wie ein Panther zwischen die Ritter und den Alten, unterlief ihn, warf ihn wie ein Bündel über die Schulter und rannte mit ihm in eine Nebengasse.

»Schade um eure Schwerter!« sagte Marco kurz zu den verblüfften Rittern. »Der Riese, mein Knecht, besorgt das besser!«

Der Franzose brummte unwillig.

Doch wandte sich sogleich alle Teilnahme dem Deutschen zu, der, von Maffio und den anderen gestützt, langsam weiterwankte. – – –


Zwei Tage später war es gewesen. Sonderbar, wie grell die Ereignisse noch vor ihm standen. Ja, am zweiten Vormittage nach jenem blutigen Überfall. Da hatte ihn ein einheimischer Knabe, der ihm schon längere Zeit gefolgt war und den er schon gestern gesehen haben mußte, in einer menschenleeren Gasse am Gewande gezupft. Er hatte Anschläge gefürchtet und den Knaben hart angefaßt.

Dieser aber sprach lateinisch zu ihm:

»Komm mit mir, o Herr! Der Meister will dich sprechen. Er, den dein Knecht vor den Todesstreichen der Ritter bewahrt hat.«

Er hatte den Knaben losgelassen und überlegt. Eine Falle? Was wollte man von ihm? Er war hier niemandem im Wege. Ich gehe!

Und er war tollkühn gegangen. Zickzack durch stets engere, stets baufälligere Straßen. Hinein in einen Hof an der Stadtmauer. Großes Elend ringsum, Unordnung, Verfall. Ein Kellertor. Hier verband ihm der Knabe die Augen. Plötzlich Moderduft. Die Luft schwer und feucht. Brenzliger Geruch von Fackeln. Er hatte die Hand um den Dolch gepreßt.

Jetzt Treppen. Abwärts, dann hinauf.

Eine tiefe Stimme mit fremdartigem Akzent:

»Nimm die Binde ab, edler Herr!«

Er riß sie von den Augen: Ein weißgetünchtes, weites Gemach. Das erste, was er erblickte, eine große Truhe. Oder ein Schrein. Bedeckt mit einem schwarzen Sammettuch. Wie ein Sarkophag. Mit Gold gestickt das Tuch. Dreimal der sechszackige Stern Davids. Dazwischen Reihen goldener Schrift, ähnlich der, die er in Venedig bei den Juden gesehen hatte. Zwei hohe, siebenarmige Leuchter aus schwerstem Gold auf dem Schreine.

Jetzt gewahrte er erst den Sprecher. Der weißbärtige Greis mit den abgründigen Augen. Ein funkelndes Priestergewand. Er saß auf einer Art von Thron.

»Ich habe dich zu mir gebeten,« setzte der Prophet mit der tiefen Stimme fort, »um dir zu danken und dich zu segnen!« Abwehrend: »Ich weiß, daß du ein Christ bist! Ich weiß noch mehr. Du bist Marco Polo aus Venedig, ziehst zum Großkhan der Tataren. Furchtbare Gefahren liegen vor dir!« Sonderbar betont und undurchdringlich: »Kehr um, Marco Polo!«

Marco sah ihn erstaunt an. Träumte er? Wo befand er sich? Plötzlich begann sein Mut zu wanken. Er hatte das Gefühl, diesen Ort nie mehr verlassen zu können. Es war Zauber. Vielleicht war dieser Mann doch der Mörder, hatte ihn damals berückt, wollte auch ihn ...

»Der Mordgeselle war ein Assassine, edler Herr! Du hast recht gesehen, als du mich schütztest!« Durchbohrend ruhten die Augen auf ihm.

»Ich verstehe nichts! Entlasse mich wieder, Magus! Oder wer du sonst bist!?« Marco hatte bemerkt, daß kein Fenster den Raum erhellte. Das Licht glitzerte von einer Ampel herab.

»Du mißtraust mir!« Der Prophet begann zu lächeln. »Wer kann dir's verübeln?« setzte er langsam fort. Dann schnell: »Du kehrst nach Venedig zurück, Marco Polo!«

Marco war nicht klüger geworden. Plötzlich bäumte sich der Trotz in ihm auf. Wer hatte ihm Vorschriften zu machen? Bah! Er würde die Gefahren schon bestehen!

»Ich ziehe weiter! Wenn möglich morgen oder übermorgen!« Seine Stimme hatte den Klang harten Willens bekommen.

»Du bist klug, tapfer und unbeugsam!« kam es zurück. Der Greis hatte die Augen geschlossen. »Mein Volk aber, Marco Polo, hat ein gutes Gedächtnis. Ein furchtbares Gedächtnis. Daher ist es rachsüchtig – und dankbar. Ich werde dir von beidem den Beweis geben!« Erwachend, in verändertem Tone: »Iß von den Früchten, edler Herr, laß dich dort in die Polster nieder! Du mußt die Geschichte hören, wenn du nach Osten ziehst. Rache und Dank zugleich! Ich sagte es.«

Marco folgte der Aufforderung.

Der Greis hatte eine Metallscheibe berührt, die leise aufklang.

Im nächsten Augenblick stand ein schönes Mädchen mit glatter Haut und dunklen langbewimperten Augen im Raume, das sich stumm verneigte.

»Schreibe, Berenice, du weißt, was ich will! Sein Name ist Marco Polo!« Das Mädchen hatte sich tief verneigt und war wieder verschwunden.

»Er hieß der Alte vom Berge!« Unvermittelt wieder im tiefen Tone mit abgründigem Blicke. »Irgendwo im Norden, beim Elbrus. Ein mächtiges Königsgeschlecht. Eine sarazenische Sekte. Wilde Streiter ihres Glaubens. Letztes Ziel, alle Andersgläubigen zu vernichten. Assassinen hieß das Volk. Sie zogen hinaus in alle Lande Asiens. Nach Indien, nach Persien, nach Baktrien, her ins heilige Land, nach Ägypten. Wo ein Assassine auftauchte, dampfte Blut zum Himmel. Sie sind vernichtet! Wir haben sie vernichtet, wir! Wenn auch unser Arm der Khan der Tataren war. Sie mußten fallen! Denn sie waren die Geißel alles Großen, alles Erhabenen. Nicht nur die edelsten Kreuzritter waren ihre Opfer. Auch er, er, die Hoffnung unsres Volkes, der Führer der Verirrten, er, Mose ben Maimun, der erhabene Philosoph, verblutete unter den Hufen eines Assassinenrosses; er, der alle Weisheit aus den hohen Schulen Spaniens gebracht, der unseren Brüdern in Ägypten Leuchte und Stütze war.« Hart und wild: »Mit diesen Händen habe ich ihn am See Genesareth begraben! Tot ist der Führer! Wir irren weiter auf der Erde umher. Sein Werk aber wird leben!«

Eine Pause war entstanden. Marco beobachtete mit Staunen dieses Antlitz. Wieder verlor er das Gefühl, daß sich Wirklichkeit begab.

Das Mädchen war hereingeglitten. Sie hatte ein Pergament auf den Schoß des Propheten gelegt. Dann zu Marco, dessen Hand sie ergriff und hauchfein küßte:

»Du hast ihn gerettet! Jehovah schütze dich!« Errötend huschte sie hinaus. Der Greis aber lächelte milde:

»Es ist meine Enkelin, edler Herr! Und meine Schülerin in den Wissenschaften. Alle werden dich lieben für ewig, die von deiner Tat erfuhren!« Plötzlich wieder verdüstert: »Und jetzt das Geheimnis der Assassinen! Höre!« Betont und langsam: »Ich sprach schon von den Gebirgen, in denen das Volk hauste. Einer von den Königen, es ist Jahrhunderte weit zurück, ließ in einem unzugänglichen Bergtal Gärten anlegen und Schlösser. Brunnen, aus denen Milch floß und Quellen von Honig. Hunderte schöner Mädchen, gebunden durch gräßlichen Eid, bewohnten die Schlösser und Gärten. Die Jünglinge aber, die dem Könige durch Mut und Kraft hervorzuragen schienen, zog der König, der Alte vom Berge, wie er sich nannte, an seinen Hof. Als sie reif geworden waren für seine Zwecke, lehrte er sie die Lehren des Koran und verhieß ihnen schon im Leben den Vorgeschmack der Paradieseswonnen. Er hielt Wort. Haschisch und andre Mittel versetzten den Erkorenen in tiefen Schlaf. Stumme Sklaven brachten ihn hinauf ins Wunderschloß. Und dort erwachte er. Brunnen, die Milch gaben, Quellen von Honig, singende, willfährige Mädchen. Nur Himmel über sich, Schönheit und Freude im Umkreis. Wenige Tage später wieder der Schlaftrunk. Zurück zur Erde. Wähnst du, Marco Polo, daß einer zweifeln konnte an dem, was er mit Augen gesehen? Schal erschien ihm das Diesseits, keine Tat mehr zu kühn. Ewiges Jenseits aber winkte denen, die für den Glauben starben. Und der Alte vom Berge bezeichnete die Opfer. Hunderte Jünglinge drängten sich zur Ausführung.« Dumpf: »So fiel der Graf von Montserrat, so fiel Maimonides, so fielen alle die Unzählbaren.«

»Und es leben noch Assassinen?« Marco konnte die Frage nicht zurückhalten.

»Du sahst selbst einen, auf dessen Spur ich war. Ich wollte die Kreuzritter warnen. Er ist entkommen. Gut! Man wird ihn zu finden wissen!« Mit erhobener Stimme: »Der Stamm aber ist zerstört, das elende Scheinparadies liegt in Trümmern, das Volk ist ausgerottet. Wir lieferten das Geheimnis, das wir erforscht hatten, an den Khan der Khane und befreiten Asien von der Mordpest!« Er machte eine lange Pause. Dann steinern: »Marco Polo, ich segne dich im Namen des einzigen Gottes! Nimm dieses Pergament. Vielleicht kann dir einer meiner irrenden Brüder einmal vergelten, was du mir tatest. Eines höre noch, denn du mußt jetzt gehen: Zertrümmert, hat sich der Stamm der Assassinen furchtbar gerächt, wie die sterbende Viper noch vergiftend den Fuß sticht, der sie zertrat.« Laut und dröhnend: »Achmak, wie sie ihn nennen, Achmed, der Assassine, ist oberster Rat und Beherrscher Kublaikhans! Durch ihn morden die Erschlagenen weiter, was groß, was edel ist auf dieser Welt. Er selbst aber scheint unangreifbar in seiner satanischen Klugheit!« –

So hatte das Gespräch geendet. Nie wieder hatte er, Marco Polo, etwas vom Propheten gehört. Und auch heute noch würde er an einen Traum geglaubt haben, wenn nicht der Talisman auf seinen Reisen schon mehr als einmal seine Wirkung getan hätte. Doch selbst die, die ihm geholfen hatten, konnten ihm keinen Aufschluß über die Person des rätselhaften Propheten geben. Es lebte einer, der das heilige Siegel verwahrte! Das war alles, was ihm einmal stockend einer der Helfer verraten hatte.

Noch für kurze Zeit vertiefte sich Marco Polo in die Aufzeichnungen. Dann drehte er sich scharf herum. Denn es war ihm plötzlich, als ob ein Blick auf ihm ruhe.

Er hatte sich nicht getäuscht. Nur hatte er alles andre eher vermutet als das Bild, das sich jetzt seinem Staunen darbot.

Wenige Schritte von ihm entfernt kniete ein Mädchen, die Augen fest auf ihn gerichtet, die Arme leicht gebreitet, daß die weiten Ärmel sich ein wenig zurückschoben und die zierlich gespreizte Haltung der Fingerchen sichtbar ward.

Unbeweglich wie eine Skulptur. Über alle Maßen schön und lieblich. Fast weiß der Teint des Antlitzes. Keine Spur von Schminke. Wie Elfenbein schimmerte die Haut oder wie zartestes Porzellan. Ein winziger kirschroter Mund. Hohe, in edlem Bogen geschwungene Brauen wie Tuschlinien. Und das tiefschwarze Haar in der Mitte gescheitelt und in weichen Wellen über den Ohren gebauscht. Blumengestickt die Seide des Obergewandes, das an der Seite mit einer Schnalle aus Gold und Perlmutter gehalten war.

Ein kindlich süßer, doch vergeistigter Ausdruck der schmalen, nur leicht nach beiden Seiten ansteigenden Augenmandeln.

Er versenkte sich wortlos in den Anblick und wünschte gar nicht, durch eine Frage das Bild zu zerstören.

Nie hatte er das Mädchen noch gesehen. Wer war sie? Was wollte sie? Liebe, Mord, Ausspähung, Fürbitte? Alles war gleich möglich, gleich wahrscheinlich. Herrliche Buntheit des Ostens! Er begann zu träumen.

Noch immer rührte sie sich nicht.

Jetzt sah er ein untrügliches Zeichen. Sie entstammte vornehmster Familie. In ihren Haaren blitzten zwei Suinadeln, das Schriftsymbol des »langen Lebens« über dem Edelsteindrachen. Nur der kaiserliche Palast verlieh solche Nadeln. Sein Vater hatte selbst eine für seine Sammlung erworben und hielt sie als unschätzbares Kleinod.

Er stand auf. Er mußte sie begrüßen. Und er verneigte sich ehrerbietig, wie es die Form vorschrieb.

Sie berührte mit der Stirne den Boden. Dann saß sie in der früheren Haltung und sah ihn noch traulicher, noch bittender an.

»Wie fandet Ihr den Weg zu mir, ehrenwertes Fräulein? Womit kann ich Euch dienlich sein? Steht doch auf und geruht auf einem dieser Stühle Platz zu nehmen, wenn sie Euch nicht zu schlecht sind!« Er bemühte sich, seinen Worten die leise Färbung chinesischen Zeremoniells zu geben.

Sie lächelte. Dann stand sie plötzlich auf den Füßchen, daß die roten Schuhspitzen sichtbar wurden. Wie es geschehen war, hatte er nicht wahrgenommen.

Ein jähes Unbehagen überkam ihn, als er den leichten Bambusstuhl zurechtrückte. Nein, er wollte nicht hinsehen. Trotz vieljähriger Gewöhnung haßte er das schwankende Trippeln der vornehmen Chinesinnen, denen man die Füße verkrüppelt hatte.

Sie machte zwei Schritte. Aufrecht und gerade, wenn auch das Unterkleid ihr nicht gestattete, auszuschreiten.

Vor Freude über das Unerwartete, lächelte jetzt auch er. Und konnte sich nicht zurückhalten, etwas zu scharf ihre Schritte zu beobachten. Sie deutete es aber falsch. In müdem, enttäuschtem Tone sagte sie, während sie sich niederließ:

»Ihr verspottet mich wohl, edler Herr, weil ... Nun, weil ich solch plumpe, große Füße habe!«

»Verzeiht, daß ich so frei mit Euch spreche. Aber eben die Form Eurer Füßchen gefällt mir hundertmal besser als die künstlichen Mißgebilde Eurer Geschlechtsgenossinnen, wie sie einem hier täglich die Augen martern!«

»Ihr seid höflich!« Ein wenig Mißtrauen zuckte über die glatten Züge. »Nun gut, wir wollen annehmen, daß in der Muschel Eurer Liebenswürdigkeit auch eine kleine Perle von Wahrheit schlummert!« Sie sah zu Boden.

Marco hatte inzwischen die Papiere zusammengeschoben und in die Kassette gelegt. Jetzt schloß er den Deckel.

»Darf ich Euch Tee und Früchte bringen lassen?«

»Ich danke Euch, ehrenwerter Herr! Ich bin Euch noch zwei Antworten schuldig.« Sie blickte ernst und traurig auf. Dann schnell: »Zuerst: Den Weg hieher fand ich durch List und Verrat. Eine meiner Dienerinnen ist die Base einer der Euren. Was meinen Wunsch betrifft, so bitte ich Euch um Schutz bis zur fünften Nachtwache. Meinen Namen darf ich Euch nicht nennen. Auch alles andre muß Geheimnis bleiben. Gefahren wird Euch meine Anwesenheit kaum bringen. Eher das Gegenteil. Großes Leid umgibt mich.« Mit einem dunklen Blick, in dem heißes, angstvolles Flehen lag: »Darf ich Euer Gast sein, edler Herr, bis zur fünften Nachtwache?«

Was hieß das? Warum kam sie zu ihm? Gab es unten in Kambulu keinen sicheren Ort mehr? Ein Gedanke! Wieder Achmak?! Sie war schön, so schön, wie er noch kein Mädchen in Kataja gesehen hatte. Stellte ihr der Unersättliche nach? Sie hätte sich ja verbergen können hier oben in den Pavillons, die nie ein Mensch betrat, wenn ihr die Base der Dienerin half. Leichter wäre sie in solch einen Gartenpavillon gelangt als hieher zu ihm. Nie hätte er etwas erfahren, wenn sie bei Morgengrauen wieder geflohen wäre. Sie überschätzte vielleicht seine Macht. Wollte sie ihn zum Bundesgenossen gegen Achmak?

Unentwirrbar! Noch schwang ihre letzte Frage durch die rosenfarbene Nachmittagsluft. Er mußte antworten. So sagte er: »Es wird mir eine Ehre sein, Euch in meinem elenden Heim für leider nur so kurze Stunden Obdach zu gewähren!«

»Ihr werdet es nie bereuen, daß Ihr barmherzig gegen mich wart, wie die tausendarmige Göttin Kuan-yin. Ich will nicht weiter Eure tiefen Gedanken mit meinen unwesentlichen Angelegenheiten stören!« Sie machte Miene still aufzustehen.

»Wollt Ihr nicht noch bleiben und mit mir über Blumen und Gedichte plaudern?«

Zögernd stimmte sie zu.

Ein anregendes Gespräch kam in Gang. Marco hatte alles andre vergessen. Ein einziger Gedanke war in den Mittelpunkt seines Sinnens getreten: Er wollte sie prüfen. Wollte ihre Seele hervorlocken. Denn plötzlich hatte es ihn mit Urgewalt erfaßt. Das Bewußtsein, daß er seit der Abreise aus Venedig keinem Weibe begegnet war. Seelisch Einsam standen Francesca und Melissa in seiner Erinnerung.

Stets hatte er alle Gedanken an die Frau durch die Wirklichkeit des Weiblichsten, den Sinnenrausch, niedergekämpft. Tausend Weiber sollst du besitzen! Verheißung Satans! Hatte er tausend besessen? Er wußte es nicht.

Die leise Stimme neben ihm formte eben ein Gedicht Li-tai-pes.

Lieblich
Hell erhebt sich
Aus des Sees Mitte
Ein Haus, nach Chinesen-Sitte
Aus Porz'lan in grün und weißen Stücken.
Dorthin führen kühngeschwungne leichte Brücken.
Gleichend ganz des Tigers braun und gelb gestecktem Rücken.
Lustig zechende Genossen, die so bunte Kleider tragen,
Trinken klaren lauen Wein aus Tassen in des Herzens Wohlbehagen,
Plaudern fröhlich, schreiben süße Verse, die erblühten tief in dem Gemüt«,
Stülpen rückwärts ihrer seidnen Kleider Ärmel und vom Haupte fallen ihre Hüte.
Aber in des Wassers leichtbewegten, weiten, wonnigen, schwanken Spiegelwogen,
Gleichet einem Halbmond nun der Brücke umgekehrter leichter Bogen,
Und man sieht die lustig zechenden Genossen, all die bunten,
Fröhlich plaudernd sitzen dort, das Haupt nach unten.
Und das Lusthaus selber auf des Felsens Rücken,
Aus Porz'lan in grün und weißen Stücken,
Aufgeführt nach Väter-Sitte
In des Sees Mitte
Abwärts senkt sich
Lieblich.

Wie wonnig war es, wieder neben einem Wesen zu sitzen, das selbst dachte, selbst unerschöpflich neue Anregung, neue Ausblicke in dämmrige Fernen verklärter Seligkeit hervorzauberte.

Ihre Worte erläuterten das Gedicht, schmückten es aus, verflochten es mit der Umgebung. Eine Silberspange nannte sie es, die Dichtung und Malerei verbände ...

Ja, Sklavenmarkt! Das war der Inhalt all der Jahre gewesen. Er hörte nur mehr wie durch Schleier ihre Sätze.

Zu grell stand es vor ihm, das grausige Symbol. Eine der Rettungen durch Maffio. Schwermütig war er geworden, als sie in Persien für Monate festsaßen. Zu stark aufquellende Reue und Sehnsucht nach Francesca. »Du brauchst Ablenkung!« hatte Maffio beschlossen. Hin zum Menschenmarkt. Auf dem Dach eines riesigen Hauses. Jammervolles Knäuel von Leibern aller Hautfarben. Verängstigte Augen. Müdes Ergeben. Blutige Striemen. Barsches, mitleidloses Gebrüll. O furchtbare Schande! Er selbst war dagesessen, er, der Christ, der Abendländer. Lässig, in Pfühle gelehnt. Und man hatte die zitternden, nackten Mädchen herangeführt, die sich wanden und ihre Blöße in hoffnungsloser Angst zu bergen suchten. Anpreisung, Schaustellung, Betastung. Dann hatte man gefeilscht. Gottes Ebenbild zum Tiefsten erniedrigt. Und es hatte ihm wohlgefallen. Und er hatte über Maffios Späße gelacht. O, die Sonne hatte so heiß gebrannt und sein Blut hatte getobt.

»Ich ermüde Euch!?« Ängstliche Frage des fremden Mädchens, das den abwesenden Blick Marcos bemerkte.

»Verzeiht, eine böse Erinnerung! Nein, sprecht weiter, nur weiter. Laßt Euch mein Wesen nicht anfechten, edles Fräulein! Ihr labt mich mit Euren Worten wie einen Verdurstenden.«

Sie lächelte und schwieg. Er merkte es nicht. Denn wieder hatte es ihn zum Sklavenmarkte zurückgetrieben: So, jetzt sind die zwei Mädchen gekauft. Weiß die eine wie Marmor, dunkel die andre und großäugig. Wir nehmen sie mit nach Hause. Sie gehören mir. Ganz mir. Keiner fragt, was ich mit ihnen vorhabe. Nein, Mädchen, es war nicht so schlimm! Ihr fühltet euch leidlich wohl in meinen Armen. Später sogar liebtet ihr mich, rauftet euch gegenseitig an den Haaren aus Eifersucht. Es war ein Spaß. Ich verheiratete euch, als ich satt war. Schenkte euch die Freiheit und noch Geld dazu. Was wolltet ihr mehr? Mütter seid ihr jetzt, Hausfrauen, gewöhnliche Weiber wie alle.

O, albern wart ihr, so albern! Das Weib hat keine Seele, sagt der Prophet. Bei euch stimmt es.

Sklavenmarkt! Ja, das ist das Sinnbild für die zehn Jahre. Gastgeschenk: Mädchen! Empfang in fremden Städten: Mädchen! Eroberung von Festungen: Mädchen! Gelage, Kriegszüge, Hofleben, Steppenreisen, hier oben in den Pavillons: Mädchen, Mädchen und wieder Mädchen!

Nur mehr nach äußeren Kennzeichen wie Edelsteine, wie Krämerware, wie Pferde habe ich gelernt sie einzuschätzen. Ich leugne nicht die tausend holden Nächte, die Unbeschwertheit, die schäumende Lust ...

»Sagt mir noch ein Gedicht! Eure Stimme ergreift mich so seltsam, erinnert mich an vergangene Zeiten in Ländern, die ferner sind, als Ihr denkt!« Er hatte unwillkürlich nach ihrem zarten Händchen gegriffen und es umpreßt.

Sie zuckte in jähem Schreck zusammen.

Da tönte eine rauhe, pathetische Stimme hinter ihnen auf der Terrasse:

»Ist ein Wort gestattet, edler Herr Marco Polo? Oder seid Ihr zu sehr in Anspruch genommen? Es handelt sich um einigermaßen wichtige Gegenstände!«

Beide wandten sich um. Die Katajerin hatte die Worte nicht verstanden, nur den Ton des italienisch Gesprochenen gefühlsmäßig erfaßt.

In Marco aber flammte Zorn empor. Er wußte, was folgen würde. Und er sah dem Sprecher nicht eben allzu freundlich entgegen.

Der aber stand starr auf der untersten Stufe der Treppe. Eine hohe Gestalt in schwarzer Soutane. Harte, graue Augen unter zusammengewachsenen Brauen. Eine etwas stumpfe, breite Nase. Senkrechte Falten furchtbarer Willenskraft vom Jochbein die Wangen abwärts. Der Mund kaum eine Linie oberhalb des knochigen Kinns.

Er hielt mit der Rechten das silberne Brustkreuz, das an einem Rosenkranz aus großen, dunklen Holzperlen hing.

»Tretet näher, hochwürdiger Fra Bartolomeo! Habt Ihr ein Anliegen?« Marco Polo zwang sich zur Wahrung der Form.

»Ja und nein!« Nach einem hassenden Blick auf die Chinesin: »Ich hoffe, Ihr werdet mir nicht zumuten, in Gegenwart dieses Frauenzimmers zu plaudern. Schickt sie fort, sonst gehe ich!«

»Wozu dieser barsche Ton, hochwürdiger Bruder? Es ist eine Frau der höheren Stände, die meinen Schutz suchte. Ich bin nicht gewillt, sie zu beleidigen!«

»Nur mich, ich verstehe! Nur mich wollt Ihr beleidigen!« Höhnisch: »Wann darf ich in Audienz erscheinen?«

Statt einer Antwort erhob sich Marco und schlug dreimal gegen einen Gong, daß der Ton durch den Hain schwang. Dann schnell zur Chinesin, die aufgestanden war und sich zum Fortgehen anschickte:

»Mein vertrautester Diener wird Euch hinauf ins Landhaus geleiten. Dort wird alles zu Eurer Bequemlichkeit vorgekehrt werden!« Zum Priester: »Es ist für Euch Platz gemacht. Ich erwarte mit Spannung Eure wichtigen Angelegenheiten!« Und er wies mit kalter Höflichkeit auf einen der Stühle.

»Ich ziehe es vor zu stehen!« Fra Bartolomeo war um einige Schritte nähergekommen und wippte ungeduldig mit dem Brustkreuz.

Bevor noch Marco antworten konnte, kam Enrico über die Stiege herabgelaufen. Mächtig und sprungbereit wie vor zehn Jahren.

»Ihr befehlt, Masser?«

Marco gab ihm kurze Weisungen. Er fügte venezianisch den Auftrag hinzu, das Mädchen unauffällig zu überwachen, da es sich anscheinend um Politica handle.

»Noch schöner!« warf Frau Bartolomeo achtlos im Predigertone ein.

Die Chinesin verneigte sich nach strengstem Zeremoniell vor Marco, hierauf vor dem Priester, der ihren Gruß überhaupt nicht erwiderte. Dann schritt sie, vorgeneigten Kopfes, mit kurzen aber sicheren Schritten voran und erachtete es als selbstverständlich, daß Enrico ihr erst in einigem Abstande folgte.

Marco konnte nicht mehr an sich halten:

»Auf diese Weise werdet Ihr den Osten nicht zum Christentum bekehren!« sagte er scharf.

Der Priester trat einen Schritt näher, ließ das Brustkreuz fallen, daß es hin und herschwang, und blickte Marco Polo verächtlich und hart in die Augen:

»Ihr denkt wohl, mein Verehrtester, ich solle den Osten in Eurer Weise erobern, indem ich wahllos die Heiden anstaune und mich mit den Weibern in sündiger Umarmung vermische?!«

»Das geht zu weit! Ich verbitte mir bei allem Respekt vor Eurem Gewande solche Ausfälle!« Marco hatte es mehr ungeduldig als böse hervorgestoßen.

»Verbitten? Gut, ich weiß, Ihr seid der große Herr, der Günstling Seiner Majestät, des obersten Heiden!« Weiter in pathetischem Tonfall: »Ich sehe die Sache nach göttlichem Rechte anders. Ich bin hier im Osten kraft päpstlicher Vollmacht der Stellvertreter des heiligen Vaters, Ihr seid ein katholischer Christ und ein Laie. Ich bin für das Heil Eurer Seele verantwortlich. Mehr noch aber für all das, was Ihr im Namen und im Dienste der Religion hier in Bewegung setzt. In diesem Rechte lasse ich mich nicht beschränken!« Überlaut und anklagend: »Noch einmal! Ihr treibt Unzucht, Marco Polo, Unzucht mit Heidinnen! Ihr habt zudem keinen Bekennermut! Ihr paktiert, windet Euch, verfolgt persönliche Ziele, seid ein Ehrgeizling, spielt mit Heiligstem wie ein Brettspieler mit seinen Steinen ...«

»Seid Ihr zu Ende?« Marco lächelte mit weltmännischer Gewandtheit. Er kannte Fra Bartolomeo. Stets dasselbe. Ein guter, ein aufrechter und treuer Mensch. Gebildet, fast weise. Aber nichts von Schmiegsamkeit, keine Spur der Sanftmut einer Taube und der Schlangenklugheit, wie es in der Schrift stand. Im Gegenteil. Wild wie eine Giftschlange und einfältig wie die Taube, wenn das große Leben herantrat.

»Wie Ihr wollt!« Der Priester hatte sich gesetzt. Auch er kannte sein Gegenüber, wußte, daß dieses Lächeln Marcos endgültiger war als die gröbste Ablehnung.

»Unser Zweck ist der gleiche, die Wege sind es, die uns trennen. Am Ziel werden wir uns in Eintracht treffen!« Marco hielt den Augenblick für geeignet, einzulenken.

»Das geht über meinen Verstand, wie Ihr derlei behaupten könnt! Wo sollen wir uns treffen? Sagt mir wo?« Ohne eine Antwort abzuwarten, wieder im Tone einer Litanei: »Ich habe Aristoteles studiert und Plato, den heiligen Augustinus, Franciscum von Assisi. Roger Baconem und Duns Scotum. Ciceronem nicht zu vergessen. Alles zu wenig, um Euch zu begreifen!«

Marco lächelte in aufquellender Heiterkeit:

»Sehr recht, daß Ihr Plato zitiertet, hochwürdigster Bruder! Seht, in seiner Respublica sollen doch die Philosophen Herrscher sein. Oder nicht?«

»Worauf spielt Ihr an? Wollt Ihr vielleicht gar dieses Reich der Mitte...?«

»Das will ich! Hier herrschen die Philosophen! Eben diesen Vergleich wollte ich machen!«

»Der Vergleich hinkt! Ich leugne ihre Klugheit nicht, ebensowenig wie ich bestreiten kann, daß die Meister der gelben Lehre schlaue Köpfe sind. Ihr versteht. Ich meine die Mönche von Tibet. Aber es ist keine Philosophie! Gewundene Spitzfindigkeit des Teufels, Aberglaube, Unmoral! Solche Philosophen wollte Plato nicht, obwohl er ein Heide war.« Fra Bartolomeo faßte sein Gegenüber schon wieder drohend ins Auge. Die Schlußfolgerung auf dessen eigene Moral schien er sich noch aufzusparen. Er begann neuerdings mit dem Brustkreuz zu wippen.

»Kennt Ihr die gelbe Lehre? Ich war im Kloster Potala viele Tage zu Gast. Und ich versichere Euch, es wäre Euch schwer gefallen, die Regeln Buddhas vom Christentum zu unterscheiden!«

»Was? Wie?« Bartolomeo fuhr entsetzt auf. »Was sagt Ihr da?« Mit einem klagenden Blick gegen Himmel: »Umstrickt! Verzaubert! Behext!« Starr: »Ihr seid auf dem Weg zur Verdammnis, Marco Polo!«

»Darf ein Christ nicht gerecht sein?« Marco war sichtlich gereizter, da ihn das Pathos ermüdete.

»So gerecht, daß er Vielgötterei mit der einzig wahren Lehre auch nur zu vergleichen wagt, darf er nicht sein!« Plötzlich stöhnend: »Was soll ich hier tun? Selbst ich bin schon in kurzen Augenblicken irre geworden! Marco Polo hört nicht, was ich sage! Ich wähnte sie unwissend, die Heiden! Sie sind es nicht, sie sind es nicht!« Verändert und aufbrausend: »Was rede ich? Der Teufel ist es, der Satan, der aus den Drachenfratzen und Masken, aus Wald und Berg grinst. Apage Sanatas! Apage Sanatas!

Marco Polo war erschüttert. Schon wollte er antworten, als ein Fausthieb auf das Tischchen dröhnte:

»Ich will sie nicht verstehen! Ich darf sie nicht verstehen!« Bartolomeo hatte sich erbleichend abgekehrt.

In Marco aber, dessen Seele durch den Zwiespalt des Priesters in Bewegung gekommen war, tauchte sogleich wieder die Chinesin auf. Und er umkreiste in schnellen Gedanken ihr Geheimnis. War es das Geheimnis, das ihn anzog? Genug! Er mußte dem Bruder helfen.

»Ihr kennt die Lage, Fra Bartolomeo!« sagte er unvermittelt kühl und sachlich. »Kublai ist der Herr der Welt! Von Gog und Magog, wo sich die Eissteppen dehnen und die Nacht sechs Monate dauert, bis hinunter nach Indien; vom Gelben Meere bis an die Pforten des Abendlandes dehnt sich sein Reich! Er selbst mild und weise. Wahrheitsuchend!«

»Ja, ich kenne es!« Noch tiefere Falten im bleichen Antlitz des Priesters. »Ich kenne es!« wiederholte er tonlos. Schnell und bitter: »Das Öl der heiligen Lampe aus Jerusalem, ein Stück des schwarzen Steines aus Mekka, ein Zahn Buddhas aus Ceylon, wahrscheinlich noch die Nasenspitze des Konfutse. Alles in der Schatzkammer. Hochgeehrt, bewacht und registriert. So sucht man Wahrheit!«

»Mäßigt Euch, hochwürdiger Bruder!« Marco sprach jetzt fast väterlich. »Es ist doch für Christum nichts gewonnen, wenn Ihr Kublai schmäht. Euch und uns und das ganze Abendland könnt Ihr verderben. Man muß mit gegebener Macht rechnen, nicht blindwütig gegen sie anrennen!«

»Menschenfurcht!« Der Priester lachte wild auf. »Ja, das ist Menschenfurcht, sonst nichts! Auch Nero war Herr der Welt, auch Diokletian! Wie wäre das Christentum vorstellbar ohne Märtyrer?« Plötzlich lauernd: »Und wie denkt Ihr Euch die Bekehrung Kublais?«

Über Marco, der einen Blick in die Ebene geworfen hatte, die jetzt durch längere Schatten schärfer gegliedert dalag, war eine schale Lustlosigkeit geschlichen. Ruhe! Endlich Ruhe! Nein, es gab keine Ruhe zur Sammlung, zur Arbeit! So sagte er, vom Gegenstande abspringend:

»Tschang-li-sun hat sich für die Stunde der Dämmerung bei mir angesagt. Ihr verzeiht, wenn ich Euch hinaufbegleite. Ich muß Vorbereitungen treffen lassen.«

»Gut, ich verstehe! Ich bin in Ungnade entlassen!« Der Priester stand auf.

»Soll ich stets meine Ehrlichkeit, meinen besten Willen anzweifeln lassen? Denkt doch, hochwürdiger Bruder, um wie viel schärfere Kämpfe mein weltlich sündiges Laiengemüt bewegen als das Eure. Ihr macht mich vollends wirr!«

»Höhnt nur!« Bartolomeo erwiderte es, während sie schon die Treppe hinanstiegen und Marco einen eben vorbeieilenden Diener um die Schriften hinunterschickte.

»Ich höhne nicht!« Marcos Ton war abweisend. »Zum Beweis will ich Eure frühere Frage beantworten. Heute wie vor zehn Jahren sagt seine Majestät, der große Kublai, er würde das Christentum annehmen, wenn einer von uns die augenfälligen Wunder der anderen Religionen als Blendwerk entlarven könnte. Falls wir hiezu außerstande sind, würde, so hat er mir selbst gesagt, das Volk mit Recht fragen, warum gerade der Glaube der einzig wahre sei, der sichtbares Fremdes leugnet, von eigenen Wundern jedoch nur erzählt, ohne sie vorzeigen zu können!«

»Und Ihr habt bei dieser frechen Lästerung Euch verbeugt und Beifall gezollt? Nicht dem Nebukadnezar ins Antlitz gespien?«

»Ich werde in Zukunft mir überlegen, Euch zu antworten!« Marco drehte sich ärgerlich ab. Nach kurzem Kampf mit sich selbst: »Entlarvt sie! Ich besitze zu wenig Glauben. Meine Augen fordern bei mir zu sehr ihr Recht!«

»Wunder? Habt Ihr etwa Wunder gesehen? Taschenspielerstücke herabgekommener, zerlumpter, mit Unrat beschmierter Gaukler ...«

Sie standen schon vor dem ersten Tore des Landhauses. Ein ebener, weiter Raum, umgeben von Bäumen. Durch das geschnitzte Tor ein tiefer Blick in blumenprangende Gärten, neue Tore, schließlich die bunten Wände der Häuser, Säulengänge und Pavillons. Grüne Glasurziegel auf den geschweiften Dächern. Schwarze Pfeiler. Bronzene Zieraten. Vasen und Bildwerke, aus Hecken hervorlugend.

»Nein, so einfach ist es nicht!« sagte Marco Polo abschließend. »Schon in Persien kamen wir fast um, weil unsre Feinde bei hellem Tage Nebel auf uns einfallen ließen. Ihr seid damals auf einem andren Weg mit der Karawane nachgekommen. Ich verschwieg es Euch bis heute, um Euch nicht zu ärgern. In Tibet und Potala sah ich weit andre Dinge. Nicht Gauklertat, Werk heiliger Männer!«

»Gut, wir verstehen einander nicht!« Fra Bartolomeos Stimme bebte. »Unterhaltet Euch mit Euren heiligen Männern! Wundert Euch aber nicht, wenn ich schon heute an Eurem Christentum zweifle!«

Damit kehrte sich der Priester schroff ab und schritt ohne Gruß gegen den Pavillon, den er als Gast Marco Polos bewohnte.

Marco Polo stampfte mit dem Fuße auf. Er verfluchte die Starrheit dieses Priesters, in dessen Hand das Wohl und Wehe so unerhörten Schicksales lag. Unlösbar! Bestenfalls würde Kublai lächeln, wie er es schon oft getan hatte, wenn von Fra Bartolomeo die Rede war. Oder er würde endlich die Geduld verlieren. Noch schlimmer! O, wenn doch jener Erzbischof hier wäre, der damals beim Gastmahle undurchdringlich und sicher die Geschicke geleitet hatte!

Wozu Zweifel? Dringendere Sorgen pochten an die Türe.

Und Marco Polo sandte den Diener, der eben mit den Papieren an ihm vorbeikam, zur rätselhaften Katajerin mit der Bitte um eine kurze Rücksprache.

Er selbst ging langsam gegen das Haus, trat auf die kleine, verschnörkelte Brücke, die den Teich mit den bunten Fischen überwölbte, pflückte ein paar rote Blüten und warf sie fort.

Der Diener meldete, daß die edle Dame um Entschuldigung bitte, leider jedoch außerstande sei, einen Besuch zu empfangen.

Aufs äußerste verstimmt, begab sich Marco Polo in die inneren Gemächer und erteilte kurz und hart die nötigen Befehle zur Bewirtung des erwarteten Ministers. –

In der Altstadt von Kambalu-Peking, nahe dem Himmelstempel, dessen dreifaches geschwungenes Pagodendach blauglasiert zwischen Akazien und Nadelbäumen herübergrüßte.

Im säulenumgebenen Vorbau, der in den spiegelglatten Teich hinausgebaut war, so daß er über dessen Oberfläche schwebte, drei Freunde beim Wein und Tschingtau-Spiel.

Eben lachte der Besitzer des vornehmen Hauses, der gelehrte Literat Tae-ping, auf. Er streifte die Ärmel der violetten Robe noch weiter zurück, schob die eine Hand unter den goldenen Gürtel und hob den Zinnbecher vom Haufen der Kupfermünzen.

»Herr Achmak sollte uns sehen, wie wir da das verbotene Geld verspielen!« Schon hatte er das Elfenbeinstäbchen ergriffen und teilte die Münzen mit erstaunlicher Geschicklichkeit zu vier und vier. Zwei blieben als Rest.

»Uang-tschu hat gewonnen! Zahl nur aus, Freund Tae-ping!« sagte der Militärmandarin, Hauptmann Tscheng-ku. Sein Antlitz hatte etwas Wildes, Verbissenes. Kein Lächeln durchdrang den Ernst.

»Gern!« Tae-ping schob das Geld hin.

Da mengte sich der dritte, Oberst Uang-tschu, ins Gespräch:

»Wir spielen hier, als ob uns nichts andres im Sinne läge! Ich übernehme jetzt die Bank!« Und er warf noch ein Häufchen ungezählter Kupfermünzen zu, die er sofort mit dem Zinnbecher bedeckte.

»Was sollen wir tun? Langweilt euch das Spiel, ehrenwerte Freunde?« Tae-ping begann vor sich hinzuträllern und füllte die Pokale mit dem starken Wein.

Tscheng-ku, der vor sich hingebrütet hatte, hob plötzlich den stechenden Blick. Zum Hausherrn:

»Habt Ihr Nachricht von Eurer schönen Schwester, Tae-ping?«

»Nein! Ihr tut recht daran, mich zu erinnern!« Der Literat war ernst geworden. Er fügte lässig bei: »Bis gestern war es ihr noch gelungen, den Freundlichkeiten Achmaks zu entkommen. Ich selbst war, wie Ihr wißt, bis vor einer Stunde außerhalb der Stadt. Hoffentlich gelang es ihr auch heute ...«

»Ihr seid glücklicher als ich, Tae-ping! Auch unbekümmerter! Ich will nichts Übles vorhersagen!« Hauptmann Tscheng-ku setzte auf der einen Seite des Brettes ein Kupferstück.

Ein Diener stürzte herein und verbeugte sich mehrmals mit allen Zeichen heftigster Erregung.

»Was gibt's?« Tae-ping ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, da Uang-tschu eben den Becher abgehoben hatte und bedächtig die Vierergruppen abzählte.

»Ein Bote seiner höchsten Exzellenz! Von Achmak selbst!« keuchte der Diener.

»Drei!« sagte Oberst Uang-tschu. »Eine gute Vorbedeutung. Ihr habt gewonnen, Tae-ping!«

»Wir werden die Münzen forträumen. Nicht meinetwegen!« Der Literat lachte. »Euretwegen, Freunde! Es wäre eine peinliche Störung, wenn eben ihr beide heute noch verhaftet werden würdet. Legen wir das schöne Papiergeld auf, Freunde! Es ist gut für den Plan, wenn der Späher uns hier spielen sieht.« Zum Diener: »Führ den Boten hieher!«

Als der Diener verschwunden war, blickten die beiden Militärmandarinen einander stumm an. In ihren Augen spiegelte sich höchstes Entsetzen.

»Verrat?« flüsterte Tscheng-ku.

»Ich denke nicht daran! Da hätte er gleich seine Henker gesandt, wie ich ihn kenne!« Tae-ping trank den Pokal leer und gruppierte einige Geldnoten auf dem Spielbrett. Dann schnell: »Soll ich hingehen? Es wird kein Spaß werden. Sicher will er mir irgendwie meine Schwester abpressen. Ein wenig Folter oder dergleichen wird dabei herauskommen.« Indem er die Schultern hochzog: »Man kann nichts machen! Höchstens noch einen Becher!« Und er schenkte sich rasch ein und stürzte den Wein hinunter.

»Flieht!» sagte Uang-tschu tonlos.

»Flieht!« sagte Uang-tschu tonlos. »Nein, es geht nicht! Bis zur dritten Nachtwache ist es nicht lang. Ihr werdet mich heraushauen!«

»Wenn aber inzwischen Eure Knochen zerbrochen sind?« Tscheng-ku spielte mit seinem Schwertknauf.

»Dann sind sie zerbrochen. Besser, als die Knochen des Reiches der Mitte werden zertrümmert!« Tae-ping stopfte das Papiergeld, das richtige Spiel nachahmend, in den Zinnbecher.

»Ihr seid ein großer Held und großer Vaterlandsfreund! Schade, daß Ihr studiertet, anstatt zu fechten!« Uang-tschu nickte vor sich hin.

Tae-ping lächelte und machte eine abweisende Geste.

Eben trat, vom Diener geleitet, der Bote Achmaks auf den knarrenden Holzboden des Vorbaues heraus. Er grüßte kaum. Dem Anschein nach ein junger tatarischer oder sarazenischer Edelmann.

»Seine Exzellenz befiehlt dem Herrn Tae-ping, sich sogleich bei ihm einzufinden. Gefolge oder Staatsgewand ist überflüssig!« radebrecht der Bote in ungelenkem Chinesisch.

»Was heißt das, 'sogleich'?« Tae-ping äffte die Aussprache nach.

»Auf der Stelle! Seine Exzellenz hat sicher keine Zeit zu warten. Also packt Euch!« Der Bote, der den Hohn gefühlt hatte und dadurch noch unsicherer geworden war, nahm seine Zuflucht zur Grobheit.

Tae-ping, bemerkend, daß Tscheng-ku auffahren wollte, übernahm seinerseits den Angriff mit der Waffe des Spottes:

»Wollt Ihr nicht mit uns ein Spielchen machen? Oder ist Euch ein Glas Wein erwünscht?«

»Habt ein Einsehen, Herr Tae-ping!« Der Bote fürchtete, da seine Barschheit so wenig Eindruck gemacht hatte, einen endlosen Disput mit dem zungengewandten Gegner. Fast bittend: »In erster Linie habe doch ich die Unannehmlichkeit, wenn wir uns verspäten!«

»Nun, auf diesen Ton höre ich! Wird es lange dauern?«

»Ihr fragt zu viel, Herr. Ich weiß nichts als den Auftrag!«

»Und was wäre geschehen – besser, was würde erfolgen, wenn ich ruhig hier sitzen bliebe?«

»Macht nicht neue Schwierigkeiten! Ich denke, die Macht und Befugnis des Stellvertreters Seiner Majestät sind bekannt genug!«

»Gewiß! Ganz richtig!« Hauptmann Tscheng-ku, der sich voll zu beherrschen anhub, vollführte eine plötzliche Wendung seines Betragens. »Mein Freund hat schon viel getrunken!« setzte er fort. »Hoffentlich ist das nicht anstößig. Aber er konnte es ja nicht wissen, daß Seine Exzellenz ... Für alle Fälle, meldet Seiner Exzellenz, daß Ihr ihn in unserer Gesellschaft beim Wein und Spiel getroffen habt. Da wird der hohe Minister milder gestimmt sein.«

Tae-ping jubelte innerlich über die gelungene Finte des Freundes. Der Bote, der die hohen militärischen Würdenträger des alten Reiches wohl kannte, fiel ihm auch sogleich herein. Er erwiderte gönnerhaft:

»Ich werde Euch den Gefallen tun, Herr Tscheng-ku! Mein Einfluß bei Seiner Exzellenz ist groß. Er hört auf mich!«

»Gut, daß ich es weiß!« Uang-tschu sagte es undurchdringlich vor sich hin.

Tae-ping aber lächelte geschmeidig:

»Meine Freunde, lauscht mir jetzt! Da ihr nun einmal die ganze Nacht bei mir verbringen wolltet, so bleibt hier. Ich werde schon noch rechtzeitig zurückkommen. Vorausgesetzt, daß Seine Exzellenz mir nicht andre Dienste vorschreibt. Jedenfalls könnt ihr euch an meinem Wein und an den Mädchen gütlich tun, die ich für den Abend bestellte. Lebt wohl, edle Freunde, und verzeiht mir die Unhöflichkeit, die mir nur durch die Hoffnung auf den persönlichen Anblick Seiner Exzellenz erträglich wird.« Zum Boten: »Gehen wir, verehrter Herr!«

Er erhob sich, tauschte mit den Freunden noch die zeremoniellen Verbeugungen und geleitete den Boten nach den Regeln des Staatsbesuches aus seinem Hause. –

 

Tae-ping näherte sich mit seinem Begleiter der Residenz Achmaks. Die Straßen, die bisher zu beiden Seiten von der tausendfältigen Buntheit chinesischer Kaufläden, von Papierlaternen aller Farben und Formen, von langen Wimpeln mit riesigen Schriftzeichen, papierenen Drachen, Fischen, steinernen Löwen und Fo-Hunden flankiert gewesen waren, machten ruhigeren, breiteren Straßenzügen Platz, die zwischen hohen Mauern üppiger Gärten dahinliefen.

Auch hier zahlreiches Volk, das sich trotz des Gedränges in auffallender Ruhe durcheinanderschob. Verschlossene Tragsessel vornehmer Katajer, denen bambusstockbewehrte Sklaven voranliefen.

Der Himmel begann in rosigen Farben zu leuchten.

Tae-ping stutzte. Ihnen gegenüber, auf der anderen Straßenseite, überholte sie eben eine riesige Gestalt in leuchtend gelber Kutte, die alle Einheimischen gut um zwei Kopflängen überragte. Mächtiges Ausschreiten der wuchtigen Filzstiefel. Kahl das unbedeckte Haupt.

Nur einer konnte das sein, nur ein einziger!

Tae-ping drängte sich, ohne den erstaunten Begleiter zu beachten, durch das Volksgewühl, brach sich energisch Bahn, woran er mit Rücksicht auf sein Literatenkleid nicht gehindert wurde, und eilte dem Mönche Buddhas nach.

»Edler Pasepa!« rief er atemlos, als er noch einige Schritte entfernt war. »Hört mich, Pasepa! Laßt Euch ergebenst begrüßen!«

Langsam kehrte sich der Angerufene um. Ein ungemein gütiges Antlitz, alt, doch bartlos, verwittert und trotzdem glatt. Mit breiten Backenknochen, dunklen, schiefgestellten Augen. Ernst und lächelnd. Jedes Wort, das den jenseitigen Ausdruck dieser Züge hätte schildern sollen, würde sogleich versagt haben. Es war Harmonie von Widersprüchen. Waffenruhe nach furchtbaren Kämpfen. Fast das Lächeln des Erleuchteten selbst.

»Tae-ping!« Eine fremdartige, tiefe Stimme tönte zurück. »Seid gegrüßt, lieber Schüler! Wie lange mag es wohl sein, daß wir zuletzt über Heiliges disputierten?« Pasepa, den Tae-ping erreicht hatte, neigte sich leicht vor und machte eine segnende Bewegung, während die hölzerne Bettelschale an seinem Gürtel klapperte.

»Wie lange?« Tae-ping hatte den Begleiter schon vollends vergessen, der breitspurig und ungeduldig neben ihm stand. Fortsetzend: »Drei Jahre, wenn nicht vier! Wie Ihr seht, edler Vater, habe ich inzwischen den zweiten Grad auf der Stufenleiter der literarischen Weisheit erreicht. Ich könnte schon hoher Mandarin sein. Mir ist aber ein Leben, nur den Wissenschaften gewidmet, lieber!«

»Auch das ist Ehrgeiz, sehr viel Ehrgeiz!« Pasepa lächelte milde über die hervorgesprudelten Worte. Begütigend: »Kein Tadel, lieber Tae-ping, durchaus kein Tadel! Ihr seid noch jung. Gar mancher von denen, die auf dem wahren Wege sind, begann wie Ihr. Wissen ist Grundlage höchsten Nichtmehrwissens!«

Plötzlich fühlte Tae-ping den vorwurfsvollen Blick des Begleiters.

»Ihr verzeiht, würdigster Pasepa!« sagte er schnell. »Euer Anblick setzte mich so sehr in Verwunderung, daß ich fast meiner Pflicht untreu wurde. Lebt wohl! Achmak, der hohe Minister, hat mich berufen. Darf ich Euch noch sehen? Oder wandert Ihr schon wieder weiter?«

»Ich komme vom Hofe Seiner Majestät!« Pasepa begann auszuschreiten, so daß es Tae-ping schwer fiel, sich an seiner Seite zu halten. »Kublai-Khan ließ mich rufen und die Oberen meines Klosters erlaubten mir, vorläufig bei ihm zu bleiben. Nur für einige Tage bin ich in Kambalu, um gewisse alte Schriften, die sich hier in den Bibliotheken befinden, aufzusuchen und Seiner Majestät vorzulegen.«

»Und jetzt? Wohin geht Ihr jetzt?«

»Ebendorthin, wo Ihr Euren Schritt hinlenkt. Auch mich hat der Staatsminister rufen lassen, als er von meiner Anwesenheit erfuhr. Der Zweck ist mir unbekannt!«

Beide schwiegen. Tae-ping entsann sich plötzlich, während der letzten Tage gehört zu haben, daß ein tibetischer Mönch beim barbarischen Hofe in höchster Gunst stehe. Ja, daß Kublai alle Anstalten treffe, selbst die gelbe Lehre anzunehmen. Ganz erklärlich war die Sache nicht, solange die Christen aus dem Lande des westlichen Ozeans und vor allem der Sarazene Achmak so große Rollen im Weltreiche spielten. Vielleicht Ränke des Verschlagenen Achmak? Leider konnte er in Anwesenheit des Begleiters nichts Vertrauliches mit dem Manne sprechen, von dem er einst so reichen Wissensgewinn davongetragen hatte.

Schon war Achmaks Palast in naher Sicht. Material und Baustil weit abweichend von der Umgebung. Die hohe, zinnengekrönte Mauer mit dem wuchtigen Bronzetor, vor dem zehn schwerbewaffnete Tataren Wache standen. Eine Burg mitten in der Stadt. Achmak wußte, daß er nicht geliebt wurde.

Einer der Wächter öffnete das Tor, als er des Boten ansichtig ward. Ein andrer faßte den Mönch barsch an der Schulter und wollte ihm den Eintritt verwehren.

Pasepa aber zog wie entschuldigend ein kleines Goldtäfelchen aus der Kutte und hielt es den Wachen hin, die sich sogleich, als sie das Geleitszeichen seiner Majestät erkannten, unter gestammelten Ausflüchten zurückzogen und den Weg freigaben.

Die drei schritten jetzt durch den Hof, der, marmorgepflastert, im Geschmack Bagdads hergestellt war. Ein Löwenbrunnen aus dunklem Stein in der Mitte.

Vor der Freitreppe des wuchtigen Hauptgebäudes wiederum zahlreiche Soldaten.

»Hier kommt man anscheinend leichter herein als hinaus, wenn einem der hohe Minister nicht geneigt ist!« Tae-ping konnte sich nicht versagen, diesen Scherz zu machen. Die fremde Architektur hatte sein Auge beleidigt.

Der Bote, der bisher auf dem ganzen Wege nichts gesprochen hatte, schien den Scherz krumm zu nehmen:

»Es wird gut sein, wenn Ihr Euer Benehmen der Würde des Ortes anpaßt! Wir, die wir ein freies Gewissen haben, kommen nicht auf solche Gedanken. Oder sollte es gar irgendeine unziemliche Anspielung sein?«

»Ich denke nicht, daß das Gewissen unsres Weisheit suchenden Bruders in Eurem Sinne beschwert ist! Schuldbewußte pflegen sich eher den Anschein ernster Biedermanner zu geben, als zu scherzen!« Das Antlitz Pasepas hatte sich in leichte Fältchen des Unmutes gelegt und er sah den Boten vorwurfsvoll an.

Dieser aber, unklar über den Einfluß des Sprechers, zog es vor, ein hochmütiges Gesicht zu schneiden und zu schweigen.

Tae-ping aber lächelte vergnügt vor sich hin.

Als sie die Treppe hinangestiegen waren, führte ihr Weg zuerst durch einen breiten Korridor.

Plötzlich standen sie in einer kuppelgekrönten Halle, in die das Licht von oben einfiel. Buntes Treiben herrschte hier. Beamte, meist chinesische Mandarine niederen Ranges, kamen und gingen mit Akten und Schriftstücken. Auch einige Tataren teilten diese Beschäftigung. Von den Wartenden, die ausnahmslos standen, wiewohl hinreichend Sitzgelegenheit auf den Marmorbänken vorhanden gewesen wäre, fielen sogleich einige höhere tatarische Offiziere in ihren fremdartig bunten Trachten, die in der spitzen Mütze gipfelten, auf. Chinesen, Sarazenen, einige Frauen. Allgemeine, durchflüsterte Stille. Ein furchtbarer Alpdruck lag über dem Raum.

Der Begleiter raunte einem der Schreiber, der eben aus jener Tür herauskam, vor der zwei riesige Tataren mit Lanzen und gesenkten, blanken Streitkolben standen, einige Worte zu. Sogleich kehrte der Beamte um und eilte wieder zurück.

Pasepa beachtete die allgemeine Aufmerksamkeit nicht, die er erregt hatte. Gleichmütig stand er irgendwo neben einer schlanken Säule und bewegte die Lippen im Gebete: » Om mani padme hum!« Er schien die beängstigende Stimmung im Umkreise nicht zu fühlen.

Tae-ping jedoch hatte ein leichtes Grauen gepackt. Unmerklich schob er sich in die Nähe einer auffallend schönen Frau, deren Augen starr und verweint vor sich blickten, und hauchte ihr versteckt eine Frage zu.

»Seit einigen Tagen ist mein Mann und Herr im Kerker. Ich soll selbst zur Fürbitte kommen, sonst wird er morgen erdrosselt. Heute erhielt ich seinen Brief. Furchtbar muß er gelitten haben, bis man ihm die Worte abpreßte. Ich gefiel dem zweiten Sohn des Ministers. Jeder weiß, was folgen wird!«

Die Chinesin hatte sich rasch abgekehrt und trippelte auf und nieder. Ein Beamter war nähergekommen. Wer wußte, was es für Folgen haben würde, wenn jemand hier die Worte hörte? Schon bereute sie es, dem Literaten ihr gequältes Herz preisgegeben zu haben. Vielleicht war auch er nur eine der Kreaturen, die um den Allmächtigen liebedienerten!

»Herr Tae-ping!« Von der Türe erscholl der gedämpfte Ruf des Beamten.

Ein andrer war zu Pasepa getreten und hatte ihn im Namen seiner Exzellenz ersucht, sich eine Weile zu gedulden. Die Angelegenheit Tae-ping sei unaufschiebbar.

Der junge Literat rief sich zur Stärkung alle Schnurren ins Gedächtnis, die er zeitlebens gehört hatte. Nur dem Barbaren keine Schwäche zeigen! Lächelnd verneigte er sich zum Abschied zu Pasepa hinüber, der ihm freundlich zunickte. Dann folgte er dem Beamten.

Wieder ein Korridor. Dunkler. Mit Teppichen belegt, in die der Schritt lautlos versank. Vor einer Bronzetür mußte er noch eine Weile warten. Er war überzeugt, daß diese Augenblicke nur dazu bestimmt waren, ihn zu zermürben. Er hatte diese Taktik als eine der Regeln geheimer Staatskunst gelernt. Daher zwang er sich, an abgelegenste Dinge, Farben, Mädchen, Kleiderstoffe zu denken. Schließlich begann er, Reime zu drechseln.

Unvermittelt, doch um so lärmender, sprang die Bronzetür weit auf. Eine Flut von Licht blendete ihn, während er eintrat und an der Türe die vorgeschriebenen Kotaus mit absichtlicher Langsamkeit zelebrierte.

Dabei vergaß er nicht, unmerkbar die Umgebung zu mustern. Sinnlos angehäufte Pracht. Auf einer Art von Thron, auf einem Podium, das mit golddurchwirkten Teppichen und Polstern überhäuft war, saß er selbst. In weißen Atlaskleidern, den Krummsäbel, der von Edelsteinen flirrte, vor dem Leib.

Vor dem Thron zwei Tataren. Kahlrasierte Schädel. Die übliche Haarlocke am Hinterkopf. Die Gürtel starrend von bläulich scharfen Dolchen.

Achmak grinste fast verbindlich. Dahinter gleichwohl steinernes Drohen. Er mochte an sechs Fuß groß sein. Jedenfalls maß sein hagerer Oberkörper allein die Länge eines kleinen Menschen. Ein Vogelgesicht. Tiefbraun, ins Grau spielend. Müde, umflorte Augen, die schillernd manchmal zu funkelnder Wildheit anschwollen. Ein mit Perlen und Karfunkeln übersäter Turban. Pechschwarz der lange Bart. Alle äußeren Zeichen kaiserlicher Gnade auf Brust und Gürtel.

»Tretet heran, Literat Tae-ping!« Ein gurgelnder Ton war in der Stimme, der einem flüchtigen Beobachter den Eindruck einer gewissen Schüchternheit erweckt hätte. So zwiespältig und gebrochen war der Klang.

Zugleich eine blitzartige Geste des langen, mageren Armes mit den Riesenhänden, die den Beamten förmlich aus dem Zimmer schleuderte.

Tae-ping kam näher, ohne sich weiter um die Umgebung zu bekümmern. Man hatte ihm erzählt, daß die gefährlichen Ausbrüche stets erst nach einiger Zeit erfolgten.

»Ich wollte nur eine kleine Frage an Euch richten!« fuhr Achmak im gleichen Tone fort. Grinsend: »Wo ist Eure Schwester?«

Tae-ping hatte die Frage nicht so gerade heraus erwartet. Gleichwohl überraschte sie ihn nicht. Geschmeidig antwortete er:

»Ihr fragt mich zu viel, Exzellenz! Ich habe sie schon seit längerer Zeit nicht gesehen!«

»So!? Nun gut!« Achmak lachte auf. »Wenigstens weiß ich, was ich in Zukunft von Euren Antworten halten soll. Wartet einen Augenblick!« Auf einen Wink schlug der eine Tatare gegen eine kleine Glocke. Sogleich stand ein Beamter, der durch einen Vorhang lautlos eingetreten war, im Räume.

Würgende Angst erfaßte Tae-ping. War Li-ping-erch schon im Palaste? Sollte er nur der Lüge überführt werden? Wußte Achmak gar um die Verschwörung? Nur jetzt nicht die Fassung verlieren!

»Omar soll eintreten! Auf der Stelle!« Achmak starrte Tae-ping an, dessen Antlitz sich mit dem undurchdringlichen, kaum merklichen Lächeln des Mittelreiches gewappnet hatte. Er schien keine Lust zu haben, das gläserne Schweigen zu brechen.

Omar, ein Sarazene, der die Tracht Katajas trug, war zur Stelle.

»Wann war Herr Tae-ping zuletzt bei Fräulein Li-ping-erch? Und wo trug es sich zu?«

Omar, der Tae-ping anscheinend absichtlich übersah, sagte kurz und betont:

»Gestern nachmittags, erhabene Exzellenz! Der Besuch trug sich in einem Hause an der östlichen Stadtmauer zu, das dem Kung-tau aus Nanking gehört und von einem alten Verwalter namens Feu-yuang bewacht wird.«

Tae-ping, noch immer vom Blick Achmaks umkrallt, konnte sein Erschrecken nicht ganz verbergen. Woher wußte Achmak den so sorgfältig gewählten Zufluchtsort? Jetzt war er auf das Allerschlimmste gefaßt.

Als Omar verschwunden war, ließ sich Achmak noch reichlich lange Zeit. Er hoffte auf ein freiwilliges Geständnis. Als aber im Gegenteil Tae-pings Züge sich zu einem fast herausfordernden Lächeln verdichteten, sagte er kurz und drohend:

»Sie war verschwunden, als ich sie eben für den Abend zu einem Gastmahl laden wollte. Was bedeutet das? Will man mich beleidigen?« Unvermittelt aufbrüllend: »Wo ist sie?«

Tae-ping jubelte innerlich. Sie war entkommen! Im letzten Augenblick entwischt. Dank allen Seelen der Vorfahren! Er konnte sich nicht mehr halten: Er lachte.

Achmak war sprachlos. Eben wollte er wieder losfahren und beugte sich vor. Plötzlich, als er merkte, daß Tae-ping zum Sprechen ansetzte, riß er sich zusammen. Er zwang sich sogar ein Grinsen ab. Für Gewalt blieb später noch Zeit. Nur keine Eile! Er hätte fast vergessen, daß eines dieser gelben Scheusale vor ihm stand.

»Bei den Seelen aller Kaiser des himmlischen Reiches! Ich weiß nicht, wo Li-ping-erch sich aufhält. Ich freue mich, durch Euch, Exzellenz, zu erfahren, daß sie nicht zu finden ist!« Als Achmak wieder losbrechen wollte, schnell: »Der Aufenthalt in der Stadt schadet nämlich ihrer Gesundheit!« Tae-ping grinste höhnisch.

»Ich glaube fast selbst, daß Ihr nichts wißt!« Achmak zeigte seine Zähne, die lang waren wie Pferdezähne. Sofort glättete sich Tae-pings Lächeln. Dieses Gesicht des Ministers war sprichwörtlich für höchste Gefahr. »Fast! habe ich gesagt. Fast! Ihr versteht! Man kann jedem schlechten Gedächtnis abhelfen. Es gibt da weise und erprobte Mittel!« Nach einer bedeutungsvollen Pause: »Im übrigen seid Ihr heute ein betrunkener Affe, der die Tragweite seiner Taten nicht beurteilen kann.«

»Wie Eure Exzellenz meinen!« Tae-ping verneigte sich. Er fürchtete, daß jetzt das Gespräch auf die Freunde abbiegen würde. Er hatte sich nicht getäuscht.

»Ich weiß nämlich mehr, als Ihr denkt!« Wieder die Pferdezähne. Tae-ping fühlte seine Hände erkalten. Er überlegte, in wieviel Stücke er zerschnitten werden würde. Die übliche Strafe für Hochverrat. Um so erstaunter war er, als Achmak plötzlich liebenswürdig fortfuhr: »Seht, Herr Tae-ping, mein lieber Freund Tscheng-ku, mit dem Ihr eben zechtet, sollte Euch ein Beispiel sein. Der Mann hat Vernunft! Wähnt nur nicht, daß mir der Bote Euer dummes Betragen verschwiegen hat. Ihr könnt Tscheng-ku dankbar sein, daß er Euch begütigte. Ihr wißt wohl, daß ich mit Frau und Tochter des Mandarinen,« er grinste widerlich, »nun, daß ich mit den schönen Frauen befreundet war. Er faßt es richtig auf! Als Ehre! Haltet Euch an sein Beispiel. Ihr seht auch,« der Ton des Ministers wurde werbend, »Ihr seht, daß Tscheng-ku erst vor kurzem durch mich zum Hauptmann der Palastwache vorgeschlagen wurde. Ich verstehe zu danken!«

O, Achmak wollte ihn ködern! Jetzt begann die Sache Tae-ping Spaß zu machen. Der Minister würde an der Freundschaft Tscheng-kus noch heute viel Freude erleben. Warte, Elender, jetzt sollst du gehöhnt werden!

»Nun, und was könnte ich erreichen?« Tae-ping schien auf die Lockung einzugehen.

»Was strebt Ihr an? Das müßt Ihr sagen!« Achmak war jetzt tatsächlich unsicher geworden.

Da beging Tae-ping im Übermut einen furchtbaren Fehler. Er hatte vergessen, da er einer Gefahr entronnen war, daß die zweite, die stete Sprungbereitschaft Achmaks, fortbestand. Lächelnd warf der Literat hin:

»Mein einziges Ziel wäre die baldige Erreichung des höchsten Literatengrades, des Hanlin-Ranges der kaiserlichen Akademie. Ich fürchte, daß Ihr mir da wenig helfen könnt, obwohl ich Eure Allmacht nicht in Frage stelle.«

»Sehr gütig!« Achmak lachte auf. Dann stechend mit geballter Willenskraft: »Vielleicht wäre Euch genehm, an der neuen hohen Schule, die Seine Majestät, der Khan der Khane, zur Unterweisung der tatarischen Edelleute errichtet hat, den hohen Grad anzustreben. Die neue Schrift wird Euch kaum schwierig sein. Alle Stellen im kaiserlichen Dienst stehen Euch dann offen!« Mit absichtlicher Geringschätzung: »Eure ganze Gelehrsamkeit und Eure elenden Bücher werden durch die neue Schrift ohnedies überflüssig werden!« Lauernd: »Was meint Ihr dazu?«

Tae-ping, im Innersten getroffen, ließ sich hinreißen. Er sah nicht einmal die entstellte Fratze mit den Pferdezähnen, als er erwiderte:

»Ansicht gegen Ansicht! Die Annahme Eures Vorschlages wäre sehr klug! Ich aber kann doch den Hanlin-Grad der Akademie nicht mit dieser Neuerung, die ich gar nicht kenne, auf eine Stufe stellen! Das dürft Ihr nicht übel nehmen, Exzellenz!«

»Gut!« Plötzlich ein infernalisches Grinsen auf dem Antlitz Achmaks. Ruhig, wie abwesend: »Ich sprach früher von verschiedenen Mitteln der Gedächtnisnachhilfe. Wählen wir das zweite! Dabei trifft es sich ganz paffend, daß Ihr so nebenbei durch Eure Geringschätzung des neuen Gelehrtengrades das Majestätsverbrechen begangen habt.« Als Tae-ping, der jetzt erst die Falle merkte, in der er zappelte, antworten wollte, heiser brüllend und hemmungslos: »Schweig, elender Hund! Du wirst auf die Folter gelegt! Nicht heute. Betrunkene haben kein Gefühl. Morgen, im Katzenjammer! Ich werde schon herausbringen, wo das freche Schwesterlein steckt. Du aber wirst deinen Hanlin-Grad in der siebenten Hölle bei deinen stinkenden ungläubigen Brüdern erreichen!« Zu herbeigewinkten Schergen, die plötzlich im Räume standen: »Führt ihn ab! Marsch! Morgen weitere Befehle! Strengster Gewahrsam mit Ketten!« Achmak sank in Teilnahmslosigkeit zurück. Ruhig sagte er zu einem Beamten: »Ich lasse den ehrwürdigen Herrn Pasepa zu mir bitten!«

Tae-ping aber, der die Schultern hochgezogen hatte, war wieder ins Gleichgewicht gekommen. Man konnte nichts machen! Er hatte ja Ähnliches erwartet. Schließlich lag zwischen heute und morgen noch eine volle Nacht. Die große, ereignisschwangere Nacht! Und er höhnte, während ihn schon die Griffe der Schergen wie Zangen erfaßten:

»Vergnügte Nachtruhe, Exzellenz! Draußen warten Mädchen! Allerdings nicht so schön wie Li-ping-erch. Aber erlesen genug für Euch!«

Achmak grinste nur. Gut, zwei Grade furchtbarster Folter mehr! Dumm war dieser Gelehrte zweiten Ranges! Abgrundtief blöde! Und er kehrte sich ab, während der Gefangene seinem Gesichtskreise entschwand.

 

Pasepa stand schon in der Tür und verneigte sich leicht vor dem allmächtigen Minister.

Achmak hatte ihn noch nie gesehen. Wie unabsichtlich musterte er die wuchtige Gestalt des gefürchteten Nebenbuhlers in der Gunst Kublais. Er konnte sich dem starken Eindruck dieser überirdischen Ruhe nicht entziehen. Rasch wandelte sich sein ganzer Hochmut zu Geschmeidigkeit und Glätte. Instinktiv fühlte er, daß an diesem Antlitz jeder fremde Wille abprallen mußte.

Langsam erhob er sich und ging dem Tibeter entgegen.

»Ihr werdet mir verzeihen, ehrwürdiger Pasepa,« begann er in müdestem Tonfall, »wenn ich unsrer Unterredung eine vertrauliche Wendung gebe. Für ein Gespräch Gleichgestellter ist es hier zu feierlich. Dieser Raum verkörpert zu sehr den Gedanken der Macht und Unterordnung!«

Pasepa lächelte unsäglich mild und in echter Demut. Er kreuzte die Arme und erwiderte schlicht:

»Wem auf Erden ist der suchende Mönch Pasepa gleichgestellt? Er findet sich zwar in aller Gestaltung, fragt aber nie nach dem eigenen Wert. Der Schleier der Maja verdeckt ihm den Sinn des Ichs!«

»Ich verstehe Euch nicht ganz!« Achmak versuchte einen matten Schimmer von Wohlwollen auf seine Züge zu zwingen. »Übrigens tut das nichts zur Sache! Ich fragte ja bloß, ob es Euch genehm ist, mit einem bescheideneren Gelaß vorlieb zu nehmen.«

»Meine Zelle hat vier kahle Wände, einen leeren Boden und eine glatte Decke. Das schlechteste Eurer Zimmer erscheint mir wie die Schilderung vom Palaste Shiwas!« Pasepa hatte die Hände sinken lassen, daß die Bettelschale klapperte.

Achmak argwöhnte plötzlich einen Hohn des Buddhisten. Starr blitzte sein Auge auf. Doch er senkte sofort den Blick. Denn im Antlitz Pasepas war nur strahlende Güte und Aufrichtigkeit zu lesen.

Sollte das das Gute sein? Das wahrhaft Gute, das er manchmal in schlaflosen Nächten schaudernd hatte herbeizwingen wollen? Dann jedoch im Schein des Tages bei Erforschung der Menschen, wie sie wirklich waren und handelten, sofort wieder ins Reich des Erfabelten hatte verweisen müssen? Er erschauerte. Nein, nur nicht erkennen müssen! Nur nicht erfahren, daß es wahre Güte gab. Unausdenkbar der Katarakt, der dann auf ihn hereinstürzen, ihn zermalmen, seine Seele zerspellen müßte!

Achmak begann sich selbst zu beschwichtigen: Kindlich ist er und töricht. Außerhalb der Welt, in der Ferne des Bergklosters, hatte er es nicht nötig, das furchtbare Spiel, die gegenseitige Durchkreuzung der Wünsche und Schicksale, mitzuspielen. Gutmütig, nicht gut! Fügsam, nicht gebändigt! Wie ein Pferd, wie ein Kamel, wie ein Bergschaf! Er soll das Gleichgewicht meiner schwer erkauften Weisheit nicht stören!

Achmak entsann sich plötzlich, daß er zu lange geschwiegen hatte. Er sah wieder auf. Da hatten Pasepas Augen einen andren Ausdruck. Durchdringend, wie saugend. Er schrak leicht zusammen. »Bin ich toll?« sagte er innerlich wohl zehnmal. Laut und unvermittelt:

»Ihr verzeiht, wenn ich vorangehe!« Und sein langer Arm mit der gekrallten Riesenhand schob einen Vorhang zur Seite, hinter dem, rechts und links, zwei Schwertträger wie Bildsäulen standen.

Achmak wies sie fort.

Ein kleineres Zimmer lag vor ihnen. Diwans an den Wänden. Auch hier brannten Ampeln und Laternen.

Der Minister ließ sich auf eines der Ruhelager nieder. Halb liegend. Seine Augen umflorten sich wie in äußerster Abspannung.

»Lagert Euch in meine Nähe! Ich habe einen Tag rastloser Arbeit hinter mir. Darf ich Euch Erfrischungen reichen lassen?« Und er schlug schon gegen eine Metalltrommel.

»Ich bin bereit, Euch zu hören!« Pasepa hatte sich in die Stellung des Erleuchteten auf den Teppich gehockt. Still lagen seine Hände auf den Knien.

Ein Diener war hereingeglitten, der auf einer Goldplatte auserlesene Speisen trug.

»Laßt meine Schale mit Resten Eurer Küche füllen, wenn Ihr Barmherzigkeit üben wollt!« setzte Pasepa tonlos fort.

»Was fällt Euch ein? Ihr seid mein Gast! Wollt Ihr mich beleidigen?« Achmak brauste jäh auf.

»Dann werft mir einige Stücke in meine Schale, Bruder!« Der Mönch hielt abgewandten Blickes dem Diener seine Holzschale hin. Zu Achmak: »Nichts liegt mir ferner, als Euch zu kränken! Es ist mein Gelübde, das mir die Handlungen vorschreibt.«

Achmak schüttelte erstaunt den Kopf. Doch schwieg er. Der Diener aber legte sorgfältig einige Leckerbissen in die Schale, da ihn ein Wink des Ministers hiezu beauftragt hatte. Ein zweiter Wink entfernte ihn aus dem Zimmer.

»Nun, zur Sache!« Der Minister begann verbindlich zu lächeln, da er im Augenblick keine angemessenere Form fand. Fortsetzend: »Das erste und wichtigste: Wie befindet sich Seine Majestät?«

»Der große Khan der Khane erfreut sich besten Wohlseins!« Pasepa hatte die Schale neben sich gestellt und griff, ohne hinzusehen, mit einem Stäbchen kleine Bissen heraus, die er achtlos verschluckte.

»Gott schütze ihn weiter!« Achmak murmelte mechanisch den Segenswunsch. Lebhafter: »Ich will Euch nicht langweilen. Damm sage ich Euch ohne jede Einleitung, warum ich Euch bat, mich aufzusuchen.« Der ruhige Blick des Tibeters, in dem nicht ein Schimmer von Wißbegier lag, begann den Minister zu reizen. Er entblößte die Pferdezähne:

»Es ist Euch vielleicht nicht unbekannt, daß die Ungläubigen aus dem Abendland großen Einfluß besitzen.«

»Es sind brave und vielwissende Männer!« warf Pasepa ein.

»So?!« Achmak fuhr auf. Er befreite sich vom Blicke des Mönches, indem er die Augen schloß. »So?!« wiederholte er. »Nun, ich kann Euch aufklären. Ihr ganzes Ziel ist es, gegen alle Andersgläubigen zu schüren. Den Anhängern meiner Lehre hat dieser schwarze Dschinn, der eben mit Marco Polo oben in den Westbergen sitzt, vor nicht langer Zeit durch Verleumdung fast die Ungnade Seiner Majestät zugezogen. Als wir den Angriff siegreich abwehrten, warf er sich darauf, Euch anzufeinden.« Breit und betont, mit plötzlich weitgeöffneten Augen: »Er behauptet, nur schmutziges Gesindel, nur Gaukler könnten Wunder verrichten. Ihr aber redet Lügen, wenn Ihr Euch solche Fähigkeiten zuschreibt.«

»Das Bewußtsein der Wahrheit genügt dem, der auf dem rechten Wege ist!« Pasepa sagte es leise vor sich hin.

»Das mag sein!« Achmak begann bitter zu lachen. »Recht, ganz recht!« setzte er fort. »Im Kloster droben kommt man mit solchen Sprüchlein aus. Übrigens denke ich, damit ich Euch nichts verschweige, selbst nicht gut über Zauberei. Mein Glaube hält im allgemeinen solche Dinge für ein Werk höllischer Geister! Daher wäre es auch für mich lehrreich, zu wissen, ob Menschen, von denen ich keinerlei Umgang mit dem Unreinen voraussetze, Wunder verrichten können.« Mit äußerster Willensanspannung: »Vergeßt bei all meiner persönlichen Achtung nicht, daß auch meine Glaubensgenossen durch Eure Wundergeschichten berührt werden. Ich verlange von Euch den Beweis. Der Herr der Welt, Seine gnädigste Majestät, ist berechtigt, zu erfahren, welche Religion die wahrste ist! Das wollte ich sagen.« Er sank erschöpft zurück.

Pasepa aber, dessen Gesicht von tausend Fältchen leisen Unmuts gekräuselt wurde, erwiderte:

»Ihr wollt mich gegen die Männer des westlichen Ozeans ausspielen, hoher Minister! Mit einem Gegner glaubt Ihr dann leichter fertig zu werden. Blickt mich nicht zornig an! Es ist so!«

»Was wagt Ihr? Wähnt Ihr, bei Kublai mächtiger zu sein als ich?« Heiser keuchte es Achmak hervor, während sich seine Hände zu unheimlichen Fäusten krallten.

»Ich fürchte Euch nicht! Auch jenseits der Gunst Kublais könnt Ihr dem, der die Welt von sich warf, nichts anhaben! Darf ich gehen?«

Achmak wußte nicht, was geschehen war. Er fühlte nur mehr den Such zweier unbezwinglicher Augen, die ihn bis ins Herz brannten. Wirr kreisten Gedankentrümmer in seinem Kopfe. Als er aber endlich, frei von jeder zornigen Wallung, Pasepa wieder bewußt wahrnahm, saß der Mönch ruhig da und ein gütiges Lächeln lag auf seinem glatten Antlitz.

»Darf ich Euch noch etwas fragen?« Der Tibeter hob leise eine Hand und befestigte die Schale am Gürtel.

»Was wollt Ihr?« Der Minister preßte es tonlos hervor.

»Warum ist mir mein Freund Tae-ping nicht begegnet, als ich bei Euch eintrat?«

Die Nennung des verhaßten Namens gab Achmak sofort feine früheren Empfindungen zurück. Die Lähmung fiel von ihm ab. Höhnisch erwiderte er:

»Herr Tae-ping dürfte meinen Palast auf einem anderen Wege verlassen haben als durch den Gang, den Ihr herkamt!«

»Was meint Ihr?« Pasepa fühlte, daß hinter dieser Antwort grausige Bosheit lag.

»Laßt das meine Sache sein! Ich menge mich auch nicht in Eure Geschäfte!« Achmak winkte lässig mit der Hand und kehrte sich ab. Plötzlich glatt und liebenswürdig: »Ihr wünschtet vorhin, Euch zurückzuziehen. Ich will Euch nicht zurückhalten. Kann ich Euch noch mit etwas dienen?«

»Ich danke Euch! Eure letzten Worte haben mich von manchem überzeugt!« Die Gestalt des Tibeters schien zu wachsen, während heiliger Zorn seinen Augen entloderte. Mächtig und voll: »Jetzt sollt Ihr das Wunder haben, hoher Minister! Es ist jedoch nicht meine Schuld, wenn Eure Rechnung falsch war!« Er erhob sich schnell, verneigte sich und ließ sich von Dienern hinausgeleiten.

Achmak aber knirschte mit den Zähnen, daß die Muskeln der Wangen wie Stränge hervortraten.

 

»Die Dämmerung hat ihre Schleier über das Mittelreich gebreitet!« Oberst Uang-tschu, noch immer im Hause Tae-pings, auf derselben Stelle, wo die drei gespielt hatten, blickte von einem Buche auf und schlug es zu. »Tae-ping kommt nicht zurück! Man weiß, wo wir sind, und schickt keine Häscher! Zwei Zeichen voller Ahnungslosigkeit!«

»Ihr mögt recht haben!« erwiderte Tscheng-ku wie erwachend. Er saß im Schatten, stützte den Kopf in die Hände und starrte düster vor sich hin.

»Zwei Zeichen, sagte ich!« Uang-tschu wurde lebhafter. Zergliedernd: »Achmak setzt seine Bosheit fort. Hat Tae-ping gefangen oder eingeladen. Hofft noch immer auf die schöne Li-ping-erch. Sein Hirn sieht also viel Zeit vor sich. Weiters: Er weiß von uns nichts. Denn die Häupter einer Reichsverschwörung läßt ein Achmak nicht wenige Stunden vor Ausbruch der Rebellion frei an einem ihm bekannten Orte sitzen!« Plötzlich besorgt: »Ist mit dem Thronfolger Dschingis alles in Ordnung?«

»Es ist in Ordnung!« Tscheng-ku war aufgestanden und nahe zum Obersten herangetreten. Flüsternd: »Tae-ping war selbst im Süden. Wohl fünfzig Meilen oder mehr. Ich sprach in seiner Anwesenheit nicht darüber, da er mit dem Herzen nicht ganz zu uns gehört. Er will zwar den Sturz Achmaks, nicht jedoch die Niedermetzlung aller Bärtigen, die wie Ungeziefer im Mittelreich umherwimmeln.«

»Er kann denken, wie er will, wenn er nur in unsrem Sinne handelt!« Der Oberst hatte das Buch hingelegt.

»Das hat er getan! Seine Nachrichten sind verläßlich. Der Zufall ist uns zu Hilfe gekommen. Der ganze Landstrich, durch den der junge Dschingis mit seinem Gefolge heranzieht, ist überschwemmt. Eine Verzögerung von wenigstens zwei Tagen. Inzwischen hat das Volk der Provinz die Feuerzeichen erhalten, die Achmaks Fall verkündigen. Dschingis wird gefangen gesetzt. Ein herrliches Pfand gegen Kublai!«

Der Oberst schritt auf und nieder. Eine würgende Erregung, die bisher mit äußerster Willenskraft von beiden zurückgedrängt worden war, hatte sie erfaßt.

Nach langem Schweigen sagte der Hauptmann Tscheng-ku mit hohler Stimme:

»Habt Ihr das Gift für den Fall des Mißlingens?«

»Ja!« Uang-tschu kehrte sich ab und blätterte unaufmerksam in dem Buch, das auf dem Tische lag. Aufblickend:

»Meng-tse, der große Philosoph! Er hat mir über die letzten Stunden hinweggeholfen.« Der Oberst wollte sich ablenken.

Tscheng-ku aber setzte fort:

»Ich weiß nur von Rache! Ich wünsche mir den Tod, nachdem die Tat gelang. Seit Achmak mir Frau und Tochter schändete, ist meine Freude, mein Verstand, mein Zusammenhang mit dem Lebendigen zerbrochen!« Nach furchtbarer Pause: »Rache, dann Tod!«

»Das Mittelreich wird durch unsre Kühnheit neu erblühen, frei werden, eigenes Dasein leben!« Uang-tschu versuchte durch Begeisterung den düsteren Zorn des Freundes zu mildern.

Tscheng-ku aber hörte nicht. Wollte nicht hören. Er sagte rasch und entschlossen:

»Ich gehe in den Palast! Die Befehlshaber der Hauptwachen sind Vertraute unsres Planes. Es sind ihrer nicht viele, da Kublai und Dschingis außerhalb Pekings weilen. Lebt wohl, Uang-tschu, ich erwarte Euch vor Mitternacht im Vorraum des Dschingis-Palastes! Es gibt noch viel zu tun. Ihr seht inzwischen nach den Raketen auf den Stadtmauern und auf der Pagode!« Der Hauptmann wartete keine Antwort ab. Stumm verbeugte er sich dreimal und schritt hinaus. Uang-tschu verstand und erwiderte ebenso stumm den Gruß. Der Hauptmann wollte die letzten Stunden vor der Tat allein sein, um den Geist der Rache zur Größe des Himmelsdrachens anschwellen zu lassen. Gut! Er hatte recht!

Uang-tschu ließ von einem Diener die Laternen entzünden. Noch einmal vertiefte er sich in letzte erlösende Weisheiten Meng-tses. Dann ein kurzer Blick über den Teich, auf dem die bunten Lampen verkehrt flimmerten. Zackige, schwarze Umrisse der Bäume. Himmelstempel. Herrliches dreifaches Dach mit den sanft geschwungenen Linien. Blauschwarz, auf gelbem Wolkengrund. Gelb! Farbe des Kaisers! Auch du bist voll Wahrheit, Wolkenwand! Zum Himmelsgott darf nur der Kaiser beten. Bete ferner, junger Ti-ping, letzter unsrer angestammten Herren, für das Gelingen der Befreiung!

Und jetzt zu den Raketen, die allen Brüdern im weiten Reiche die Tat künden sollen!

Der Oberst verließ endgültig die Weisheiten Meng-tses.

Als er aber aus dem Hause Tae-pings trat, trug er den Dienern auf, ihrem Herrn zu melden, er sei zu den Blumenbooten gegangen. Er würde im Laufe des folgenden Tages seine Aufwartung machen, wenn es Herrn Tae-ping genehm wäre.

 

Marco Polo stand im letzten Tagesscheine vor dem äußeren Tor seines Landsitzes. Die Ankunft Tschang-li-suns war gemeldet worden. Außerdem hatte der Minister durch einen Vorläufer sagen lassen, er betrachte den vornehmen Fremden als eine Person gleichen Ranges.

»Die Liebenswürdigkeit des Katajers eilt den Ereignissen mächtig voran!« dachte Marco Polo. Jedenfalls mußte er sie annehmen und sich dementsprechend betragen. Er hatte ein äußerst kostbares persisches Prunkkleid angelegt, das er vor zehn Jahren auf der Durchreise von einem Fürsten zum Geschenk erhalten hatte.

Schon wurde der feierliche Aufzug Tschangs sichtbar, der langsam die Serpentinenstraße heraufkam. Zwei Reiter voran. Dann der mit grünem Tuch beschlagene Palankin. Die Knäufe der Tragstangen dieser Sänfte, goldene Drachenköpfe, blitzten in der letzten Sonne. Ebenso die Silberkugel des Daches. Vier Sänftenträger, acht Reiter hinter dem Palankin. Nichts fehlte. Fahnen, Speere, der rote Sonnenschirm, die Fächer mit der goldenen Aufschrift. Ungemein bunt und reizend hob sich der Aufzug von den grünen Hainen ab.

Marco Polo wiederholte im Kopfe noch schnell die Regeln des Zeremoniells, die er eben in einem Buche nachgeschlagen hatte. Kein Formfehler durfte unterlaufen. Dann war er kein Barbar, hatte halb gewonnenes Spiel.

Eine zweite Gedankenkette: Er liebte diese Regeln, sosehr er manchmal darüber lächelte. Nichts hätte er sehnlicher gewünscht als einen hohen Posten in diesem Lande.

Eben grübelte er nach dem Grunde, der ihn bewog, die Ämter des besiegten Reiches höher zu schätzen als die Macht der Tatarenführer. Älterer Adel der Einrichtungen? Geistiger als die nackte Gewalt der Achmaks?

Er kam nicht zu Ende mit den Gedanken. Laut klapperten schon die Hufe. Der Zug bog eben um die letzte Ecke und stand vor ihm.

Der Vorhang der Sänfte wurde zurückgeschlagen. Das Gefolge starr wie Bildsäulen.

Marco verneigte sich und sagte laut:

»Wollt Ihr mir die Ehre erweisen, den Palankin zu verlassen und mein bescheidenes Grundstück zu betreten, Exzellenz?«

»Ich freute mich den ganzen langen Weg auf diesen Augenblick!« Tschang-li-sun stieg vorgeneigten Kopfes aus und lächelte verbindlich.

Ein großer, starker Mann. Spärliche Bartfäden. Die dunkelrote Korallenkugel des Atlashutes glühte und die Pfauenfeder nickte leise. Eine gelbe Seidenjacke. Persönliche Auszeichnung des Kaisers. Sein Gesicht war schön zu nennen. Fast nicht chinesisch. Glatte, gelbe Haut und kluge, schmale Augen.

Er stand jetzt vor Marco, trat einen Schritt zurück und schlug, gleichzeitig mit dem Gastgeber, die geschlossenen Fäuste zum Gruße gegeneinander.

»Ich wagte soviel nicht zu hoffen!« Marco schritt an seiner Seite über den ersten Hof gegen das Mitteltor.

Das Gefolge war zurückgeblieben. Ein Wink Marcos hatte die Diener des Hauses in Bewegung gesetzt, die sich der Pferde und Begleiter anzunehmen begannen.

»Ich muß Euch bitten, voranzugehen, Exzellenz!« Sie standen unter dem Mitteltor, dessen Porzellaneinfassung in weiß und grünen Mustern schimmerte.

»Es tut mir leid, Euch widersprechen zu müssen! Ich bin außerstande, Eure Bitte zu erfüllen!« Neuerliche Verbeugungen Tschangs.

Unbeirrt wiederholte Marco Polo die gleichen Worte noch zweimal. Beim dritten Male ging der Minister wortlos voran.

Als sie den Eingang des Empfangszimmers erreicht hatten, die gleiche Zeremonie.

Wieder schweigendes Nachgeben des Gastes.

Sie hatten den Raum betreten. Sogleich knieten beide nieder und berührten sechsmal mit der Stirne den Boden.

Marco stand nun vor dem östlichen Sessel und legte das Kissen zurecht.

Er selbst nahm kurz nach dem Gaste an der Westseite des Tisches Platz.

Die Zeremonie war zu Ende. Marco atmete erleichtert auf. Er schien die Regeln fehlerlos ausgeführt zu haben. Sofort die Bestätigung aus dem Munde Tschangs:

»Kein Akademiker des Hanlin könnte die Gebräuche schöner ausüben als Ihr, ehrenwerter Herr! Ihr habt mich tief erfreut und ein Beispiel höchster Liebenswürdigkeit gegeben!« Nach einer Verneigung: »Für einen Einheimischen ist es selbstverständliche Pflicht, für einen Fremden zehntausendfaches Verdienst. Ich schäme mich. Denn meine Verbeugungen sahen gegen Eure aus wie das Stolpern einer verwundeten Ratte!«

»Glücklich das Land, in dem Ratten so geschmeidig stolpern, daß es aussieht, als ob der Löwe sich zum Sprung duckt!« Marco erschrak etwas, denn er war im Zweifel, ob das letzte Bild nicht irgend einen Taktfehler darstellte.

Tschang aber lächelte in so echter Wärme, daß er wieder beruhigt war.

Jetzt war der Zeitpunkt, den Tee zu kredenzen.

Nichtssagendes Geplauder, bis die Schalen auf dem Tische standen. Vor dem ersten Schlucke verbeugten sie sich wieder voreinander.

Der Weg war endgültig frei. Marco Polo spannte alle Aufmerksamkeit an. Denn jetzt würden, versteckt unter den Blumen der Rede, die wichtigen Staatsgeschäfte aufblitzen. Wie Goldkäfer oder wie die Giftzähne der Viper.

 

Eine Stunde später.

Li-ping-erch kniete mit gesenktem Köpfchen vor einer elfenbeinernen Ahnentafel und versuchte zu beten.

Wirre Gedanken lenkten sie ab, jagten ihre Seele auf und nieder.

Zwei Fragen, die sich unablässig wiederholten: Wie kommt die Schwester Tae-pings herauf zu dem Fremden? Warum hat sie ihn abgewiesen, als er sie vorhin besuchen wollte?

Legen diese Fragen nicht den ganzen Widerspruch der Seele bloß?

Eine Dienerin glitt plötzlich herein, stand erregt vor ihr.

»Was ist geschehen?« Li-ping hob ihr Antlitz und merkte erst jetzt, daß leise Tränen über ihre Wangen rollten.

»Eben hörte ich, Herrin, daß Tschang-li-sun, der mächtige Minister, sich drüben mit dem fremden Barbaren unterhält!«

»Mit wem?« Li-ping fuhr drohend auf. »Sag es noch einmal, mit wem sich Tschang unterhält!«

Die Dienerin verstand und duckte sich:

»Mit dem erhabenen Herrn aus dem nördlichen Reiche!« murmelte sie demütig.

»Es ist gut! Hilf mir beim Ordnen der Haare!« Li-ping-erch machte eine hastige Bewegung, daß ihr Kleid über die Schulter glitt und die eine Achsel freilegte. Das kleine, leicht aufwärts strebende Brüstchen ward sichtbar. Zwischen der zarten Rundung des Armes und diesem Brüstchen aber lag eine kleine, senkrechte Falte, die etwas ungemein Kindliches, Rührendes an sich hatte.

Dienstfertig, noch nicht ganz der Verzeihung ihrer Herrin sicher, begann die Dienerin, die Nadeln aus den Haaren zu ziehen, Kämme bereitzulegen und Salböl zu reiben.

Scharfer, würzig-süßer Duft zog sich durch das Zimmer des Pavillons. Die Laternen warfen ihre farbigen Strahlen auf die zwei Mädchen.

Li-ping-erch war wieder zu ihren Gedanken zurückgekehrt. Tschang-li-sun hier oben bei ihm? Was konnte es bedeuten? Traumschnell schossen Erinnerungen an die letzten Tage vor ihr vorüber.

Tschang-li-sun! Dieser Name war eine ganze Richtung, ein Prinzip. »Unverläßliche Rebellen« hieß die Partei. Auch Tae-ping, auch sie selbst! Und alle anderen, die nur den Tod Achmaks, nicht aber die Vernichtung aller Fremden anstrebten.

Ist Tae-ping in Gefahr? Würgende Angst erfaßte sie.

»Du zaust mein Haar! Sei vorsichtiger!« Li-ping schüttelte den Kopf wie in Abwehr des Schmerzes. Sogleich aber war sie wieder bei ihren Gedanken.

Ich hätte nicht schweigen können, hätte den Eid gebrochen, der mich solange bindet, bis die Feuerzeichen durchs Land eilen werden. Ja, es wird gelingen! Achmak muß fallen! Im letzten Augenblick hätte er mich fast noch in seine gierigen Hände gezwungen. Wenn er nur den Bruder nicht ergreift, aus Rache dafür, daß er mich nicht findet?! Nein, keine Angst! Tae-ping ist klug und listig. Und Achmak hat mich heute vielleicht gar nicht gesucht. Er weiß ja nichts von der Verschwörung.

»Soll ich das rote oder das gelbe Öl verwenden, Herrin?« Die Dienerin stockte, da der Gesichtsausdruck Lis sie erschreckte.

»Öl? Wovon sprichst du?« Erwachend: »Nimm das gelbe! Es wird mich erfrischen.«

Noch hatte der erste Tropfen nicht ihr Haar befeuchtet, als ihr Gedanke schon wieder bei den Sorgen weilte: Wie bin ich hergekommen? Ich sah ihn, ihn, den Fremden vor vielen Tagen in Kambalu. Bin ich von Sinnen? Vor einem Fremden laufe ich davon, hasse ihn, helfe ihn ermorden. Was hat die Dienerin eben vom anderen gesagt? Fremder Barbar! Nein! Er ist es nicht! Schon als ich ihn das erstemal sah, wußte ich es. Er und Achmak sind verschieden wie Himmel und Erde, wie Nord und Süd. Zwei Welten! Und trotzdem? Wie komme ich dazu, dem zweiten Fremden in die Arme zu laufen?

»Wollt Ihr Blumen oberhalb der Ohren, Herrin?«

Li-ping-erch antwortete nicht. In die Arme laufen? Das ist zuviel gesagt. Auch Tschang besucht ihn. Wohl eine Folge der Parteirichtung, die nur Achmak, nicht die anderen Fremden verdammt. Er soll am Leben bleiben. Auch wenn die Partei des Obersten Uang-tschu, die alle Fremden vernichten will, ihren Willen durchsetzt. Ich werde ihn dann schützen. Ja, ich will ihn schützen. Wenn die Feuerzeichen durchs Land laufen, sobald ich erst sprechen darf, dann... Ich werde ihm zur Flucht verhelfen, ihn zur Grenze bringen und dann umkehren.

»Ob Ihr Blumen wollt, erlauchte Frau, wagte ich zu fragen!?«

»Tu, was du willst!« Li-pings Stimme zerbrach in einem Wehlaut. Namenloser Schmerz hatte sie erfaßt bei dem Gedanken, umzukehren.

Ahnen, hohe, hehre Ahnen, sagt mir, was mich plötzlich quält! Ich weiß es nicht, will es nicht wissen! Fremder Barbar! Bist du es? Bin ich eine Verräterin? Sagt es mir, Ahnen, sagt es!

Die Dienerin hatte eine ungeschickte Wendung gemacht, als sie nach den Blumen griff. Ein jäher Stoß an das Tischchen. Die Elfenbeintafel der Ahnen fiel klirrend um.

Li-ping brach fast zusammen vor Entsetzen. Was bedeutete das? War es ein Zeichen? Kehrten sich die Ahnen ab? Verlangten sie von ihr, den Fremden zu verlassen?

»Geh hinaus, ich will allein sein! Ich werde rufen.«

»Die Haare sind noch nicht in Ordnung!«

»Später! Vielleicht später!« Müdes Abwinken.

Die Dienerin legte geschmeidig noch alles zurecht, dann zog sie sich schnell zurück.

Li-ping-erch aber knickte unter ihren Zweifeln zusammen. Zu stark waren die Ereignisse für ihr kleines Herz. Zagen beschlich sie. Tae-ping stand plötzlich vor ihrem Innern. Wie wird es enden? Leichter erschien mir alles, als es ist! Ich wage nicht mehr zu beten. Was spricht er mit Tschang-li-sun? Will Tschang ihn retten? Ihn verderben? Die Zeit rückt nicht vor. Wenn nur alles schon geschehen wäre!

Ihr Köpfchen sank ganz tief herab. Sie versuchte nicht mehr, den Tränen Einhalt zu tun. Leise bebte das entblößte Brüstchen auf und nieder. Und die rührende Falte zwischen Brust und Achsel kerbte sich tiefer ein.

 

Inzwischen saß Marco Polo in äußerster Spannung seinem Gaste gegenüber.

Warmer Wein, erlesenes Backwerk stand auf dem Tische.

Heiteres, Ernstes, Tiefes, Oberflächliches war bereits gesprochen worden. Mehr als ein Satz der Weisen, mehr als ein Zitat der großen Dichter hatte ihn schon zum Nachdenken angeregt. Eine Andeutung, auch nur ein leiser Fingerzeig über den Zweck des Besuches war noch nicht erfolgt.

Blitzartig setzte sich ein Gedanke in Marco Polo fest, ließ ihn nicht mehr los, wurde Form und Gestalt, bis er sich schließlich zur Überzeugung härtete: Tschang wollte ihn aus unbekanntem Grunde festhalten! Das fremde Mädchen? Vielleicht ein Zusammenhang? Es mußte Klarheit geschaffen werden. Aber vorsichtig, so langsam als möglich.

Eben verbeugte sich Tschang, als er das Weinglas ergriff.

Marco erwiderte die Höflichkeit. Es war eine Pause, die er zu einem Abschwenken vom Thema benutzen konnte.

»Ein wunderschönes Mädchen, umgeben von Geheimnissen, ist heute bei mir erschienen.« Marco sagte es so nebenbei.

»Ein Mädchen? Eine Einheimische? Was will sie?« Tschang stellte die Gegenfrage so nachlässig, so gleichgültig, daß Marco, selbst unter Berücksichtigung aller chinesischen Verstellungskunst, die Annahme vom Zusammenhang der beiden Ereignisse nicht mehr aufrechterhalten konnte. Er beschloß, die Wahrheit zu sagen.

»Ihr habt es erraten, Exzellenz! Es ist eine Chinesin!«

»Nun?« Tschang vermied alle Floskeln. Das lange, freundschaftliche Gespräch hatte die strenge Form gelockert.

»Ich würde Euch solche Nichtigkeiten nicht einmal andeuten, Exzellenz, wenn nicht einige Begleitumstände auffällig gewesen wären!« Marco entnahm lässig dem Körbchen eine Frucht, brach sie auf, ließ sie jedoch sogleich wieder liegen. Aufblickend: »Sie hat meinen Schutz angesprochen. Bis zur fünften Nachtwache. Warum dieser Termin? Bedeutet er etwas im gegenwärtigen Geschehen des mittleren Reiches?«

Über das Antlitz Tschangs hatte es leicht gezuckt. Nur für den Bruchteil eines Herzschlages, doch genug für den geschärften Sinn Marco Polos.

Es entstand Schweigen. Marco wußte, daß er die Frage ohne tödliche Beleidigung weder ergänzen noch wiederholen durfte. Er sah darum der Antwort mit fiebernder Spannung entgegen. War sie ausweichend oder nichtssagend, dann hatte er für heute verspielt. Oder für immer. Denn Tschangs Antlitz zuckte nur dann, wenn es sich um Völkerschicksale handelte. Jedes Kind in Kambalu kannte den Charakter, die unübertreffliche Staatskunst dieses einzigen Ministers.

Plötzlich ein Lächeln, eine Verbeugung, eine winzige Handbewegung. Strengstes Zeremoniell.

»Ihr werdet es mir nicht als Unhöflichkeit auslegen, wenn ich, Meile für Meile, dem Lauf des Stromes folge.« Ohne die erstaunte Miene Marcos zu beachten, womöglich noch lächelnder: »Ich meine den Strom der Gedanken, der in den Ozean der klaren Wahrheit mündet!«

Marco verbeugte sich tief. Der Minister antwortete! Er verstand das Bild sofort. Tschang würde antworten, jedoch tastend und verschnörkelt. Gut! Es hieß jetzt nur Verstecktestes hören.

»Eure Milde wird es mir verzeihen, wenn ich an mancher Stelle eines Nebenflusses mich durch die Schlangenwindungen täuschen lasse und den weisesten aller Landeskenner um die Hauptrichtung dieses Nebenflusses frage.« Marco wußte, daß schon diese Anspielung eine Kühnheit war, fast einen Verstoß bedeutete. Gleichwohl mußte er es wagen. Denn er fühlte, daß seine Geistesschulung der spielerischen Gewandtheit des großen Hanlin-Akademikers durchaus nicht ebenbürtig war.

»Ich werde Eure Fremdheit im Lande zu berücksichtigen wissen! Es wird mir eine Ehre sein, sie zu bedenken!« Tschang kämpfte eine Wolke des Unmutes nieder.

Also auch die zweite Klippe überstanden! Marco mußte an sich halten, um nicht in natürliche Herzensregungen, in die Lebhaftigkeit eines Abendländers zurückzufallen.

Mit äußerster Beherrschung sagte er gedämpft, beinahe tonlos:

»Ich lausche begeistert dem Murmeln der Stromquelle!«

Tschang lächelte wieder ungetrübt. Dann erwiderte er schnell:

»Wie aller Werdeströme Ursprung, ist auch der Beginn meines Stromes das große Tao, die Weltharmonie!«

»Sie ist in Gefahr, gestört zu werden!« Marco warf es aufs Geratewohl ein.

»Ihr scheint mehr von der Weisheit zu besitzen, als Eure Bescheidenheit zugab!« Geschmeidig erläuternd: »Ihr wißt, daß das Tao nur wirken kann, wenn alles harmonisch geordnet ist. Von der Familie an. Bezirk, Provinz, Reich. Bauten, Kanäle, Felder, Bergwerke. Jede Unordnung stört das Tao. Jeder einzelne ist für die Weltharmonie verantwortlich!«

»Eine edle, erhabene Lehre!« Marcos Zustimmung überschritt um einen Schatten die kühle Zurückhaltung, zu der ihn die Tonart seines Gastes verpflichtete.

Wieder schien Tschang verstimmt. Fast abweisend antwortete er:

»Das Tao steht über allen schmückenden Beiwörtern!« Er faßte sich aber schnell. In voller Liebenswürdigkeit: »Es leben viele Männer im blumigen Reich der Mitte, die wähnen, daß das Tao wiederhergestellt sei, wenn man die Störer beseitigt!«

Marco horchte auf. Was hieß das? Auf wen anderen konnte es sich beziehen als auf die Fremden? Eine Erleuchtung, die ihn selbst verblüffte. Las er Gedanken? Ja, kein Zweifel, es bereitete sich etwas gegen Kublais Macht vor. Marco ballte alle Willenskraft zusammen. Jetzt, vielleicht das einzige Mal im Leben, hatte er die Gelegenheit, das Geschick einer Welt zu lenken. Was würde es ihm eintragen? Tod, Ehre, Macht? Nein, jetzt keine Bedenken und Pläne! Die Sache, nur die Sache!

Er fühlte den Blick Tschangs, der ihn scharf beobachtete. Ein Schneckenhorn streckte sich geistig nach ihm aus. Leiseste Berührung an unrechter Stelle und es würde sich unwiederbringlich zurückziehen!

Marco Polo knüpfte vorsichtig an die letzte Bemerkung des Ministers an:

»Eure Weisheit aber hält den Ungestüm dieser Männer, die an eine gewaltsame Rettung des Vaterlandes glauben, für verfehlt?!« Jetzt fühlte er, wie seine Hände zitterten. Er hatte alles gewagt! Gleichwohl! Vielleicht gar kein Wagnis! Tschang konnte ihm, dem Vertrauten Kublais, doch nicht gut den Mord der Fremden ankündigen. Seine Antwort mußte also richtig sein. Oder wollte gar Tschang wirklich nur Verrat üben? Warum dann nicht gleich zu Achmak? Nein, es mußte verwickelter liegen.

Tschang aber lächelte nur fein. Er schien gewillt, jetzt die »Nebenflüsse« zu zeigen:

»Seht Ihr dort die zwei Drachen, ehrenwerter Herr Ma-ko-po?«

Marco folgte der weisenden Hand. Die Skulptur über der Türe? Ja, es waren zwei Drachen aus Bronze. Gebäumt. Sie glitzerten in vielfarbigen Reflexen der Papierlampen. Zwischen ihnen aber, unberührt und doch begehrt von wilden Prankenhieben, eine Kugel aus schimmernder Perlmutter. Wahrscheinlich ein Symbol. Er kannte es noch nicht.

»Meine mangelnde Bildung sieht zwar die Form, nicht aber den Gehalt! Ich freue mich, belehrt zu werden.«

»Euer scharfer Verstand hat es bisher übersehen, weil er Tieferes erforschte!« Tschang wiegte den Kopf hin und her, daß das rote Gazefutter des Hutes leuchtete und die Pfauenfeder nickte. Dann sanft: »Jetzt wißt Ihr die Bedeutung ohnedies schon, da ihr einmal darauf aufmerksam wurdet. Ich will sie jedoch überflüssiger Weise mit den Worten des Weisen wiederholen: Zwei Drachen kämpfen um die Perle der Vollkommenheit!« Trocken und sachlich: »Der gelehrte Kommentator fügt hinzu, daß die Drachen die Gegensätze bedeuten. Nord und Süd, weiblich und männlich, Himmel und Erde und all die anderen, die im kanonischen Buche Yi-king des erhabenen Konfutse aufgezählt sind.« Plötzlich feierlich: »Zwei Drachen kämpfen um die Perle der Vollkommenheit! Nie aber werden sie diese Perle erreichen. Der Kampf allein bedeutet Leben. Am Ende wird nur mehr die Perle sein!«

Tschang schien keine unmittelbare Antwort zu erwarten. Er blickte zerstreut auf die Nägel seiner linken Hand, die, sorgsam gepflegt, gut noch um Fingerlänge wie gebogene, dicke Federkiele über die Fingerspitzen hinausragten.

In Marco aber hatte das Bild, das Symbol mit der Wucht tiefster Erkenntnis Wurzel geschlagen. Nicht für die Erfassung des Augenblicks. Er vergaß alles, was ihn eben noch so heiß bewegt hatte. Zehn Jahre schwanden dahin. Mori stand vor ihm mit den gütigen Augen, Malipiero, Francesca, Melissa. Alle Kämpfe, alles Leid wurde lebendig. Jauchzender Verrat! Hätte ich den Verrat begangen, wenn ich das Symbolum früher gekannt hätte? O Weisheit dieses fernen Volkes! Zwei Drachen kämpfen um die Perle der Vollkommenheit! Wer kannte sie besser, diese Drachen, als er? Wer hatte die wilden Krallen tiefer in der Seele gespürt? Zwei Welten! Ja, so hatte er es früher genannt, so hatte es Maffio, so Mori bezeichnet. Keiner von allen aber hatte geahnt, daß die Perle der Vollkommenheit der Macht beider Welten entrückt war. Keiner hatte sich eingestehen wollen, daß sein Prankenhieb die Perle nicht an sich reißen könne. Oder war auch dieses Sinnbild falsch? War eine Vollkommenheit ohne Leben, ohne Kampf, ohne wirkende Kräfte nicht nur ein Gedankending? Ein Nichts?

»Meine Kühnheit gestattet sich, Euch selbst zu meinen, edler Ma-ko-po!« Ein durchdringender Blick Tschangs riß Marco aus seinen Träumen. Der Minister setzte fort: »Ich wollte Euch an das Sinnbild erinnern, ehrenwerter Herr, da Eure Einsicht vor einer ungeheuren Probe steht. Eine Probe, der nur ein Mann gewachsen ist, in dem beide Drachen in gleicher Macht ihr Ziel erstreben.« Tonlos, fast ängstlich: »Verzeiht, hoher Gastgeber, ich mußte mit Euch in dieser Weise sprechen, obwohl ich mir klar bin, daß Ihr berechtigt seid, die Betastung Eurer Seele mit ewigem Zorn zu erwidern!«

Marco zwang sich zu einem starren Lächeln. Was sollte er antworten?

Er wurde der Entscheidung des Zweifels überhoben.

Enrico stand plötzlich im Gemache und dröhnte unbekümmert:

»Ein Unglück, Masser! Ein gewaltiges Unglück!«

Tschang-li-sun blickte den Störenfried drohend und verständnislos an. War das ein Diener? Wie konnte er sich zu solchem Ton erfrechen? Er hatte den Gast nicht einmal begrüßt.

Aber auch Marco Polo war doppelt erschrocken. Er fühlte genau die Gedanken des Ministers. Er wird sich sogleich das Wort Barbare denken. Dann ist alles zu Ende, was eben so verheißungsvoll begann. Unglück? Was war geschehen?

Nein, zuerst den Minister versöhnen. Und er sagte schnell:

»Verzeiht, erhabene Exzellenz, daß mein Diener das Benehmen eines Barbaren zur Schau trägt!« Er wollte das verhängnisvolle Wort selbst aussprechen. Fortsetzend: »Es scheint ein wichtiges Ereignis vorgefallen zu sein. Wir aber sind noch nicht so weise, Exzellenz, daß wir auch in der Erregung voll unser Gesicht wahren können. Er hat sein Gesicht verloren, Exzellenz! Seid gnädig, wie es der Tiger gegen die Maus ist!« Venezianisch zu Enrico: »Mach deine Verbeugungen, Esel!«

Als der Minister sah, wie der Riese sich vor ihm in linkischer Weise verneigte und in wahrer Demut seine Hochachtung zur Schau tragen wollte, ergriff er lachend sein Weinglas und erwiderte:

»Laßt Euch nicht behindern, edler Herr, seinen Bericht entgegenzunehmen. Es ist mir eine Freude, dem Tölpel Euch zuliebe zu verzeihen!«

»Mit Eurer Erlaubnis!« Marco Polo wandte sich erleichtert an Enrico: »Also, was ist geschehen? Schnell! Dann hinaus! Vorher aber neuerliche Bücklinge! Du verstehst. Wir sind nicht in Venedig, Schafskopf!«

»Wenige Worte!« Enrico stotterte. »Wenige Worte, Masser! Das Frauenzimmer ist fort! Verschwunden! Ohne jede Spur!«

»Ah!« Marco fuhr auf.

Tschang, der ihn scharf beobachtet hatte, merkte, obwohl er die Sprache nicht verstand, daß Wichtigstes vorgefallen sein mußte.

»Sucht weiter! Geh jetzt! Die tatarischen Wachen sollen sich nicht schlafen legen, ehe ich's erlaube!«

Enrico, erlöst, daß ihn wegen der Flucht der Chinesin kein Vorwurf getroffen hatte, zog sich unter absichtlich übertriebenen Höflichkeitsbezeigungen zurück.

»Das Mädchen, von dem ich vorhin sprach, ist entflohen!« Marco Polo sagte es leise, wie erläuternd.

»Es kann am Fortgange unsres Gespräches auch im schlimmsten Falle nichts ändern. Wir erwähnten die beiden Drachen, edler Ma-ko-po!« Tschang hatte seine volle Beherrschung und seinen zeremoniellen Ton wieder gewonnen.

Einen Augenblick kroch ein Verdacht in Marco Polo empor. Saß er in einer Falle? Vielleicht jetzt schon Gefangener? Es galt äußerste Ruhe. Ja, richtig, die beiden Drachen. Der Minister erwartete eine Antwort. So sagte er, ohne weiter Enricos Nachricht zu berühren:

»Eure Weisheit hat mich voll durchschaut! Seit meiner Jugend liegen die zwei Drachen in meiner Seele im Kampfe. Nur wußte ich bis heute nicht, daß beide ohnmächtig sind, die Vollkommenheit zu erreichen!« Er wiederholte den Gedanken, der eben früher von ihm Besitz ergriffen hatte.

Sogleich kam es zurück.

»Ich wage es kaum, jedoch muß ich Euch widersprechen.« Betont und überleitend: »Ihr wußtet wohl, daß die Drachen ohnmächtig sind. Sonst hättet Ihr Euch längst für einen der beiden entschieden. Ihr tatet es nicht! Ließt sie weiterkämpfen! Machtstreben und Weisheitsdurst, irdischer und außerirdischer Ehrgeiz heißen sie in diesem Falle!« Fest und abschließend: »Ihr werdet also auch das Schwerste verstehen, edler Herr! Wir nähern uns nämlich der Mündung des Stromes!«

Marco kämpfte mit den letzten Resten seiner Selbstbeherrschung. Was konnte diesem Manne schwerfallen, der in sein innerstes Wesen griff und in seinem Herzen las, als wäre es eines seiner verschnörkelten Bücher? Warum plötzlich die sprunghafte Abkürzung? Seine erste Annahme tauchte wieder empor. Die Zeit schien heranzurücken, die die Enthüllung bringen sollte.

Tschang wartete diesmal auch keine Antwort ab. Unvermittelt setzte er fort:

»Wir unterhielten uns über das Tao, die Weltharmonie! Es war gut, daß wir davon sprachen.« In vollständig verändertem, unformellem Tone: »Ihr fragtet mich vorhin etwas wegen der fünften Nachtwache!«

Marco zuckte zusammen. Tschang aber sah absichtlich zu einer hellen Laterne hinauf, auf der bunte Vögel mit gebreiteten Schwingen gegen die Sonne flogen. Er sagte leise:

»Der große Lao-tse hat gelehrt, daß das höchste Gut das ›Wirken ohne zu handeln‹ sei. Wirken, ohne zu handeln! Wie das Wasser. In seiner Bescheidenheit strebt das mächtige Urelement Wasser stets zum tiefsten Punkt. Dort wirkt es, ohne zu handeln.« Seine Augen ruhten starr auf Marco Polo, dessen Verwirrung wuchs: »So unser Reich, edler Herr! Wenn auch zum hundertsten Male Fremdvölker unser Land eroberten, so ist es nur Schein und Trug. In wenigen Menschenaltern sind die Eroberer Chinesen. Unser Reich aber ist durch neues Blut größer und stärker geworden. Die letzten widerstrebenden Sieger schütteln wir dann ab, wie die Seidenraupen von den Maulbeerbäumen!« Abspringend: »Laßt die Laternen löschen, edler Ma-ko-po! Ich bitte Euch darum. Ich will ans Fenster treten und den Stand der Sterne prüfen.«

Wortlos erhob sich Marco Polo. Seine Erregung behinderte ihn fast, klar zu denken. Jetzt also enthüllte sich das Geheimnis. Der Minister befragte die Sterne nach der Zeit. Demnach war die erste Vermutung richtig. Aber wozu alles? Was ging vor?

Er sagte heiser:

»Ich werde sie selbst löschen. Eure Weisheit soll durch den Tritt eines Dieners nicht gestört werden!«

Tschang widersprach nicht. Er stand vielmehr sogleich auf, ging zum Fenster der Ostseite und schob es zurück, daß die Schau in die Ebene freilag. Er blickte aufmerksam hinaus.

Marco Polo aber hatte das Bambusstäbchen ergriffen und ließ ein Licht nach dem anderen verzischen. Im letzten Scheine sah er noch rasch nach dem vielfächerigen Schrank an der Nordwand des Gelasses. Gut! Die Degen und Dolche lagen halbversteckt an gewohnter Stelle.

»Eine Wolke verdeckt den Himmelssaum. Gewährt mir noch einige Augenblicke Eure gnädige Geduld!« Tief kam die Stimme vom offenen Fenster, in dessen Öffnung sich der mächtige Schattenriß des Ministers vor dem helleren Nachthimmel abzeichnete.

Marco Polo beobachtete scharf. Keine Bewegung entging ihm.

Tiefe, summende Stille. Aus den Gärten zirpten Grillen herauf.

»Der Drache lebt verborgen im Dunkel des Wassers!« Wieder die Stimme vom Fenster, nur noch tonloser, noch entrückter. Nach einer kleinen Pause: »Plötzlich wird er auftauchen. Er erhebt sich im Sprunge in die Luft und steht riesengroß am Firmament, allen sichtbar. Ruhm und Erfolg ist dieser Drache, edler Ma-ko-po!« Wie zu sich selbst: »Die Wolke hebt sich!«

In diesem Augenblick hatte Marco Polo zufällig den Kopf gewendet. Er erstarrte!

Denn auf den matt leuchtenden, durchsichtigen Papierwänden der Westseite, genau dem offenen Fenster gegenüber, zeichnete sich verschwimmend der dunkle Umriß einer Gestalt. Einer Frau. Unbeweglich, wie horchend vorgebeugt. Belauscht! Man lauschte! Jetzt wußte er, wer es war. Kein Irrtum, jede Linie sagte es: Das Mädchen, das fremde Mädchen.

»Die Sterne zeigen mir, daß die entscheidende Stunde gekommen ist!« Tschang-li-sun drehte sich vom Fenster ab. »Hoher Gastgeber, ruft die Diener! Sie sollen die Lampen entzünden. Dann aber bitte ich Euch, meinem Gefolge Befehl zu geben, den Aufbruch zu rüsten. Ihr werdet mir die Ehre erweisen, mich hinunter nach Kambalu zu begleiten! Sonst ist morgen das Tao für ein Menschenalter erschüttert!«

Jetzt war alle Fassung zu Marco zurückgekehrt. Was aber zuerst? Das Mädchen mußte ergriffen werden. Eben wollte er sich wieder überzeugen, wo der Schatten hinter der Papierwand stände.

Nichts! Verschwunden! Der kleine Augenblick, da er sich gegen Tschang gekehrt hatte, war ausreichend gewesen, die Erscheinung ins Unbestimmte fliehen zu lassen.

Mit wenigen Schritten war er beim Gong. Mehrere Schläge riefen die Diener.

Tschang stand ruhig und abwartend beim Tische.

»Das fremde Mädchen hat uns belauscht. Dort an der Wand. Ich sah den Schatten!« Marco flüsterte es rasch dem Minister zu, während schon von allen Seiten Diener herbeiliefen. Laut: »Zündet an! Das Gefolge Seiner Exzellenz hat sofort marschfertig zu sein! Schnell!«

»Die Späherin hat nichts gehört, das sie gegen uns verwenden könnte!« Tschang saß, als ob nichts vorgefallen wäre, wieder ruhig auf seinem Stuhl und nahm absichtlich nachlässig ein Stück Backwerk zwischen spitze Finger. Fortsetzend: »Zudem dürften wir unser Ziel schneller erreichen als sie!«

Der Raum strahlte schon wieder im Licht der Lampen und Laternen. Die Diener hatten sich auf einen Wink Marco Polos entfernt.

»Wir sind an der Mündung des Stromes. Vor uns liegt der Ozean der Wahrheit!« Die Stimme Tschangs hatte einen feierlichen Klang bekommen. »Jetzt hört die Lösung all Eurer Zweifel, edler Herr: Der Drache des Ruhmes, von dem ich vorhin sprach, der Drache, der weithin sichtbar über den Wassern stehen wird, ist Euer Los und das Los meines Volkes. Das Volk soll wirken, ohne zu handeln. Das habe ich bestimmt.« Dröhnend und furchtbar: »Das Reich der Mitte könnt Ihr Eurem Herrn noch erhalten, wenn Ihr mir folgt! Achmak könnt Ihr nicht mehr retten, Ma-ko-po! Der wird fallen. Er hat das Tao gestört. Ich aber bin gekommen, um es Euch zu sagen!«

Marco fuhr empor. Um Gottes willen! Was sollte er tun? Den Minister verhaften? Was würde Kublai denken? Wollte man auch ihn nur nach Kambalu locken? Furchtbarste aller Verantwortungen!

»Ich begreife Eure Bewegung, edler Herr!« Langsam, wie entschuldigend, hatte es der Minister gesagt. Dann gleichmütig: »Mein Handeln entspricht nach allen Seiten der Vernunft, der Ehre und dem Weltprinzip! Nur der treulose Schädling Achmak soll beseitigt werden, der Kublai nicht weniger ins Verderben reißt, als mein Volk. Keinem der anderen Fremden wird ein Leid widerfahren. Daß mein Volk aber in hundert Jahren die nördlichen Barbaren verschlungen haben wird, das schadet dem großen Khan nichts. Ebensowenig jedoch hat er die Macht, es zu ändern. Wir können nicht weniger tun, als in Tatenlosigkeit verharren!« Aufstehend: »Jetzt müssen wir aufbrechen, wenn Ihr die Gnade habt, es mir zu gestatten und meine Ratschläge zu billigen.«

Im gleichen Augenblick meldete ein Diener, daß das Gefolge Seiner Exzellenz vor dem äußeren Tore bereitstehe.

Marco erhob sich wie betäubt. Trotzdem quollen in seinem Innern schon Ströme harter Tatkraft und klarer Entscheidung empor.

 

Er überschritt an der Seite seines Gastes eben den letzten der Vorhöfe. Rechts und links von ihnen stumme Diener mit erhobenen Fackeln. Durch den äußeren Torbogen flimmerten die Laternen des Gefolges, das des Aufbruches harrte.

Plötzlich, während Marco in einer zeremoniellen Höflichkeit gefangen war, ein leises Rascheln und Knirschen knapp vor ihm. Sogleich eine sanfte und doch heischende Summe:

»Geht nicht hinunter nach Kambalu, edelster Herr! Man wird Euch töten!«

Tschang-Ii-sun fuhr herum und bemühte sich, das Halbdunkel zu durchdringen. Die Stimme hatte ihn bekannt angemutet.

Auch Marco stutzte. Ein scharfer Blick, und er wußte alles, sah alles: Vor ihm kniete im Schatten eines Gebüsches das fremde Mädchen, den Kopf fast an der Erde.

Eben wollte er erwidern, als Tschang, der stehengeblieben war, drohend dazwischen rief:

»Was sprecht Ihr da? Seid Ihr es, die uns vorhin belauschte? Soll ich Euch in Fesseln legen lassen?«

Das Mädchen hatte sich langsam erhoben. Zu Tschang:

»Tut, was Eure Weisheit Euch befiehlt, Exzellenz! Ich leugne nicht, gelauscht zu haben. Meine Aufgabe war es, den Fremden zu schützen, weil ich weiß, daß er dem Mittelreich nie schadete, noch schaden wird!« Sie trat ins Licht.

»Li-ping-erch!?« Der Minister konnte sich nicht ganz beherrschen. Sein Ausruf klang erstaunt und freudig zugleich. Schnell fortsetzend: »Ich hätte es an der wohlgebildeten Sprache erkennen sollen, daß die Schwester Tae-pings vor mir steht. Fürchtet nichts! Meine Ansicht über die Fremden ist die Eure! Der edle Herr Ma-ko-po ist in meiner Begleitung vollkommen sicher!«

Marco hatte mit zunehmender Verwunderung zugehört. Komödie? Abgekartetes Spiel? Sollte er in Sicherheit gewiegt werden?

Der nächste Augenblick gab einen Anhaltspunkt.

Li-ping-erch war ganz nahe an Tschang herangetreten und flüsterte:

»Werdet Ihr die Entfesselten bändigen können, wenn die Feuerzeichen des Aufruhrs durch das Land glühen? Die Anhänger Uang-tschus werden Euch zwingen...«

»Es werden keine solchen Feuerzeichen auflodern!« Tschang hastete es ebenso flüsternd zurück.

Plötzlich eine rauhe Stimme hinter ihnen. Venezianische Worte:

»Masser, geht nicht ohne Degen und Rüstung! Den Schlangenpanzer! Hol's der Teufel, ich erfuhr häßliche Dinge von den schlitzäugigen Dienern!« Enricos Blick fiel auf das Mädchen. »Madonna! Da ist sie! Wie kommt sie her? Sie ist ein Gespenst, das durch Wände schleichen kann. Soll ich sie fesseln?«

Marco winkte Enrico ab, der in höchster Erregung lauerte.

Er wendete sich langsam zu Tschang und sagte leise:

»Gestattet mir Eure Exzellenz, daß ich noch schnell ein Pferd für mich bereitmachen lasse? Der Gedanke, Eure Sänfte zu beschweren, bedrückt mich. Es wird mir mehr als Glück bedeuten, neben dem Palankin zu reiten!«

Der Minister zögerte mit der Antwort. Dann gelassen und höflich:

»Ihr habt recht, edler Herr! Rüstet Euch, wie es Euch angenehm ist. Wir haben beide erkannt, daß wir die Formen des Umganges verstehen. Von jetzt ab erfordert die Raschheit der Entschlüsse eine Erleichterung der Zeremoniells!« Mit Überwindung: »Ich erwarte Euch in der Sänfte. Der rechte Vorhang wird zurückgeschlagen sein, damit ich den stolzen Schritt Eurer Reitkunst beobachten kann!«

Li-ping-erch aber, die sich nicht mehr bewegt hatte, sagte plötzlich schwach und stehend:

»Schützt ihn, große Exzellenz! Schützt auch meinen Bruder! Wer weiß, was ihm inzwischen widerfuhr!« Ohne eine Antwort abzuwarten, zu Marco Polo: »Euch danke ich für die ehrende Gastfreundschaft, edler Herr! Ich werde sie nie vergessen!«

»Es wird mich freuen, Euch morgen noch vorzufinden!« Marco hatte es fast zu sich selbst gesagt. Dann rasch zu Enrico: »Das Fräulein steht unter deinem Schutz, Enrico! Wohlverstanden: Schutz! Nicht mehr Bewachung! Sie kann handeln, wie es ihr beliebt!«

Tschang hatte sich inzwischen verbeugt und war gegen den Ausgang geschritten, ohne weiter auf die anderen zu achten.

Marco, der ihm einen Augenblick nachgesehen, wandte sich wieder zu Enrico:

»Jetzt schnell den Panzer, den Degen und das beste Pferd!«

Er wollte sich noch von Li-ping-erch verabschieden. Sie war nicht mehr am früheren Platze. Nur wie einen Schatten sah er ihr helles Gewand zwischen den Sträuchern verschwinden.

Enrico, ebenso verblüfft wie Marco selbst, brummte mißmutig:

»Sie ist ein Geist, eine Fee oder dergleichen! Ich habe es gesagt!«

»Schwatz nicht Unsinn und komm!« Marco Polo versuchte, das leichte Grauen, das auch ihn ankroch, abzuschütteln.


Der kleine Zug bewegte sich schon durch die endlose Ebene. Eben waren sie in den Geisterweg eingebogen, der, gewöhnlichen Sterblichen verschlossen, eine gewaltige Abkürzung für sie bedeutete.

Marco Polo hob sich im Sattel und genoß das unvergleichliche Bild.

Vollmond, schwimmend in weich geballten Wolkenherden. An Marcos Seite die Sänfte Tschangs, deren Silberkugel manchmal aufblitzte. Die Träger liefen lautlos, hielten den Schritt der trabenden Pferde.

Bunte Lampions an Stangen, von den Reitern gehalten. Vielfarbiges Licht tanzte über die milchweißen Platten der breiten Geisterstraße, auf der die Hufe klapperten. Rechts und links eine Allee von gestutzten Bäumen, deren Äste wie verkrampfte Glieder sich schwarz und drohend reckten.

Bor ihnen lief der Geisterweg schnurgerade ins Unendliche. Sanft ansteigend. Irgendwo in der Ferne funkelte es.

Zwischen den Bäumen aber, starr und riesig, die schneeigen Standbilder. Zu beiden Seiten. Immer wieder traten sie hervor. Mondscheinumraucht, bizarre Schatten werfend: Elefanten, Löwen, Drachen, Fabelwesen.

Marco riß sich fast gewaltsam von der Schau los. Vor kaum einer Meile Weges hatte ihm Tschang aus der Sänfte heraus zugeraunt, daß jeder Herzschlag gezählt sei. Zuerst ins Lager der Tataren. Dann nach Kambalu. Kein Augenblick durfte verloren sein.

Schlangenhautpanzer! Es erinnerte ihn an ferne Jugend. An die erste Staatsaktion, die er erlebt hatte. Wie leicht schien ihm all das, wie harmlos. Gewiß, sein Vater und Maffio hatten damals Vorzügliches geleistet. Doch dieser Widerstreit? Was war die Anklage Barbigos gegen die heutige Entscheidung?

»Achmak kann nicht mehr gerettet werden!« Stets aufs neue dröhnte dieser Satz in seinen Ohren. Durfte er ihn aber zur Kenntnis nehmen? Achmak hat das Tao gestört! Was ging den Christen, den Vertrauten Kublais die Weltansicht Lao-tses an? Nein, es ist nicht so! Es läßt sich auch in meine Sprache übersetzen! Achmak ist ein Assassine! Achmak mordet, raubt, schändet! Li-ping-erch! Vor Achmak war sie geflohen. Tschang hatte es ihm mitgeteilt. Er wußte um die Leiden der geängstigten Jungfrau.

O Mädchen! Warum bist du zu mir gekommen? Nein! Ich danke Gott, daß du gekommen bist! Reicher bin ich geworden, hundertmal reicher seit wenigen Stunden. Ich weiß wieder, daß es Frauen gibt. Nicht nur willige Körper und berauschende Glieder.

Vielleicht ist mein Herz zu leicht geneigt, den Mord Achmaks gutzuheißen, weil das Mädchen im Spiele ist. Es wäre eine furchtbare Vergeltung. Francesca habe ich aufgegeben, um meines Ehrgeizes willen, und knapp vor dem Ziele soll eine Frau, die ich kaum sah, mich aus der Bahn schleudern? Rache für die Freveltat an Francesca? Wozu Aberglauben? Knapp vor dem Ziele, dachte ich? Ich lüge wieder, suche Gründe, Ausflüchte, wo doch alles so klar liegt. Wer hat mehr Gewinn von Achmaks Ermordung als Marco Polo? Mein Aufstieg steht in greifbarer Nähe, wenn er fallt. Furchtbare Versuchung! Es fragt sich nur, ob Kublai nicht mein Handeln durchschaut, mich verdammt, zerschmettert! Wozu solche Erwägungen? Ich kann ja Achmak ohnedies nicht mehr retten. Wenn Tschang es sagt, weiß er, warum er es sagt. Also kommt es nur mehr auf die Gedankensünde an: »Will ich ihn retten oder tötet mein Wille wünschend mit?« Eine subtile Frage für Fra Bartolomeo! Hahaha!

Ah, der Hohn! Ich kenne mich. Ich bin nahe der Entscheidung. Jetzt steigt der zauberhafte Geisterweg steiler an. Ich muß aufs Pferd achten. Hat Tschang gelogen? Wäre Achmak noch zu retten? Einzelheiten verschwieg er mir, war beleidigt, als ich nur eine Frage andeutete.

Wie schön! Eine Brücke!

Die Geisterstraße erhob sich plötzlich zu einer scharfen Steigung. Rechts und links keine Bäume mehr. Dafür ein breites Gewässer, in dem Mond und Wolken schimmerten.

Marco ritt knapp am Steingeländer der mächtigen Brücke. Sein Pferd scheute vor den wilden Drachenbildern, die auf der Balustrade hockten. Er mußte alle Kraft aufbieten, es zu bändigen.

Die Sänftenträger hatten nicht nachgelassen. Gleichmäßig legte der Zug einen Steinwurf nach dem anderen zurück.

Schon war der Wasserlauf in ihrem Rücken. Vor ihnen eine weite, ansteigende Rasenfläche, die wie schneebedeckt sich breitete, ohne daß man ihre Ausdehnung hätte ahnen können. Einsam, ohne Bäume. Stets dichter aneinandergerückt die Skulpturen. Irgendwo ragte im Unbestimmten ein tempelartiges Gebäude auf hohen Sockelterrassen: Anscheinend der Abschluß, das Grabdenkmal einer fernen, versunkenen Dynastie.

»Wir biegen nach rechts ab!« Tschang rief es laut aus der Sänfte. Dann wie zu sich selbst: »Die Ahnen der erhabenen Kaiser werden uns die Entweihung der Geisterstraße vergeben! Geschieht es doch für das Heil des Mittelreiches.«

Plötzlich waren sie zwischen Buschwerk. Dann Reisfelder. Jeder Schritt mußte überlegt werden. Trotzdem verminderte sich die Raschheit des Vorwärtskommens nur unmerklich.

Marco knüpfte wieder an seine Zweifel an. Ein eigentlicher Argwohn gegen Tschang-li-sun bestand bei ihm nicht mehr. Die Handlungsweise des Ministers war zu eindeutig zum Vorteil Kublais oder, wie Tschang selbst es nannte, im Sinne der Erhaltung und Bewahrung des Tao, der Weltharmonie.

Sonderbare Lehre! Jeder einzelne ist verantwortlich für dieses rätselhafte Tao. Wieder eine Welt für sich, dieses Reich der Mitte. Wer dachte im Abendlande an die Weltharmonie? Vielleicht ein Pythagoras hatte Ähnliches geahnt. Sicher aber in anderem Sinne.

Plötzlich sah er zwei Welten vor sich. Zwei Drachen, West und Ost, Abendland und Orient, beide ringend um die Perle der Vollkommenheit. Jeder auf seine einzigartige Weise!

Zurück zur blutigen Gegenwart. Schon hat mich der östliche Drache gepackt. Ich philosophiere im Angesicht des Todes.

Marco erschrak. Vor ihnen hoben sich plötzlich Gestalten vom Boden. Er griff an den Degen.

Ah! Überfall! Tschang hat mich in eine Falle gelockt!

Er wollte sein Pferd herumreißen und querfeldein fliehen.

Da, ein tatarischer Haltruf! Noch einer! Fackeln wurden geschwenkt.

Marco schämte sich. Wie hatte er vergessen können, daß sie sich dem großen Lager näherten, in dem die Zehntausendschaften der Tataren zusammengezogen waren?

 

Nach einigen Schwierigkeiten und Hindernissen, die jedoch mehr ihrer Eile als einem Widerstände der tatarischen Soldaten entsprangen, saßen Marco Polo und der Minister jetzt im Zelte des tatarischen Generals.

Eine niedere, schmucklose Jurte. Sattelzeug lag umher. Und blanke Waffen. Mehrere Talglichter schwelten. Ein wenig Mühe war verwendet worden, den Raum behaglicher zu machen. Einige billige Teppiche, Felle und Strohmatten.

Der General bot ihnen mit schlichter Höflichkeit Erfrischungen: Stutenmilch in Zinnbechern, schwarzes Brot und einen scharfen Käse, ebenfalls aus Pferdemilch bereitet.

Alles in diesem Lager stand im Zeichen der Pferde. Ihr beizend angenehmer Geruch durchströmte die Luft und tausendfältiges Gewieher drang gedämpft durch die Wände des Zeltes.

Marco Polo griff ausgiebig zu. Der Ritt hatte ihn hungrig gemacht. Zudem kannte er von seinen Kriegszügen hinreichend die wohltuenden Eigenschaften tatarischer Nahrung.

Freundlich sah ihm der General zu. Ein mächtiger untersetzter Kämpfer, wohl kaum vierzig Jahre alt. Seine Gesichtshaut schimmerte in der bräunlich roten Pfirsichfarbe, die diesen Antlitzen trotz aller Wildheit fast etwas Weiches, Mädchenhaftes verlieh. Er zeigte lächelnd die herrlichen, weißen Zähne. Dann sagte er:

»Ihr hattet es ungemein eilig, hoher Herr! Darf ich fragen ... ?« Er stockte, da vieles Reden für den Krieger als Schande galt.

»Gewiß dürft Ihr das!« Marco, der den General schon von Karakorum kannte, ihn außerdem gelegentlich seiner Reise nach den Westbergen besucht hatte, lächelte zurück. Fortsetzend: »Ihr verzeiht! Der Hunger war dringender. Ich liebe diese Kost!«

»Es freut mich!« Der Tatare nickte befriedigt.

Tschang-li-sun nahm den Anlaß wahr, unter Verbeugungen gleichfalls eine Schale Milch an die Lippen zu führen. Marco Polo sprach weiter:

»Es sind ernste Dinge, General! Morgen früh, die Stunde weiß ich nicht...«, er sah zu Tschang hinüber, der steinern lächelte und schwieg. Schnell weiter: »Also, wie gesagt, die Stunde ist uns allen unbekannt. Aber wir wissen die Tatsache, daß morgen in Kambalu, vielleicht im ganzen Reich eine Rebellion ausbrechen soll...«

»Und Ihr kommt, mir zu befehlen, in die Hauptstadt einzurücken! Ich verstehe!« Der General sagte es in selbstverständlicher Ruhe.

»Ähnlich! Ich freue mich über Euren Scharfsinn! Wieviel Mann habt Ihr?« Marco sah wieder zum Minister. Teilnahmslos zerpflückte Tschang eine Brotkrume zwischen den Fingern.

»Verzeiht!« Der Genera! machte plötzlich ein bedenkliches Gesicht. »Verzeiht die Offenheit! Ich darf erst antworten, wenn ich die Stellung des Herrn Ministers Tschang in der ganzen Sache erfahre.«

»Er hat uns, die wir ahnungslos waren, als erster gewarnt und selbst gewünscht. ..«

Unvermittelt fiel der Minister ein:

»Eure Vorsicht ehrt Euch, Herr General! Im übrigen kann ich für Euch antworten. Die Rebellen wissen Euren Truppenstand. Zwölf Zehntausendschaften und einige tausend Reiter darüber!«

»Woher?« Sprachlos starrte der Tatare auf den Chinesen.

»Das ist gleichgültig! Ich wollte nur beweisen, daß Ihr frei sprechen könnt. Ich weiß auch von den Dreißigtausend, die übermorgen nach dem Süden hätten abrücken sollen. Die Rebellen konnten jedoch aus anderen Gründen auf diesen günstigen Zeitpunkt nicht warten!« Tschang zog sich wieder hinter sein glattes Lächeln zurück.

Der Tatare aber brauste auf:

»Ich bin am Ende mit meiner Weisheit! Verrat, Verrat, nichts als Verrat! Dank den Göttern, daß Achmak die Solde bis heute nachmittag zurückhielt. Fast hätte ich die Dreißigtausend schon gestern abmarschieren lassen!« In einen anderen Zusammenhang gebracht: »Es steht schlimm mit der Kampffreude, meine Herren! Achmak hat den Leuten fast den halben Sold abgezogen. Sie hungern und murren!«

Marco, der die ganze Größe der Gefahr sofort erkannte, der zudem noch die Geringfügigkeit der Truppenmacht gegen die befestigte Zweimillionenstadt erwog, raffte sich blitzschnell zu einem Entschluß zusammen:

»Im Namen Seiner Majestät, des großen Kublai!« erwiderte er feierlich. »Laßt auf meine Verantwortung sogleich verkünden, daß der Sold in einigen Tagen ergänzt wird!«

»Ich hafte mit!« Tschang fiel ruhig und sachlich ein. »Soweit wenigstens die Gelder reichen, die das Mittelreich selbst verwalten darf!«

»Es ist mir eine Erlösung!« Der Tatare nickte erleichtert. »Ihr werdet mit den Truppen zufrieden sein!« Dann fragend: »Wieviel sollen einrücken? Und wann sollen sie in Kambalu sein?«

Jetzt ergriff wieder Tschang das Wort. Langsam und überlegend sagte er:

»Niemand kann den Gang der Ereignisse mit voller Sicherheit voraussehen. Gebt jedenfalls unverzüglich den Befehl zur Ausrüstung der ganzen Truppen. Vorrücken sollt Ihr erst, wenn Feuerzeichen gegeben werden. Ob sie Euch verständlich sind oder nicht!« Als der Tatare zustimmend nickte: »Ich muß verhindern, daß Euer Heer in eine Falle gerät, wenn wir in Kambalu die Bewegung aus der Hand verlieren!«

Marco Polo verstand sofort! Wieder der furchtbare Zwiespalt. Achmaks Rettung war durch diese Weisung verhindert. Sollte er widersprechen? Er begann vor Erregung zu zittern. Plötzlich das Bild Li-ping-erchs. Eine der vielen, die der Assassine bedrohte. Assassine? Der Prophet stand grell und deutlich vor ihm. »Wie die Viper, die den Fuß, der sie zertrat, noch sterbend sticht!« »Asien soll befreit sein von der Mordpest!« Aber er ist der Freund, der Liebling Kublais?! Gleichgültig! Kublai weiß nichts von den Schandtaten. Erfährt nichts, da alle zittern und den Angeber sicherer Tod erwartete. Nein, nein, nein! Er muß fallen. Ich kämpfe um mein Amt. Pfui, Marco Polo! Nicht aus Selbstsucht des einzelnen dürfen solche Taten erfolgen. Also andre Gründe: Er ist ein Feind der Christen. Ich bin ja kein Christ, hat Fra Bartolomeo gesagt. Also das Tao! Gut! Ich verstehe die Worte Tschangs einfach nicht. Will sie nicht verstehen! Sie sind logisch und glaubwürdig. Vielleicht auch wahr. Ja, wahr sind die Worte! Ich zwinge mich, sie für wahr zu halten. Achmak soll sich selbst schützen! Auch er kennt keine Gnade.

Tschang hatte mit wilder Anspannung das Lodern im Gesichte Marcos verfolgt. Er wußte alles. Wußte, daß der Fremde ihn voll durchschaute. Fast verlor er das Gleichgewicht seiner glatten Maske. Die Wucht des inneren Kampfes machte ihn stutzig. Ein Wort des Fremden – das wußte er genau – und Achmak blieb auf seiner Machthöhe, zehnfach befestigt in seiner Stellung. Denn einen so schwerwiegenden Befehl konnte nur der Ehrenbegleiter Kublais erteilen. Er selbst, der Minister des alten gestürzten Reiches, war machtlos. Das ganze Netz semer letzten Geistesanspannung aber wäre zerrissen, wenn Marco Polo sich auf Achmaks Seite schlug und die Versicherung einer Unrettbarkeit des Sarazenen auch nur bezweifelte. Ihm selbst winkte dann der Tod. Freiwillig oder erzwungen. Tao! Heilige Weltharmonie! Sein Gedanke umkrallte den einen Wunsch, den einen Gedanken. Er wandte sich scharf ab, da seine Kraft versagte.

Der Tatare aber saß ahnungslos da und überlegte die Zahl der Pfeile und Sättel, die er in wenigen Stunden bereitstellen mußte. Er war nicht ungeduldig. Denn die rasenden Gedankenfolgen der beiden Staatsmänner hatten nur wenige Herzschläge gedauert. Sein Zeitmaß war ein andres als das seiner Gäste.

Unvermittelt hob Marco den Kopf. Ein wenig bleich, doch fest und sicher:

»Ich befehle Euch, General... Im Namen des größten Khans befehle ich, genau nach den Ratschlägen des Herrn Tschang-li-sun zu handeln. Seine Ansicht ist meine eigene!« Nach kurzer Pause: »Wir gehen jetzt nach Kambalu! Verzeiht unsre Eile, General!«

Tschang-li-sun hatte sich leise geräuspert. Langsam drehte er sich wieder hemm. Marco glaubte unter der Undurchdringlichkeit seines Antlitzes eine winzige Wallung von heißem Dank zu bemerken. Keine noch so schwache Geste jedoch bestätigte diese Vermutung!

Der Tatare fragte sachlich:

»Darf ich den hohen Herren tausend Reiter als Geleite mitgeben?«

»Noch ist Kambalu ruhig. Es würde nur unnötiges Aufsehen erregen. Seid unbesorgt um unsre Sicherheit!« Marco hatte es in freundlicher Abweisung gesagt.

Der Tatare war damit zufrieden. Tschang-li-sun aber stand schon am Ausgang des Zeltes und verneigte sich in kühler Höflichkeit.

 

Es ging gegen Mitternacht.

Achmak, schwer verstimmt über die Flucht Li-ping-erchs und über die besorgniserregende Kühnheit Pasepas – eine Kühnheit, die nach seinen Begriffen nur in ungeheuren Gunstbeweisen und Zusicherungen Kublai-Khans begründet sein konnte, – hatte keine Ruhe gefunden.

Er saß noch immer im Räume, in dem er sich mit dem Tibeter unterredet hatte, und spielte schon seit längerer Zeit mit einem alten Sarazenen, einem Arzt seines Gefolges, Schach. Sehr unaufmerksam und zerstreut. Er merkte es kaum, daß er unablässig verlor.

»Solltet Ihr nicht, hoher Minister, Eure Gesundheit, die dem Reiche so kostbar ist, schonen und Schlaf suchen?« Der Arzt langte nach dem Puls Achmaks.

Dieser aber erwiderte barsch:

»Ich bin gesund, Selim! Mach dir keine Sorgen. Aber in einem hast du recht, obwohl du es nicht gesagt hast. Ich werde aufhören zu spielen. Es gibt andre Zerstreuungen!«

Er stand auf, nickte leicht mit dem Kopf und schritt wortlos auf den Korridor hinaus.

Gleichmütig räumte der Arzt die Schachsteine zusammen. Er war vielleicht der einzige, der Achmak nicht fürchtete. Achmak bedurfte seiner Dienste. Von keinem andren Arzte hätte er sich Medizin reichen lassen. Das wußte Selim. Als die Schachsteine an ihrem Platze lagen, gähnte er und verließ das Zimmer durch eine andre Tür.

Achmak hatte inzwischen einen großen Teil des weitläufigen Palastes durchwandert. Er wollte sehen, ob sein zweitältester Sohn in seinem Liebesabenteuer glücklicher gewesen war als er selbst.

Endlich in einem Seitentrakt eine Türe, vor der zwei Wächter standen. Er gab ihnen ein Zeichen und klinkte die Türe ohne anzupochen auf. Dabei zog sich bereits ein Grinsen über sein Gesicht. Er liebte solche Scherze.

Fast kam er auf seine Rechnung. Wild und verständnislos blickte ihm von einem Ruhelager sein Sohn entgegen, der mit der Linken in derber Umarmung ein bleiches, verschüchtertes Weib hielt.

Da hatte der Sohn den Vater erkannt. Er lachte laut, dann drückte er seine Lippen noch einmal schamlos auf das halbentblößte Fleisch der Frau, die aufschluchzte.

Unter Verbeugungen ging er dem Vater entgegen. Kaum mittelgroß, auch sonst seinem Erzeuger äußerst unähnlich. Wie eine glänzende Kugel der kahle Kopf. Schmale, ausdruckslose, ja geradezu hämisch verschlagene Augen. Das Antlitz lief von der breiten Stirne herzförmig in eine Spitze aus, die der Knebelbart bildete.

Achmak nickte ihm zu. Dann wies er auf die Chinesin, die, krampfhaft zusammengekauert, ihre zerknüllten Gewänder über die Blöße von Brust und Schultern zu raffen versuchte.

»War sie vernünftig?« Der Minister machte eine unbeschreibliche Geste.

»So weit – ja!« Die Stimme des Sohnes war noch verhaltener, noch gurgelnder als die Achmaks. Er fügte schnell hinzu: »Es ist nur kein großes Vergnügen, Vater, mit Tränen überströmt zu werden.«

»Andre haben sich das Heulen auch abgewöhnt. Wir wollen ihr nicht zuviel auf einmal zumuten!« Achmak war ohne jede Bewegung zur Frau herangetreten. Er klopfte ihr väterlich auf die Schulter und hob ihren Kopf dann am Kinn hoch. »Fürchte nichts, mein Kind!« Er versuchte, seiner Stimme biedere Töne zu geben. »Wir sind lange nicht so schlimm, wie du denkst!«

Das gebrochene Geschöpf klammerte sich unwillkürlich an die Freundlichkeit. Ohne Überlegung preßte sie die furchtbare Hand Achmaks an die Lippen und hauchte:

»Wird er jetzt frei sein? Ist er gerettet?«

»Gewiß!« Achmak entzog ihr die Hand und sagte lachend: »Wir halten Wort, Kleine! Er wird sogleich in Euer Haus getragen werden.«

»Getragen?!« Die Chinesin kreischte es entsetzt auf. Dann in sinnloser Wut: »Dafür also habe ich alles getan? Dafür? Ihr habt ihn verstümmelt, Ihr Elenden, ihm die Knochen zerschlagen. ..«

»Beruhige dich!« Der Sohn Achmaks blitzte sie drohend an. »All das, was du sagst, könnte noch geschehen! Bisher ist ihm wenig widerfahren. Aufgeschundene Füße. Wir lassen ihn tragen, weil wir höflich sind!« Er meckerte heraus.

Die Chinesin saß starr und wortlos da. Ihre unsteten Blicke flackerten im zuckenden Gesichtchen. Nur ein leises Stöhnen zwängte sich zwischen ihren Lippen hervor.

»Schließlich hat er das Majestätsverbrechen begangen. Ihr wißt, was darauf für eine Strafe steht!« Achmak ging zur Tür hinaus, kam aber sogleich wieder zurück.

»Der Befehl ist erteilt!« sagte er begütigend. »Wenn ihr beide vernünftig seid, erhält dein Mann bei der nächsten Beförderung eine gute Stelle. Wir sind keine Mordgesellen, sondem gnädige Herren!« Achmak zeigte die Pferdezähne.

Die Chinesin aber antwortete nichts, da sie vornüber gesunken war.

»Mir tut sie fast leid!« sagte Achmak leise zum Sohn, der unschlüssig auf die Frau blickte. »Von solchen Weibern hat man nicht viel Vergnügen. Am Ende opfert sich noch solch eine Närrin und Kublai erfährt etwas. Zumindest wäre es peinlich!« Aufblickend und lauter: »Sag es auch deinen Brüdern, daß sie in Zukunft ein wenig vorsichtiger in der Wahl sein sollen!«

Der Sohn verbeugte sich stumm. Achmak wollte sich eben abkehren, als ein erregtes Zwiegespräch durch die Türe hereindrang.

»Bei der siebenten Hölle! Sind die Kerle toll geworden?« Achmaks Antlitz flackerte in hemmungsloser Wut. »Was ist los?« brüllte er so laut, daß selbst die Chinesin, um die sich eben der Sohn des Ministers zu bemühen begann, trotz ihrer ohnmachtsnahen Starre zusammenzuckte.

Zugleich riß Achmak die Tür auf. Da stürzten zwei Männer vor ihm auf das Antlitz und schlugen die Stirne dreimal gegen die Fliesen. Einer von ihnen der Wächter. Die tatarische Haarlocke wippte. Der zweite ein vornehm gekleideter Chinese, versehen mit den Abzeichen eines Palastbeamten.

»Erhebt und rechtfertigt euch!« Dumpf drohendes Grollen in der Stimme des Ministers.

Der Tatare, der auf den Knien heranrutschte, stotterte:

»Er sagt, er muß zu Euch, größte Exzellenz. Sofort! Ich konnte ihn nicht hindern. Ich habe nur meine Pflicht getan. Ihn zurückhalten wollen!«

»So!? Und du?« Achmak konnte nicht mehr an sich halten. Er trat mit der Fußspitze in die Seite des Chinesen.

Dieser aber richtete sich, ohne zu zucken, langsam auf. Ein verzerrtes Grinsen über dem Gesicht, das sich allmählich zu Höflichkeit glättete.

Stehend machte er noch ruhig seine Kotaus. Dabei schob sich die Oberlippe langsam empor, daß die Nase noch breiter und platter wurde. Leise und betont:

»Herr Tscheng-ku sendet mich als Eilboten. Strengster Befehl. Befehl Seiner Hoheit, des Prinzen Dschingis!«

»Ah!?« Sofort riß sich Achmak zusammen. Er hatte den Zom schon vergessen. Begütigend legte er die riesige Krallenhand auf die Schulter des Beamten, der fortsetzte:

»Seine Hoheit ist eben in Kambalu eingetroffen. Er geruht, im großen Saale zu erscheinen, und läßt Eure Exzellenz bitten, ihm sofort die Ehre Eures Besuches zuteil werden zu lassen. Wichtigste Staatsgeschäfte! Das waren seine höchsteigenen Worte.«

Achmak überlegte. Plötzlich von Mißtrauen gepackt:

»Wie ist es möglich? Vor zwei Stunden erhielt ich Nachricht, daß Seine Hoheit durch Überschwemmung aufgehalten sei ...«

»Gewiß, so ist es!« Der Sohn trat hinzu. »Ich selbst habe mit dem Boten gesprochen, der die erste Meldung brachte. Frühestens in zwei Tagen, hieß es, sei die Ankunft zu erwarten!« Auch er faßte den Chinesen scharf ins Auge.

Dieser aber griff ruhig in sein Gewand und zeigte eine Schrift vor:

»Eure Exzellenz, dies zur Beglaubigung! Eigenhändig geschrieben von Herrn Tscheng-ku, gesiegelt von Seiner Hoheit.«

»Es ist kein Zweifel. Das Siegel ist richtig!« Achmak wiegte, schon halb umgestimmt, den Kopf. Schnell: »Gleichwohl ist es mir unerklärlich!«

Da sagte der Chinese in vollendeter Treuherzigkeit:

»Was wundert Euch daran, Exzellenz? Oder besser, ich hätte es Euch zuerst sagen sollen, daß Seine Hoheit nur mit wenigen Leuten in seiner bekannten Kühnheit auf einer Dschunke die reißenden Wasser übersetzte und in eiligem Ritte durch das kleine Westtor hereinkam.« Geschwätzig: »Das war eine Bestürzung im Palaste, Exzellenz! Wir schliefen schon. Tscheng-ku mußten wir erst suchen. Wie ein Ameisenhaufen, in den man ein Stück Baumrinde wirft, wimmelte alles durcheinander.« Er grinste unterwürfig. »Seine Hoheit aber war gnädig. Er hat uns die Kopflosigkeit nicht nachgetragen.« Plötzlich erschrocken: »Ich hätte fast vergessen, Exzellenz, daß Seine Hoheit wünscht, Euer Besuch möge unauffällig geschehen. Von der Anwesenheit Seiner Hoheit wissen ja nur die Beamten des engsten Kreises.« Vorgebeugt im Flüsterton: »Es sind furchtbare Ereignisse im Süden. Rebellionen. Es soll sofort gehandelt werden.«

Achmak hatte ruhig zugehört. Nein, das war ohne Zweifel keine Spur von Verstellung! Auf Tscheng-ku konnte er blindlings rechnen. Was hätte auch jemand mit dem Scherz, ihn in der Nacht in den Palast zu rufen, bezwecken sollen? Weh dem, der solche Spaße machte!

Eine andre Gedankenreihe: Dschingis, der künftige Großkhan, holte ihn schon in der Stunde seiner Ankunft. Nichts kann ohne mich ausgeführt werden in diesem Reiche! Es sind tausend Dinge zu erledigen, bei denen ich seine Deckung gegenüber Kublai brauche. Ich werde raten, er wird die Verantwortung tragen!

»Ich gehe!« Achmak war fast heiter gestimmt. An der Türe wandte er sich noch einmal um: »Die Frau schick sogleich nach Hause! Ich will nicht, daß sie länger hier bleibt.«

Der Sohn, der eben die Schläfen der Chinesin mit Wasser gerieben hatte, sprang auf, verbeugte sich tief und erwiderte:

»Wie du befiehlst, Vater! Allen Segen für deine Unterredung!«

Achmak aber ging unbekümmert durch die Korridore und befahl im Vorbeischreiten dem diensthabenden Beamten, daß sogleich eine geschlossene Sänfte und ein Gefolge von zehn Mann bereitzustellen seien.

 

Die Geduld Marco Polos stand auf einer harten Probe. Seit dem Verlassen des tatarischen Lagers hatte er nichts Neues erfahren. Im Gegenteil. Er war in einem so dichten Netz von halben und ganzen Geheimnissen gefangen, daß schon wieder Verdacht und Unsicherheit bei ihm rege wurden.

Jetzt saß er Tschang-li-sun gegenüber und schwieg, weil dieser ihm durch die Form der Antwort geradezu die Pflicht auferlegt hatte, kein Gespräch in Gang zu bringen.

Er sah sich im Zimmer um und wiederholte stets aufs neue jedes Erinnerungsbild, um auf alles gefaßt zu sein.

Tschang blickte irgendwohin ins Leere.

Wem das Haus wohl gehörte? Sicherlich war es weder das Yamen, noch der private Wohnsitz des Ministers. Ein nicht ganz gewöhnliches Haus. Soviel hatte er wahrgenommen, daß es an einer der Hauptstraßen im westlichen Teil der alten Stadt gelegen war. Und zwar mit der Front unmittelbar an der Straße. Es besaß ein Stockwerk. In diesem ersten Stockwerk saßen sie. Das Fenster gegen die Straße weit offen. Als er hatte hinuntersehen wollen, hatte ihm Tschang sehr höflich, jedoch sehr bestimmt von dieser Absicht abgeraten. Warum? Der Tisch stand ziemlich weit vom Fenster entfernt. Hell beleuchtet. Die Lampen waren erlesene Kunstwerke.

Dort drüben ein vielfächeriger Schrank. Jedes einzelne Stück, das die Fächer füllte, war sehenswert: Vasen, Tassen, Dosen, Götterbilder aus Ebenholz, Bronze, Alabaster. Auch die Glasursimse mit dem vergoldeten Schnitzwerk zeigen Wohlstand.

Warum wohl an der Wand, gerade dem Fenster gegenüber, das rechteckige, weißlackierte Brett hängt? Es ist nicht eben kostbar oder schön. Vielleicht ein Malgrund, der erst verziert werden soll. Oder eine unvollendete Ahnentafel.

Neben dem Brett eine Türe. Offen. Dort liegt auch ein Raum, von dem die Stiege in den Garten hinunterleitet. Sie waren durch diesen Raum hereingekommen. Drinnen an einem Bambustischchen, starr wie eine Skulptur, ein vornehmer Chinese. Man konnte ihn sehen, wenn man sich zurückneigte. Nein, ich werde mich nicht mehr zurückneigen! Er hat mich strafend angeblickt. »Barbare!« hat er sicher dabei gedacht. Jetzt habe ich den Mützenknopf erblickt. Dunkelblau. Also ein Mandarin dritten Ranges.

Ich kann das Gefühl nicht loswerden, daß man mich gefangen hält. Zumindest bin ich nur ein Werkzeug in diesem hohen Spiel. Wir werden ja sehen. Es ist alles recht unheimlich!

Schon die Art, in der wir hereinkamen! Ich habe nicht gewußt, daß es in der Altstadt solches Winkelwerk gibt. Ein Stadttor, das ich vorher nie sah. Tschang hat mich ohne viel Federlesens in seine Sänfte gesetzt und die Vorhänge geschlossen. Plötzlich kamen wir irgendwo aus einem Garten heraus in die Hauptstraße. Natürlich ohne Gefolge. Das war schon beim Stadttor verschwunden. Wahrscheinlich weiß außer den wenigen Vertrautesten kein Mensch, daß Tschang überhaupt von Kambalu abwesend war. Noch weniger, daß ich hereinkam!

Warum Tschang seit einiger Zeit fortwährend gegen die weiße Tafel starrt?! Ist das ein Beruhigungsmittel? Oder haben die Leute hier andre Augen und sehen Dinge, die uns verborgen sind? Vielleicht ein Zauber ...?

Ah! Was ist das?

Es hatte plötzlich schrill und sein gesaust. Ein kurzer, klatschender Schlag oben an der Wand. Da war es. Ein Ereignis, trotzdem wieder unbegreiflich:

Mitten in der weißen Tafel steckte, noch zitternd vom Anprall, ein kleiner Pfeil mit bunten Vogelfedern.

Tschang nickte befriedigt, als ob es sich um die gewöhnlichste Angelegenheit der Welt handelte.

Marco Polo aber konnte sich nicht mehr zurückhalten.

»War das ein Anschlag? Oder eine Nachricht?« Seine Summe zitterte von Erregung.

»Das zweite!« Der Minister antwortete abweisend und trocken. Unvermittelt lächelte er und verbeugte sich aufstehend. »Verzeiht, edler Herr Ma-ko-po! Es kann nicht mehr lange währen.« Geschmeidig, doch ein ganz klein wenig verächtlich: »Da ich aber sehe, daß Euch das Schweigen unerträglich ist, werde ich mir gestatten, Euch zu unterhalten!«

Marco schoß das Blut in den Kopf. Er entsann sich des Wunsches, in diesem Lande eine hohe Ehrenstelle zu erhalten. Nein, dazu war er noch lange nicht reif! Das erforderte andre Grade von Selbstbeherrschung.

Tschang, der langsam zur Tafel getreten war, faßte Marco Polo ins Auge. Auch den letzten Gedanken hatte er wenigstens zum Teil gelesen. Sofort mit feinstem Takt:

»Ich werde mir nie vergeben, daß ich für einen Augenblick wie ein Lastträger schwatzte. Mein Gesicht hat gelitten, obwohl ich es gut meinte. Ich vergaß nämlich vollständig, daß mir jede Selbstbeherrschung ein Spiel ist, da ich alles weiß, Ihr dagegen vor dem Unbekannten steht!« Während er die Tafel, die oben an Schnüren hing, herunterhob: »Es ist so, wie wenn zwei ein spannendes Buch lesen. Der eine hat es schon gelesen und vertieft sich mit Muße in die Einzelheiten und erfreut sich am Wohlklang der Worte und Satzstellungen. Der andre sieht es zum ersten Male und blättert mit zitternden Fingern.« Er drehte das Brett um und schloß betont: »Das vergaß ich. Ich verdiene nicht, den Rang eines Hanlin-Akademikers zu besitzen!«

Also auch Tschang war aufs äußerste erregt. Anders war das Schwanken seiner Stimmung nicht zu erklären. Fast hätte Marco die schuldige Antwort vergessen, da er schon auf die bunte Rückseite der geheimnisvollen Tafel blickte.

Er bezwang sich und erwiderte:

»Trotz Eurer großen Liebenswürdigkeit kann ich nicht leugnen, daß mein Charakter noch nicht so gefestigt, so abgeklärt ist wie der Eure. Ich werde mir an Euch, Exzellenz, ein Beispiel nehmen und meinem Lehrmeister ewig dankbar bleiben.«

»Vom Dank und von der Person, der er gebührt, sprechen wir ein andres Mal!« Tschang hatte wieder seine vollkommene Glätte und Sicherheit. Er zog lässig den Pfeil aus der Tafel, legte ihn auf einen Stuhl und setzte erläuternd fort, indem er das bemalte Brett auf den Tisch schob: »Es ist ein Abbild von Kambalu-Peking, was Ihr hier vor Euch seht, edler Herr Ma-ko-po!«

 

Plötzlich ein tonloses Murmeln aus dem Nebenzimmer. Eine Täuschung? Nein! Jetzt wieder. Unaufhaltsam, ohne daß der Klang eines einzigen Wortes bis zu voller Verständlichkeit anschwoll.

Tschang sprach ruhig weiter.

Unvermittelt stand der Mandarin dritten Ranges vor ihnen und verbeugte sich. Das Gemurmel im Nebenzimmer hatte aufgehört.

Tschang blickte langsam auf.

»Was bringt Ihr?« Seine Stimme hatte etwas ungemein Verschleiertes.

Der Mandarin sah so unbewegt ins Leere, daß Marco sogleich das Gefühl bekam, er wolle um jeden Preis das Gesicht wahren, obwohl es in ihm vor Erregung brande.

»Soeben ist die Nachricht eingetroffen,« erwiderte er tonlos dem Minister, »daß die Hoheit des nördlichen Reiches, Prinz Dschingis, wie sie ihn nennen, seit einigen Stunden in Kambalu weilt und in seinem Palaste Wohnung genommen hat.«

Ein furchtbarer Schrecken durchzuckte Marco Polo. Was würde jetzt geschehen? Warum hatte er die Truppen nicht sogleich einmarschieren lassen? Es war nicht auszudenken! Durch seine, durch seine eigene Schuld konnte Dschingis in Gefahr kommen. Gefangennahme des Prinzen? Damit war vielleicht das Mittelreich für Kublai dahin. Eine wirksamere Geisel als den erklärten Thronfolger gab es nicht!

Blitzschnell die Überlegungen. Doch auch Tschang-li-sun hatte anscheinend die Fassung verloren. Er sprang empor und raunte vorgeneigt:

»Was sagst du da?« Um einen Schatten gebändigter: »Es ehrt Euch, Feng, daß Ihr die Nachricht so ruhig vorbringen konntet. Ich bin zufrieden!« Zu Marco Polo: »Die Verwirrung hat die Spitze erreicht. Jetzt wird alles zerschellen. Nur mehr ein Weg steht offen. Wir müssen sofort zu Dschingis!« Er setzte sich und wies auf den Plan der Stadt. Fast völlig beruhigt und zergliedernd fuhr er fort: »Wenn wir zur Stadtmauer eilen, die die Altstadt von der neuen trennt, stoßen wir auf die Leitung der tatarischen Wachen. Vierundzwanzigtausend Mann sind insgesamt im Weichbild Kambalus. Die Scharwachen, die zu dreißig und vierzig Reitern die Straßen durchziehen, dürften etwa sechstausend Köpfe ausmachen. Bleibt bei vorsichtigster Schätzung eine geschlossene Macht von mindestens fünfzehntausend!« Aufblickend und fest: »Den Befehl, diese Mannschaft in Bewegung zu setzen und mit ihr den Palast des Prinzen zu schützen, bis von auswärts Hilfe kommt, könnt nur Ihr erteilen, Marco Polo! Nur Ihr! Ich werde versuchen, Euch mit einheimischen, verläßlichen Streitkräften zu unterstützen. Viel kann ich nicht versprechen.«

Marco Polo hatte den Minister nicht aus dem Auge gelassen. Zunehmend hatte sich sein Verdacht verstärkt: Eine der beiden Gemütsstimmungen Tschangs war unecht! Aber welche von beiden? War die Erregung gespielt? Oder die Ruhe geheuchelt? Beides war gleich wahrscheinlich. Der Charakter Tschangs war ebenso leicht imstande, schrecklichster Gefahr nach wenigen Augenblicken der Überraschung mit Ruhe zu begegnen, als eine Aufregung, die ihm sonst so ferne lag, künstlich zu höherem Zwecke vorzutäuschen. Eines war auf jeden Fall sicher: Tschang hielt an der Grundlinie seiner Ziele unverbrüchlich fest. Kublais Macht wurde durch ihn gestützt. So erforderte es für den Augenblick das heilige Tao.

Noch ein kleines Abirren des Verdachtes: Vielleicht gar ein Hinterhalt, in den er selbst gelockt werden sollte? Nein, dreimal nein! Tschang hätte ihn heute schon mehr als einmal spurlos verschwinden lassen können.

Was soll ich Dschingis sagen? Ich kann ihm doch nicht melden, daß ich ratlos tausend Geheimnissen gegenüberstehe? Wo ist Achmak? Der Mann, der nur auf meinen Fall lauert. Vielleicht ist der Assassine uns allen zuvorgekommen? Ist jetzt der Anschlag auf Achmak vereitelt? Gerade über diesen Punkt darf ich nicht fragen ...

Tschang riß Marco Polo aus seinen Betrachtungen:

»Seid Ihr mit meinen Ansichten einverstanden, edler Ma-ko-po? Oder haltet Ihr sie für irrig? In jedem Falle würde ich Euch bitten, rasch den Entschluß zu fassen!« Dabei lächelte der Minister rätselhaft, fast drohend.

Dieser Frage gegenüber gab es keine Überlegung. Es handelt sich beim Vorschlag Tschangs nur um den Schutz des Prinzen. Und zwar um einen wirksamen Schutz. Achmak scheint doch entweder schon gefallen oder weit abseits zu sein. Sicher aber ist er ahnungslos. Sonst wäre mein Befehl überflüssig.

So sagte er in verbissenem Ernst:

»Eure Ratschläge erscheinen mir vorzüglich, Exzellenz! Wie denkt Ihr Euch die Ausführung?« Er sah zu Boden. Tschang aber lächelte verbindlich, als er erwiderte:

»Es wird mir eine große Auszeichnung sein, mit Euch sogleich aufzubrechen. Fürs erste werden wir versuchen, den Befehlshaber der tatarischen Besatzung, den Obersten Kogatai, ausfindig zu machen. Alles weitere ergibt sich dann je nach der Lage.«

»Oberst Kogatai befindet sich bei der Wache des linken Mitteltores. Vor kurzer Zeit wenigstens war er noch dort, ohne Anstalten zu treffen, den Platz wieder zu verlassen.« Der Mandarin hatte es rasch eingeworfen. Er fügte noch bei: »Sänfte und Vorläufer stehen unten im Hofe bereit.«

Da ergriff Tschang plötzlich die Hand Marco Polos. In ungeschminkter, rein menschlicher Gemütswallung. Auch sein Ton war ganz anders, fast wie die Zärtlichkeit eines Vaters, als er sagte:

»Seid Ihr zu allem entschlossen, edler Ma-ko-po?« Und als Marco, der vor Überraschung kaum zu klarem Bewußtsein kam, stumm nickte: »Dann wollen wir zur Entscheidung aufbrechen. Eure Tapferkeit mag Euch den Weg erleichtern. Es wird schwer sein, Ma-ko-po, furchtbar schwer! Seid der beiden Drachen eingedenk. Beider Drachen wütendes Vollkommenheitsstreben muß in Euch sein, wenn Ihr siegen wollt. Jetzt aber heißen sie Leib und Geist, Kühnheit und Verstand!«

Damit ging er rasch zur Tür und wartete mit einer höflichen Handbewegung, daß Marco Polo voranschritte.

Der Venezianer aber warf den Kopf zurück und ein Jubel straffte sein ganzes Wesen. Denn plötzlich war die Göttin Ungewißheit, seine Göttin, grell vor ihm gestanden und hatte ihn gerufen.

Tschang-li-sun und Marco Polo wurden unter dem Stadttor von tatarischen Wachen genötigt, den Palankin zu verlassen. Oberst Kogatai habe vorläufig jeden Verkehr zwischen Altstadt und Neustadt verboten, bedeutete man ihnen in ziemlich grobem Tone.

Marco Polo stutzte. Warum diese Maßregel? Hatte vielleicht Kogatai schon Nachrichten von der bevorstehenden Rebellion? Nun, es würde sich gleich offenbaren.

Der hohe Torbogen, der durch eines der riesigen Wachthäuser der Stadtmauer hindurchleitete, war grell beleuchtet. Es wimmelte von tatarischen Soldaten.

Tschang-li-sun überließ das weitere seinem Begleiter.

Er selbst stand teilnahmslos da und sah gegen die Richtung der neuen Stadt. Ein sonderbar großartiges Bild. Die Straße lief ohne Biegung bis zum gegenüberliegenden Stadttor, wohl zehn chinesische Meilen lang. Auf ihrem breiten Spiegel aber drängten sich zuckend, stets kleiner und dichter werdend, die Laternen und Lampions der nächtlichen Fußgänger, daß es aussah, als schwärmten Tausende von Leuchtkäfern oberhalb eines schnurgeraden Flusses.

Plötzlich drei mächtige Glockenschläge, aus der Mitte der Neustadt herüberdröhnend.

»Verruchtes Zeichen!« murmelte Tschang vor sich hin.

Auch Marco, der eben auf einen Unterführer zuging, schauderte bei den Glockentönen zusammen. Das Mitternachtszeichen! Einführung Achmaks. Niemand durfte nach diesen Schlägen die Straße betreten. Wurde er ertappt, so setzte es dreißig schwere Stockstreiche. Eines der Mittel, Unschuldige zu verdammen. Der Mißliebige war eben nach der Zeit gesehen worden. Von wem? Er war gesehen worden, das genügte! Wer die Streiche nicht aushielt, starb daran. Viele starben. Ein Mensch, der Bambushiebe nicht erträgt, ist kein Mensch, um den man weinen muß.

Unwillkürlich blickte Marco gegen die lange Straße. Jämmerliche Eile der Glühwürmchen. Alles zitterte durcheinander. Verzischte, verschwand. Ein einzelnes Pünktchen irrte noch zickzack weit draußen. Was hilft's dir? Wenn Achmak will, war es schon zu spät, als du ranntest. Dreißig schwere Bambushiebe!

Marco Polo trennte sich vom Bilde und hielt dem Unterführer die große goldene Geleitstafel hin. Zwei Spannen lang, oben gerundet. Sie flirrte im grellen Lichte auf. Nur die höchsten Würdenträger und Günstlinge führten die große Tafel.

»Oberst Kogatai soll sofort zu uns herunterkommen! Wichtigste Befehle!« Marco sagte es möglichst scharf und heischend.

Tschang war zu ihm getreten.

Der Unterführer erholte sich erst nach einigen Augenblicken von seiner Bestürzung.

»Verzeiht! Verzeiht vielmals, hohe Herren! Die Soldaten sind Esel und Hunde...«

»Gut! Wir verzeihen! Jetzt aber schnell!« Marco machte eine ungeduldige Geste.

Der Unterführer rannte in das kleine Tor, das in die Wölbung des Hauptbogens zu linker Hand eingeschnitten war. Die Soldaten verzogen sich scheu nach allen Seiten. Offenbar fürchteten sie Strafe, tuschelten und steckten die Köpfe zusammen.

»Ein großes Glück, daß Kogatai noch hier weilt!« Tschang murmelte es wie zu sich selbst.

»Warum hat er die Stadtteile voneinander abgesperrt?« fragte Marco dazwischen.

»Unerklärlich!« Tschang sah zu Boden.

Die beiden schwiegen.

Es dauerte nur einige Herzschläge. Schon standen die Soldaten stramm grüßend da. Denn der Oberst schritt eilig aus dem kleinen Tor.

Gerüstet mit Helm und Panzer. Klein und geschmeidig. Der Bogen und der Köcher ragten über seine Achsel.

Marco Polo ging ihm entgegen.

»Ihr wollt Beschwerde führen, edle Herren!« Kogatai, dessen Antlitz etwas ewig Lachendes hatte, wiewohl er in Wirklichkeit nicht im geringsten lachte, streckte mit einer eckigen Geste Daumen, Zeige- und Mittelfinger der linken Hand vor. Es war seine ständige Gewohnheit. Mit der Rechten aber zog er zwirbelnd an dem lange herabhängenden Schnurrbart.

»Es fällt uns nicht ein, ehrenwerter Oberst. Eure Soldaten haben recht, wenn sie wachsam sind.« Marco Polo bemühte sich, freundlich zu sprechen, obwohl ihn die Erregung würgte.

»Was dann?« Kogatai war erleichtert, als er hörte, daß man ihm Unannehmlichkeiten ersparte. Schnell: »Den Weg könnt Ihr selbstredend fortsetzen, wohin es Euch beliebt!«

Marco Polo zog ihn kurzerhand beiseite.

»Wißt Ihr, daß Prinz Dschingis eingetroffen ist?« Marco sah ihn prüfend an.

»Gewiß!« Kogatai flüsterte zurück, da Marco leise gesprochen hatte. Mit einem scharfen Riß am Schnurrbart: »Mir gefällt die Sache nicht. Minister Achmak hat es mir im Vorbeikommen gesagt, daß die Hoheit hier sei. Noch einmal, mir gefällt die Sache nicht!«

Marco Polo fuhr entsetzt auf:

»Wann ist Achmak vorbeigekommen?«

»Eben vorhin, vor ganz kurzer Zeit!« Kogatai verstand die Erregung Marco Polos nicht. »Er ist zum Prinzen Dschingis befohlen!« schloß er sachlich.

In Marco Polo aber begannen die Gedanken zu rasen. Achmak bei Dschingis? Ist der Anschlag endgültig mißlungen? Oder richtet er sich doch auch gegen den Prinzen? Oder soll er den Minister unterwegs treffen? Verflucht sei die Schwäche, die mich in ein solches Netz von Ränken lockte! Ich muß Dschingis retten! Soll ich gleichzeitig Achmak warnen? Tschang hat sich also doch nicht verstellt, als er über das Eintreffen des Prinzen erschrak.

Genug! Ich muß weitersprechen ... Achmak wird nicht gewarnt! Er soll fallen! Nur den Prinzen will ich schützen!

»Warum gefällt Euch die Sache nicht, Kogatai? Ihr sagtet doch Ähnliches!« Marco hatte sich mit äußerster Kraft niedergezwungen.

»Warum?« Kogatai wiegte den Kopf hin und her. »Nun, weil nur Chinesen im Palaste Wache halten. Ich hätte gern Tataren aufziehen lassen. Achmak verbot es. Für alle Fälle habe ich die Chinesenstadt abgesperrt, damit nicht ...«

»Und von der Rebellion wißt Ihr nichts? Gar nichts?« Marco zischte es scharf heraus.

»Rebellion?« Jetzt fuhr Kogatai zusammen. »Wo soll eine Rebellion sein? Ich habe keine Meldung erhalten.«

»Sie ist noch nicht ausgebrochen!« Marco Polo beugte sich an sein Ohr. »Hört mich, Kogatai! Tschang-li-sun hat mich gewarnt. Versteht Ihr? Es ist kein Märchen! Alarmiert die ganze Macht, die Ihr habt. Unauffällig. Das Lager draußen ist schon benachrichtigt. Morgen früh rücken sie ein. Oder noch vor Morgengrauen. Verstärkt die Scharwachen. Ihr selbst aber umzingelt den Palastbezirk! Einige hundert Mann sollen mit uns kommen. Wir gehen auch zu Dschingis!«

Kogatai hatte seinen Schnurrbart in rasender Eile gezwirbelt. Wieder die eckige Geste mit den Fingern.

»Eine nette Bescherung!« Sein ewig grinsendes Gesicht war flammend rot. »Tut nichts!« setzte er gepreßt fort. »Wir fürchten das feige Gesindel nicht!« Abschließend: »Ihr, hoher Herr, und Tschang steigt zu Pferd! Ich reite mit. Drei Hundertschaften, die eben eingerückt sind, folgen uns lautlos. Damit halten wir das Innere der Paläste leicht im Schach. Das übrige ist in einer kurzen Weile im Gang. Genau nach Euren Befehlen. Jetzt verzeiht!« Und er eilte schon fort und verschwand in die Seitentür.

Maro Polo aber ging langsam und sinnend zu Tschang, der sich in die Nähe der Sänfte zurückbegeben und die beiden scharf beobachtet hatte.

»Wir reiten, Exzellenz! Alles andre ist geordnet!« Marco versuchte zu lächeln.

Bevor jedoch Tschang noch antworten konnte, liefen schon drei Tataren mit herrlichen Pferden aus der Richtung der Neustadt in die dröhnende Torhalle.

Auch Kogatai war plötzlich zur Stelle und schwang sich mit einem Satz in den Sattel.

 

Achmak schob den Vorhang der Sänfte zurück und beugte sich hinaus. Nach seiner Schätzung mußten die Paläste in nächster Nähe sein. Er hatte sich auch nicht getäuscht. Schon flimmerten ihm die erleuchteten Fenster des zu linker Hand ragenden Dschingis-Palastes entgegen.

»Ich steige aus, haltet!« rief er den Sänftenträgern gedämpft zu und wartete kaum, bis sein Befehl befolgt wurde.

Er trat in den Kreis der Soldaten, die den Palankin umgaben.

»Folgt mir bis zur äußeren Tür!« sagte er barsch. Dann ging er mit raschen Schritten voran.

Sein Auge musterte die ganze Umgebung.

Die breite Zufahrtstraße, auf der sie gekommen waren, lief schnurgerade gegen die Mitte des Raumes, der zwischen den beiden Palästen freilag. Weiter im Hintergrunde – im Dunkel der Nacht nur ein verschwommener Schattenriß – der künstliche Hügel. Bestanden mit unzähligen Bäumen, die Kublai aus den entlegensten Gegenden seines unendlichen Reiches hatte zusammentragen lassen.

Jetzt eine kleine Steigung. Die Terrasse war erklommen, auf der die Paläste sockelten. Der leere Zwischenraum aber war der riesige Teich.

Ein sonderbares Spiel von Farben und Reflexen auf der toten Schwärze des Wassers. In der Mitte, wie schwebend, in grünlich-braunem Glast die mannshohe, dreibeinige Kröte, in deren Bauch ein Feuer glühte und nach allen Seiten durch das durchscheinende Porzellan herausstrahlte. Rote und grellblaue Ornamente auf dem Leib der Kröte. Stoßweise entströmten dem glutroten, senkrecht nach oben gekehrten Breitmaule feurige Räucherdämpfe. Das untrügliche Zeichen der Anwesenheit Seiner Majestät oder der obersten Prinzen.

Das feurige Farbenspiel zitterte über den ganzen Teich, über Wasserrosen, Grotteninselchen und öde liegende Barken.

Achmak ging jetzt dem Ufer des Teiches entlang nach links. Gerade auf die Kante des glitzernden Dschingis-Palastes zu. Auch hier viel Licht. Laternenreihen. Strahlende Fenster. Das Mitteltor lag fast in Tageshelle. Man konnte einige Palastbeamte unter den goldenen Zieraten wahrnehmen.

Noch einen Blick zurück gegen die klotzige Wucht des finsteren Kublai-Palastes.

Es war kein Zweifel! Selbst das sorgfältigste Auge konnte nichts als die Bestätigung des verbrieften Berichtes erspähen.

Achmak schüttelte sich leicht unter einem fröstelnden Nachthauch.

Wie kam er überhaupt dazu, Verdacht zu hegen? Gut, bisher hatte niemand von den Leuten, die er auf dem Wege gefragt hatte, Dschingis gesehen. Das war jedoch hinreichend aufgeklärt. Wahrscheinlich eine Absicht des Prinzen selbst. Ob der Teich gut angelegt ist? Vielleicht bedeutet er eine Gefahr bei Rebellion. Vielleicht auch das Gegenteil. Kublai hatte ihn so gewünscht. Jedenfalls war die Verbindung der beiden Paläste dadurch unterbrochen. Abgesehen natürlich vom unterirdischen Gang.

Heute dürfte ich mich zuviel geärgert haben. Es ist gar kein Anlaß vorhanden, hier in Kambalu an Rebellion zu denken. Das Volk wird sich hüten, eben jetzt, da wir seine Herrscher bis zu den Malayen hinuntergejagt haben, aufrührerisch zu werden. Bessere Zeitpunkte wurden tatenlos versäumt.

Die Straße lief jetzt zwischen Teich und Dschingis-Palast, nachdem sie im rechten Winkel abgebogen war.

Achmak beschleunigte seine Schritte.

Die Palastbeamten des Mitteltores hatten ihn bemerkt und kamen mit hocherhobenen Lampen entgegen.

Er wurde ehrerbietig begrüßt.

»Seine Hoheit geruht, noch in den oberen Gemächern zu weilen!« sagte der eine leise und unterwürfig. Fortsetzend: »Seine Hoheit hat befohlen, den hohen Minister inzwischen in die Vorsäle zu geleiten.«

»Es ist gut!« Achmak winkte kurz ab.

Sie standen vor den mächtigen reliefbesäten Bronzeflügeln des Mitteltores. Hier mußte die Begleitung zurückgelassen werden. Strengster Brauch.

Die Palastbeamten hatten die Flügel geöffnet und sich rechts und links aufgestellt. Jetzt verneigten sie sich tief.

Achmak nickte mechanisch. Dann richtete er seine lange unheimliche Gestalt zu voller Größe empor und betrat die weichen Teppiche, die in den ersten Vorsaal führten.

Er durchschritt ihn rasch. Ebenso den zweiten, der um zwei Stufen höher lag.

Jetzt der dritte Saal, der eigentliche Warteraum vor der Audienzhalle. Kleiner als die anderen Säle. Dafür um so prächtiger. Dort vor der verschlossenen Türe standen die üblichen zwei Würdenträger. Der eine ein Tatare, der andre ein Katajer. Sie waren vom großen Begrüßungszeremoniell enthoben. Nur die vergoldeten Stäbe senkten sie zum Zeichen ihrer Ehrfurcht vor dem Minister.

Achmak ging, entgegen jeder Sitte, auf die Beamten zu. Er bekümmerte sich nicht im mindesten um ihre erstaunten Gesichter. Schon flüsterte er, da er doch nicht wagte, das Schweigegebot des Vorsaales allzu kraß zu übertreten:

»Ist seine Hoheit bereits in der Halle?«

»Nein!« erwiderte kurz der Tatare, wobei er unschlüssig um sich sah. Er war sich unklar, ob die Frage nicht nur eine Falle sein sollte, bestimmt, die Einhaltung der Schweigepflicht zu prüfen. Von Achmak konnte man solcher lebensgefährlicher Späße gewärtig sein.

»Habt ihr den Prinzen schon gesehen?« Achmak ließ nicht locker und starrte die beiden unheimlich an.

»Ich nicht! Hauptmann Tscheng-ku war eben hier und hat mir gesagt, daß Seine Hoheit eingetroffen ist und den Audienzsaal bald betreten werde. Ich solle mich in vorgeschriebener Form zur Tür stellen.« Erklärend: »Ich hatte nämlich Nachtwache in diesem Raum, bevor Seine Hoheit ankam.« Auf den Chinesen deutend: »Mandarin Chuen ist mit Tscheng-ku gekommen. Er kann Euch Näheres sagen, Exzellenz!«

Achmak drehte sich scharf gegen den Chinesen:

»Warum läßt du deinen Amtsbruder herumfaseln und antwortest nicht selbst?«

»Herr, wir sollen überhaupt nicht sprechen. Ihr könnt mir also das Schweigen nicht vorwerfen.« Der Chinese grinste höflich. Schnell fortsetzend: »Für Euch, Exzellenz, tue ich ein übriges. Ihr werdet mich schon schützen, wenn man mich für das Reden verantwortlich macht. Also, das wollt Ihr ja wissen, ich habe Seine Hoheit selbst gesehen. Mit eigenen Augen. Ich stand dabei, als er Herrn Tscheng-ku Befehle erteilte.« Der Chinese schwieg und blickte schon wieder ins Leere.

Achmak wandte sich von den beiden ab und begann auf und nieder zu schreiten.

Der Saal ist wirklich äußerst prächtig. Leider wieder alles voll von diesen kostspieligen Fratzen. Drachen aus Gold, Löwen aus Gold, Tiger aus Gold und Bronze. Edelsteinaugen. Marmor und Alabaster die Wände. Der Prophet soll mich verdammen, wenn man mit dem Golde nicht prächtigere Schlösser im Stil meines Landes hätte herstellen können!

Warum hat ihn nur der Chinese gesehen? Warum nicht der Tatare? Bisher nichts als Einheimische, die unmittelbar mit Dschingis in Fühlung waren! Ist das ein Zufall? Oder ist es verdächtig? Auf Tscheng-ku verlasse ich mich blind. Habe ich damit recht? Unterschätze ich die Rachsucht dieser Leute?

Was will ich eigentlich Dschingis vortragen? Ich werde noch plötzlich vor ihm stehen und nichts wissen. Also jetzt Ruhe. Zuerst: Bestätigung des Urteils und Verfahrens gegen den Literaten. Eine gute Deckung. Der Kerl soll sehr einflußreich sein bei den Einheimischen. Eine widerwärtige Erscheinung! Trunkenbold und Gedankengaukler. Zweitens: Das Wunder des großen Zauberers in der gelben Kutte. Hahaha! Das wird eine unangenehme Geschichte. Ich selbst habe von Wundem für alle Zeiten genug. Einer, der selbst im Paradies gewesen ist zu Lebzeiten ... Häßlich war es, der häßlichste Tag in meinem Erdendasein, als die Tataren das Nest des Alten vom Berge aushoben. Seit dieser Zeit ist für mich die Welt ohne Sinn. Und ich hatte so inbrünstig an das Paradies geglaubt. Man kann sich demnach nicht einmal mehr auf die eigenen Augen verlassen!

Gut! Lassen wir das! Ich habe nach der Erkenntnis, die mir ward, gehandelt. Scheußliche Hunde, die Tataren. Wie sie mein Volk ausrotteten. Weiber, Kinder, Blutlachen, Berge von Leichen. Wartet nur, Ungläubige! Noch bin ich nicht an der Macht. Nicht ganz unbeschränkt an der Macht. Ein Blutmeer soll aus Asien werden, wenn ich einmal oben bin!

Gemach! Nein, nur langsam! Es genügt, wenn ich euch im einzelnen wahllos schlachte, ich und meine Söhne! Wenn ich eure schönsten Weiber in meinen Armen stöhnen lasse vor Verzweiflung und Entsetzen. Und euer Geld an mich ziehe, daß die Arbeit von Lebensaltern euch entschlüpft.

Vorläufig genügt das.

Hanlin-Akademiker! Auch die Weisheit soll euch abhanden kommen. Ich werde mit Dschingis über eine Ausgestaltung der neuen Akademie sprechen. Vielleicht ist er vernünftiger. Kublai ist selbst schon so ein Philosoph, der langsam aber sicher allen recht gibt, die schön reden können. Auch auf die Tätigkeit der Christen werde ich zu sprechen kommen ...

Alles schön! Warum aber haben nur Chinesen den Prinzen Dschingis gesehen? Er läßt mich doch etwas lange warten. Mir kommt fast vor, daß mich der Chinese bei der Tür mitleidig höhnisch ansieht. Ja, jetzt hat er wieder so schief gegrinst.

Es ist unerträglich! Warte ich wirklich schon so lange? Es ist unerträglich! Kein einziges Anzeichen für eine Gefahr! Nichts, nichts! Und trotzdem weiß ich bestimmt, daß Dschingis nicht in Kambalu weilt. Warum weiß ich das? Ah! Pasepa hat mich mit seinem Blick vergiftet. Ich fühlte, wie er mich gelähmt hat für viele Herzschläge. Sieh dich vor, gelber Bonze!

Es ist unerträglich! Ich rufe die Soldaten!

Wahnsinn, Zauber! Jetzt hörte ich ein Geräusch im Audienzsaal. Pasepa hat mir den Wahnsinn eingegeben. Man will mich verderben. Ja, hol nur die Soldaten, Achmak! Hol sie nur! Die Tür wird aufspringen. Dschingis sitzt auf dem Throne. »Wozu Soldaten, Herr Achmak?« wird er mich lächelnd fragen. »Wollt Ihr mich überfallen?« Und dann hinaus! Hinaus aus dem Palast, hinaus aus dem Amte. Gestürzt! Verbannt! Geschmäht!

Ha, ich verstehe alles. Pasepa triumphiert. Pasepa wird oberster Minister. Achmak wird gefoltert und geschunden.

Nein, Zauberer! So dumm ist Achmak nicht. Obwohl er nicht im wahren Paradiese war. Deine Wunder dürften auch nicht besser sein als die des Alten vom Berge.

Es hat wieder gepoltert im Saale! Warum pocht mein Herz so wild?

Nein, eine Täuschung! Nur der Chinese grinst. Sieh weg, Fratze, sonst haue ich dir mit dem Säbel ins Antlitz!

Achmak begann seine Schritte zu beschleunigen.

Auf dem Wege durch die Palastgärten hatte Kogatai lautlos sämtliche chinesische Wachen ausgehoben und gefangen genommen. Im Rücken waren sie frei. Das war eine Hauptbedingung des Erfolges.

Als jedoch der strahlende Dschingis-Palast in Sicht kam, ließ Kogatai eine Hundertschaft absitzen. Sie sollten sich bis in die Nähe des Palastes heranpürschen und auf ein Zeichen harren. Die übrigen hatten zu Pferde stehen zu bleiben.

Kogatai sagte plötzlich zu Marco, als sie an den Teich kamen und der unheimlich leuchtenden Kröte ansichtig wurden:

»Ihr müßt mich gegen Achmak in Schutz nehmen, hoher Herr! Er wird mich zur Verantwortung ziehen, weil ich seinem Befehl zuwider handelte.«

»Seine Exzellenz scheint von der Verschwörung nichts zu wissen!« Marco erwiderte trocken und klar, obwohl auch ihm selbst äußerst unbehaglich zumute wurde. Dann wegwerfend: »Was soll Achmak sagen? Neue Ereignisse erfordern neue Befehle!«

Tschang-li-sun spähte forschend nach allen Seiten.

Plötzlich ein Schatten an der Wand des Palastes, an der sie jetzt entlang trabten. Der Minister trieb das Pferd hin, beugte sich herab und raunte unverständliche Worte. Der Schatten war verschwunden, als ob ihn die Erde verschluckt hätte.

Kogatai hatte den Vorgang bemerkt. Hastig zu Marco Polo, mit dem er um Pferdeslänge voranritt:

»Seid Ihr des Chinesen sicher, Herr?«

Bevor noch Marco antworten konnte, war Tschang schon wieder an ihrer Seite und sagte tonlos, aber mit unheimlichem Beben:

»Jetzt auf alles gefaßt sein, meine Herren! Es geht um das ganze Reich. Vertraut mir!« Und er setzte sein Pferd in Galopp und sprang vor dem Haupttore, vor dem die erstaunten Palastbeamten zusammenliefen, mit unerwarteter Geschmeidigkeit aus dem Sattel.

Marco Polo und Kogatai waren noch einige Schritte entfernt, als sie schon die laute Stimme Tschangs hörten:

»Öffnet! Prinz Dschingis hat uns durch Eilboten gerufen. Vorwärts! Bei der Ungnade seiner Hoheit!«

»Es ist so!« rief Kogatai dazwischen, der auch schon auf den Fliesen stand.

Als letzter war Marco Polo eingetroffen.

Die Beamten waren sprachlos. Was ging vor? Es mußte sich Furchtbares ereignet haben. Lieber nicht wissen, was es war. Das Gesicht Kogatais, das ihnen wohl bekannt war, zeigte, daß die Verzögerung eines Herzschlages ihnen Unheil bringen konnte.

Gebückt und dienstfertig rissen sie die Bronzeflügel auf.

Achmak stand horchend vorgebeugt. Also zuerst das Geschenk für Seine Majestät. Dann meinethalben die Hanlin-Akademie. Alles nach der Reihe.

Warum haben nur Chinesen Dschingis gesehen?

Ah! Was ist das? Warum grinst der Chinese bei der Türe so satanisch? Kein Irrtum. Er grinst wirklich.

Es knirscht und rasselt. Der Schlüssel. Warum pocht mein Herz bis zum Hals?

Die Tür ist offen. Das Licht blendet. Vorwärts, Achmak! Was zögerst du?

Er trat, am ganzen Leib fröstelnd, mit langen Schritten in die Türe. Vorsichtig und mechanisch versuchte er es zu vermeiden, mit dem Fuß die Schwelle zu berühren. Verbot Kublais. Üble Vorbedeutung.

Plötzlich hatte seine Kraft versagt. Hart stieß er mit dem Fuß an die Ebenholzbohle.

Er fuhr zusammen. Entsetzlich! Eine gräßliche Schande.

Schon sah er Dschingis. Am anderen Ende des riesigen Saales. Er kannte das Gewand. Warum hielt Dschingis den roten Staatsfächer vor dem Antlitz?

Ah! Er verstand. Milde! Dschingis wollte das Stolpern an der Schwelle übersehen.

Nein! Es ist etwas andres. Wo ist die Gefahr? Ich fühle sie. Wahnsinn! Zauber! Ich bringe mich um meine Stelle. Schnell! Fußfall! Kopf zur Erde. Neunmal, wie die Vorschrift lautet.

So, da liege ich. Helft mir. Ich bin so elend. Krallende Angst. Fieber. Wahnsinn.

Was werde ich sehen, wenn ich aufstehe?

Achmak, zähle! Du bringst dich um die Stellung. Gleich wird er laut lachen.

Fünfmal! So! Gut! Sechsmal! Siebenmal! Achtmal!

Nicht aufstehen! Nicht aufstehen! Mein Herz zerreißt die Brust.

N-e-u-n-m-a-l!

 

In diesem Augenblick stürzten Kogatai, Tschang-li-sun und Marco Polo in den Vorsaal.

Wie gelähmt stockten sie. Was ging vor? Warum stand die Türe zur Audienzhalle offen?

Rechts und links dieser Türe wie leblose Statuen der Tatare und der Chinese. Drinnen grellste Lichtflut. Der weiße Atlas des am Boden liegenden Achmak gleißte. Dschingis, noch immer den roten Staatsfächer vor dem Gesicht, am entgegengesetzten Ende der Halle.

Plötzlich eine grauenhafte Stimme. Brüllend wie aus den Tiefen der Hölle:

»Für Frau und Tochter! Für Frau und Tochter!«

Marco und Kogatai stürzten entsetzt bis zum Türrahmen.

Da, ein Vorhang links bewegte sich. Traumschnell. Achmak halb erhoben. Man sah sein schlotterndes Wanken.

Aus dem Vorhang hervor ein Sprung. Eine Gestalt hockte neben Achmak. Kreiselndes Farbenspiel einer langen Klinge. Ein gräßlich schneidendes Zischen durch die Luft. Der Körper Achmaks knickte wie ein Bündel in sich selbst zusammen.

Knapp vor ihnen aber lag der Kopf. Grausig verzerrte Züge. Offene, verglaste Augen. Pferdezähne. Lange, gefletschte Pferdezähne.

Gurgelnd schössen Blutströme aus dem Halsstumpf des zuckenden Atlasleibes, der mit riesigen roten Flecken sich besudelte.

Neben dem Greuel ein im Ausfall des Fechters erstarrter Mann, ein langes Schwert mit beiden Händen umkrallend.

Eben begann Marco zu erfassen, was sich zutrug. Er riß den Degen heraus.

Da, ein neues Schrecknis.

Dschingis hatte den Fächer vom Gesicht geworfen. Er war aufgestanden. Mit wilden Augen funkelte er gegen die Türe.

Ein entsetzter Ausruf neben Marco. Kogatais Stimme:

»Tscheng-ku! Es ist Tscheng-ku! Verrat! Aufstand!«

Es surrte greulich am Ohre Marcos vorüber.

Schon heulte der auf dem Throne:

»Die Raketen, Uang-tschu!« Dann breitete er plötzlich die Arme weit aus und stürzte langsam, als ob er die Luft mit Händen fassen wollte, vornüber.

Krachend schlug er mit dem Antlitz gegen die Stufen. Dann lag er, den Kopf abwärts, schlaff über die Treppe hinuntergebreitet. Kogatais Pfeilspitze blinkte zwischen seinen Schultern.

Der erstarrte Fechter zuckte empor.

»Haltet Uang-tschu im Saale!« Keuchender Ruf Tschangs, der sich auf den chinesischen Türhüter stürzte.

Marco sah sich für einen Herzschlag um. Nur ein Riß mit dem Kopf. Kogatai lief schon hinaus.

Blitzschnelle Gedankenfolgen: Er holt die Truppen. Ich verstehe alles. Uang-tschu darf nicht fliehen. Sonst erfahren es die Verschwörer. Feuerzeichen. Das Tao ist für ein Menschenalter gestört.

Dem Feind entgegen! Vor, Marco Polo! Ich weiß nicht, wo noch Ausgänge sind. Fechtend festhalten! In deiner Faust liegt eine Welt. Gräßliche Blutlache! San Marco! Bester Fechter Rialtos! Beweise, was du kannst.

Uang-tschu rannte schon gegen die dem Vorhang gegenüberliegende rechte Längsseite des Saales. Im Sprunge setzte er über die Leiche Achmaks. Da, die Entscheidung: Er glitt im Blute aus und taumelte.

Genug Zeit für den Venezianer, ihm den Weg abzuschneiden.

Kein Maß mehr für Geschwindigkeit. Herzschläge wie Jahre.

Marco griff an.

Der Chinese hatte sich ins Gleichgewicht gerissen.

Wird der Degen die schreckliche Wucht aushalten? Wie ein Mohnkopf unter der Sense ist Achmaks Haupt vom Rumpf geflogen.

Nein! Er hält es nicht aus. Madonna! Klirrend sauste schon die abgesplitterte Spitze des Degens irgendwohin auf den Boden.

Kurz parieren! Der Korb wird halten. Ja, so geht es. Mir bricht dabei das Gelenk. Fehlhieb. Jetzt greife ich an!

Porco dio! Hopp, hopp, ila! Er ist überall und nirgends, der Kerl. Wie er mich ansieht!

Plötzlich ein heiserer Schrei Uang-tschus mitten in einer zischenden Finte:

»Laß mich durch! Fremdester der Fremden! Der nächste Hieb ins Hirn! Was kümmert dich unser Geschick? Teufel!«

Und Uang-tschu schnellte vor, nachdem der Angriff Marcos in die Luft gestoßen hatte. Noch mit knapper Mühe die Parade des schmetternden Kopfhiebes. Der Brusthieb saß. Marco taumelte zurück. Der Panzer! Hat er gehalten? Vorwärts!

Marco schöpfte das Letzte aus sich heraus. Der Degen ist zu kurz. Machtlos gegen diese Flinkheit. Wenn ich es nur aushalte!

»Schäm dich, Fremdling! Laß mich durch! Fremdling! Fremdling!« Jedes Wort begleitet von einem Hieb. Die Funken sprühten vor den Augen Marcos.

Unvermittelt die Lähmung. Ein winziger Gedanke. Nein, vor!

Marco prallte vor und trieb den Gegner um viele Schritte zurück. Er hatte zum erstenmal getroffen. Heiseres Aufbrüllen Uang-tschus. Jedoch kein Nachgeben.

»Teufel! Fremder Teufel!«

Wieder die Lähmung. Jetzt kroch sie in Marco herauf. Er hat recht! Er kämpft für die Heimat. Ich fechte für mich. Ein Söldner, ein Ehrgeizling.

Aaah! jetzt ist es zu Ende!

Klatschend war die Schneide über den rechten Arm Marco Polos gefahren. Er hielt noch den Degen. Wie lange noch? Fliehen? Nein, ich fliehe nicht!

Noch eine Parade. Noch eine. Der Schmerz betäubte ihn fast.

Plötzlich nichts mehr ...

Was ist geschehen? Er springt zurück, wirft das Schwert zur Erde. Wo ist er? Ich kann ihm nicht folgen. Ich habe keine Kraft mehr ...

Uang-tschu stand zehn Schritte weit. Knirschende Zähne. Haß und Jammer zugleich! Eine wilde Bewegung zum Gürtel. Er hieb die eigene Hand gegen den Mund. Verdrehen der Augen.

Hinter Marco Klirren und Laufen. Soldaten drängten herein.

Die Stimme Kogatais:

»Schnell! Er nimmt Gift. Wir müssen ihn lebend fangen.«

»Streicht ihm Hundekot in den Rachen! Er soll das Gift ausspeien!« brüllte ein tatarischer Unterführer.

Uang-tschu aber richtete sich auf und gellte ein verzweifeltes Lachen durch den Saal.

Kogatai faßte Marco Polo am linken Arm.

»Verwundet? Ihr seid der Retter! Ihr, Ihr allein!«

Das Lachen war verstummt. Statt dessen ein heiseres Kreischen Uang-tschus:

»Fluch dem Fremden! Fluch, tausendfacher Fluch!« Abgründiger Haß loderte aus brechenden Augen zu Marco herüber. Bevor aber noch die Soldaten ihn erreicht hatten, wälzte sich schon der Leib des kühnen Fechters in letztem Aufzucken auf den Fliesen.

 

»Das Tao ist gerettet!« Die Stimme Tschangs gab Marco Polo endgültig das volle Bewußtsein zurück. »Ihr habt Zehntausende am Leben erhalten, edler Ma-ko-po!« Dann ruhig und langsam, indem er Kogatai eine Papierrolle reichte: »Hier die Namen und Schlupfwinkel der Verschwörer. Hebt sie aus. Ich denke, es genügt Verbannung. In den meisten Fällen. Es sind ehrenwerte Leute. Nur die Namen, die mit roter Tusche geschrieben sind ...« Er stockte einen Augenblick. Dann unerbittlich: »Ich empfehle Euch, sie hinzurichten. Eigennützige, unruhige und gefährliche Rebellen. Rebellen um jeden Preis!« Lächelnd zu Marco, nachdem er sich von Kogatai abgedreht hatte: »Wir wollen die neue Ordnung, die dem Tao entspricht, einleiten, edler Ma-ko-po! Wenn Ihr weiter meines bescheidenen Rates bedürft!«

Marco Polo aber, von dessen Arm das Blut herabströmte, erwiderte tonlos:

»Erlaßt es mir, das schreckliche Bild noch weiter zu sehen, Exzellenz! Ich besorge mir einen Verband! Dann können wir alles Weitere ordnen!« Und er kehrte sich gesenkten Blickes ab.

Tschang aber verbeugte sich und sagte verbindlich:

»Es wird mir eine Ehre sein, Euren bescheidenen Wunsch zu erfüllen.«

Als Marco den Saal des Grauens verließ und mit tiefen Atemzügen die Luft, die durch geöffnete Türen hereindrang, einsog, strömten stets neue Scharen tatarischer Soldaten durch die Räume. Feste Tritte und Waffenklirren surrten in seinen Ohren. Einige erfahrene Krieger waren sogleich zur Stelle, schnitten Marco den Ärmel auf und wuschen die Wunde.

Ein Reiter aber jagte in die Nacht hinaus, um Heilkräuter zu holen.

Eine Stunde später.

Marco Polo stand mit Tschang-li-sun auf der mächtigen Plattform einer Bastion, die die Nordwestecke der Stadtmauer überhöhte.

Der Mond hatte sich mit einem gerippten Schleier gazefeinen Gewölkes überzogen, so daß die Stadt und die weite Ebene nur in mattem Schimmer hervortraten. Die Halbkugel des Himmels über ihnen erschien unfaßbar hoch und mächtig.

Marco Polo, dessen Antlitz in greller Blässe durch das Halbdunkel leuchtete, war eben zu den Zinnen auf der Stadtseite getreten. Von unten in hundert Abstufungen der Dämpfung vielfältiges Pferdegetrappel. Fackeln und Laternen wie Irrlichter hie und da in dem rechteckigen Netz der geraden Straßen.

Er wollte nicht denken. Jetzt galt es, nur im Augenblicke zu leben, bis alles vollendet war. Die Wunde brannte. Sie soll brennen! Was wäre geschehen, wenn Enrico mir nicht den Panzer aufgedrungen hätte? Zerklaffte Brust. Die Lunge, vielleicht das Herz durchschnitten. O, das wäre Ruhe!

Tschang begann leise zu sprechen. Erst nach einigen Worten faßte Marco Polo den Klang auf.

»Wenn mir nicht die Regeln meines Verstandes verbieten würden, nichteingetroffene Möglichkeiten mit Gefühlen zu begleiten ...«

Marco Polo unterbrach ihn. Fröstelnd schlugen seine Zähne gegeneinander, als er fragte:

»Was meint Ihr, edler Tschang? Mein Geist ist wie verdorrt. Ich habe zu viel Blut verloren. Verzeiht!«

»Ich meinte nichts Bedeutendes.« Der Minister bemühte sich, eine leichtere Form der Mitteilung zu finden. Plötzlich schnell: »Ich wollte sagen, daß noch kein staatsmännischer Plan mit solch unglaublicher Genauigkeit zu Ende gebracht wurde, wie das, was wir eben erlebten. Rückschauend schaudere ich, besser, ich müßte schaudern, wenn ich alles überdenke. Es sind Wunder geschehen, edler Ma-ko-po! Nicht eines. Zehn Wunder! Die Geschichte wird noch in fernen Zeiten diese Ereignisse als Unbegreiflichkeit berichten.«

Marco fuhr leicht empor. Ein furchtbarer Schmerz hatte seine Seele erfaßt und in eine andere Richtung geschleudert. Er sagte dumpf vor sich hin:

»Und ich habe einen wahren Patrioten getötet! Fremdester der Fremden! Ewig verflucht! Ich fürchte die Geschichte dieses Ereignisses!«

»Ihr irrt!« Tschangs Summe war hart und kühl, als er mit abgekehrtem Antlitz erwiderte: »Noch einmal! Ihr irrt! Verzeiht meine Kühnheit. Nicht in allem irrt Ihr. Uang-tschu und Tscheng-ku waren wahre Patrioten, als sie Achmak erschlugen. Nicht um einen Atemzug weiter. Was sie als Staatsmänner wollten, war gräßlicher Landesverrat. Wer bürgt, daß nicht in zwei Jahren, nachdem Millionen meines Volkes von den erzürnten Tataren geschlachtet worden wären, der verruchteste aller Pläne wieder aufgetaucht wäre: Der Plan, den ganzen Norden des Mittelreiches zu entvölkern und die Reisfelder umzupflügen, um Weide für die Rosse des Eroberers zu gewinnen.« Endgültig: »Die beiden Helden sind glücklich! Ihre Rache ist gelungen. Und der Tod ereilte sie, bevor sie Schande auf sich luden, bevor sie das Tao stören konnten.«

»Wieder zwei Welten!« Marco sagte es nur mehr zu sich selbst, da das hohle Brausen in seinem Kopfe stets stärker anschwoll. Fast lallend: »Zwei Drachen, die um die Perle ...«

»Vielleicht sehe ich nur den einen der Drachen!« Tschang hatte etwas unendlich Abweisendes in der Stimme. Mit Überwindung: »Ich will versuchen, meine Gründe klarer vorzubringen.« Plötzlich abgelenkt: »Später, edler Ma-ko-po! Der Bote Kogatais scheint zu kommen.«

In der Tat war eine Bewegung unter den tatarischen Soldaten entstanden, die bisher wie Bildsäulen an den Zinnen gelehnt waren. Eine kleine Hornlaterne blitzte auf. Schon stand ein tatarischer Offizier grüßend vor den beiden.

Marco Polo hatte sich mit äußerster Anstrengung in die Gegenwart zurückgezwungen. Kaum ein Zittern war in seiner Stimme, als er fragte:

»Der Bericht des Obersten Kogatai?«

»Ihr habt es erraten!« Der Offizier winkte Soldaten herbei, die einen der roh gezimmerten Tische heranrückten. Nachdem er die Hornlaterne hingestellt und ein großes Blatt aufgebreitet hatte: »Oberst Kogatai läßt Euch bitten, den Bericht zu lesen. Ihr mögt nach Gutdünken noch einiges beifügen.«

Marco Polo ließ sich auf einen Stuhl nieder. Sein Auge glitt über die Zeilen, während er ab und zu bruchstückweise den Inhalt an Tschang mitteilte, der neben ihm stand.

»Es ist keine Gefahr mehr – die Raketen entdeckt und vernichtet – Boten in die Provinz – die Führer zum Teil verhaftet – Strenges Verbot an die Stadtbewohner, die Straße vor dem Morgen zu betreten – bei Todesstrafe – Sie wissen durch Kundmachung, daß alles entdeckt wurde und daß Uang-tschu und Tscheng-ku tot sind – Achmaks Tod vorläufig geheimgehalten ...«

»Er hat recht, es ist keine Gefahr mehr!« Tschang-lisun sagte es mit starker, entschiedener Betonung. Dann väterlich: »Ma-ko-po! Es gibt noch manches hinzuzufügen. Ihr habt für das Tao eine Wunde auf Euch genommen, die Euch am Schreiben hindert. Darf der Akademiker des Hanlin für Euch den Dienst des Schreibers versehen? Es wird mir und meinem Volk eine Ehre sein, wenn ich diesen Dienst verrichte!«

Marco sah den Minister überwältigt an. Wollte er den Fluch Uang-tschus tilgen? Der Hanlin, der ihn mit dieser Tat fast über den Rang eines einheimischen Kaisers stellte? Wunder dieser unergründlichen Seelen. Vielleicht waren gar nicht zwei Drachen im Kampfe gelegen. Vielleicht besaß Tschang schon die schimmernde Perle der Vollkommenheit.

»Zehnmal unwürdig bin ich dieser Auszeichnung!« Marco verbeugte sich mechanisch. »Ich wage es nur, weil Ihr es so wünscht. Habt Nachsicht mit meinem Gestammel!«

Tschang hatte sich schon gesetzt und das Blatt ergriffen.

Wie im Traum formte Marco Polo die Sätze seines Berichtes an Kublai, die im nächsten Augenblick in herrlich reinen, verzierten Schriftzeichen, geformt und geglättet, zu Papier standen.

»Erlaubt, daß ich zur Unterfertigung Eure erhabene Hand führe!« sagte der Minister leise, als er merkte, daß Marco nichts mehr hinzufügen wollte.

Marco Polo gehorchte wortlos. Seine Zähne knirschten leise vor wütendem Schmerz, als Tschang den Pinsel sachte seinen Fingern einfügte und die Schriftzüge langsam aber fest leitete.

»Und jetzt möge das Papier, von hurtigen Rossen getragen, nordwärts stiegen!« Tschang stand auf und verbeugte sich mit undurchdringlicher Miene.

Kaum hatte der tatarische Offizier, der mit dem Bericht die Treppen hinabeilte, sie verlassen, als schon der Minister und Marco Polo nahe an die nördlichen Zinnen traten, wo die Bastion schwindeltief in die rauchweiße Ebene abfiel.

Knapp neben ihnen, auf hohem Sockel, sonderbare Riesenfackeln aus Werg und Harzen, die scharf dufteten und am oberen Ende zerspellt waren, um leichter in Brand gesetzt werden zu können.

»Gebt das Zeichen!« Marco Polo sagte es in vollem, starkem Tone.

Da pustete ein Soldat gegen ein spannenlanges Papierröhrchen, das am Ende stickig glimmte. Sofort schlug eine reine Flamme aus dem Zündstabe. Dann kletterte er blitzschnell auf den Sockel und stieß die Zündkerze in die faserigen Enden der beiden Riesenfackeln. Ehe er aber noch herabspringend den Boden erreicht hatte, loderten die Fackeln schon mannshoch zischend empor: Grellrot die rechte, blauweiß die linke.

Stets riesiger, stets brodelnder wurden die Flammen. Wilder Glast riß jede Einzelheit der Turmzinne in zwiefarbenes Tageslicht, verzerrte die Formen, sprenkelte die Antlitze und Gestalten mit wilden Schatten.

Da, ein Wunder: Draußen in der Ebene, wohl fünf Meilen weit, klein, aber grell, dasselbe Zeichen. Es schien auf der Ebene zu tanzen, in der freien Luft zu schweben.

Und jetzt noch weiter draußen ein zweites.

Das Pech brodelte. Die Flammen zu ihren Häupten heulten in majestätischer Größe.

»Etwas habe ich Euch noch aufzuklären, edler Ma-ko-po!« Tschang beugte sich über den Zinnenrand, um das erhabene Schauspiel besser beobachten zu können. Wie zu sich selbst: »Der Pfeil in der Tafel war die Nachricht meines Boten, daß Achmak bei unsrem Hause vorübergekommen sei. Auch überraschte mich keineswegs die Nachricht vom Eintreffen des Prinzen Dschingis, denn ihre Unrichtigkeit war mir von vornherein bekannt!« Ruhig: »Jetzt wißt Ihr, daß ich unmittelbar mitschuldig an der Ermordung des Ministers bin, da ich trotz des Zeichens sitzen blieb und Achmak in die Falle gehen ließ!« Nach einer Pause: »Ich wollte dies nur überflüssiger Weise hinzufügen, damit Ihr seht, daß mir das Tao höher steht als mein Leben. Damit Ihr weiters überzeugt seid, daß auch Tschang-li-sun ruhig mit blankem Schwerte ficht. Euer Handeln aber soll Euch selbst und mir beweisen, wo die rechte Vaterlandsliebe und vor allem, wo die letzte Erkenntnis der Weltharmonie heute lag.« In verändertem Tone, lächelnd und heiter: »Seht, wie die Lichter laufen! In wenigen Stunden wird Kublai wissen, daß Kambalu seiner Anwesenheit bedarf!«

Marco antwortete nichts mehr. Sein Auge blickte entzückt hinaus. Denn schon spannte sich eine leicht gebogene Linie von rotweißen Feuerzungen durch die Ebene. Stets kleiner und naher aneinander. Plötzlich begann sich die Linie auf die nördlichen Randberge Tschilis hinaufzuschlängeln, stieß mit jedem Atemzuge weiter vor, bis sie hoch oben auf der Schwärze des Himmels jäh abbrach.

Im Geiste aber sah Marco Polo die berittenen Boten von Wachtturm zu Wachtturm rasen, um dem großen Khan der Khane auf halbem Wege das Documentum entgegenzutragen, das in verzichtender Demut der weise Hanlin- Akademiker geschrieben hatte:

An seiner Statt, dem das Verdienst um die Rettung des Tao zugeschrieben wurde; wiewohl der Fluch Uang-tschus das Frösteln seiner geschwächten Glieder zu kalten Schauern verdichtete. – – –

Am frühen Nachmittag des nächsten Tages war der Himmel über der Ebene mit geballten Wolken bedeckt. Nicht gewitterschwül. Eine gleichmäßig dumpfe Augusthitze zitterte durch das tonlose Licht. Die Wolken erwarteten von irgendwoher den Wind, der sie fortjagen sollte. Entweder gegen die Wüste Gobi oder dem Gelben Meere zu. Dort wollten sie dann zerflattern, sich auflösen, ihr nutzloses Dasein endigen, das weder für Regen, noch für Schatten recht taugte.

Die Sänfte Marco Polos klomm eben die Zickzackstraße hinauf zum Landsitz.

Kambalu war fest in der Hand Kogatais. Kein Rebelle hatte sich gezeigt. Ja, die riesigen Scharwachen, die nach Einrücken der Lagermannschaft jede Straße durchtrabten, wurden sogar vom Volke mit einer Art von Freundlichkeit begrüßt. Allerdings erst seit dem Augenblick, da Achmaks Tod bekannt geworden war. Tschang-li-suns Anhang schien sich über Nacht auf geheimnisvolle Weise verzehnfacht zu haben. Es gab fast nur mehr »unverläßliche Rebellen« in Kambalu.

Marco hielt sich mit Mühe aufrecht. Die durchwachte Nacht, ein leichtes Wundfieber, ziehende Schmerzen bis hinauf zur Schulter. Brust und Achseln von den Hieben zerbeult, die der Panzer aufgehalten hatte. Dazu die zwiespältige Verfassung seiner Seele.

In der Ebene hatte sein Selbsterhaltungstrieb ein Gegengift erzeugt. Jeder Schritt der Sänftenträger ließ die Wirkung wachsen.

Jetzt rückte die neue Kraft in den Mittelpunkt und verdrängte Schmerz und Zweifel.

Er begann plötzlich kühl, fast unbeschwert zu überlegen. Wie war es möglich, daß er die Jahre hatte leben können, ohne diese Achse des Daseins zu entbehren? Ohne selbst den Wunsch nach ihr zu fühlen? Ja, nach ihr! Spiel der Worte. Sie ist es, die das Gewölbe meiner Gedanken trägt. Jeder Schritt bringt mich näher. Li-ping-erch! Wie wenig melodisch ist das Wort für unser Ohr. Kann man den Namen überhaupt zärtlich, werbend aussprechen? Ich weiß es nicht. Eine Preisfrage für die Hanlin-Akademiker.

O, ich spotte?! Meine Gefühle scheinen das zulässige Maß zu überschreiten. Die Sänftenträger sind nette Kerle. Ich fürchte, sie laufen vor Ehrfurcht auf den Fußspitzen. Enrico wird ihnen einige Humpen Wein und eine Handvoll Kupfermünzen zur Befriedigung ihres Spielteufels geben. Sie verdienen es.

Tschang scheint etwas gesagt zu haben. Die Chinesen behandeln mich alle wie einen Halbgott. Soviel verstehe ich schon von der Volksseele, um bloße Höflichkeit von Hochachtung zu unterscheiden.

Mag der Name unmelodiös klingen! Die Person ist mehr als Melodie. Seit Melissa habe ich diesen Traum nie mehr geträumt. Weiche Stimme. Spricht sie schnell oder langsam? Genug, daß sie spricht. Wie eines der langen, schmalen Seidengemälde hat sie leise vor mir ihre Seele aufgerollt. Da flogen schillernde Vögel, da standen porzellanene Pavillons in bambusumbuschten Teichen. Bunte Menschen, tändelnd, singend, spielend. Ernste Bergschroffen. Stets vielfältiger. Und im Hintergrund dieser Himmel, dieser ferne, glasige Himmel mit der rotglühenden Sonne. Rauchige Gebirge, Wolken, winzige Pagodenumrisse. Irgendwo leuchtet ein Fenster in widergespiegelter Sonnenglut.

So hat sie gesprochen. Ewig möchte ich dieses Seidenbild ihrer Seele sehen. Wenn ich auch oft die Worte überhöre und nur dem Zusammenklang von Duft, Körperform und Ausdruck des Gesichtchens lausche.

Der ferne, glasige Himmel! Schmerz in der Brust? Würgendes Atemstocken und Beben? Eine Folge des Schwerthiebes?

Nein, Li-ping-erch, das ist nicht das Schwert, das hast du getan!

Pfui! Ich bin schwach, habe Blut verloren. Wie kann ein Marco Polo so verträumt sein?

Ruhe will ich, Ruhe! Sie soll mich unterhalten, mir dienen, mich pflegen. Dann zu den Zielen. Tausend Weiber! Genießen, jede ausschöpfen. Und verlassen. Nicht einmal verlassen. Einfach vergessen. Vielleicht ist ihre Seele nichts andres als ein Schmuck, ein besonders verführerischer Anreiz für tiefere Männer. Trotzdem aber Blendwerk.

Wir kommen näher. Wie soll ich mit ihr sprechen? Wird sie meiner noch bedürfen, da Achmak tot ist? Nein, keine Enttäuschung. Am wenigsten Zweifel, bevor noch Grund für sie gegeben wurde.

Ah! Was ist das? Jurten im Gehölz? Tatarische Soldaten in nächster Nähe meines Wohnsitzes? Wahrscheinlich hat mir der General eine Hundertschaft heraufgesandt, um meine Sicherheit zu erhöhen. Sehr gefällig, aber überflüssig.

Nein, jetzt sehe ich deutlicher. Es sind keine Lagersoldaten. Das sind Leibwachen vom Hofe Kublais. Sollte Dschingis? Dazu sind ihrer wieder zu wenig. Hoffentlich kein Besuch. Ruhe, nur Ruhe wünsche ich. Ja, Ruhe. Eine von Li-ping-erch durchplauderte Ruhe.

Schließlich kann man ja fragen!

Marco beugte sich aus der Sänfte und befahl zu halten. Dann winkte er den Soldaten, die vor den Zelten standen und die Pferde striegelten.

Einer, anscheinend ein Unterführer, kam herbeigelaufen.

Marco Polo redete ihn tatarisch an:

»Wie kommt ihr auf mein Grundstück, Kameraden?« Dabei hielt er die Geleitstafel hin.

Der Tatare verneigte sich und küßte den Rand der Tafel. Dann kurz und soldatisch:

»Wir gehören zur Zehntausendschaft des Generals Tului, Exzellenz!«

»Das ist zwar an sich hörenswert, beantwortet aber meine Frage nicht!« Marco hatte in der Stimme etwas ungeduldig Rauhes. Er war ärgerlich. Sollte Tului, den er vom Hofe Kublais gut kannte, mit dem er fast befreundet war, seinen Besuch gemacht haben und auf ihn warten? Es war möglich. Diese vertrautesten Generale zogen mit Gefolge von Lager zu Lager, um die Truppen zu visitieren.

Der Tatare, weit entfernt davon, den Ton Marcos übel zu nehmen, lächelte verlegen. Dann stockend:

»Exzellenz waren so gütig, uns arme Soldaten Kameraden zu nennen. Ich soll zwar schweigen ...« Er gab sich einen Ruck. Vertraulich: »General Tului wollte Euch mit seinem Besuch überraschen. Er wird mich köpfen lassen, Exzellenz. Stellt Euch unwissend. Ich flehe Euch!«

»Ich danke. Selbstverständlich werde ich schweigen.« Marco hatte es nur mehr lässig gesagt, während der Tatare sich eilig davonmachte.

Er war tief verstimmt. Plötzlich begann seine Wunde wieder zu schmerzen und zu hämmern und ein Gefühl allgemeiner Zerschlagenheit ließ ihn in die Polster der Sänfte zurücksinken. Sein Antlitz aber überzog sich mit Blässe und die Züge traten scharf und eckig hervor.

Der Palankin war noch einige Schritte vom äußeren Tore entfernt, als Enrico seinem Herrn atemlos entgegenstürzte.

»Wie seht Ihr aus, Masser? Madonna! Es scheint ärger zu sein, als das Gerücht meldete!« Vor Aufregung war er auf die Knie gestürzt und hatte die linke Hand Marcos ergriffen, die er wild an die Lippen preßte.

Marco lächelte schwach. Er mußte trösten. So erregt und entsetzt hatte er den Riesen noch nie gesehen. So sagte er wegwerfend:

»Nichts von Bedeutung, Enrico! Beruhige dich! Die Wunde ist das wenigste.« Wärmer: »Übrigens hast du mir wieder einmal das Leben gerettet, braver Enrico! Ohne den Panzer wäre die Sache schief gegangen ...«

Das war für Enrico zu viel. Ein Dank für einen selbstverständlichen Rat. Hat man dergleichen schon gehört? Krank muß er sein, der arme Masser, sehr krank, daß ihm so etwas einfällt. Schon kugelten Tränen über die Wangen des Knechtes. Er sprang auf und half sich mit einem Wutausbruch, da ihn die Rührung zu ersticken drohte.

»Der Satan hole das ganze Gesindel!« sprudelte er los, während er mit dem Handrücken die Tränen zerquetschte. »Die erste Wunde. Just hier die erste Wunde. Es ist eine Schande! So ein Unglück! Wahrscheinlich von hinten. Von vorne kann der Masser Marco keinen Hieb bekommen. Teuflische, feige Brut! Morgen renne ich hinunter in dieses elende, wackelige Diebsnest, in diese scheußliche Holzbudenstadt Kambalu und ziehe alle Kinder, Frauen und Vettern des hinterlistigen Kerls bei den Rattenhaaren aus ihren Löchern.« Atemholend, womöglich noch wilder fortsetzend: »So, ihr Gesindel! Jetzt habe ich euch. Zwischen die Knie klemme ich die plattnasigen Schädel und schneide euch die mageren Gurgeln ab wie Truthähnen!« Dabei flirrten die Gesten in drastischer Lebendigkeit.

Trotz aller Düsternis, die das Bild des Fechters sofort wieder in der Erinnerung Marcos heraufbeschwor, mußte er laut lachen. Dann ernster werdend, betont, fast verweisend:

»Der Hieb kam von vorne! Ein großer Fechter und wahrer Edelmann hat ihn mir versetzt. Ich bin stolz auf die Wunde, Enrico!«

Der Riese kratzte sich die Narben des eigenen Schädels. Va bene! Der Masser hat recht. Es ist ein Wunder, daß er nicht schon längst etwas abbekommen hat. Er ist stark und gesund. Lachen kann er auch noch. Da wird es nicht so lange währen, bis die Sache heilt. Wunden sehen oft ärger aus als sie sind. Besonders am nächsten Tag.

»Das ist gut, Masser! Sehr gut! Hinterlist hätte mich zu Tod gewurmt. Die Kerle haben schwere, lange Schwerter. Da kann man mit dem Degen nicht parieren. Das ist es!« Enrico setzte zu weiteren Betrachtungen an.

Marco unterbrach ihn freundlich:

»Darf ich ins Haus, Freund Enrico? Wir können drinnen weitersprechen.«

»O, ich Lümmel! Madonna, der alte Unhold von einem Minister hatte gestern recht, als er über mein Benehmen erbost war. In der Aufregung vergesse ich alles. Und ich habe schon seit vormittag den Empfang vorbereitet. Recht geschieht mir. Ich werde mir die Zunge abschneiden.«

Marco war aufgestanden und der Sänfte entstiegen. Mit einer energischen Handbewegung lehnte er jede Hilfe ab. Sie war auch überflüssig. Das Geschwätz Enricos hatte ihm sonderbarerweise viel an Kraft zurückgegeben. Mehr noch die heiße Liebe, die er hinter dem Geplapper fühlte. Vielleicht auch ein männlicher Ehrgeiz, den er von Kind an vor dem Waffenmeister gewohnt war.

Enrico riß das Tor auf und machte ein linkisches Zeichen gegen den Vorhof.

Marco blickte verblüfft auf das Bild: Ein Rudel von Menschen strömte ihm, Fahnen und Fächer schwenkend und Blumen streuend, entgegen. Seine Diener und Mädchen, die tatarischen Wachen, Leute der Nachbarschaft.

Im nächsten Augenblick war er schon umringt. Alle drängten in die Nahe. Jeder wollte zuerst seine Hand, sein Kleid, seine Schuhe küssen.

Als er endlich den ersten Ansturm überwunden hatte, rief er in vollem, herzlichem Ton:

»Ich danke euch!« Zu Enrico: »Verteil Geld an die Leute und Wein. Auch die Sänftenträger sind eingeladen!« Nach kurzer Pause: »Du hast mir wirklich eine Freude bereitet, Enrico!«

Dann bahnte er sich rasch durch die schwatzende Menge einen Weg zum zweiten inneren Tor.

 

Wenige Augenblicke später stand er in der Mitte seines Schlafgemachs. Ein Abbild des ersten prunkvollen Raumes, den Maffio ihm in Venedig eingerichtet hatte. Teppiche, Waffen. Auch der Papagei turnte mit dem Schnabel noch immer seine possierlichen Aufschwünge. Seine Heimat nannte Marco dieses Zimmer, das ihn überallhin begleitete und für ihn den Rest an Beständigkeit und Ansässigkeit darstellte.

Enrico bemühte sich eben, vorsichtig das von zahlreichen Schnitten zerfetzte Obergewand herabzuziehen. Dabei trieb es ihn schon wieder, sich in Worten Luft zu schaffen.

»Auf die Wunde bin ich sehr gespannt, Masser. Dumm sind ja die Tataren eben nicht in der Behandlung. Etwas fehlt ihnen aber doch. Ein Seeräuber von Narenta kann das besser. Basta! Ich habe schon eine Salbe angerieben aus Hirschtalg, Zedernharz und Seetang. Auch andre Dinge sind noch drinnen.« Erschrocken: »Madonna! Santo cielo! Jetzt ist das Kleid unten. Auf der Brust ist der Panzer glatt durchschlagen. Eine Haarbreite tiefer ... Deo gratias! Hat der Kerl hingedroschen! So etwas habe ich noch nicht gesehen.« Abtastend: »Ecco! Der Panzer ist hin. Er klafft, wenn man ihn nur anrührt!«

Marco war selbst erstaunt. Kein Zweifel. Das Leder war gespalten wie mit einem Schustermesser. Wie tief wäre der Hieb ohne Panzer gedrungen? Nein, keine solchen Gedanken! Einem Mann geziemt das nicht.

Plötzlich schoß ihm das Blut zu Kopf. Richtig! Enrico hat es mit seinem Geschwätz fast zustande gebracht, mich das Wichtigste vergessen zu lassen. Li-ping-erch und der Gast. Hol der Satan diesen allzu höflichen General! Soll ich fragen? Unter den Leuten, die mich empfingen, war sie nicht! Soviel ist sicher. Nein, ich werde nicht fragen! Ich darf nicht fragen. Ein Aberglaube? Furcht vor Enttäuschung?

Da kommt mir ein Bedenken, so selbstverständlich und naheliegend, daß ich es bisher übersah. Warum erwog ich noch nicht die Möglichkeit, daß Li-ping-erch verlobt, vielleicht längst schon gebunden ist? Hierzulande eine natürliche Sache in diesem Alter. Ich scheine stillschweigend vorauszusetzen, daß die ganze Erde eine Art von Sklavinnenmarkt sei. Was geht's mich übrigens an, ob sie verlobt ist. Warum bin ich zu feig, mir das entscheidende Wort, das meinen Zustand erklärt, auch nur zu denken? Nein, ich will es nicht denken, sonst gewinnt es über mich Gewalt! Ich werde nach dem Gast fragen.

Unvermittelt zu Enrico:

»Wo ist dieser General? Ich meine den Gast ...«

»Unten auf der Terrasse. Er bittet Euch, bald zu kommen, da er Weiterreisen muß!« Enrico hatte sich bei der Antwort eigentümlich verschluckt, warf sich aber sogleich mit doppeltem Eifer auf die Pflege des verwundeten Armes, von dem er mit äußerster, für seine Pranken geradezu unglaubwürdiger Vorsicht den blutdurchtränkten Verband abzulösen begann. Während ihn Marco erstaunt ansah, setzte er hastig fort:

»Mein Wort, Masser! Da darf nichts anschwellen oder gar eitern. Der Seetang ist besser als andre Kräuter, obgleich er so widerlich stinkt!« Er hatte die letzte Binde abgewickelt. Nach rascher Prüfung: »Cara mia! Schön zugerichtet! Oberarm und Ellbogen sind angeschlagen, der Unterarm gestreift.« Genauer untersuchend: »Dank dem heiligen Marcus! Nur Muskeln, keine Sehne. Die Tataren sind Esel! Die Wundränder sitzen schief aneinander.« Und er kramte unter Tiegeln, Pflastern und Seidenbinden, die er schon bereitgelegt hatte.

 

Marco Polo stieg behutsam die steile Steintreppe hinab. Mit der Linken hielt er sich am verschnörkelten Kalksteingeländer. Enrico folgte einen Schritt zurück auf seiner rechten Seite und war jeden Augenblick gewärtig, hinzuspringen, falls der Herr ausglitte.

Zwischen den licht ragenden Weißföhren und den Zedern wehte jetzt eine frische Brise aus Nordwest hindurch. Schon hatten sich die Wolken zu teilen begonnen. Heller Sonnenschein stand unmittelbar bevor.

Eine Reihe von kleinen Annehmlichkeiten hatte Marcos Kraft wiedergebracht. Die Blässe war von den Wangen gewichen und die Müdigkeit hatte etwas Wohliges, Traumhaftes heraufgedrängt. Wie würzig und kühl der Wind blies! Eben hatte ihm Enrico nach tatarischer Sitte den ganzen Körper mit flüssiger Seife eingeschäumt, dann die zerschlagenen Glieder mit heißem und quellkaltem Wasser übergössen. Schließlich jeden Muskel mit starker Essenz gerieben. Auch die Salbe wirkte schon. Schmiegsame Seidenbinden um die Wunde, weite, wolkig weiche Gewänder!

Er atmete tief und bewußt genießerisch. Jetzt noch kräftig essen, dann trinken. Und dann in den Abend hineindämmern.

Ruhe, endlich Ruhe!

Nach Li-ping-erch hatte er noch nicht gefragt.

Ob dieser Welle des Wohlbehagens wieder das Wellental der Ernüchterung und der inneren Qual folgen wird?

Jetzt ist keine Zeit für Grübelei. Ich sehe den General schon unten auf der Terrasse. Warum starrt er in die Ebene? Er muß doch unsre Schritte hören? Sonderbares Betragen!

Zehn Treppenstufen tiefer.

An dieser Körperlinie ist mir manches auffallend. Warum? Es ist die gewöhnliche Tracht der Hofgeneräle. Überrock, Gürtel, spitze Mütze. Was beunruhigt mich? Schon wieder Fieber?

Plötzlich im Rücken Marcos ein erstickter, überjappender Laut. Er fuhr herum.

»Bist du toll, Enrico? Oder betrunken? Was kicherst du, daß die Adern schwellen? Ich habe in der Linken noch Kraft genug für eine Maulschelle!«

»O, Masser! Verzeiht Masser!« Enrico verschluckte sich neuerlich. »Aber mir gefällt dieser General so gut!«

Marco schoß vor Zorn das Blut zu Kopf. Was fiel Enrico ein? Wollte er sich mit ihm Possen erlauben?

Er kam aber nicht mehr dazu, den Zorn zu Ende zu bringen. Denn plötzlich krähte es hell und mächtig von der Terrasse herauf:

»Evviva Marco Polo! Hoch lebe der Held von Kambalu!«

Einen Augenblick noch sprachloses Staunen, Zom, Unsicherheit. Alles durcheinander. Dann jähes Begreifen. Er achtete nicht mehr der Wunde und sprang mit einem Satz die letzten fünf Stufen auf die Terrasse hinunter.

»Maffio!« jauchzte er. »Maffio! Oheim! Was hat dich hieher verschlagen?«

Aber auch der vorgebliche Tatare war herangeeilt. Munter pfiff ein hochgerötetes, feistes Antlitz unter der spitzen Kappe.

»Da bin ich! Damit basta!«

»Und Tului?« Marco stockte einen Augenblick im Vorwärtsstürmen, da er noch nicht alle Zusammenhänge fand.

»Das bin doch ich selbst, mein Söhnchen! Nun, Hand aufs Herz, ist der Spaß nicht trefflich gelungen?« Dabei meckerte er vergnügt und schloß Marco behutsam in die Arme.

Dieser aber vergaß so vollständig der Wunde, daß er unwillkürlich den rechten Arm gebrauchte. Sofort verzog er vor Schmerz das Gesicht.

»Ausgezeichnet!« erwiderte er etwas keuchend. Dann zischend: »Porco diabolo, ich bin mit dem rechten Arm im ganzen Leben nicht so oft an harte Gegenstände angestoßen, wie seit Mitternacht mit diesem vermaledeiten Klumpen ...«

»Harte Gegenstände?« Maffio, der ihn losgelassen hatte, krümmte sich vor Lachen. »Verzeih mein rohes Gemüt, Bürschchen! Aber für mich der Ausdruck harter Gegenstand?! Nein, so etwas war noch nicht da!«

Marco lachte mit. Dann herzlich:

»Nun, Herr General, wie war also die Sache?«

»Ah, wie ich herkam? Sogleich stehe ich zu Diensten. Setzen wir uns!« Marco gehorchte. Maffio aber wandte sich zu Enrico: »Es wird wunderschön. Klare Sonne. Eile hinauf und bring uns eine würdige Mahlzeit! Aber schnell, schnell, schnell! Ich habe nämlich aus Aberglauben bis jetzt gefastet. Opfer. Gelübde der Enthaltsamkeit. Gott hat Wohlgefallen gezeigt. Wer noch so hüpfen kann wie du, Marco, ist nicht hoffnungslos verloren!« Dabei zog er die Mütze vom Kopf und warf sie auf einen Sessel. Brummend: »Verdammte Maskerade! Ich glaube, unter diesen Filzdeckeln wachsen von selbst Läufe, so feuchtwarm ist das Klima zwischen Kopfhaut und Mütze.«

Enrico lief schon wieder die Treppe hinan.

Maffio ließ sich kaum Zeit, Atem zu holen. Schon plauderte er weiter:

»Ein weißes Roß hat mich der Spaß gekostet. Mir ist eben nichts Dümmeres eingefallen. Der Führer meiner Garde wollte durchaus nicht lügen. Zu viel Ehrfurcht vor dir, Geliebter! Das weiße Pferd brachte ihn schließlich um Ehrfurcht und Moral. Enrico brauchte ich nicht zu bestechen. Er heulte abwechselnd vor Angst um dich, dann grinste er wieder in der Vorfreude der Überraschung. Dazwischen rieb er Salben aus allen Scheußlichkeiten des Erdballs zusammen. Er will anscheinend probieren, ob Marco Pole unsterblich ist.« Ernster und mit einem Schimmer von Rührung: »Gut hast du's gemacht, Marco! Ich vergehe vor Stolz! Bravo, mein Bürschchen! Jetzt aber erzähl du! Ich bin nicht so wichtig mit meinen Angelegenheiten!«

Marcos Antlitz war mitten aus munterstem Lächeln bei den letzten Worten Maffios von einem schwermütigen Schatten überhuscht worden.

»Ich weiß nicht, was du hörtest!« erwiderte er gedämpft.

»Meine Rolle war in der ganzen Sache durchaus weder überragend noch allzu rühmlich.«

»So?!« Maffio schnitt eine verschmitzte Grimasse. »So?!« wiederholte er gedehnt. »Angesteckt von chinesischen Bescheidenheitsfloskeln, he? Ich kann es auch.« Er verbeugte sich dreimal. Karikierend: »Edler, ehrenwerter Marco Polo, verzeiht, daß ich mich erfreche, Eurer erhabenen Weisheit zu widersprechen. Ganz Kambalu aber ist meiner sehr unbedeutenden Meinung. Und die lautet: Marco Polo hat das Mittelreich vor Hekatomben von Blut und Verwüstung gerettet! So sagen die Chinesen. Die Tataren aber erzählen jedem, der es hören will, daß Herr Marco Polo dem Großkhan seine blühendste Provinz erhalten hat. Mit seinem Blut hat er sie verteidigt, setzen sie hinzu und machen runde, ehrfürchtige Augen, soweit sie es zustande bringen.«

Marco hatte über die Possen Maffios schwach gelächelt.

»Nein, es ist keine falsche Bescheidenheit!« wehrte er entschieden ab. »Ich bin mir selbst unklar über mein Verdienst. Soviel ich aber trotz eingehender Selbstprüfung finde, habe ich mehr gefrevelt, als Gutes vollbracht.« Aufblickend: »Übrigens, wie kamst du nach Kambalu?«

»Gut, ich muß also beginnen. Deine Philosophie werden wir später prüfen. Ich kenne das bei dir: Taten vorzüglich, nachträgliche Erläuterungen krumm und verschroben. Eine logische Folge deines geistigen Januskopfes. Also zur Sache. Es ist schnell erzählt. Ich kam von der Sommerresidenz Schan-du heute früh an die Mauern Kambalus. Ein Tatarenhauptmann und einige aufgeregte Mandarine waren meine Gewährsleute. Boten suchten dich. Man fand dich nicht, hörte aber, daß du längstens am frühen Nachmittag wieder heraufkommen würdest. Da beschloß ich, nicht in Kambalu durch alle Winkel zu schlüpfen, sondern dich hier zu erwarten. Die Lagertruppen, denen ich begegnete, berichteten mir weitere Einzelheiten. Schluß! So kam ich Hieher.« Abspringend: »Ah, da ist Enrico mit Speise und Trank. Wir wollen jetzt in Gemütsruhe die Philosophie beginnen.« Enrico hatte schon Schüsseln und Pokale auf den Tisch gestellt. Maffio gab ihm einen Rippenstoß und schloß seine Rede: »Du aber setz dich irgendwo außer Hörweite aufs Geländer und laß deine Beine über den Abgrund baumeln! Wenn wir etwas brauchen, werden wir winken.«

Damit langte er nach den Speisen und legte das schönste Stück des Bratens mit Grandezza auf den gemalten Porzellanteller Marcos.

 

»Das mit den beiden Drachen gefällt mir ganz besonders!« sagte Maffio beifällig, als Marco seinen Bericht über die entscheidenden Ereignisse geschlossen hatte. »Gar nicht dumm!« Er pfiff durch die Zähne und wiegte den Kopf hin und her. »Dieser Tschang hat ganz recht, soweit es deine Person betrifft. Nur hätte er dir noch nähere Anweisungen über die Behandlung der Untiere für die Zukunft geben sollen.« Er sann einen Augenblick vor sich hin. »Wo ist übrigens das Mädchen?« fragte er plötzlich aufschauend.

Marco fühlte, daß ihm eine Blutwelle ins Gesicht stieg. Nichts mehr zu ändern! Vor Maffio war ein Verbergen unmöglich. Trotzdem sagte er in abweisender Kühle:

»Ich weiß es nicht, Oheim. Ich habe noch nicht gefragt.«

»Sonderbar!« Maffio blickte taktvoll fort. »Schließlich kann ich's ja für dich besorgen. He, Enrico!« Er winkte heftig.

Enrico war sogleich zur Stelle.

Marco aber knirschte die Zahne aufeinander. Eben jetzt, da er gehofft hatte, durch Maffio wenigstens eines Teils seiner Gewissenszweifel entbürdet zu werden, diese unerwünschte Wendung! Vielleicht hatte Maffio recht. Wozu die Ungewißheit weiterschleppen? Soll sie fortgegangen sein! Dann ist sie eben verloren. Wichtigere Ziele gibt es auf der Welt. Näherstehende Frauen habe ich schon verlassen. Nein! Sie muß hier weilen, sie darf nicht geflohen, nicht entwischt sein!

»Wo ist das Mädchen, Enrico? Du weißt, wen ich meine. Die Katajerin, die gestern nachmittags dahergeschneit kam!« Maffios Stimme schlug unerbittlich grell in die zaudernden Gedanken Marcos.

Enrico wandte sich, die Stirne schlagend, an Marco:

»Daß ich es vergessen konnte, Masser Marco! Die Wunde war schuld und die Ankunft Masser Maffios.« Er stockte.

»Nun?« Marco fuhr ihn in höchster Erregung an.

»Sie ist sogleich fortgegangen, als die ersten Nachrichten aus Kambalu heraufgelangten. Plötzlich waren Diener mit einer Sänfte da. Mir hat sie aufgetragen, Euch vielmals Dank zu sagen. Ein Brief und ein Geschenk liegen oben. Die Haarnadel mit dem Drachen ...«

Marco unterbrach die hervorgesprudelten Worte:

»Warum hast du sie fortgelassen, Esel?« Sem Antlitz bebte in Zom und Schmerz.

»O, Masser, Ihr tut mir Unrecht! Ihr selbst habt gesagt, sie ist keine Gefangene, nur schützen soll ich sie... Wenn ich gewußt hätte ...«

»Du hast recht! Verzeih den Vorwurf! Geh!« Marco hatte es tonlos herausgepreßt und starrte zu Boden.

Maffio aber, der alles mit zunehmender Besorgnis beobachtet hatte, sagte leise:

»Kränk dich nicht, Marco! Wir werden den bunten Vogel schon wieder fangen. Vertrau auf deinen alten Oheim!«

Marco blickte ihn erstaunt an. Fast überkam ihn Rührung. Jetzt nicht zusammenknicken! Pfui, Marco Polo! Zuerst das Ziel. Dann das Getändel. Gott sei bedankt, daß er hier ist. Der einzige, vor dem ich ganz ich selbst sein kann ...

»Ich danke dir, Oheim! Sprechen wir über die Philosophie weiter! Du verstehst mich!« Marco riß sich zusammen und versuchte sein Antlitz in Ruhe zu bringen. Dabei überzog sich seine Haut mit Blässe und die Züge wurden starr und eckig.

»Ich verstehe dich, beim Zeus! Wenigstens zur Hälfte!« Maffio gab sich die größte Mühe, Herrschaft über seine Verwunderung zu gewinnen. Also zehn Jahre hat er's ausgehalten. Jetzt ist er sinnlos verliebt. Eine schöne Geschichte! Doppelte Vorsicht ist nötig. Gut, die Philosophie. Er biß sich die Lippe und schlürfte dann schnell vom Wein. Wie aber beginnen? So geht es vielleicht:

»Dir mißfällt also wohl in erster Reihe,« begann er betont, »daß dieser Tschang die ganze Sache einfädelte? Oder irre ich?«

Marco sah ihn dankbar an. Gut. Li-ping-erch war für den Augenblick aus der Erörterung verschwunden. Er sagte schnell:

»Du irrst nicht, Oheim Maffio. Ich ließ schon durchblicken, daß ich bestenfalls ein Werkzeug Tschangs war.«

»Nun, und?« Maffio schüttelte den Kopf. »Was heißt das? Wohl, daß ohne das Werkzeug das Werk nicht zustande gekommen wäre. Das ist aber noch nicht das Entscheidende, Das Wichtigste ist meines Erachtens, daß dieser gute Tschang anscheinend die volle Absicht hat, den ganzen Erfolg dir anzulasten. Er dürfte Gründe hiezu haben. Ich kann mir selbst manches zur Erklärung denken.«

»Und das soll mich befriedigen? Selbst wenn alles zuträfe, was du sagst?« Marco blickte verständnislos auf.

»Die Drachen! Siehst du, Marco, mein Söhnchen, das ist stets das Ende deines Verstandes. Du verwechselst die Drachen mit der Perle. Schön ausgelegt, wie?« Er machte eine kurze Pause. Dann scharf und zergliedernd: »Es handelt sich hier um den Erfolg, Marco, nicht um den Wert! Verstehst du? Das sind zwei getrennte Welten, mein Söhnchen. Oder willst du gar leugnen, daß die Welt des Erfolgs gleich ist mit dem babylonischen Turm des Schwindels? Natürlich soweit Menschen in Betracht kommen. Bei den Engeln ist die Erfolgswelt und das Reich des Wertes dasselbe.« Er lachte und pfiff vor sich hin. Plötzlich abschließend: »Mit so wenig Betrug wurde kaum noch je ein Erfolg erzielt, wie der deine. Meine ehrlichste Überzeugung! Bei der Madonna! Oder war das Gefecht mit Uang-tschu vielleicht kein Einsatz?«

Wieder schoß Marco dunkle Röte ins Antlitz:

»Der wundeste Punkt!« sagte er hart. »Ich habe einen wahren Patrioten getötet, Maffio! Zeitlebens wird mich die Schmach verfolgen. Was ging's mich an?«

»Aber Marco?! Hast du Fieber?« Maffio trommelte mit den Knöcheln auf den Tisch. »Marco, erwache!« krähte er dem Neffen ins Antlitz. »Wo in aller Welt kannst du kämpfen, ohne Patrioten zu erschlagen? Patrioten sind doch eben die Menschen, die sich geradezu zum Erschlagenwerden drängen!«

»Zynismen!« Marco sprang auf. Gebändigter: »Verzeih, Maffio, aber deine letzten Worte kann man wohl nur als Scherz nehmen. Dein Schluß wäre nur anwendbar, wenn ich, verstehe wohl, wenn ich selbst auch als Patriot gefochten hätte!«

»Sehr fein disputiert!« Maffio schlug sich, ohne Marcos Erregung zu beachten, auf den Schenkel. »Um so besser wird ein wirkliches Argumentum sitzen, wenn der Gegner das Versuchsargument eben in Trümmer hieb. Also ...« Er erhob die Stimme zu unwidersprechlicher Schärfe: »Also, sage ich, und jetzt spanne die Ohren auf: Wir sind auch Christen, Marco! Auch das ist so eine Art von Patriotismus. Oder hast du die Kreuzritter etwa für Abenteurer angesehen? Gut, nicht! Ich nehme es an, da du schweigst. Schlußkette: Der Assassine ist gefällt, der Christ Marco Polo obenauf, das Reich der Mitte für Kublai gerettet. Folgerung: Kublai kann jetzt leichter als je zur wahren Lehre bekehrt werden. Weitere Folge: Das Abendland ist gesichert, wie es noch nie gesichert war, seit die Welt besteht. Alles das hat mit seinem Herzblut, mit Einsatz des Lebens Marco Polo zustande gebracht. Frage: Hat er als Ehrgeizling oder als Werkzeug Gottes, als Patriot höchster Art gehandelt?« Maffio sah Marco mit einem Blick ehrlichster Überzeugung an.

Marco aber erwiderte verwirrt:

»Wenn all das gelingt, was du hoffst, dann kann ich mich vielleicht wieder achten. Bis dahin aber ...« Unvermittelt: »Du hast mir noch ein Ziel gezeigt, Maffio. Ein altes und doch neues Ziel. Wollen wir Fra Bartolomeo rufen lassen? Es soll nichts verzögert werden.«

»Meinetwegen!« lächelte Maffio, nicht ohne einen Schimmer von Bosheit. »Er wird uns mehr unterhalten als belehren. Übrigens noch schnell eine geschäftliche Angelegenheit!«

 

Als Enrico, den Marco hinaufgeschickt hatte, außer Hörweite war, meckerte Maffio plötzlich los:

»Was sagst du dazu, Marco, ich bin in die Fußtapfen deiner jugendlichen Verfehlungen getreten ...«

»Ich verstehe nicht ganz.« Marco schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Aha, richtig! Sehr gut. Natürlich muß ich mich deutlicher ausdrücken, wenn ich von deinen Jugendsünden spreche.« Maffio war womöglich noch vergnügter, als er fortsetzte: »Nun, damit du im Unflat deiner Erinnerungen nicht erstickst, will ich das erlösende Wort sprechen: Getreidewucher!«

»Getreidewucher? Ich nehme an, daß du scherzest!« Marco war ein wenig ungeduldig geworden, da ihn die Aussicht auf die sicherlich unangenehme Aussprache mit Fra Bartolomeo zu beschäftigen begann.

Maffio aber ließ sich nicht beirren. Er erwiderte rasch:

»Ganz wörtlich, wie ich es sagte. Keine Spur von Spaßen. Es ist auch der Hauptanlaß, daß ich Kublai vorzeitig verließ. Die Sache ist ungeheuer einfach. In der Provinz Schen-si war heuer eine ganz erschreckliche Mißernte. Das erfuhr ich. Va bene! Ich war sofort bei Kublai und malte ihm aus, daß Hunger stets die Grundlage und der Nährboden für allerhand Rebellion und Unordnung sei. Einleuchtend, wie? Weiteres Schreckgespenst: Diese gewissenlosen Chinesen werden die arme Provinz bewuchern. Als China selbständig war, hatten in solchen Fällen die Kaiser eingegriffen. Auch das sah Kublai ein, daß der arme, kleine Ti-ping nicht gut aus den malayischen Gewässern nach Schen-si Getreide schicken kann. Also, bevor die Provinz, die ja in vieler Hinsicht – um mich poetisch auszudrücken – eine Perle an der Hand Kublais ist, bevor also Schen-si ganz ausgeplündert wird, ist es noch immer besser, es wird bloß zu zehn Prozent zugrunde gerichtet.« Neuerlich auflachend: »Das sagte ich selbstredend nicht, das dachte ich mir nur so nebenbei. Auch Kublai hat es wahrscheinlich begriffen. Da er aber weiters Herrn Maffio kennt und weiß, daß dieser innerhalb des jeweiligen Rahmens treu wie Gold ist, hat er ihm den besagten Rahmen gegeben. Kurz, ich beliefere die Provinz mit Getreide. Habe zudem das Recht, die anderen Händler zu beaufsichtigen und ihre Befugnis gegebenenfalls einzustellen. Zweihundert Mann Bedeckung, nach Bedarf mehr. Fünfzig habe ich von der Palastwache in Schan-du mitgenommen. Es sieht vomehmer aus. Nun werde ich Faktoreien längs des Hoang-Ho anlegen. Getreide zu Zwangspreisen mit Papiergeld einkaufen und in Schen-si mit zehn Prozent Aufschlag in Gold verkaufen. Ich hoffe, daß du als alter Fachmann im Mehlwucher dich beteiligen wirst. Geld habe ich nämlich von Kublai nicht verlangt. Es wäre unklug gewesen. Ich selbst aber habe nicht allzuviel flüssig, da ich erst vor kurzem Perlen einkaufte, die ich nicht abgeben will.« Er machte einige herzhafte Schlucke und sah Marco äußerst bekümmert ins Gesicht.

Marco lächelte plötzlich zur höchsten Verwunderung Maffios eigentümlich, fast schadenfreudig. Ein Wort hatte das Lächeln hervorgelockt, ein längst vergessenes, verklungenes Wort, das in seiner Jugend fast sein Leben anders entschieden hätte: Fledermausantlitze! Fledermausantlitze, wenn Zechinen rollen! Ewigster aller Gesichtsausdrücke! Fast hätte er es übermütig wie ein Kind laut hinausgerufen.

Er zwang sich jedoch schnell zur Ruhe und Beherrschung. Hier war nichts zu überlegen. Auf der einen Seite Hunger und Blut, auf der andern eine Linderung des Elends und dazu ein Vermögen als Verdienst. Oben in seinen verborgenen Schränken lagen Pakete von Geldscheinen. Totes Geld. Es soll leben, es soll sich mehren. Nicht um zehn Prozent. Er wußte, daß Maffio diese Zahl nur als Köder und zur Vermeidung von Gewissensbedenken genannt hatte. Warte, Maffio, jetzt sollst du trotz der unerhörten Sicherheit, mit der du zugegriffen und Kublai, seine Räte und mich eingefädelt hast, geneckt werden!

Maffio sah den Neffen noch immer bekümmert an.

Da antwortete Marco mit ernstem, absichtlich verdüstertem Antlitze hart und abweisend:

»Sehr schön alles, lieber Oheim! Aber zehn Prozent sind ein lächerlich geringer Gewinnsatz. Ich verstehe nicht, wie du so etwas als Wucher bezeichnen kannst. Für mich ist die Sache erst bei hundert Prozent spruchreif!« Er sah zu Boden, um das Lachen zu verbergen, das er nicht mehr niederkämpfen konnte.

Maffio fuhr auf und ließ fast den Becher fallen, den er wieder angesetzt hatte. Schnell und übersprudelnd:

»Wer sprach von zehn Prozent, mein Söhnchen? Oder habe ich's doch gesagt? Nun, in Geschäftsdialogen verspricht man sich manchmal. Ich habe, so viel ich weiß, von einer zehnprozentigen Zugrunderichtung der Provinz ...«

»Ganz richtig! Auch! Aber nur auch!«

»Also dann ist es doch klar, wenn ich es sagte, daß ich nicht behaupten kann, mit einem Händlergewinn, den man bei Getreideüberfluß zahlt, einer Provinz weh zu tun. Entweder war das eine falsch, was ich sagte, oder das andre.«

Marco lachte jetzt hell auf:

»Das andre, Oheim, das andre!« Ernster: »Wieviel Gewinn also, aufrichtig gesprochen, mutest du dem edlen Marco Polo, Christen und Würdenträger, Günstling des erhabenen Kublai und Freund des großen Tschang, zu?«

»Ich dachte an hundertfünfzig, ungerechnet das Aufgeld, das tatsächlich aus der Umwechslung von Papier in Gold abfällt.« Maffio sagte es etwas kleinlaut. Dann pfiff er abgewandten Antlitzes in die reine Nachmittagsluft hinaus.

Marco aber, der seine Absicht, den Oheim ein wenig zu überlisten, erreicht hatte, wollte ihn nicht weiter kränken.

»Einigen wir uns auf hundertzwanzig!« sagte er ruhig. »Schließlich ist das Risiko trotz der Bedeckungsmannschaft nicht gering. Räuber auf dem Flusse. Plünderungen durch das Ufervolk. Unverläßliche Dschunken. Wir müssen vor allem trachten, den Einkaufspreis scharf zu drücken. Die reichen Provinzen sollen sozusagen für die armen zahlen. Das Gold aber setzen wir dann wieder in Edelsteine um.« Marco wendete den Kopf, da er von der Stiege her Schritte vernahm.

»Einverstanden!« Maffio hieb mit der stachen Hand auf den Tisch. »Einverstanden!« wiederholte er. Plötzlich kopfschüttelnd: »Ein sonderbares Geschäft. Stoff für ein Possenspiel. Der Kapitalist wird dadurch gewonnen, daß man ihm etwas vom Gewinn abzieht. Er feilscht gegen sich selbst. Jetzt ist nur noch die Frage: Bin ich so unanständig oder ist mein lieber Neffe an manchen Stellen seiner sonst sehr respektabeln Seele nicht ganz in Ordnung?«

»Beides dürfte stimmen!« lachte Marco und streckte Maffio die Linke hinüber, die dieser schmunzelnd drückte. Dann setzte er ernster fort: »Fra Bartolomeo ist nur mehr fünfzig Stufen entfernt. Ich sehe schon die Soutane. In deiner Gesellschaft, Oheim, kommt wenig Langeweile auf.«

»Sehr schmeichelhaft!« brummte Maffio zurück, während er gegen die Ebene gewandt den Gesichtsausdruck Bartolomeos grimassierend mimte und vor der Brust in der Luft die Geste des Spieles mit dem Silberkreuz nachahmte. Dazu murmelte er lateinische Litaneiformeln.

 

In diesem Augenblick dröhnte es schon im Predigertone:

»Ihr habt mich rufen lassen, edle Herren!«

Maffio drehte sich scharf herum, stand auf, ging dem Priester einige Schritte entgegen und verneigte sich.

»Gelobt sei Jesus Christus, liebwerter Bruder!« rief er freundlich. Während Bartolomeo »in Ewigkeit! Amen!« murmelte, setzte er schnell fort: »Was heißt das ,rufen lassend Gebeten haben wir Euch, mit uns gemeinsam die herrliche Luft zu genießen, ein Gläschen zu leeren – und über einige wichtige Angelegenheiten zu plaudern ...«

»Genug, Maffio Polo, genug!« schnitt der Priester mit einer steifen Handbewegung die Rede ab. Er war inzwischen, mit dem Brustkreuz wippend, zum Tisch gekommen und setzte sich langsam. Dabei starrte er Marco zornig an, da dieser unwillkürlich über die Bewegung, die Maffio eben nachgeahmt hatte, lächeln mußte. »Genug, habe ich gesagt!« setzte er abweisend fort. »Ich will es ja verzeihen, da Marco verwundet ist. Geziemender wäre es mir allerdings von Euch erschienen, zu mir zu kommen. Ich betete eben das heilige Brevier.«

»Das wußten wir nicht!« Marco sagte es, um den Disput zu beenden, in schneidender Kälte. Er verrechnete sich aber. Denn jetzt brach Bartolomeo erst recht los:

»Gegen Chinesen seid Ihr höflicher. Wie ein liebestoller Tauber macht Ihr da Bücklinge. Schämt Euch!« Dumpf grollend: »Lassen wir das! Verwunderlicher erscheint mir noch Euer Leichtsinn, ohne geistlichen Trost in Abenteuer zu reiten. An einem schönen Orte würdet Ihr heute weilen, stolzer Herr Marco, wenn Euch zufällig der Chinese unglücklicher getroffen hätte. Mit Todsünden auf dem Gewissen fährt man nicht in kriegerische Agenturen!«

Massiv winkte Marco, dessen Antlitz sich vor Zorn mit roten Flecken sprenkelte, Schweigen zu. Schon antwortete er für den Neffen:

»Jetzt sage ich ›genug‹, hochwürdiger Bruder! Versteht mich recht! Ununterbrochener Donner klingt für das ermüdete Ohr schließlich wie das Umherrücken von Stühlen und Tischen. Hebt Euch die Hölle für die wirklichen Schurken auf, Fra Bartolomeo!« Als der Priester schon wieder einfallen wollte, fast befehlend: »Ausreden lassen, Verehrter! Laßt mich ausreden! Wir müssen doch die schwarze Seele Marcos gegen die vielen Millionen noch zu rettender Heidenseelen zurückstellen! Habt Ihr gar nichts vom Tod Achmaks gehört? Geht Euch das so wenig an? Übrigens, warum trinkt Ihr nicht vom vorzüglichen Wein? Auch eine Todsünde?«

Bartolomeo, der mit sich selbst gerungen hatte, ließ absichtlich eine Pause verstreichen. Dabei wurde sein Spiel mit dem Silberkreuz zunehmend hastiger. Unvermittelt:

»Darf ich jetzt schon sprechen? Ihr nickt? Sehr gütig von Euch!« Plötzlich lachte er schmerzlich auf. Dann gedämpft: »Gut, ich kümmere mich also heute nicht weiter um Euch selbst. Demütigt mich, verlacht mich! Morgen setze ich das Werk der Bekehrung im engsten Kreise fort.« Abspringend: »Selbstverständlich habe ich von Achmak gehört. Sichtbarer Finger Gottes. Der Allerhöchste war langmütig genug. Hofft Ihr gute Folgen für unsre Lehre?«

»Gewiß, Fra Bartolomeo!« fiel jetzt Marco ein, der sich zwang, seinen Ärger zu vergessen. »Aber vorsichtig müssen wir zu Werk gehen. Denn dem großen Kublai zunächst steht jetzt ein Vertreter der gelben Lehre. Der weise Pasepa!«

»Auch ihn wird Gott fällen!« Bartolomeo ließ das Brustkreuz aus der Hand gleiten.

»Ich bin andrer Meinung!« lächelte Maffio. »Ganz andrer Meinung! Er lebt mit seinem Gott auf vorzüglichem Fuße!«

»Was heißt das?« Der Priester brauste auf.

»Nichts!« sagte Maffio und schenkte Bartolomeo vom Weine ein. »Nichts von Bedeutung! Ich dachte dabei an die auch nach Euren Begriffen achtbare Lebensweise, die er führt. Man kann ihm nichts nachsagen. Er ist keusch, enthaltsam, nächstenliebend, wahrhaftig, hilfsbereit! Was Ihr wollt!« Aufblickend: »Laßt Euch einmal im Leben von mir beraten und führen, Fra Bartolomeo! Die Sache muß mit höchster Staatskunst behandelt werden, sonst ist alles fruchtlos gewesen, was wir bisher erkämpften und erhofften. Folgt mir, ich bitte darum!«

Der Priester schob mit verkniffenem Munde das Kinn vor. Noch tiefer runzelten sich die scharfen Falten des Gesichtes. Nach einer Weile des Grübelns sagte er hart:

»Seine Heiligkeit, der Papst hat mir das Recht gegeben, Priester zu weihen und Bischöfe zu ernennen. Auch Absolution kann ich erteilen im gleichen Grade wie er selbst. Was ich aber nicht kann, ist wohl, einem Laien die Führung der höchsten kirchlichen Angelegenheiten zu überantworten. Das ist mein Standpunkt. Es ist eine Frage des göttlichen und kanonischen Rechtes. Ich kann mich irren. Dafür muß ich die Verantwortung tragen.« Etwas verbindlicher: »Das schließt nicht aus, daß ich vielleicht Euren Rat anhöre, wenn ich eines solchen bedarf.«

»Ich denke, wir können jetzt hinaufgehen, Oheim!« Marco sagte es in eisigem Tone. »Einige Stunden Schlaf sind mir unbedingt nötig. Zum Abendessen hoffe ich soweit gekräftigt zu sein, daß wir die Unterhaltung fortsetzen können.«

Maffio pfiff durch die Zähne, nickte zustimmend und stand auf. Fra Bartolomeo aber war an die Brüstung getreten und sah wie beobachtend in die Ebene hinaus, die jetzt in seltsamer Reinheit erglänzte.

 

Der große Teich zwischen den beiden Herrscherpalästen lag schon zur Hälfte im Schatten. Nur ein schmaler Streifen vor dem Kublaipalast wurde noch von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne erhellt.

Träge Rauchschwaden quirlten aus dem Maul der porzellanenen Kröte. Man hatte vergessen, das Feuer zu löschen, das zur Täuschung Achmaks entflammt worden war.

Große Stille im Umkreis trotz der Buntheit des Bildes.

Überall Soldaten. An den Ufern des Teiches, vor den Toren der Paläste. Auch vom künstlichen Hügel blitzten Waffen herüber. Die Soldaten hockten auf dem Boden, saßen auf Geländern und Stufen, umlagerten im Grase des Platzes, der zwischen Teich und Hügel sich dehnte, ihre auf den Boden geschichteten Waffen.

Zwei tatarische Hauptleute lehnten gelangweilt an der zierlichen Balustrade, die den Teich umgab, und belustigten sich damit, den glänzenden Fischen und den vielfarbigen Wasservögeln Krumen zuzuwerfen.

»Unter uns gesprochen, ein großes Glück, daß es so kam. Achmak hätte uns alle zugrunde gerichtet!« sagte der eine und grinste, da eine Mandarin-Ente und ein mächtiger Fisch zugleich auf einen Bissen losfuhren, im nächsten Augenblick jedoch voreinander entsetzt das Weite suchten.

»Ich gebe Euch recht, Arik!« erwiderte der andre kopfnickend. Dann setzte er fort: »Hier wäre es schließlich noch angegangen. Im Innern des Mittelreiches jedoch waren geradezu unhaltbare Zustände. Ihr wißt, daß ich erst vor zwei Monaten ins Lager von Kambalu versetzt wurde.«

»Unhaltbare Zustände? Was meint Ihr?«

»Den Sold. Wir erhielten überhaupt keinen. Unsre Soldaten mußten Handel treiben. Was da in kurzer Zeit aus den Bogenschützen und Reitem wird, ist unschwer auszudenken ...«

»Fragt sich nur,« unterbrach der erste, »ob das Versprechen gehalten wird, daß unsre Abzüge nachbezahlt werden.« Er warf wieder ein Stückchen Brot in den Teich.

»In dieser Hinsicht wäre mir ein blutiger, allgemeiner Aufstand lieber gewesen. Stellt Euch vor, wenn wir Kambalu erobert hätten. Mit der Waffe. Die Beute hätte ich nicht verachtet.«

»Nun, es war eben anders!« meinte der erste gähnend. »Ich bin nur auf Achmaks Nachfolger begierig. Solange kein Krieger Minister ist, wird keine Ordnung sein!« Ablenkend: »Übrigens seht, wie uns der chinesische Offizier schon seit längerer Zeit umkreist. Er will sich wohl anbiedern.«

Langsam kehrte er sich herum, da der chinesische Militärmandarin, der in seiner bizarren Rüstung äußerst prächtig aussah, geraden Weges auf sie zukam.

Die beiden Tataren blickten dem Chinesen äußerst hochmütig entgegen.

Dieser ließ sich jedoch dadurch nicht im geringsten beirren. Im Gegenteil. Das Lächeln wurde nur zunehmend verbindlicher.

»Eine äußerst hörenswerte Neuigkeit, meine Herren!« sagte er nach einigen Verbeugungen. Als er keinerlei Antwort oder Gegengruß erhielt, vertraulich: »Eben erfuhr ich, daß Prinz Dschingis schon von den Ereignissen weiß und Seiner Majestät, ohne Kambalu zu betreten, entgegeneilt.«

»Märchen!« erwiderte Hauptmann Arik fast grob und wandte sich wieder zur Fütterung der Tiere. Der andre Tatare aber hänselte: »Prinz Dschingis hat Euch wohl persönlich benachrichtigt, Herr Mandarin?«

Der Chinese zog ein wenig verstimmt die Achseln hoch:

»Wie ihr denkt!« sagte er wegwerfend. »Ich werde also die anderen Neuigkeiten bei mir behalten. Ihr werdet ja in nicht allzu langer Zeit sehen, daß ich recht habe. Mein Schaden ist es nicht, wenn ihr unvorbereitet Überraschungen erlebt!« Er wandte sich zum Gehen.

Arik erwiderte, ohne sich umzublicken:

»Wir sind nie unvorbereitet. Bogen, Köcher und Streitkolben, das sind unsre Vorbereitungen ...«

In diesem Augenblicke entstand eine allgemeine Bewegung. Zwei Reiter mit Gefolge trabten die Zufahrtstraße herauf. Schon klapperten die Hufe der Fassade des Dschingispalastes entlang.

Der Chinese hatte die Gelegenheit benützt, sich von den unfreundlichen Tataren zu entfernen.

Die Reiter waren vor dem Tor abgestiegen. Sie gingen, ohne sich um die grüßenden Soldaten zu bekümmern, rasch hinein.

»Wer war das?« Der zweite Hauptmann sah Arik fragend an.

Dieser aber erwiderte:

»Wahrscheinlich Tschang-li-sun mit Kogatai. Kogatai ist nicht zu verkennen. Du solltest ihn einmal aus der Nähe sehen. Er grinst unaufhörlich!«

Die beiden schwiegen geraume Zeit und achteten kaum auf ihre Umgebung.

Plötzlich eine starke Unruhe in ihrer unmittelbaren Nähe.

»O, sie haben den Palast schon wieder verlassen!« Arik flüsterte es dem Kameraden zu.

Dann stellten sich beide grüßend in stramme Positur, denn Kogatai kam geraden Weges auf sie zu.

»Ihr werdet bald wieder ins Lager einrücken!« sagte er im Vorbeischreiten. Stehen bleibend, über die Achsel: »Prinz Dschingis kommt nämlich erst mit Seiner Majestät Hieher. Daher benötigen wir nur die Sommerwachen im Palastbezirk. Der blutige Saal ist auch schon wieder in Ordnung!« Er grüßte eckig und ging zu den Pferden zurück, die auf der Zufahrtstraße standen.

Arik aber meinte, als der Oberst außer Hörweite war:

»Wir haben dem häßlichen Kerl von einem Chinesen doch unrecht getan!« Nachdenklich: »Ich möchte nur wissen, woher diese falschen Tiere ihre Nachrichten beziehen! Warum haben wir es erst durch Kogatai erfahren? Unheimliches Gesindel!«

»Schade, daß wir sie nicht ausrotten dürfen!« Der zweite Hauptmann blickte zu seiner Hundertschaft, ob sie dem Obersten Kogatai, der schon zu Pferde saß, den vorgeschriebenen Gruß richtig leistete.

 

Die ungeheure Spannkraft Marcos hatte es vermocht, seinem Körper und seiner Seele nach wenigen Stunden tiefen, traumlosen Schlafes soviel an Frische zurückzugeben, daß er mit einer gewissen Freude im Gartenpavillon zur Abendmahlzeit erschien, wo Maffio ihn bereits erwartete.

Bunte Lampions unter der geschnitzten Decke. Ringsum auf Gestellen in kostbaren Töpfen üppige Blumen, die unter dem Windhauch, der den offenen Pavillon durchwehte, leise zitterten und ihren Wohlgeruch in den Duft der Nadelhölzer mischten.

Der Tisch war reichlich gedeckt, kostbares Porzellan stand umher und in Vasen staken auch hier die leuchtenden Häupter zierlicher Blumen.

Plötzlich begann oberhalb des Rohrdaches eine leise seufzende Musik, die sich stets wiederholte, überkreuzte und ineinanderschlang.

Marco wähnte anfangs einer Sinnestäuschung zu unterliegen. Als die luftigen, jetzt beinahe klimpernden Töne nicht verstummen wollten, unterbrach er den Satz, den er eben zu Maffio gesprochen hatte, und fragte:

»Hörst du es auch, Oheim?«

»Warum nicht?« lächelte Maffio. »Was ist daran so wunderlich? Es scheint fast, daß die Huldigung deiner chinesischen Diener dir nichts sagt.«

»Huldigung? Was meinst du?«

»Du hast das noch nie gehört? Merkwürdig! Nun, ich will dich nicht länger foltern. Es sind Luftdrachen, die deine Diener als Tafelmusik steigen ließen. Sieh dir sie an!« Damit nahm Maffio den Neffen an der Hand und zog ihn ins Freie hinaus, wo einige Weißföhren und Zedern ihre knorrigen Äste reckten.

Es war ein zauberhafter Anblick: Der helle, trauliche Pavillon, wie herausgeschnitten aus dem Dunkel. Und oberhalb dieser Buntheit, magisch die Luft durchwallend, drei riesige, papierene Tiere, regenbogenhaft in allen Farben spielend. Eine mächtige Seeschlange, die sich mit aufgesperrtem Rachen wand. Daneben eine torkelnde Dschunke mit wulstigen Rohrsegeln. Schließlich etwas abseits ein nicht minder großer, krabbelnder Tausendfuß.

»Eine kleine, nette Historie!« sagte Maffio, als die Melodie eben wieder besonders hell aufklang. Mit spöttischem Pathos: »Es war zur Zeit, als die Hon-Dynastie durch Eroberung an die Macht gekommen war. Der letzte, treue General der alten Dynastie, den Namen habe ich vergessen, versuchte den Eroberer Lau-pong zu vertreiben. Er wurde aber umzingelt. Da verfiel er in der Nacht auf den Gedanken, Saiten in die Drachen einzuziehen und diese, damals allerdings unbeleuchteten Geschöpfe an langen Schnüren über das feindliche Lager treiben zu lassen.« Er lachte leicht auf, als er fortfuhr: »Die guten Feinde, begabt mit reicher Einbildungskraft, hörten in der Luft die Töne. Sogleich behaupteten sie, die Schutzgeister flüsterten ihnen die inhaltreichen Worte ›Fu-hon‹, was soviel heißt, als ›Hütet euch vor der Hon-Dynastie‹, zu. Und benützten natürlich die gute Gelegenheit, schleunigst davonzulaufen. Was weiter geschah, weiß ich nicht. Ist die Geschichte nicht erbaulich?«

Marco, der sein Auge nicht von den Fabelwesen abwenden konnte, die sich inzwischen um eine greuliche Riesengrille vermehrt hatten, lächelte zurück:

»Ich bin dir dankbar, Oheim, daß du meine Bildung mit solch süßen Nichtigkeiten bereicherst!«

»Sehr höflich!« brummte Maffio verlegen, der wie immer auf Lob lauerte, dann jedoch davon peinlich berührt war. »Eine bezeichnende Geschichte!« lenkte er ab. »Vergleich einmal die Trompeten von Jericho oder den Kampf Gideons gegen die Philister mit dieser besinnlichen Historie. Ich denke, die Herren Chinesen werden das tatarische Joch nicht sehr schnell abschütteln.«

»Darüber ließe sich philosophieren!« sagte Marco, der sich an die Äußerungen Tschangs erinnerte. Plötzlich düster: »Sie können fechten, wenn es sein muß, Oheim!« Ablenkend und glatt: »Wir wollen jetzt unser Mahl beginnen. Ich habe mächtigen Hunger!« Und er ging nach einem letzten Blick auf die Drachen, die jetzt unter einem schärferen Windstoß zappelten, voran, gegen den Pavillon zu.

 

Als die beiden beim Tische saßen und eben nach den ersten Bissen langten, erbebte Marco plötzlich unter dem Eindruck einer schmerzlichen Gedankenverbindung.

Maffio hatte es nicht bemerkt, da er zu sehr in die Auswahl der Speisen vertieft war. Fasan mit köstlichem Reis und Früchten. Eines seiner Leibgerichte.

Marco aber ließ den bereits aufgenommenen Bissen wieder auf den Teller zurücksinken. Später würde er essen. Ein wenig später. Jene traurigste aller Stimmungen hatte ihn ergriffen: Er hatte Li-ping-erch rufen wollen, um ihr die Drachen zu zeigen, obwohl er mit dem Verstande genau die Unmöglichkeit der Wunscherfüllung einsah. Sogleich Erinnerungen, die sich auf Ähnliches bezogen. Mehr als einmal hatte er wohl schon auf seinen Reisen innerlich aufgeschluchzt, wenn er vor Neuem und Unerhörtem gestanden war. »Wem werde ich es erzählen? Wer wird den Schauer des Eindrucks mit mir teilen?« So hatte es dann stets in ihm gehöhnt. »Nie wird Francesca etwas davon erfahren, nie, nie! Für wen erbraust mein Herz in Entzücken?« O, so einsam, so gräßlich einsam war es dann in ihm gewesen. In solchen Augenblicken erst wurde ihm alles Verlorene deutlich und voll bewußt. Stets das gleiche! Vor zehn Jahren und heute. Halb bin ich, halb und elend! Li-pings Brief ist so lieb und zierlich, jedoch nichtssagend. Höflicher Dank, freundliche Zukunftswünsche. Ein sehr unvollkommener Wunsch, wenn man in einem Atemzug durch Flucht seine Erfüllung verhindert.

Maffio sieht auf. Fassung! Ich muß essen, sonst wühlt er noch mehr als ich selbst in meiner Seele.

»Ein unangenehmer Patron, dieser Bartolomeo!« Maffio schob eben ein zartes Bruststück zwischen die Zähne. Nachdem er es hastig verschluckt hatte: »Wir werden ihm die besten Dinge einfach fortknabbern, falls er nicht bald erscheint.«

»Seine Starrköpfigkeit und mangelnde Klugheit treiben mich zur Verzweiflung!« erwiderte Marco. »Gott strafe mich, der Priester ist der einzige Mensch auf Erden, der in mir böse Triebe erweckt. Ich werde ihm einmal an die Gurgel fahren, obwohl ich weiß, daß er ein edles und aufrichtiges Herz hat.«

Maffio machte eine rasche Geste des Schweigens. Dabei murmelte er: »O, Lupus in Fabula! Er naht! Dem armen Teufel ist wohl in seiner Zukunft ein großes Unglück ebenso sicher, wie uns der hundertzwanzigprozentige Geschäftsnutzen bei der Getreidesache!«

Fra Bartolomeo war fast schüchtern in den Pavillon getreten. Nach artigem Gruße und höflicher Entschuldigung für die Verspätung nahm er bescheiden seinen Platz ein.

Einige Zeit aßen die drei schweigend. Ein chinesischer Diener trug gewärmten Wein und zartes Backwerk auf.

»Ihr habt mir meine Heftigkeit hoffentlich schon vergeben?!« sagte plötzlich Fra Bartolomeo, sah fort und wippte in rasender Eile mit dem Brustkreuz. Verlegen setzte er fort: »Im anderen Falle könnte ich morgen früh nicht das heilige Meßopfer darbringen. Glaubt es mir, Brüder, daß ich um die eigenen Sünden und Unvollkommenheiten ebenso gut weiß, wie um die fremden!«

Maffio, den der Ton rührte, schenkte Bartolomeo als Antwort den Becher so voll, daß er überlief. Dazu brummte er wohlwollend:

»Bei Gott, wir nehmen nichts krumm, hochwürdiger Bruder! Wir wollen doch alle das gleiche!«

»Eben das hat Marco gestern schon gesagt. Trotzdem zerstreiten wir uns bei jedem Wort.«

»Wahrheit gegen Klugheit, Fra Bartolomeo! Nicht wahr, Marco? Mit der Wahrheit allein ist eben nichts auszurichten auf dieser elenden Welt. Am wenigsten hier im Osten, wo nicht nur jedes zweite, nein, schon das erste Wort eine infame Lüge ist. Hier wird um die Ecke herum gesprochen, Verehrter. Eine Art der Verständigung wie jede andre. Ihr könnt bei einem Schieläugigen auch nicht immer in die scheinbare Blickrichtung laufen, sonst sieht er Euch plötzlich nicht! Außer Ihr beginnt selbst zu schielen und rennt wieder zurück. Ein schönes Bild, he?« Er meckerte laut auf.

»Glücklich, wer so den gegebenen Dingen Rechnung tragen kann. Seine Heiligkeit scheint meine Fähigkeiten überschätzt zu haben,« antwortete Bartolomeo pastoral und unbewegt. Dann fügte er rasch bei: »Es bleibt mir aber trotzdem nichts übrig, als meiner Erkenntnis zu folgen! Gott wird mich eines Tages schon erleuchten! Er verläßt die Seinen nicht! Amen!«

»Amen!« fiel Marco ein, der sich mit Gewalt von seinen Gedanken an das Mädchen losriß. »Hoffentlich erfolgt die Erleuchtung nicht auf einem Umweg über Schmerz und Unheil!« Ablenkend: »Greift doch zu, ehrwürdiger Bruder! Der Fasan wird kalt werden!«

Der Priester kam nicht mehr zu einer Antwort. Enrico erschien plötzlich und rief ohne Vorbereitung:

»Eben ist ein hoher Katajer angekommen. Aufgeputzt wie unser kleiner Affe, den wir in Venedig hatten. Er sagt, ihr sollt euch nicht stören lassen in der Mahlzeit. Er kommt in wenigen Augenblicken hieher. Wichtigste Rücksprache. Er ließ sich nicht abweisen!«

»Es ist gut, führe ihn zu uns!« Marco konnte sich den Besuch nicht erklären. So ohne jede Form? Selbst Tschang hatte sich doch trotz der Größe und Eile seiner Angelegenheit nach strengster Sitte angesagt. Ah! Vielleicht ein Bote Tschangs?

»So ein Weltreich ist doch ein rechter Bienenschwarm!« sagte Maffio kopfschüttelnd. »Selbst wenn man nur ein kleiner Mitläufer ist. Privatleben ist da wohl ein frommer Wunsch.« Sachlich: »Wir werden etwas Neues braten lassen. Der schöne Fasan ist zu Ende!«

»Ist euch meine Anwesenheit unerwünscht?« Bartolomeo blickte Marco mit einer Miene an, in der ebensoviel Demut wie vorweggenommene Kränkung und Empfindlichkeit lag.

»Gewiß nicht!« Marco wehrte fast heftig ab. Unvermittelt zu Maffio: »Ich sehe den Gast schon. Eden tritt er in den Schein von Enricos großer Laterne. Goldener Gürtel, violette Robe. Ein Literat der zweiten Stufe!«

Maffio und der Priester blickten dem Ankömmling entgegen, der äußerst unbefangen und gewandt zwischen die Säulen des Pavillons trat.

»Meine ergebensten Grüße, edler Herr Ma-ko-po!« sagte er laut, indem er sich lächelnd in höchst unchinesischer Weise verbeugte und dabei die Rechte ans Herz legte. Schnell weiter: »Der große Tschang-li-sun hat mir erzählt, Ihr, Ma-ko-po, hättet ihn auf derart formgerechte Weise empfangen, daß es für mich geradezu eine Pflicht bedeutet, heute zum Dank Eure Sitten zu beobachten.« Damit ging er auf Marco zu und streckte ihm etwas ungelenk die Hand hin.

Marco, der aufgestanden war, drückte die dargebotene Rechte. Dazwischen fragte er:

»Darf ich Euren glänzenden Namen erfahren, ehrenwerter Literat des mittleren Ranges?«

»Gewiß, es ist mir eine Freude, ihn Euch zu nennen!« Plötzlich hatte ein höhnisches Grinsen das Gesicht des jungen Gelehrten überglitten. »Der Name dürfte Euch nämlich einige Aufschlüsse geben!« setzte er mit unverkennbarer Bosheit fort: »Ich habe das Glück, jener Tae-ping zu sein, von dem in Kambalu seit gestern einige Male gesprochen wurde!«

Marco verlor für einen Augenblick die Selbstbeherrschung. Er fuhr sichtbar auf und runzelte die Brauen. Der Bruder Li-ping-erchs? Was wollte man von ihm? Mühsam gefaßt antwortete er nach einer Pause:

»Darf ich bitten, an unsrem Tische Platz zu nehmen? Ihr seht hier meinen Oheim Maffio und den Priester meiner Lehre, der sich Bartolomeo nennt!« Er machte eine nachlässig förmliche Handbewegung.

»Ich habe vorläufig keinen Grund, Eure Höflichkeit abzulehnen,« erwiderte Tae-ping etwas frech, wobei er schon Maffio und dem geistlichen Bruder die Hand reichte.

Marco fand es für geraten, das seltsame Gespräch vorläufig nicht weiterzuführen. So also stellte sich der Literat die abendländischen Sitten vor? Vielleicht eine absichtliche Herausforderung. Na bene! Wir werden ja sehen.

Tae-ping, der sich auf den angebotenen Stuhl niedergelassen hatte, ergriff zögernd einen Becher und setzte in verhaltenem Groll fort:

»Pasepas Verwendung bei Kogatai hat mich heute am späten Vormittag dem Kerker entrissen. Bis zum Augenblick der Befreiung wußte ich nichts von der Tötung Achmaks. Es waren harte Stunden, diese Stunden des Wartens. Achmaks Foltern waren stets alles andre als wohltuend.« Unvermittelt und gepreßt: »Was half mir meine Tollkühnheit, was die Befreiung? Es ist nichts besser geworden dadurch!«

»Wie soll man das verstehen?« Marco, der fühlte, daß entscheidende Worte unmittelbar bevorständen, wollte den Gang des Gespräches beschleunigen.

»Ihr, eben Ihr fragt mich das?« Bebend: »Lassen wir jeden Umweg! Ich wollte nur andeuten, daß selbst ein Achmak mir keine Furcht einflößte.« Mit erhobener Stimme: »Meine Schwester Li-ping-erch ist bei Euch, Ma-ko-po! Ich kam, sie von Euch herauszuverlangen. Sie ist kein Spielzeug für die Günstlinge Kublais. Auch nicht für Euch, Ma-ko-po!«

Marco Polo war über den Ton und die Zumutung, die ihn geraden Weges mit dem verbrecherischen Lüstling Achmak gleichstellte, so starr, daß er nicht antwortete. Nur eine Woge von Blut färbte sein Antlitz mit tiefer Röte.

Auch der Priester fuhr auf, allerdings aus andrem Grunde. Fast hätte er Marco an Ort und Stelle Vorhaltungen wegen seines lockeren Lebenswandels gemacht. Mühsam unterdrückte er eine Bemerkung.

Maffio aber hatte sich am schnellsten gefaßt.

»Ein großer Irrtum!« erwiderte er ruhig lächelnd. »In jeder Hinsicht, mein Teuerster! Eure Schwester, deren liebenswürdige Bekanntschaft ich leider versäumte, hat bis heute vormittags den Schutz meines Neffen, den sie selbst erbeten hatte, in vollem Maß genossen. Seit diesem Zeitpunkte ist sie ohne Angabe ihres Reiseziels verschwunden. Marco mag Euch den Abschiedsbrief zeigen, wem er will!«

»Nichts werde ich zeigen! Ich bin kein Angeklagter und Herr Tae-ping ist kein Richter, vor dem ich mich zu verteidigen habe!« Marco brauste auf und blitzte den Literaten zornig an. »Wenn Ihr nicht mein Gast wäret,« setzte er etwas ruhiger fort, »so würde ich Euch klarmachen, daß eine Verdächtigung, wie Ihr sie ausspracht, an Unverschämtheit grenzt!«

»Gut, Ihr habt es mir in bedingter Form klar gemacht!« Auch Tae-ping sprühte in höchster Erregung Haß aus seinen dunklen, schmalen Augen. »Ich werde mich also durch Pasepa an Seine Majestät wenden. Ich gestatte mir, Eure Worte als leere Ausreden zu bezeichnen!« Er blickte zu Boden.

Da geschah etwas, das keiner von allen, Tae-ping selbst inbegriffen, vorausgesehen hätte. Die Selbstbeherrschung des Literaten, der seit gestern seelisch unablässig gefoltert worden war, zerbrach. Kurz und wild schluchzte er auf.

Fra Bartolomeo hieb fast gleichzeitig mit der Faust schmetternd auf den Tisch, daß das Geschirr hüpfend klirrte und ein Becher umfiel, dessen Inhalt vom Rande herabplätscherte.

»Er hat recht!« sagte er mit erhobener Stimme. »Recht hat der Chinese! Es war Eure Pflicht, Marco Polo, den Bruder zu beruhigen, der so tapfer um die Ehre seiner Schwester kämpft. Aus Hoffart und falscher Eitelkeit habt Ihr es unterlassen!«

Tae-ping, der über die entsetzliche Tatsache, das Gesicht auch nur für einen Augenblick verloren zu haben, alles andre vergessen hatte und sich eben abmühte, seinen Zügen die undurchdringliche Glätte seines Standes zurückzugeben, geriet durch den Zwischenruf des Priesters neuerlich aus der Fassung. Bevor er aber noch eine einzige Gedankenreihe zu Ende gebracht hatte, war Marco Polo aufgestanden und hatte ein kleines Stück Papier vor ihn hingelegt.

»Hier ist der Abschiedsbrief Eurer ehrenwerten Schwester, Herr Tae-ping!« murmelte Marco tonlos. »Überzeugt Euch von der Wahrheit. Dann sucht meinethalben das ganze Haus und alle Pavillons ab. Fragt die chinesischen Diener und Dienerinnen aus! Tut, was Ihr wollt. Begreift aber, daß ich mich durch Euren Ton beleidigt fühlen mußte!« Als ihn Tae-ping, dessen Ähnlichkeit mit Li-ping-erch plötzlich deutlich hervortrat, erstaunt und unschlüssig anblickte, fügte er noch schnell bei: »Für unsre Begriffe, edler Literat, ist es nichts weniger als schmählich, ein echtes Gefühl zu zeigen. Ihr habt Euch durch die Liebe zu Eurer Schwester in unsren Augen nur erhoben, habt, wie ihr es hier nennt, Strahlen auf Euer Antlitz gesammelt!«

Maffio nickte zustimmend. Dann sagte er, befriedigt über die glückliche Wendung der Sache:

»Ich möchte Euch geradezu bitten, Herr Tae-ping, Euch vollends durch Umfragen Ruhe zu verschaffen, wie es mein Neffe vorgeschlagen hat. Dann aber wollen wir uns an einer besonderen Sorte Wein gütlich tun, die ich aus Schan-du mitbrachte!«

Tae-ping war ruhig aufgestanden.

»Ich habe den Brief gelesen. Es scheint kein Zweifel zu bestehen!« Er lächelte undurchdringlich. »Da Ihr es jedoch wünscht, will ich mit den Dienern und Dienerinnen sprechen. Allerdings muß ich hinzufügen,« er verbeugte sich gegen Marco und Fra Bartolomeo, »daß ich es nicht aus Mißtrauen tue, sondern um vielleicht dadurch eine Spur meiner Schwester aufzufinden. Ihr habt also die große Gnade, meine Abwesenheit für wenige Augenblicke zu entschuldigen!« Und er ging nach neuerlichen Verbeugungen, ohne sich umzublicken, in die Dunkelheit hinaus.

»Ich traue dem Burschen nicht über den Weg!« sagte Maffio, als Tae-ping außer Hörweite war. »Nicht einmal seinen Gefühlsausbruch nehme ich allzu ernst!«

»Seine Rolle ist allerdings etwas sonderbar!« erwiderte Marco nachdenklich. »Eng befreundet mit Uang-tschu und Tscheng-ku, ebenso befreundet mit Tschang, mit Pasepa, weiß Gott mit wem noch. Fürwahr, ein höchst unverläßlicher Rebelle!« Aufblickend: »Glaubst du, Maffio, daß er zu uns zurückkommen wird?«

Fra Bartolomeo fiel ein:

»Ich denke, ihr tut dem Jüngling doch ein wenig unrecht. Mir gefällt seine moralische Handlungsweise und sein sittlicher Mut. Keine Menschenfurcht!«

Maffio aber lachte heraus:

»Ganz richtig! Hat aber mit Moral wenig zu tun. Vertraut meiner Nase, Bartolomeo! Frech ist das Bürschlein, bodenlos frech, wie alle chinesischen Literaten. Dazu eitel und eingebildet. O, dem könnte man um angemessenen Preis alles abkaufen. Er ist aber schrecklich gescheit. Daher sind die Obergelehrten, die Klugheit mit Ethos verwechseln, wie vernarrt in den jungen Mann und verdrehen die Augen, wenn sein Name fällt.« Zu Enrico, der eben mit dem Braten eintrat: »He, was bringst du da? Ein Spanferkel? Ausgezeichnet! Sahst du vielleicht unterwegs den sauberen Gast?«

»Gewiß, Masser, gewiß!« Enrico setzte die Platte sorgfältig auf den Tisch. Gestikulierend: »Er schleicht drinnen umher wie ein Fuchs. Schnuppert in jeden Winkel. Eben hat er die kleine Yü in eine Ecke des Empfangszimmers gezogen und flüstert mit ihr. Sie macht verzückte Augen. Ich glaube, sie ist ihm um den Hals gefallen, als ich mich umdrehte ...«

»Du verwechselst deine Wünsche mit den Tatsachen, Schafskopf!« fiel Maffio abwehrend ein. »Hat er den Braten gesehen?« Als Enrico nickte, zu Marco: »In Ordine! Er kommt bestimmt zurück. Ich schwöre es beim tausendnabeligen Gott Tsching, wenn es einen solchen gibt.« Er schüttelte sich vor Freude über seinen Witz. Fortfahrend: »Dem Geruch eines gebratenen Ferkels kann auch der gescheiteste Literat nicht widerstehen. Sei beruhigt, Marco! Gleich wird er da sein!«

»Nun, ich bin neugierig, wie sich die Sache weiter entwickeln wird!« Marco warf es dazwischen, nur um etwas zu sagen.

Maffio aber wandte sich schon wieder an Enrico:

»Lauf hinein, mein Teurer, und behalt den verehrten Herrn ein wenig im Auge. Nebenbei sag meinen Dienern, natürlich scheinbar als Hauptangelegenheit, daß sie den besten Wein herausbringen sollen. Aber nicht tropfenweise!« Er wandte sich verbindlich zu Bartolomeo, mit dem er ein gleichgültiges Gespräch begann.

 

Schon seit langer Zeit saß Tae-ping wieder in ihrem Kreise. Er war zurückgekommen, ohne ein Wort über das Ergebnis seiner Nachforschungen zu verlieren. Nur seine außerordentliche Höflichkeit zeigte, daß er keinen Anlaß zu neuen Beschwerden gefunden hatte.

Im weiteren Verlauf der Unterhaltung schien es geradezu, als ob er den Eindruck der heftigen Auseinandersetzung nach Möglichkeit verwischen wollte. Jetzt erst zeigte sich auch sein Geist und sein bezauberndes Wesen in all seiner vielfältigen Buntheit. Witzige Einfälle, Geschichten, Sagen, Berichte über nie gehörte Sitten und Geschehnisse wechselten mit tiefen Sentenzen.

Den Höhepunkt aber erreichte das kleine Gelage, als er plötzlich Pinsel und Tusche hervorholte und in unglaublich kurzer Zeit einige formvollendete Verse, die sich auf die unmittelbare Gegenwart bezogen, verfaßte und vorlas.

Marco, der fast nichts getrunken hatte, lächelte wehmütig. Nur zu deutlich erstand vor ihm aus diesem Flitter reichster Seele das Bild Li-ping-erchs. Ja, es gab Augenblicke, wo er sich dem Geplauder so sehr hingab, daß er den Sprecher vergaß und in der Phantasie das Mädchen an dessen Stelle setzte.

Maffio trieb den Literaten durch treffsichere Sticheleien stets mehr und mehr aus sich heraus. Noch weniger aber vergaß er, den Becher des Gastes unauffällig nachzufüllen. Aber auch Fra Bartolomeo hatte heute allem Starrsinn entsagt und ließ sich einigemal sogar zu lautem Lachen hinreißen, wonach er allerdings sogleich das Brustkreuz ängstlich umklammerte und die Falten seines Gesichtes zu verdoppeltem Ernst kerbte.

Plötzlich hatte die Stimmung jäh umgeschlagen, ohne daß ein äußerer Anlaß hiezu vorgelegen wäre. Es begann der elegisch-wissenschaftliche Teil des Gelages, der durch ein mehrmaliges Stottern und Sichverschlucken Tae-pings eingeleitet wurde.

Der Literat schien diese Tatsache dem Schicksal äußerst übel zu nehmen, denn er starrte unvermittelt gegen Fra Bartolomeo und sagte langsam:

»Ein großes Glück für mich, endlich einmal einen Vertreter der schwarzen Lehre kennen zu lernen. Heißt sie so? Meinetwegen soll sie anders heißen!« Er blickte mit etwas verglasten Augen umher. Als ihm niemand antwortete, grinste er vor sich hin und murmelte lallend: »Die gelbe, ja die gelbe Lehre hat sehr meine Teilnahme. Jetzt suche ich die grüne, die blaue, die rote und die schwarze dazu, um aus allen eine neue Lehre zu verfertigen. Wir lieben Farbenzusammenstellungen über alles, ehrenwerte Herren!« Ein wenig nüchterner: »Wollt Ihr mit mir über Eure Lehre disputieren, Herr – ich kann Euren Namen nicht aussprechen?!« Hartnäckig: »Ziert Euch nicht, legt los! Ich will sehen, was Eure Lehre wert ist!« Dabei zeigte er mit dem Finger wie tickend viele Male auf Bartolomeo.

Diesem schoß sogleich das Blut in die Wangen. Keine Spur mehr von Weinlaune, als er scharf erwiderte:

»Was fällt Euch ein? Hier ist nicht der Ort zu solchen Aussprachen. Übrigens ...« er betonte jedes weitere Wort, »übrigens möchte ich bemerken, daß die Wahrheiten, die ich euch unwissenden Heiden zu bringen hätte, jenseits alles Disputes stehen. Verstanden? Froh solltet ihr sein, sie auch nur zu erfassen! Ja, froh! Es würde euch der Hölle entreißen, der ihr sonst unrettbar verfallen seid!« Er blickte stolz und selbstzufrieden um sich.

Marco sah entsetzt zu Maffio hinüber. Die Wirkung, die er befürchtet hatte, blieb auch nicht aus. Mit sonderbar hoher Kehlstimme brach Tae-ping los, dessen Augen vor Wut funkelten:

»Das nenne ich Anmaßung, verehrter Herr Bonze! So etwas ist mir noch nicht untergekommen. Ihr wähnt wohl, einen Bewohner der südlichen Inseln vor Euch zu haben, dem Ihr alles vormachen könnt!? Unwissende Heiden! Was ›Heiden‹ bedeutet, ist mir nicht klar. Ich höre dieses häßliche Wort zum erstenmal! Aber unwissend? O, Ihr Tropf! Ihr könnt froh sein, Ihr, Ihr, – Ihr Barbare, daß es Euch vergönnt war, unser Reich der blumigen Weisheit zu betreten. Eine schöne Sippschaft hat sich da eingedrängt!« Schrill auflachend: »Nicht disputieren! Auf starken Gründen muß Eure Lehre ruhen. Ein Pasepa hat es nicht unter seiner Würde gefunden, mit mir seine Lehre zu besprechen und meine Einwände zu prüfen! Und Ihr?« Er grinste höhnisch. »Ihr? Was seid Ihr gegen Pasepa?«

»Pasepa ist ein Götzendiener, ein der Vielgötterei verfallener Heide, ein ...« Bartolomeo rang nach Atem. Übersprudelnd: »Er ist nicht besser als die schmutzigen Gaukler, die Teufelskünste verüben oder Wunder vorschwindeln!« Wut und Wein benebelten ihn plötzlich. Hochrot schrie er unablässig: »Ein Schwindler, ein Prahlhans, ein Gaukler!«

Tae-ping war aufgefahren.

»Schweigt, Fra Bartolomeo!« zischte Marco dem Priester zu, der mit stieren Augen die drei Worte weiter lallte.

Maffio stieß Tae-ping leicht an und flüsterte:

»Er ist trunken! Setzt Euch! Wir sprechen von etwas anderem!« Schnell hinzufügend; »Erregung lohnt sich nicht. Er kennt ja Pasepa gar nicht. Ich kenne und ehre ihn!«

Der Literat, dessen Zorn weniger infolge der Worte Maffios als vielmehr im allgemeinen Rhythmus des Rausches plötzlich verweht war, griff nach dem Becher und sagte väterlich zu Bartolomeo:

»Trinkt nicht soviel, lieber Bonze! Es schadet Euch!« Dann begann er ein zotiges Lied zu trällern.

Marco und Maffio lachten erleichtert. Fra Bartolomeo aber erhob sich schwankend, da ein kühler Windhauch ihm einige Selbsterkenntnis zugeweht hatte. Ohne Gruß torkelte er hinaus in das Dunkel der Gartens.

»Er hat das Gesicht verloren! Hundert Gesichter, tausend Gesichter!« gröhlte Tae-ping. »Er ist der Heide!« Langgezogen schrie er ihm nach: »Du – bist – der – Heide!«

Sich abkehrend sagte er mit Pathos:

»Wir wollen weitertrinken, edle Herren! Wer nichts verträgt, ist ein Heide. Jetzt weiß ich endlich, was das Wort bedeutet. Ich muß ein neues Schriftzeichen dafür erfinden.« Er zog den Pinsel heraus und malte eine Unflätigkeit auf die Platte des Tisches. Dazu kicherte er äußerst befriedigt.

 

Einige Zeit unterhielten sich die drei höchst einträchtig. Tae-ping war wieder in einem Wellental seines Rausches und gab Witze zum besten, die selbst Marco zur Heiterkeit brachten.

Irgend ein magischer Schluck aber trieb ihn plötzlich steil den Wellenberg hinan. Wieder wie vorhin begann der Umschwung damit, daß er eine Person scharf ins Auge faßte, als wollte er durch den Anblick das Wirrsal seiner ausbruchbereiten Streitlust in eine bestimmte Richtung lenken. Diesmal war es Marco, dem der Angriff galt:

»Nun, Herr Ma-ko-po,« hänselte er, schon merkbar lallend. »Meine Schwester gefiele Euch wohl sehr? Vielen hat sie schon gefallen. Zehntausend haben sich in sie verliebt, daß sie krank geworden sind.« Unvermittelt im drohendsten Ton: »Am wenigsten aber wird sie ein Barbare bekommen! Am wenigsten. Trinkt, sauft, schlagt Euch solche Anmaßungen aus dem Kopf! Eher verheirate ich sie mit einem Lastträger aus Nan-king! Eher!«

Maffio erschrak. Er fürchtete, daß Marco sich hinreißen lassen würde. Marco aber starrte vorläufig nur den Literaten an, dessen anfangs verständliche Rede jetzt zu einem sinnlosen Gestammel ausartete. Als die Worte wieder Zusammenhang erhielten, schnitt er dem Chinesen scharf das Wort ab:

»Ihr seid im Irrtum, Tae-ping! Zum zweitenmal sprecht Ihr unverschämte Vorwürfe aus. Was ich an Eurer Schwester von allem Beginn ehrte, ist die hohe Bildung, die Seele. Die könnte ich lieben. Ihr versteht. Ich sage, ich könnte ihre Seele und ihren Verstand lieben.«

Ein lichter Augenblick warf im Hirn des Literaten die ganze Kraft seiner Schlauheit an die Oberfläche. Hämisch murmelte er:

»Dann liebt Ihr eigentlich mich, holder Ma-ko-po! Eigentlich mich! Denn sie hat Bildung und Seele von mir. Im übrigen ist sie ein Frauenzimmer wie alle anderen. Ich kann Euch also die Sehnsucht selbst stillen. Ihr seid höflich eingeladen auf Bildung und Seele. Aber bei mir! In Kambalu.« Er kicherte wieder ganz hoch. Dabei verschluckte er sich einigemal und begann zu husten. Stoßweiße, geradezu satanisch: »Der Schwester aber werde ich sagen, daß Ihr sie nicht liebt, daß sie Euch nicht gefällt. Oder hörte ich falsch? Pfui, jetzt ist mir Wein in die Nase gekommen! Brrr!« Er schüttelte sich und pustete.

Marco antwortete nicht. Hatte sich Tae-ping nur trunken gestellt, um alle unangenehmen Wahrheiten ungestraft heraussagen zu können? Es war nicht zu entscheiden. Vielleicht die ungeheure Übung zahlloser Gelage, trotz des Rausches im gegebenen Augenblicke das Richtige zu finden. Marco wollte die Gedanken gar nicht fortsetzen. Schmerzen der Wunde begannen ihn zu quälen, Abspannung stellte sich ein.

Eben wollte Maffio ablenkend mit einer Erzählung beginnen, als Tae-ping, der endlich Herr seines Schluckens geworden war, das gedunsene Antlitz zu einer erschreckenden Fratze verzerrte. Nicht ein Schimmer seiner wohlgestalteten Züge blieb zurück. Dabei wurde der Ausdruck stets wilder, stets bedrohlicher.

»Was hat er? Mir scheint, er erstickt!« flüsterte Maffio zu Marco. Schon sprang er auf.

Da löste sich der Krampf auf dem Antlitz des Literaten in ein jammervolles Schluchzen. Gurgelnd, stets unterbrochen von neuen Stößen des Schmerzes, keuchte er:

»Uang-tschu! Wo bist du, Freund? – Sauf mit uns! –- O, gestern noch! – Entsetzliches Schicksal! – Freund, mein Freund! Freund Uang-tschu! Freund!« Plötzlich am ganzen Leibe bebend: »Du hast es getan, du, Ma-ko-po! Ein herrlicher Ruhm! Nicht einmal gewußt hat der Barbare, wo der unterirdische Gang mündet. Unglaubliche Tat! Dafür läßt man sich feiern, daß man aus lauter Dummheit das Richtige traf. Das ist ein Ruhm! Strahlen auf dem Gesicht! Lob Tschang-li-suns! Alles verneigt sich! Nichts als Glück und Dummheit! Dummheit! Dummheit!«

Jetzt aber war es Marco zu viel. Bleich und sprungbereit starrte er den Lallenden an, der wieder mit dem Finger tickend nach ihm wies.

»Schweig!« brüllte er. »Schweig, sonst könnte ich vergessen, daß du mein Gast bist!«

Tae-ping ließ die Hand fallen. Suchend und tastend langte er nach einem Glase. Dann schlug er, bei jedem Hiebe vorwärts torkelnd, nach einer Wespe, die über den Speisen summte. Er hielt auch nicht inne, als ein Teller klirrend zur Erde flog und in hundert Scherben zersprang.

Maffio sah eine Weile zu. Als Marco angewidert und mit sich selbst kämpfend fortblickte, sagte er plötzlich gemütlich:

»Ho, Freund Tae-ping, ich habe dir etwas mitzuteilen. Hörst du mich?«

»Öööh!?« grunzte der Angesprochene und vergaß seine fruchtlose Bemühung um die Wespe. Dabei erhielt sein Gesicht trotz der bereits arg verglasten Augen einen kindlich rührenden Ausdruck. »I-c-h h-ö-r-e!« stammelte er mit letzter Kraft.

»Ich wollte nur erwähnen,« setzte Maffio langsam fort, »daß ich es auch nicht für einen großen Ruhm ansehe, wenn ein höchst begabter Literat geistig davon lebt, den ewig betrunkenen Dichter Li-tai-pe nachzuäffen. Ich hoffe, du verstehst!«

Die Wirkung war eine für Marco unerwartete. Tae-ping brach in ein gellendes Gelächter aus und konnte sich lange nicht beruhigen. Plötzlich schien er sich wieder einigermaßen in die Gewalt zu bekommen. Noch immer zungenschwer, gleichwohl aber halbwegs verständlich murmelte er:

»Das war gut! Das war treffend! Sehr treffend! So kämpft man bei uns. Nicht aber brüllen!« Er ahmte johlend die Stimme Marcos nach. »Bäääh!« kreischte er in die Stille hinaus. »Überhaupt bist du mir noch der liebste von den Barbaren. Fresse der Teufel all die Barbaren. Unbedingter Aufstand! Nieder mit ihnen! Dich liebe ich. Der dort ist ein Heide! Verdammte Heiden ...«

Während Tae-ping noch weitergröhlte, gab Maffio Marco einen verstohlenen Wink. Marco erhob sich unauffällig und verschwand geräuschlos, als Tae-ping eben fortsah.

Maffio aber füllte schnell den Becher des Literaten.

 

Auf dem Wege zum Wohnpavillon traf Marco den heute besonders geschäftigen Enrico, der eben im Begriffe war, neuen Wein in den Garten hinauszubringen.

»Stell das Zeug hin. Ich gehe schlafen!« sagte Marco mit nachlässig müder Stimme.

Enrico aber, dem der Klang auffiel, sah den Herrn forschend an. Dann brach er schon los:

»Madonna, Ihr habt wieder Fieber, Masser! Gleich komme ich, gleich. Es ist schrecklich. Rote Flecken auf dem Gesicht. Auch der Schritt ist schwankend. Habt Ihr viel getrunken?«

»Nahezu gar nichts! Du hast recht, es mag Fieber sein!« Marco schritt schon weiter.

»Dann trinkt jetzt! Möglichst viel. Ich werde den Krug ins Schlafgemach mitnehmen. Oder doch nicht! Sonst schwellen die Wunden an und die Entzündung wird stärker. Porco dio, warum haben Euch die Tataren solchen Mist auf die Wunde geschmiert!« Dabei lief er Marco voran, schob die Türen des Schlafgemachs auseinander und machte sich sofort daran, das Ruhelager zu ordnen.

Eine Öllampe verbreitete weiches Licht.

Marco ließ vorläufig alles über sich ergehen. Wechsel des Verbandes, neue Salben, wobei sich herausstellte, daß die Wunde durchaus nicht schlimmer geworden war. Dann begann ihn Enrico vorsichtig zu entkleiden, rieb in neuerlich mit allerlei Essenzen, faßte ihn plötzlich wie ein Kind an und trug ihn zum Lager. Schließlich schleppte er noch Decken und Felle herbei, damit der Masser nicht friere, wenn wieder ein Fieberanfall käme.

Er wollte sich eben zur Lampe begeben, um sie zu verlöschen.

»Darf ich mich neben Euch hocken, Masser?« fragte er schüchtern. »Ich werde mich nicht rühren. Aber Ihr sollt nicht unbehütet bleiben. Jeden Augenblick kann das Zeug zu bluten beginnen ...«

»Sehr lieb von dir, Enrico! Du bist ein Engel und mein treuester Freund! Aber sei nicht bös, wenn ich dich bitte, mich zu verlassen. Ich will eine Stunde allein sein, ganz allein! Dann magst du nachsehen kommen.«

»Va bene! Wie Ihr befehlt!« Enrico verschluckte sich beim Sprechen vor Rührung und Angst. Ich werde schon bald wieder zur Stelle sein, beruhigte er sich. Mehr als hinauswerfen kann er mich nicht, wenn ich zu früh komme.

Und er verließ wortlos den Raum und schob die vielfach gefelderte Tür, deren transparentes Papier matt schimmerte, vorsichtig hinter sich zu.

 

In diesem Augenblick stürzte ein Chaos von verzerrten Gedanken auf Marco Polo ein. Noch wirrer dadurch, daß, Raum und Zeit zersprengend, sich jene Nacht der hundert Briefe dazwischen zwängte, jene Nacht, in der er das erstemal vor unlösbaren Rätseln, vor Widerstreit von Liebe und Schicksal gestanden war.

Francesca, Melissa, Li-ping-erch! Die Formen der drei Mädchen wehten ineinander, ihre Stimmen verwoben sich zu einem Dreiklang unendlicher Sehnsucht und tiefster Traurigkeit.

Verloren, verloren! Alles habe ich verloren, was Glück bedeutet. Verkauft die eine, um die andre nicht zu gewinnen, um hinauszuziehen in Weiten, in denen mir die dritte erschien und zugleich entschwand. Wird es so fortgehen? Wahrscheinlich widerfährt das jedem, der das erste Geschenk Gottes von sich wirft. Strafe. Tantalus der Liebe.

Tae-ping ist ihr Bruder. Vielleicht ist Li-ping als Schwester nur sein Spiegelbild: Schlau, klug, gewandt, frech, eitel und voll Haß.

O, Marco Polo, wie du dich zu trösten suchst! Du bist schlau, du bist eitel! Jetzt habe ich mich wieder auf dem Lager gewälzt und bin angestoßen. Der Schmerz hindert mich am Denken.

So, er klingt ab. Also was hat Tae-ping eigentlich verbrochen?

Ich will nicht liegen, es treibt mir Blut in den Kopf, rotes, hämmerndes Blut. Das Fieber scheint zuzunehmen.

Gut, ich sitze aufrecht. Einen Polster hinter den Rücken zur Unterstützung. Ich werde ins Licht starren, das beruhigt, hat mir irgend ein Mönch gesagt.

Was wollte ich nur? Ja, Tae-ping! Ich glaube, daß ich gar nicht mehr weiß, was er gesagt hat. Ich war in Wut, hätte ihn am liebsten niedergeschlagen. Jetzt dämmert mir schon etwas. Ah, wegen Li-ping war es.

Alles fällt mir zugleich ein. Ich weiß auch schon den Grund meines Zornes. Er hat recht. Ganz klar sehe ich plötzlich. Recht hat er in allem. Das ist eben das Gräßliche. Ob Li-ping-erch mich auch für einen Barbaren hält? Möglich! Warum soll das gebildetste Mädchen des Mittelreiches in mir einen Hanlin-Akademiker wittern? Jede Bewegung an mir stößt sie ab. Sicher bin ich ihr lächerlicher, als es Tae-ping mir war, da er abendländische Bräuche nachahmen wollte.

Darum ist sie geflohen. Sie wollte nur in ihrer Güte mich warnen, mich retten. Vielleicht der Einfluß Tschangs.

Ja, durch Dummheit habe ich gesiegt! Recht auch darin, Freund Uang-tschus!

Uang-tschu! Deine Augen. Ich sehe den Blick auf mich gerichtet. Du hast keine Ruhe im Grabe. Bist du schon bestattet? Wir werden dir ein Grabmal setzen, eine Ehrenpforte aus rotem Holze bauen.

Ah! Du irrst umher?! Ich fühle deine Augen, die sich nicht schließen konnten. Wir haben deine Raketen zerspellt. Den Gedanken, den heißen Wunsch des Sterbenden haben wir kalt vernichtet. Strebtest nicht auch du nach einem Tao, einem andren allerdings als jenem, dem ich angeblich diente?

Verzeih mir, Uang-tschu! So brav hast du dich geschlagen. Ohne Panzer, ohne Helm. Ich hatte den Panzer. Geschwindelt habe ich, betrogen. Ich lebe zu Unrecht, du starbst zu Unrecht! Tröste dich, toter Freund, auch ich werde nie vollenden können. Dein Fluch.

Trittst du nicht dort aus der Wand? Neben der Lampe? Sieh mich nur an! Auch du hast recht. Alle habt ihr recht. Ich bin ein Eindringling. Wo bist du? Wieder zurück in den Schatten?

Komm, ich fürchte dich nicht! Ich werde mich nicht wehren. Jetzt habe ich keinen Panzer. Schlag den Brusthieb noch einmal, um den ich dich betrog!

Was ist mir? Warum singt es so schrill in meinem Kopfe? Uang-tschu! Gräßlicher Schmerz. Nichts mehr gut zu machen? Trotzdem, wenn du es auch verachtest ... Ha, jetzt habe ich dein gellendes Lachen gehört... Lach nur ... lache, lache, lache! Ich aber weine um dich. Mehr an Wert habe ich getötet, als ich je zurückgeben kann, Uang-tschu!

Marco Polo schluchzte mit starrem Blicke auf. Wild schüttelte es ihn. Keine Träne aber wollte das Zucken seines Körpers lindern. Bis er endlich röchelnd zurücksank.

Plötzlich ein Versinken, ein inneres Aufschreien:

Uang-tschu – er sieht mich wieder an – hinter der Lampe ... der Blick ... Fremdester der Fremden – laß mich durch – laß mich durch! – Was geht's dich an? – – Uang-tschu! Ah, er hält mir den Mund zu, dörrt meine Augen aus ... Weine nicht um mich, Elender! Barbare! Sieger aus Dummheit! – Wo ist der Gang? – Ich wehre mich ja nicht – Kein Panzer – laß mich durch – laß mich durch! Fluch, tausendfacher Fluch! – Der Weg ist frei! – Zu den Raketen! Zu – den – R - a - k - e - t - e - n ...!

 

Inzwischen saß Tae-ping noch immer schweigend an seinem Platze. Er schien in eine Art von Halbschlummer verfallen zu sein, in dem der Begriff des Zeitablaufes keine Rolle mehr spielte. Ab und zu nur trällerte er vor sich hin.

Als ihm aber Maffio neuerlich den geleerten Becher vollschenken wollte, erwachte er mit einem Ruck. Mit einer wilden Bewegung stülpte er den Becher um und ließ die gespreitete Hand auf dem Boden des Pokals liegen, daß die Sehnen und Adern des Handrückens hervortraten. Er sah im Kreise umher. Plötzlich:

»Wo ist der Heide? Ich will, daß der Heide wieder kommt!«

»Er ist schlafen gegangen, Freund Tae-ping. Fieber. Er verträgt keinen Wein. Laß ihn. Ich verstehe dich viel besser!« Dabei verbeugte sich Maffio mehrere Male.

»Recht habt Ihr!« erwiderte auch sogleich der Literat. »Sollen sie alle schlafen!« Dabei lachte er Maffio voll ins Gesicht.

Maffio merkte, daß der Höhepunkt des Rausches für Tae-ping bereits überschritten war. Er lallte kaum mehr. Alle Achtung! Ein geübter Zecher, der sich in der Hand hat. Er nimmt auch nichts mehr. Der umgestülpte Becher ist eine unabänderliche Zeremonie.

»Ihr habt wohl viel zu studieren, Freund Tae-ping?«

»Ganz richtig, Ihr kennt Euch aus!« Der Literat geriet in Eifer. »Ungeheuer viel muß ich studieren. Und dann sagt so ein dummer Dämon von Bonze, daß ich unwissend bin. Er ist unwissend! Er weiß nicht einmal, daß man nur durch Disput gescheiter wird!« Plötzlich ganz ruhig und freundlich: »Wenn Ihr nach Kambalu kommt, besucht mich, Freund Ma-fo! Ihr heißt doch so? Dann zeige ich Euch die Bücher. Ein ganzes Zimmer voll. In einem Jahr kann ich alles!« Aufblickend: »Vielleicht habt Ihr die Güte, uns Tee bringen zu lassen, edler Ma-fo! Er wird unsren Geist anregen. Ich will Euch nämlich heute schon einiges über mein Studium erzählen.«

Maffio rief nach einem Diener.

Dann wandte er sich dem Literaten zu, der schon munter darauflossprach.

 

In den letzten Augenblicken hatte Marco Polo nahe seinem Ohr ein Getuschel und Geflüster wahrzunehmen geglaubt.

Mit Mühe riß er sich aus den schweren Umklammerungen eines traumlosen Schlafes.

Wo war er? Hatte er lange geschlafen? Was geschieht? Wer flüstert?

Er richtete sich halb auf und horchte. Keine Antwort auf alle Fragen. Tiefstes Dunkel im Raum. Es hatte doch die Lampe gebrannt, als er einschlief. Auch kein Flüstern mehr.

Plötzlich ein Geräusch an der Türe. Er erkannte instinktiv den Tritt.

»Enrico!« ächzte er, obwohl er laut rufen wollte.

»Ihr befehlt, Masser?« kam es durch das Dunkel zurück.

»Mach Licht!« Er ließ sich zurückfallen.

Die Lampe flammte auf. Nichts verändert. Stückweise kam die Erinnerung.

»Geht es schon gegen Morgen?« fragte er.

»Morgen?« Enrico kam auf den Zehenspitzen zum Lager und legte die Hand behutsam auf seine Stirne. »Was fällt Euch ein, Masser?« setzte er fort. »Keine halbe Stunde habt Ihr geschlafen. Gott sei Dank, das Fieber scheint gewichen zu sein. Ich war inzwischen bei Euch, da wart Ihr rot im Gesicht wie der Kamm eines zornigen Puterhahns. Was befehlt Ihr noch?«

»Nichts!« In Marco stieg plötzlich ein sonderbar wildes Gefühl empor. »Nichts!« wiederholte er schnell. »Geh jetzt wieder, Enrico, vielleicht trinken die draußen noch. Komm aber nicht wieder herein, ich will jetzt Ruhe haben. Das Fieber ist überstanden.«

»Gott gebe es! Wenn Ihr befehlt, muß ich gehorchen!« Enrico schüttelte ein wenig mißbilligend den Kopf und schlich auf den Fußspitzen hinaus.

Marco aber knirschte die Zähne gegeneinander. Keine Spur mehr von Verzweiflung oder Reue. Auch keine Angst und kein Grauen. Nur ein furchtbarer Urtrieb hatte ihn gepackt. Li-ping-erch! Das Weib und die ersehnte Freundin zugleich.

Nein, so geht es nicht. Ich werde mich ankleiden. Sonst komme ich um den Verstand.

Schon sprang er vom Lager auf. Keine Müdigkeit! Um so besser. Und er mühte sich ab, die Gewänder überzuwerfen.

Soll es schmerzen! Nichts spüre ich. Li-ping-erch! Warum bist du jetzt nicht hier? Besser ist es, hundertmal besser, daß du ferne weilst. Ich würde mich vergessen, dich durch meine Tollheit verscheuchen!

Aber ich liebe dich ja, Li-ping! All das ist Liebe. Warum soll ich kein Mann sein? Alles liebe ich eben an dir.

O, mir fällt etwas ein, etwas Furchtbares, Dämonisches.

Fiebere ich? Jetzt stehe ich mitten im Zimmer.

Ich bin doch ganz gesund. Keine Schwäche. Alles sehe ich klar. Auch dich, den bunten Papagei. Hahaha! Du warst es, bunter Vogel, der mir zuerst die Ahnung von dem gab, was heute Wirklichkeit ward. Alles andre war Vorspiel, Traum, Schementanz. So hell bin ich im Kopfe, so hell und klar!

Was wollte ich nur? Es kann doch nicht wieder entschwunden sein, da ich eben so hell bin in meinen Gedanken?!

Ah! Jetzt weiß ich es schon wieder. Ich gehe zum Lager, knie auf die Kissen. Gebet? O nein, kein Gebet! Schwarze Magie. Wenn es diese Tibeter zustandebringen, warum nicht ich? Kraft gehört dazu, wilde Kraft und heißer Wille. Mir fehlt beides nicht.

Ich selbst war dabei. Mit eigenen Augen habe ich gesehen, wie der Gaukler das Mädchen durch bloßen Willen zu sich heranzog. Ein fremdes Mädchen. Zehn Meilen weit. Ich selbst habe ihm das Mädchen bezeichnet.

Ah, wie sie kam! Tastend, gleich einer Blinden. Geschlossene Augen. Schwebend an Abgründen vorbei.

Jetzt knie ich. Für viel Geld hat er geplaudert, der Gaukler. Alles ausschalten, hat er gesagt. Nur das eine denken, das eine schauen, bis es hell wird. So hell, daß nichts andres mehr im Kopfe kreist. Geifern soll der Mund vor Willensanstrengung. Die Augen treten aus den Höhlen. Der Atem keucht. Krämpfe durchschütteln die Muskeln. Dann kommt sie.

Sie muß kommen! Ich fühle, daß sie nicht ferne ist.

Li-ping-erch! Ist es ein Bündnis mit Satan? Setze ich für dich mein Seelenheil aufs Spiel?

Ich ertrage es nicht länger. Li-ping-erch! Ich rufe dich!

Schon höre ich meine Zähne knirschen. Ha! Willen! Mehr Willen. Augen, bohrt euch durch die Wände! Fallt zusammen, Wände, unter meinem Blick! Spannt euch, Muskeln! Zieh dich über den Schädel straff, lockere Haut des Kopfes und Antlitzes!

Der Schweiß bricht aus meinen Poren. Keuche ich schon? Mehr Wille! Leuchte, du Bild! Du willst nicht? Alles verschwimmt. Schauen, schauen, heller schauen! Bleib bei mir, Bild! Die Augen treten aus den Höhlen.

Es singt. Flüstert. Raschelt. Singend schreitest du über Wiesen. Aaah! Bleib da, du Bild! Ich kann nicht mehr! Härter der Wille. Spanne dich an. Mehr, noch mehr! Was sehe ich? Rotes Blutmeer. Nebel. Durch die Wände!

»Li-ping-erch!«

Wer hat geschrien? Still!

»Li-ping-erch!«

Noch einmal, schweig! Ich erwürge dich! O, alles zerrinnt. Fieber. Nebel.

»Li-ping-erch!« Gurgelnd und stöhnend.

Ah! Sie kommt! Halleluja, sie kommt. Sie ist da. Ich fühle es. Ihr Schritt. Die Tür geht auf. Der Zauber ...

Halleluja! Vollendet, sie ist da, sie – ist – da!

Marco Polo stürzte vornüber in die Kissen. Sein Körper aber zuckte in Krämpfen, da ihn der Polster fast erstickte.

Ein überwältigender Schmerz im Arm riß ihn wieder auf.

Da sah er das Mädchen, das eben die Tür hinter sich zuschob. Nur ein leichtes Seidengewand übergeworfen. Unter dem Stoff erschrockenes Beben des Leibes.

Marco Polo starrte auf die Form, die für ihn nicht festzuhalten war. Nebel vor den Augen. Die Gestalt schwankte, zerfloß an den Konturen. Noch hatte sie ihm nicht das Antlitz zugewandt.

Plötzlich zugleich der erste Ton und das Zukehren des Gesichtes.

Was spricht sie? Auch meine Ohren gehorchen noch nicht. Was spricht sie, was ist das für eine Stimme?

Noch einmal leise aber eindringlich:

»Edler Herr Ma-ko-po! Ma-ko-po! Was ist Euch geschehen? Schnell! Faßt Euch! Soll ich die Diener rufen?«

»Aaaah!« Marco ächzte auf.

Trug! Wahnbild! Verloren! Alles verloren! Wie die Wachsbüste, die einmal in Venedig auf dem Kamin stand, unter der Wirkung der Hitze die Züge veränderte, zusammensank, sich verzerrte, zur Fratze ward.

Aah! Hinter dem Antlitz Li-pings ist die Fratze aufgetaucht. Zusammengeronnen. Schrecklich! Die Nebel sinken.

Marco Polo war wild aufgesprungen und stand mitten im Zimmer.

Das Mädchen knickte vor ihm zitternd in die Knie.

Unvermittelt volles Begreifen. Gellend lachte er auf.

Die Dienerin, das Mädchen Yü, was wollte sie hier? Sie hat mich gehört, hat meine Rufe bis in das Frauengemach hinüber gehört.

Wut und Scham erfaßten ihn.

»Wer hat dir gestattet, einzudringen?« fauchte er das kleine, zierliche Geschöpf an, dessen demütige Schultern aus der leichten Seide ragten.

»Ich will Euch helfen, Herr!« kam es dünn und stockend zurück. »Wach bin ich gelegen, habe Rufe vernommen, schmerzliche Rufe ...«

»Schwarze Magie! Unfaßbarer Erfolg!« Wieder ein hohles Auflachen Marcos.

Sogleich kam es zurück:

»Ich verstehe Euch nicht, Herr! Ihr seid krank. Krank am Leib und an der Seele ...«

»Schweig!« keuchte Marco und faßte das Mädchen hart am Handgelenk. Er fühlte, wie Fieberwellen in ihm emporkrochen.

»Ihr habt Li-ping-erch gerufen, o so schrecklich gerufen ...«

»Wo ist sie, du weißt es! Sprich, sonst werde ich dich zwingen!« Marcos Griff wurde so erbarmungslos, daß Yü auf die Füßchen sprang und sich seufzend wand.

»Herr, habt Erbarmen!« Noch dünner, schon schluchzend: »Habt Erbarmen! Ich tat nichts Böses. Ich weiß nicht, wo Li-ping hinging!«

»Du lügst!« Marco zischte es nahe an ihrem Ohr.

Ein Gedanke fraß sich in sein Hirn: Sie muß es wissen! Sie muß! Satan hilft auf Umwegen!

»Laßt mich los, Herr!« Jammervolles Aufweinen des geängstigten Mädchens.

»Da!« Marco hatte sie in hemmungsloser Wut auf sein Ruhebett geschleudert, wo sie sich zusammenrollte und liegen blieb. Dabei verschob sich das lose Kleidchen, daß eines ihrer zierlichen Beine bis über das Knie enthüllt war.

Einen Augenblick verharrte Marco noch in der Stellung, in der er das Mädchen fortgeschleudert hatte. Dann bändigte eine jähe Erkenntnis seinen Zorn und er machte einige Schritte gegen das Lager.

»Dein Kleid hat sich verschoben! Bring es in Ordnung!« Er sagte es wegwerfend und sah fort.

Das Mädchen richtete sich halb auf und zog mit zitternder Hand an der Seide. Tränen kollerten über die glatten Wangen hinunter.

Marco kehrte sich ihr wieder zu. Plötzlich kalt und nüchtern:

»Wieviel verlangst du, Yü? Ich meine, um welche Summe verkaufst du das Geheimnis? Du kannst es auch in Schmuck, Kleidern oder Edelsteinen ausdrücken!« Dabei faßte er sie scharf ins Auge und biß die Zähne in äußerster Willensanspannung in die Unterlippe.

»Ich weiß ja nichts! Ich habe kein Geheimnis!« Ein flackerndes Beben schüttelte den kleinen Körper. Unvermittelt jammernd, als Marco wieder drohend näherkam: »Nein, nicht für Geld! Nicht durch Gewalt! Zerbrecht mir die Knochen, Herr! Werft mich den Hunden vor, tut, was Ihr wollt! Nichts erfahrt Ihr, nichts!«

»Was meinst du?« Marco ließ sich neben sie in sitzende Stellung auf das Lager nieder. Gut, so soll es anders versucht werden. »Was meinst du?« fragte er noch einmal, als er ihre Augen sah, die einen sonderbaren Schimmer von Ergebung und Qual ausstrahlten. Flüsternd: »Sag es mir, Yü! Denn es scheint mir, als ob es doch einen Preis für das Geheimnis gäbe. Ich bin mächtig, kann vieles durchsetzen ...«

Yü bedeckte das Gesichtchen mit beiden Händen. Hauchfein lispelte sie:

»Ich weiß nichts, Herr Ma-ko-po! Ihr leidet so sehr. Da kam ich, um Euch zu helfen. Kosen will ich Euch die ganze Nacht bis zum Morgen. Ihr werdet dann vielleicht vergessen. Es wird Euch kühlen, lindern ...«

»Was sprichst du da? Schämst du dich nicht?«

Tolle Zumutung! Was will das geile Dirnchen? Dein Bild soll ich beschmutzen, Li-ping-erch?

»Mit allen anderen Mädchen habt Ihr gekost, Herr! Nächtelang durften sie um Euch sein. Nur ich nicht, nur ich nicht! Meine Liebe zu Euch aber ist doch größer als die der anderen!« Herzbrechend weinte sie wieder auf.

»Noch einmal, schäme dich!« Marco wurde ungeduldig. Er fürchtete, sich nicht weiter beherrschen zu können. Hastig und heiser: »Du bist ein halbes Kind, Yü! Die andren sind älter. Da war nichts mehr zu verderben. Sei doch vernünftig und sag mir das Geheimnis!«

»Ich bin kein Kind! Ich bin ein Weib wie die anderen!« Plötzlich hatte Yü sich aufgerichtet. Stolz überglühte ihr Gesichtchen. Stolz und Wille. In festem, verändertem Tone: »Ich werde Euch den Preis sagen, Herr! Jetzt sage ich ihn, da Ihr mich schmähtet. Ihr müßt mich küssen, Herr! Hier auf den Hals, unter dem Ohre. Das will ich. Mein Mund wäre Eurer vielleicht nicht wert.«

»Und wenn ich es täte?« In höchster Erregung hatte sich Marco nahe zu ihr hingeneigt. Nur der eine Gedanke an die Erzwingung seines Wunsches besaß ihn noch.

»Dann – dann sage ich Euch, wo Li-ping-erch ist!« Sie hauchte die Worte nur mehr, da auch sie Erregung schüttelte, wenn auch aus andren Zonen geboren.

»Gut! Ich vertraue dir!« Marco sprang auf die Füße, machte einen kurzen Schritt und beugte sich über den zarten, schimmernden Hals, den sie ihm verlangend bot. Er sah das Wogen der Schlagader.

Auch ich will nicht unehrlich sein! Er drückte seine Lippen fest und voll in die duftende Haut, die wie unter einem Bisse zusammenzuckte.

Der nächste Augenblick schon umbrandete ihn mit einem Wirrsal von Empfindungen. Katzenflink war das Mädchen emporgeschnellt, hatte ihn umklammert und drängte die Holdseligkeiten ihres Leibes rankend an seinen Körper: Zugleich fühlte er die heiße Wange, die harten Spitzen der kleinen Brüste, die straffen Schenkel und den zurückfliehenden Bug ihrer Mitte. Alles duftend, werbend, durchpulst von hemmungslosem Begehren.

Fast unterlag er dem Ansturm. Schon zerrannen auch in seinem Geiste die festen Umrisse und er wünschte beinahe, in die roten Fluten der Leidenschaft zu versinken.

Da, ein langer, zitternder Seufzer des Mädchens, ein wollüstig keuchender Wehlaut.

Die fremde Stimme riß ihn vor der Pforte zurück. Langsam, aber unwiderstehlich löste er sich aus ihren Armen.

»Dein Versprechen, Yü?! Ich habe mehr gezahlt, als vereinbart war! Ich vertraute dir!« Er sagte es in sanftem, aber eindringlichem Tone.

Yü lag wieder auf den Knien vor ihm. Die Hände vor dem Antlitz verkrampft.

»In der Pagode der irrenden Kobolde!« ächzte sie mit zerbrochenem Stimmchen.

»Braves Mädchen! Du bist ein liebes, ehrliches Geschöpfchen!« Marco, dessen Herz aufjubelte, suchte den nächsten Gegenstand, um seine Zärtlichkeit auszuströmen. Er faßte die Kniende, hob sie empor und küßte sie dreimal innig und stark auf den Mund. »So, und jetzt leg dich schlafen, kleines Ding!« setzte er väterlich fort, während er ihre Wange streichelte.

Yü sah ihn selig und jammervoll zugleich an. Dann küßte sie seine Hand und huschte scheu davon.

An der Türe aber wandte sie sich noch einmal um und flüsterte:

»Ihr seid grausam, lieber, furchtbarer Herr, mich so davonzujagen, wo mein ganzer Leib von Sehnsucht brennt!«

Bevor Marco, den Mitleid mit dem zierlichen Wesen erfaßte, antworten konnte, hatte sie mit jähem Ruck die Tür zugeschoben.

 

Die Pagode der irrenden Kobolde!

Marco hatte schon beinahe des Mädchens vergessen und schritt in höchster Gemütsbewegung einige Male auf und nieder, um sich zu sammeln.

Ungefähr eine Stunde Weges. Ich ahnte, daß sie in der Nähe weilt. Ein verrufener Ort, den die Bevölkerung der ganzen Umgebung meidet. Angeblich Geisterspuk. Li-ping-erch ist tapfer. Klug dazu. Sie weiß, daß sie dort vor Belästigung sicher ist.

O nein, Li-ping. Du irrst. Ein zweiter Freigeist lebt, ein Mann, der auch keine Kobolde fürchtet. Außer den Satan in der eigenen Brust. Dieser Mann wird dich belästigen, aus dem Schlummer wecken, werben und betteln.

Ich danke Gott, daß es noch Wesen gibt, um die ich werben muß! Die man nicht kauft, die einem nicht in die Arme laufen. Jämmerliches Püppchen Yü! Sei nicht traurig. Von dieser Art habe ich genug, bin satt!

Ob ich noch fiebere? Gleichgültig! Jetzt keine Zeit verlieren. Tae-ping hat auch mit Yü gesprochen. Er wird zur Pagode kommen. Nein, er wird nicht kommen! Es wird Morgen werden, ehe er seinen Rausch verschläft.

Angekleidet bin ich. Vielleicht einen Dolch. Er kann nichts schaden. So, jetzt noch kaltes Wasser über das Gesicht und dann fort. Eine Stunde ist für meinen Gemütszustand unfaßbar lang.

Aber Vorsicht! Trotzdem Vorsicht! Kein Mensch darf ahnen, daß ich gehe. Auch Enrico nicht. Ich lösche die Lampe aus. Schleiche durchs Fenster. Wie ein abenteuernder Junge. Mein Leben ist wahrlich sonderbar genug. So, ich gehe!

Marco wandte sich, als er sich aus dem Fenster geschwungen hatte, zuerst gegen den Garten. Er wollte sehen, ob Maffio noch mit Tae-ping zechte. Hinter Hecken gebückt, lugte er durch. Leuchtend und schimmernd hob sich der Pavillon vom Dunkel der Umgebung ab und die beiden Trinkgenossen waren deutlich zu erkennen, wie sie in lebhaftem Gespräche die Köpfe vorneigten.

Ein Wunder, daß der Literat noch sprechen kann!

Marco querte die Umfassungsmauer seines Landsitzes und trat in den Wald hinaus.

 

Es war ein stiller und erfüllter Weg, den er ging.

Leise rauschten die Kronen der Bäume unter dem Hauche der Brise. Nachtgeräusche des Waldes. Fallen von Zapfen, die widerhallend auf den Boden schlugen. Gedämpfte Vogelschreie aus tiefem Schlummer. Schlurfen und Rascheln wacher Nachttiere. Verträumtes Murmeln einer Quelle, die kein Licht, kein Dunkel kannte, solange der Boden nicht verdorrte.

Hellster Sternenhimmel. Irgendwo, durch Zweige lugend, der Aufgang eines dunkelroten Mondes.

Sein Pfad begann steil anzusteigen. Er kannte den Weg genau. Hinauf bis zum Kamm der Westberge. Dann den flachen Rücken entlang.

Müdigkeit fühlte er nicht. Sein Körper schien überhaupt nicht vorhanden zu sein. Er schwebte und lief den Abhang hinauf und wunderte sich, daß er trotz aller Achtlosigkeit weder stolperte noch gegen einen Baum stieß.

Wieder der verzehrende Urtrieb, der ihn beim Erwachen gepackt hatte.

Mich selbst habe ich verzaubert, höhnte es einmal in ihm. Mich selbst. Li-ping-erch schläft, träumt von Menschen, die ich nicht kenne, sehnt sich nach Dingen, die mir fremd sind. Ich aber jage, gezogen von magnetischer Gewalt, den Weg entlang, den ich ihr aufzwingen wollte.

Jetzt bin ich schon am Rande des Waldes. Ansteigende Wiesen. Der Spott hat mich geschwächt. Ich keuche.

Ah, wie frisch hier oben die Luft weht! Öffnet euch, Lungen, saugt den Duft des Grases ein. Ohren, weidet euch am Rascheln zusammenstoßender Ähren.

Kambalu! Was mag sich in deinem Riesenschlunde abspielen? Kein Achmak verbietet mehr, die Straßen nächtlings zu durchwandern. Wie ein ungeheuer mannigfaltiges Sternbild gleißen deine Lichter.

Hier muß ich nach rechts abbiegen. Fast eben geht es jetzt fort. Die Hälfte des Weges ist überwunden.

Ein Kobold irrt durch die Nacht. Irrt zu seiner Pagode; die seine Pagode wurde, als sie der Fuß im roten Saffianschuh betrat.

Keine Hast mehr! Bewußt will ich die Vorfreude genießen!

Marco Polo weitete die Brust. Blumenduft schlug ihm betäubend entgegen.

Die Pagode, gegliedert in viele Stockwerke, stand plötzlich vor ihm. Aufglitzernd in schon weißem Mondlicht, das von den glatten Porzellanwänden zurückgespiegelt wurde.

Ein hohes, singendes Glockenklimpern lag in der Luft, umschwebte den einsamen Bau. Entklingend den Glasglöckchen, die am Ende der weit herausgeschwungenen Stockwerksimse hingen.

Furchterregend der schwarze Zypressenhain, der den Bau innerhalb einer grellweißen Ringmauer umschloß.

Aus dem Glockensingen ein neuer Ton, herab aus der Höhe. Weinend, klagend, langgezogen, ersterbend.

Jetzt verstand Marco den Aberglauben. Denn trotz seines heißen Blutes, trotz angespanntesten Willens hatte ihn der Ton so sehr entsetzt, daß er fröstelnd erschauerte.

Allerdings nur den Bruchteil eines Augenblicks. Schon durchmaß er im Vorwärtsdrang die verfallene Türe des Mäuerchens und schritt unter den Zypressen.

Knisternde Bewegung beim Fuß der Pagode, dem er sich näherte. Ein Zündstab leuchtete angepustet auf.

Eine rauhe Männerstimme rief: »Haltet! Wer seid Ihr?«

Marco duckte sich. Räuber? Hat Yü mich betrogen, genarrt, ohne zu wissen, wer hier nistet?

»Wer seid Ihr, der hier eindringen will?« Lauter und befehlender die Stimme.

»Wir führen Schwerter! Macht Euch aus dem Staube!« riet wohlwollend aber unmißverständlich eine zweite Stimme.

Jetzt sah Marco im zunehmenden Lichte des Papierröhrchens zwei Schatten von der Pagodenwand sich ablösen. Metall glitzerte.

»Jeder hat das Recht, die Pagode zu betreten!« rief er halblaut zurück und umpreßte den Dolch. Fortsetzend: »Ich will in der Pagode übernachten. Laßt mich ein! Unverständlich, daß ihr euch erkühnt, an den Grundgesetzen des Landes zu rütteln!«

Ein Getuschel war die Antwort. Die beiden berieten anscheinend, was sie sagen sollten.

Unvermittelt laut:

»Wir sind Krieger der irrenden Kobolde. Die Pagode ist von Geistern bewohnt. Rennt, was Euch die Beine tragen! Sonst setzt sich Euch der geflügelte Drache an die Fersen!«

Marco konnte sich nicht halten. Er lachte laut auf über die Kindlichkeit der wackeren Streiter. Nein, das waren keine Räuber! Auch keine Krieger. Plötzlich der erlösende Gedanke. Wie konnte ich vergessen? Die Diener Li-ping-erchs! Noch einmal lachte er in die Nacht hinaus.

Die armen Wächter verloren für einen Augenblick die Sprache. Vielleicht war der Ankömmling selbst der wahre Kobold? Er hat so gräßlich, so fremd gelacht.

Als aber Marco ruhig weiterschritt, erhoben sie in letzter Verzweiflung ein ohrenbetäubendes Geschrei und hieben mit den Schwertern gegen die Steine, daß die Funken stoben.

Marco kam nicht mehr dazu, seiner Belustigung freien Lauf zu lassen.

Denn plötzlich war, knapp vor ihm, groß und durchleuchtet, die Haupttüre der Pagode aufgesprungen und in ihrem Rahmen stand, von rückwärts erhellt, eine Frau.

»Li-ping-erch!« rief er verzückt dem ersehnten Bilde entgegen.

»Ihr habt mich erschreckt, edler Herr Ma-ko-po!« tönte es leise zurück. Schon kam sie, ohne die verdutzten und erlösten Wächter weiter zu beachten, über die Stufen herab. »Wollt Ihr eintreten?« setzte sie sanft fort, nachdem sie ihr Köpfchen zum Gruße geneigt hatte.

»Ich wollte mich für das Geschenk bedanken und Euch einiges berichten, falls Ihr noch nicht alles wißt ...«

Marco suchte verlegen nach Ausflüchten, da ihn die Ruhe Li-pings lähmte.

»Nachrichten? Ist Euch das Schicksal meines Bruders bekannt?« Erregung durchbrach ihre beherrschte Form.

»Befreit und wohlauf! Ich sah ihn erst vor kurzem!« Im letzten Augenblick unterdrückte er die Fortsetzung, die ihm schon auf den Lippen lag. Sie darf nicht erfahren, daß er bei mir ist. Jetzt noch nicht!

»Befreit? Was heißt das? War er gefangen?« Li-pings Summe zitterte leise.

»Verzeiht meine Verworrenheit. Fast hätte ich vergessen, daß Ihr davon noch nichts erfahren haben könnt. Ich werde Euch alles erzählen, falls Ihr so gütig seid, mich anzuhören.«

»Kommt herein! Schon einmal bat ich.« Zu den Dienern: »Ihr aber bewacht weiter den Eingang. Nach einiger Zeit sollen euch die anderen zwei ablösen.« Sie machte gegen Marco eine zierliche Gebärde der Aufforderung.

Als sie aber beide im erleuchteten Innenraum der Pagode standen, stammelte Li-ping entsetzt:

»Was ist Euch geschehen, Ma-ko-po? Euer Arm? Seid Ihr verwundet? Ich werde Euch ein Lager bereiten. Was habt Ihr für Augen, Ma-ko-po? Ihr fiebert.« Und sie lief erregt hin und her und türmte an der Wand Kissen zu einem bequemen Sitz.

»Nichts, Li-ping-erch!« Marco versuchte, seinem Ton möglichste Gleichgültigkeit zu geben. »Eine Kleinigkeit! Die Wunde ist schon auf dem Wege der Heilung.«

Da traf ihn ihr Blick. Güte, Sehnsucht und Hilfsbereitschaft zugleich. Alle Schönheit, alles, was er zitternd herbeigezwungen hatte, sah er mit einem Male. Und es zog ihn in den Mittelpunkt des Märchens.

Die Pagode war hohl bis zur Spitze. Tausende verwirrendster Skulpturen bedeckten jedes Fleckchen der mächtigen Wände. In Spiralen schraubten sich, an der Mauer klebend, Stiegen mit durchbrochenen Steingeländern hinauf. Alles aber verschwamm bald im Halbdunkel. Denn nur die untersten Teile des runden Innenraumes lagen im hellen Schein der Papierlampen.

Li-ping-erch hatte die Dienerin, die bisher wartend um sie gewesen war, entlassen.

Sie selbst saß aufrecht auf geschichteten Polstern. Marco aber hatte sich, ihrer Aufforderung folgend, an ihre Seite gelagert und den Kopf an ihr Knie gelehnt. Ihre Hand lag auf seinen krausen Locken.

»Eure Gunst beschämt mich, Li-ping-erch!« sagte er leise. »Ich verdanke sie wohl nur meiner Verwundung!«

Li-ping sah ihn sonderbar lächelnd an.

»Kranke bedürfen zarter Pflege!« Sie wandte sich ab.

Was bedeutete diese Antwort? Zürnte sie? Wozu muß ich auch alles aussprechen? Nein, sie zürnt nicht. Ihre Hand ruht weiter auf meinem Haar.

Und er begann ihr in kurzen Worten die Ereignisse der Nacht und die Abenteuer ihres Bruders zu erzählen.

Sie lauschte schweigend und geduldig.

Plötzlich sagte sie klar und mit eigentümlicher Schärfe:

»Tschang hat uns alle den rechten Weg geführt. Ihr aber, edler Ma-ko-po, seid der eigentliche Retter des Reiches. Wir verehren und danken Euch!«

Marco, der eben wieder aufsteigende Zweifelqualen über den Wert seiner Taten niedergekämpft hatte, konnte sich beim Klang ihrer Worte nicht mehr zurückdämmen. Wild ergriff er ihr Händchen und preßte es an die Lippen.

Erschrocken entzog sie es ihm:

»Euer Antlitz glüht, Ma-ko-po ...!«

Marco aber starrte sie plötzlich an, daß sie mitten in der Rede stockte.

»Es soll glühen!« preßte er heiser heraus. »Erzählt mir etwas, Li-ping-erch, plaudert, scherzt! Ihr ahnt nicht, was in mir vorgeht. Dürft es nicht ahnen ...«

Wieder die reine Güte ihres Blickes. Dann drückte sie unendlich langsam sein Haupt mit ihrer Hand fester an sich und begann ihn so leise zu streicheln, daß er es erst nach geraumer Zeit merkte.

»Ich bin von Eurem Hause fortgelaufen!« sagte sie plötzlich ganz unbefangen. »Die Begründung bin ich Euch noch schuldig. Wißt also, Ma-ko-po, daß die ersten Nachrichten sehr unklar lauteten. Eines nur schien gewiß: Der Aufstand Uang-tschus war niedergeschlagen. Keine Gefahr mehr für Euch. Daher war ich überflüssig. Vor Achmak, von dessen Tod ich noch nichts Sicheres wußte, konnte ich mich aber ebensogut hier verbergen. Dabei ersparte ich Euch zudem alle Ungelegenheiten ...«

»Ihr seid das edelste Mädchen, Li-ping-erch, das ich je traf.« Auch Marco hatte seine Ruhe zurückgewonnen. Herzlich und stark: »Ich bitte um Eure Freundschaft, Li-ping. Hört Ihr? Ich bitte um sie!«

»Ihr könnt fordern!« Das Mädchen sagte es ohne jedes Pathos. »Habt Ihr mich etwa viel gefragt, als Ihr mir den Schutz Eures Hauses botet? Damals wußtet Ihr ja nicht, daß ich geben wollte. Ihr hörtet und wart edel und hilfsbereit.«

Marco Polo schwieg. Denn es schien ihm, als ob der weiche Druck ihres Händchens sich verstärkt hätte. Nichts mehr sprechen! Oh, es ist so schön, so göttlich! Erst jetzt komme ich ganz zum Bewußtsein. Göttin Ungewißheit! Du warst es, die mich vom Lager trieb, die mir Tollheit und Zauber eingab, die schließlich den Erfolg schuf, ohne Wunder zu wirken. Wagnis, Abenteuer! Was wäre jetzt, wenn ich nichts gewagt hätte? Fieberträume. Umherwälzen auf heißen Pfühlen. So aber sitze ich im Märchen, fühle das holde Pulsen ihrer Haut durch die Seiden. Ah! Ihre Hand kost mich. Nicht sprechen, nicht sprechen! Warten, ausharren! Es ist ja so schön. Sie ist so rein, so madonnenhaft rein. Nur keine Wildheit, Marco! Bezähme dich, du verscheuchst sie.

Jetzt plaudert sie. Wieder wie gestern auf der Terrasse. War das gestern? Vor Ewigkeiten scheint es mir.

Wenn nur dieser Klang bis ans Ende um mich wäre.

Was spricht sie? Ich weiß es nicht. Aber ich verstehe alles. Süße Nichtigkeiten wie die klingenden Luftdrachen. Trotzdem alles voll Bedeutung. Langsames Näherrücken. Habe ich ein Weib schon so geliebt wie dich, Li-ping-erch?

Liebst du mich auch? Woher soll ich das wissen? Gut bist du, namenlos gütig. Barmherzig gegen den Verwundeten, der nach deiner Ansicht das Tao gerettet hat. Anhängen Tschangs. Du zucktest nicht, als ich dir den Tod Uang-tschus erzählte. Dafür aber sah ich, wie du zittertest, als von Gefahren die Rede war, die mir drohten. Soll ich es als Beweis nehmen? Und als andren Beweis, daß du mich vor den Rebellen schützen wolltest? Woher kanntest du mich?

»Ihr müßt an den Heimweg denken, Ma-ko-po! Oder soll ich Euch in einem der oberen Pagodenräume ein Lager bereiten lassen? Ich stelle es Euch frei.« Sie setzte lächelnd hinzu: »Falls Ihr Euch nicht vor den Kobolden fürchtet! Die Pagode hat nämlich oben einige Kammern.«

Marco, durch die unvermittelte Ansprache aus seinen Gedanken geworfen, blickte sie fassungslos an. Schon das Ende des Märchens? Das Wort Heimweg, der bloße Gedanke an Trennung trieb in ihm eine derartige Woge aller zurückgestauten und nur durch ihre Zartheit eingelullten Wünsche an die Oberfläche, daß er wie berauscht aufsprang.

»Li-ping-erch!« stöhnte er heiser heraus. »Li-ping-erch!« Ohne ihr Erschrecken und ihr Zurückweichen zu beachten, wie von Dämonen gehetzt: »Ich liebe dich, Li-ping-erch! Ich kann nicht mehr weiter! Mein mußt du sein, mein!« Und er dachte nicht mehr an die Wunde, nicht an irgendeine Rücksicht und riß den zarten, duftenden Leib an sich. Und preßte seine Lippen auf die ihren.

Nur einen Herzschlag fühlte er sie widerstandslos erschlaffen. Dann bäumte sich plötzlich ihr Körper in seinen Armen und sie entwand sich entsetzt der Umklammerung.

Marco zuckte schon zu neuerlichem Ansturm auf.

Da, ein gellender furchtbarer Schrei, ein Schrei, als ob das Grauen selbst sie umkrallt hätte.

Von Zweifeln gepeitscht, faßte er sich nicht gleich. Was ist geschehen? Gilt der Schrei meiner Werbung?

Sein Blick traf ihre Augen. Das Antlitz verzerrt. Weitgeöffnete Pupillen, gegen den Ausgang starrend. Was ist geschehen? Nein, das Schrecknis kommt von außen.

Marco fuhr herum.

Gräßliches Erwachen! Märchen, wohin bist du?

Kalt und höhnend stand Tae-ping im Rahmen des Einganges.

Li-ping-erch senkte vernichtet das Haupt. Gebeugt erwartete sie das Ende. Das Ende, das unausbleiblich nahte.

Marco Polo aber war zum Selbstbewußtsein erwacht. Von Fieberschauern flackernd, blickte er furchtlos dem Gegner in die Augen.

Da, der erste Ton aus dem Munde des Bruders. Haßerfüllt und hämisch:

»Ich dachte, Ihr wußtet nicht, wo meine Schwester sich verborgen hatte?! So also steht es mit Eurer Wahrheit?« Aufbrüllend: »Schurke! Schlechter als Achmak! Hier der Lohn!« Schon funkelte ein Dolch in seiner Faust.

Li-ping-erch warf sich ohne Überlegung vor Marco Polo und versuchte, ihn mit ihrem kleinen Leibe zu decken.

»Gut, dann beide!« zischte Tae-ping.

»Versuch's, Prahlhans!« Marco schob das Mädchen zur Seite und ging mit gestrafften Muskeln gegen den Literaten vor. Auch in seiner Linken lag die Waffe.

Gellendes Auflachen Tae-pings. Sein Dolch sprang, vor Marcos Füßen abprallend, über die Steinplatten des Bodens.

»Nein, so einfach wird die Sache nicht erledigt!« höhnte er. »Mein Dolch ist vergiftet, Ma-ko-po! Nehmt ihn auf. Ritzt mich damit. Ich hätte ihn schleudern können. Nein, Ma-ko-po! So nicht! Ich will Euch härter treffen. Härter als mit Tod und Vergiftung! Ihr sollt Euer Gesicht verlieren, stolzer Sieger!« Mit kühler Höflichkeit: »Nun, wollt Ihr den Dolch aufheben?«

Marco war stehengeblieben. Was wollte der Literat? Auch Li-ping-erch sah erstaunt von einem zum andren.

»Schont mich!« lispelte sie scheu. Dann fest und entschlossen: »Töte mich, Tae-ping! Euch beide braucht die Welt noch zu großen Taten. Ich bin überflüssig!«

Tae-ping aber sagte, ohne die Schwester zu beachten:

»Habt Ihr den Mut, Ma-ko-po, von jeder körperlichen Erledigung abzusehen und den Handel, die Sühnung der Schmach, die Ihr mir antatet, geistig auszutragen?«

Marco blickte ihn fragend an. Dann schnell:

»Es steht Euch frei, die Waffe zu wählen!«

»Gut!« Tae-ping trat nahe an die beiden heran, die noch immer nebeneinander standen. Dann mit ruhigem Lächeln: »Li-ping-erch, du weißt, daß ich nach dem Tode unsrer Eltern die Stelle des Vaters einnehme. Ich frage dich jetzt und du sollst es frei entscheiden: Willst du mit dem Barbaren in sein Haus ziehen oder folgst du mir nach Kambalu zu den Ahnentafeln unsrer Vorfahren?«

Jetzt verstand Marco Polo. Alles verloren! Hatte sich doch Li-ping-erch schon gewehrt, als die Türe noch nicht geöffnet war und Tae-ping ihr den letzten Widerstand entrissen hatte. So sehr liebte sie ihn sicher nicht, daß sie die Familie verließ und sich schrankenlos zu ihm bekannte.

Schweigen summte im mächtigen Räume der verschnörkelten Pagode.

Unvermittelt eine zerbrochene Stimme. Klagend und vernichtet:

»Führe mich nach Kambalu, Bruder!«

Du hast das Gesicht verloren! Gesicht verloren! kreischte es in Marco Polo auf. Märchen. Hahaha! Gesicht verloren!

Tae-ping in schneidendem Ton, ohne Marco zu beachten:

»Deine Wahl war richtig und klug, Schwester! Vor wenigen Stunden hat mir Herr Ma-ko-po gesagt, zwar umschrieben, doch deutlich, daß er dich nicht liebt. Für seine anderen Gefühle genügen die Blumenboote!« Zu Marco Polo: »Es war mir eine Ehre, einen so mächtigen Gegner zu besiegen! Ich danke Euch noch vielmals für die Güte Eurer Gastfreundschaft!« Und er wandte sich verbindlich lächelnd ab.

Li-ping aber blickte Marco verzweifelt in die Augen. Plötzlich loderte Zorn in die traurige Süße ihres Gesichtchens:

»Habt Ihr das zu Tae-ping gesagt?« fragte sie bebend.

Marco stampfte mit dem Fuße. Strafe sie für den Verrat! heulte ein satanischer Einflüsterer in seiner Seele. Stolz und gekränkte Eitelkeit bäumten sich empor.

»Ich habe es gesagt!« knirschte er hassend.

»Dann – dann – seid Ihr ein ehrloser Barbare!«

Ohne ihn weiter eines Blickes zu würdigen, schloß sie sich dem Bruder an, der bereits den Raum des zerstörten Märchens verließ.

Marco aber starrte höhnisch und vernichtungstrunken auf seinen Verband, den quellendes Blut zu färben begann.

 

Wie er nach Hause gekommen war, wußte er nicht. Va bene! Er war zu Hause. Schluß damit. Er lebte. O nein, ihr Feinde! So leicht ist ein Marco Polo nicht zu zerbrechen.

Er rief nach Enrico, nachdem er das Kleid abgeworfen hatte.

»O, Masser, ich habe es gesagt! Seht Ihr! Unruhige Fieberträume. Ihr seid angestoßen!« Der Riese mühte sich hastig, den Verband abzuwickeln.

»Ganz richtig! Unruhige Fieberträume!« Marco lachte in schneidendem Hohn auf.

Enrico sah ihn erschrocken an. Dann erwiderte er schnell:

»Es ist nicht so schlimm! Jetzt habe ich den Verband losbekommen. Nur an der Oberfläche blutet die Wunde.«

»Um so besser!« Marco hatte mit äußerster Kraft jede Erinnerung getilgt. Wenigstens für den Augenblick.

Plötzlich trat ein Zug auf sein Antlitz, den er körperlich fühlte. Ein Zug verzweifelten Lebenshungers und hoffnungslosen Unglaubens.

»Leg dich schlafen, Enrico!« sagte er leise vor sich hin. »Sobald der neue Verband angelegt ist, meine ich! Dann aber – dann schick mir die kleine Yü herüber! Sie wird mich für den Rest der Nacht bewachen und pflegen.«

»Wird es das Mädchen verstehen?« Enrico schüttelte besorgt den Kopf.

»In unsrem Falle besser als jeder andre!« erwiderte Marco zynisch lächelnd.

»Gut! Wenn Ihr's befehlt, Masser!« Enrico beugte sich der Gewalt. »Der Verband ist fertig!« meldete er und kehrte sich gehorsam ab.

Als er die Türe hinter sich zugeschoben hatte, ließ sich Marco auf das Ruhelager sinken.

Seine Gedanken jedoch formten ohne sein Zutun Worte, die mit blecherner Höllenstimme durch sein Inneres gellten:

»Gelungen! Herrlich gelungen ist die schwarze Magie! Yü und Satan werden zufrieden sein! Nicht deine Schuld ist es, Marco Polo, beileibe nicht deine Schuld, wenn das Mädchen noch vor Morgengrauen wildeste Anrufung Aphroditens erlernt hat!«

Yü stand mit heißem, seligem Gesichtchen in der Tür und breitete verlangend die Arme nach dem Gebieter, der ihr Blut beherrschte und jeden ihrer Pulse in grelle Flammen setzte.

 

Ein heftiges Fieber hatte Marco Polo für die nächsten Tage ans Lager gefesselt. Alle Verzerrungen der Gedanken und Gesichte hatten ihn heimgesucht, wenn die Wellen der inneren Glut am Abende zu bewußtseintrübender Höhe anschwollen. Gleichwohl war die Wunde in ihrer Heilung rasch fortgeschritten, so daß er ohne Schmerzen schon den Arm gebrauchen konnte.

Noch eine furchtbare Nacht, in der ihn liebevoll die Pflege Enricos, Maffios und der kleinen Yü umgab.

Am nächsten Morgen erwachte er, müde und zerschlagen, doch mit dem Gefühl völliger Gesundung.

Nicht nur körperlich aber erwachte er. Schon am Vormittag, den er im Garten zubrachte, fühlte er eine sonderbare neue Welt in sich gewachsen. Ruhige, kühle Überlegung, helles Denken, Freude an der Zukunft. Alle Vergangenheit wie ein verworrener, unfaßbarer Traum.

Nur ein ironisches Lächeln blieb für seinen Wunsch nach Ruhe und Sammlung. Es hat nicht sein sollen. Wozu sich gegen ein sicherlich weises Schicksal stemmen?

Er verabredete mit Maffio, noch bis zum Abend zu warten, ob kein neues Fieber aufkeimte. Morgen aber müßte dann die Getreidesache in Angriff genommen werden. Es war höchste Zeit, wenn man alles planmäßig einrichten wollte. Die Ankunft Kublais, die in etwa zehn Tagen bevorstand, durfte nicht versäumt werden.

 

Um späten Nachmittag beschloß er, begleitet von einem mächtigen Bluthund, in den Wald zu wandern. In ein Seitental, von dessen Hang man auf gegenüberliegenden Hügeln das anmutige Kloster der »blaugrünen Wolken« wahrnehmen konnte.

Er schützte vor, seine Glieder, die durch Bettruhe schlaff geworden seien, hätten einige Übung dringend notwendig. In Wahrheit wollte er für einige Stunden der allzu aufmerksamen Fürsorge der drei Getreuen entrinnen, die ihn durch Fragen und Aufmunterungsversuche an jeder Selbstbetrachtung hinderten.

So schritt er jetzt eine holprige Straße bergan, zu deren Seiten zwischen hochragenden Föhren allerlei Unterholz und Beeren hervorlugten.

Der gelbe Hund lief munter verwickelte Pfade, bohrte mehr als einmal seine breiten Lefzen schnuppernd in lockeres Erdreich und machte sich kein Gewissen, die Kleider Marcos mit unvermittelten Liebesbezeugungen zu beschmutzen.

Zu linker Hand öffnete sich der Wald. Der Beginn eines kleinen Dorfes, das zu beiden Seiten der Straße am Hange sich hinzog.

Knurrend und bellend hatte sich der Hund vor dem ersten Häuschen, einer winzigen, offenen Schmiede, aufgestellt und schien nicht übel geneigt, den berußten Werkmann anzufallen, der mit seiner gedrungenen Gestalt und den kleinen Schlitzaugen doppelt fremdartig, ja geradezu märchenhaft wirkte.

Marco trat schnell hinzu und faßte das Tier am Halsband. Zugleich erwiderte er den achtungsvollen Gruß des Schmiedes.

Der Chinese hatte seine Arbeit eben wieder aufgenommen. Er zog ein rotglühendes Werkstück aus der Esse und warf es in den Wassertrog, daß es nur so johlte und sott.

Wütend heulte der Hund auf.

Marco aber sprach ihm lachend zu.

Der Schmied, der das Bedürfnis fühlte, seine Kunst zu zeigen, wog das Werkstück prüfend in der Hand, besah es von allen Seiten, hielt es ins grelle Licht und sagte dann kopfschüttelnd zu Marco:

»Es wird noch viel Arbeit geben. Seht, es ist zu gelb geworden!« Schon hatte er es wieder in die Esse geschoben. »Bis zu zehnmal muß ich es glühen, wenn ich sicher sein will, die richtige Härte zu erzielen,« fügte er langsam bei. Dann murmelte er, während er einen kleinen Balg in Bewegung setzte: »Glut und Kälte, richtig gemischt, richtig aufeinanderfolgend. Daraus wird alle Härte, alle Kraft. Ein Bonze hat das zu mir gesagt, der einmal vorbeikam und ebenso weise zusah wie Ihr, hoher Herr!«

Marco lächelte über das Philosophem und kaufte einige kleine Messerchen, die ihm durch saubere Ausführung auffielen.

Dann wanderte er weiter durchs Dorf in den Wald, der unmittelbar jenseits der letzten Häuser begann.

Er hatte nicht mehr lange zu gehen, um zu der Lichtung zu kommen, die den reizenden Ausblick ins Tal gewährte. Schon sah er drüben die zierlichen Umfassungsmauern, die Stiegen, Terrassen, Gebäude und Pagoden des Klosters. Und die verschnörkelten Gärten und Grotten, die sich den Hang hinaufzogen.

Der Hund bellte jagend auf der Spur eines Kleinwildes durchs Gestrüpp.

Va bene! Zwei wohlausgenützte Stunden der Ruhe sind genug für einen Marco Polo. Beugen wir uns den Tatsachen.

Er ließ sich auf einen breiten Strunk nieder und genoß die beruhigende Fernsicht grüner Hänge.

Vieles hat sich ereignet diese letzten Tage. Seit jenem selbstsicheren Augenblick, da ich meinen Charakter abgeschlossen wähnte. Gehen wir die Ereignisse durch. Heute bin ich wirklich erwacht. Nicht in jene Scheinwachheit, die mich so oft in diesen Tagen narrte.

Also strengste Ordnung und Aufrichtigkeit! Zuerst: Ich habe mich nicht gefestigt in all den Jahren. Bin derselbe Mensch, der stets zwischen den Welten steht. Bürger einer mittleren Welt, hat Melissa gesagt. Tschang hat es bestätigt, Maffio in seiner Art hervorgehoben.

Wo ist die Verzweiflung über Uang-tschu und Li-ping, wo die Scham über die Niederlage, die Tae-ping mir zufügte, hingeweht?

»Geh wieder auf eine Fährte, Bluthund" Warum siehst du mich so jammervoll an? Erjagen ist alles! Erjagen muß jeder selbst, mein lieber Hund! Warum wedelst du? Du hast das sicher nicht verstanden.«

Was dachte ich eben, bevor der Hund kam? Gut, ich weiß es schon. Meine Gefühle sind gestorben, dachte ich. Und das, meine Berater, macht mich doch bedenklich. Das widerspricht der Meinung, daß ich derselbe Mensch geblieben bin, der ich in der Jugend war. Es ist etwas Neues, etwas wesentlich Neues hinzugekommen.

Ich glaube, daß ich alles anders sehe, anders empfinde. Der Erfolg ist nicht, wie Maffio meint, die Welt des Schwindels. Das scheint nur so. Er ist mehr, viel mehr. Ein großes Geheimnis. Vielleicht das größte!

Ich erinnere mich der Astrologen. Konstellation nennen sie es, wenn die Sterne rätselhaft zusammenstehen und sich zu einem Bilde, zu einer zufälligen Verschwisterung verknüpfen.

Konstellation aber war es, was ich eben erlebte. Tschang, Achmak, Yü, Li-ping-erch. Erfolg hat nur ein geschickter Deuter dieser Verknüpfungen. Wie oft hätte ich ausspringen können im Wirrwarr der letzten Tage? Ein Bedenken, und alles wäre anders gekommen!

Warum mir eben der Schmied einfällt? Ein Symbol! Ich werde geglüht, werde gekühlt, zu Eis erstarrt, damit ich härter werde. Ja, das ist es! Darum fehlen mir plötzlich Reue und Leid. Uang-tschu und Li-ping waren Stufen der Härtung!

Belüge ich mich?

Nein, dreimal nein! Ich bin entschlossen, den Erfolg, der so nebelhaft zu mir kam, der noch immer im Wasser ruht, wie Tschang es sagte, herauszuheben, daß er im Sprung wie ein Drache über den Wassern steht, weithin sichtbar.

Ich war mutig, habe alle Verantwortung auf mich genommen, war zu allem bereit. Auch Li-ping ist noch nicht endgültig für mich verloren. Es gibt kein »endgültig« in der Welt der Tat.

Gleichwohl aber bin ich der alte, dachte ich zu Anfang? Auch das scheint mir plötzlich wieder in gewissem Sinne richtig.

Warum bellt der Hund so wütend? Eine Schlange?

Marco erhob sich und ging zum Hunde, der mit eingestemmten Vorderpfoten, den Blick starr auf den Boden gerichtet, dastand und, von Gewinsel unterbrochen, in den Abend blaffte.

»O, du albemes Tier! Dafür stand ich auf? Eine große Schnecke! Nein, mein Hund, renne diesem Holz, das ich dir werfe, nach. Die Schnecke bekommst du nicht!«

Marco hatte das Tier auf ein breites Blatt gesetzt und beobachtete die buntgesprenkelten Windungen des Hauses.

Wie doch alles, auch das Kleinste, Bedeutung werden kann! Schnecke, dich betrachtet ein großer Philosoph. Merk dir's wohl. Dein Haus wird mir plötzlich zum Sinnbild meines Lebens. Jetzt weiß ich alles. Marco Polo hat wieder einen Umschwung vollendet. Das Kreisen hat ihn getäuscht. Er hatte gewähnt, zum Ausgangspunkt zurückgekehrt zu sein. Indes ist er nur in der Spirale in denselben Halbmesser getreten. Entfernter vom Mittelpunkt. Reifer! Weiser!

Er lachte auf.

Ich werde den heutigen Tag in meinen Annalen den »Tag der Symbole« nennen.

Morgen aber werde ich viel Geld verdienen und übermorgen noch mehr.

Dann kommt Kublai ...

Noch schüttelt mich leises Grauen. Fast hätte ich mich in diese Weiten, diese Fernen, gegen die alles andre wie ein enger Käfig scheint, verloren. Knapp vor dem Ziele. Jetzt liegt das Ziel zum Greifen nah. Die Taten aber, die den Grund legten, die alles möglich machten, hat Marco Polo in düsteren Träumen verrichtet.

Erwacht schneidet er mit stinker Sichel die Ernte!

Komm, mein Hund! Wir wollen durch den Wald streifen, die Harzluft atmen und nur mehr sehen, was der Augenblick bietet.

Und uns trösten, daß unser Stern heller leuchtet als unser Verstand, daß unser Geschick bisher stets größer war als unsre bewußte Tat!

Marco Polo wanderte an diesem »Tage der Symbole« noch viele Stunden durch die Wälder. Als er bei hellem Sternenlicht wieder in seinen Landsitz zurückkehrte, waren Maffio und Enrico sprachlos vor Freude, da auf seinem Antlitz der Spiegel seiner Seele stand.

Keiner aber wagte eine Frage. Eifrig wurden Vorbereitungen zur Abreise getroffen und die tausend Einzelheiten der großen Geschäfte besprochen.

 

Wie eine niedere, langgestreckte Hügelkette stand plötzlich die Stadtmauer vor ihren Blicken.

In einer Staubwolke sprengten Marco und Maffio durch die weite Ebene gegen den südlichen Wall Kambalus. Hinter ihnen Enrico und das Gefolge.

Ausnehmend scharfes Licht des klaren Morgens über den Fernen. Blau und abgegrenzt zackten sich die Westberge am Horizont.

»Noch eine halbe Stunde, dann sind wir drinnen!« krähte Maffio schweißtriefend zu Marco herüber. »Der Satan soll solche Rennen ertragen. Dazu die abscheuliche Straße. Hoffentlich bricht sich mein gutes Roß alle vier Beine zugleich. Dann hinkt es wenigstens nicht!« Er pfiff und pustete.

Marco, der aufrecht, wie verwachsen mit dem Pferde, im Sattel faß und die Zügel lässig in der Linken zusammengefaßt hielt, erwiderte:

»Du hast recht, Maffio! Nämlich mit deiner unausgesprochenen Angst, daß wir trotz unsrer Anstrengung zu spät eintreffen.« Auslugend: »Sieh, Oheim! Reiter kommen uns entgegen. Vielleicht erfahren wir Neuigkeiten!«

Sie galoppierten ein gutes Stück weiter, während hinter ihnen die Rüstungen der Begleiter raffelten.

»Hol's der Teufel,« begann Maffio, der sich keine Mühe mehr nahm, den Schweiß abzutrocknen. »Hol's irgendein landesüblicher Dämon, sage ich, aber es ist nicht zu verachten, daß wir die Getreidegeschäfte so vorzüglich eingeleitet haben. Nachmachen soll uns das jemand in den zehn Tagen, die wir zur Verfügung hatten!«

»Gewiß sehr erfreulich!« Marco erwiderte unaufmerksam. »Sicherlich eine nützliche Angelegenheit. Für unsre Tasche versteht sich. Jetzt aber bin ich schon wieder im Banne der Staatskunst!« Abgelenkt: »Holla! Die Reiter sind schon ganz nahe.« Nach einem Augenblick angespannten Schaums: »Tatarische Boten! Verdammt, wenn wir zu spät kämen!«

»Mir sind die sicheren hundertzwanzig Prozent auch kein Kinderspiel!« Maffio brummte es gekränkt vor sich hin.

Marco aber, den es wie ein Rausch ergriffen hatte, gab seinem Pferde so wild die Fersen, daß es einen Satz machte und dann mit zurückgelegten Ohren vorwärtssauste. Schon waren die übrigen ein gutes Stück zurückgeblieben.

Knapp vor den Entgegenkommenden parierte er den Renner und schrie die Tataren in befehlendem Tone an.

Zuerst ein Fluch als Antwort. Dann Unschlüssigkeit. Endlich zauderndes Gehorchen, als sie Marcos drohende Geste sahen. Auch sie rissen die Pferde zur Ruhe.

Massiv und die anderen rückten inzwischen näher.

»Habt Ihr Nachricht über Seine Majestät?« Marco verlor fast den Atem vor Erregung.

»Wir selbst sind kaiserliche Boten. Gebt den Weg frei! Wir müssen weiter!« brüllte einer zurück, um sich im allgemeinen Hufgetrappel vernehmbar zu machen.

»Ich will nur wissen, wann Seine Majestät in Kambalu eintrifft!« Marco langte schon nach der Geleitstafel, um sich Respekt zu verschaffen.

Der Tatare mißverstand die Handbewegung. Drohend hob er den Streitkolben.

»Esel!« keuchte Marco, der die Tafel eben freibekommen hatte. »Gib Antwort und verschwinde, bevor ich dir Sitten beibringe!«

Das Gold mit dem eingeritzten Geierfalken glitzerte.

Zusammenknicken des erschrockenen Boten.

»Seine Majestät zieht schon in Kambalu ein. Durchs Nordwesttor. Eilmärsche haben den Weg um zwei Tage abgekürzt. Laßt mich weiter, Exzellenz! Die Provinz muß benachrichtigt werden.« Er grüßte und machte sich schleunigst davon, was durch das Anrücken des Gefolges, das Marco umringte, erleichtert wurde.

»Da haben wir die Bescherung!« Marco hatte sein Pferd an die Seite Maffios getrieben. Erklärend, mit einer Geste gegen die in Staubwirbeln verschwindenden Eilboten: »Kublai zieht schon ein. Ein andres Mal werde ich mich hüten, meine Zeit mit Geschäften zu vertrödeln!« Marcos Antlitz glühte vor Erregung und Zorn.

Maffio lachte gellend auf:

»Aber, mein Söhnchen! Es ist doch herrlich! Wozu der Wutanfall? Wenigstens brauchen wir nicht zu warten.« Er schlug sich den prallen Schenkel, der sich am Sattel zu gigantischer Breite plattdrückte. »Herrlich, sage ich!« setzte er unbeirrbar fort. »Festordnung: Ich steige jetzt ab und esse am Wegrand ein tüchtiges Frühstück. Dann ziehen wir von der anderen Seite in Kambalu ein!«

»Unsinn!« murrte Marco, den die Possen Maffios ärgerten. Er erreichte aber nur ein neuerliches Gelächter.

Unvermittelt sagte Maffio ganz ernst:

»Beruhige dich jetzt, Bürschchen! Und höre meine Logik. Kublai wird doch sicher mit großem Pomp einziehen. Ich soll in Bankrott gehen, wenn ich irre. Das dauert aber viele Stunden. Dann muß er baden, mit den fünfundzwanzigkarätigen Mädchen schäkern, sich schönmachen. Vor dem späten Nachmittag sind keine Staatsgeschäfte zu befürchten. Oder willst du bei der Reinigung seines allerhöchsten Corpus Beistand leisten?« Er wiegte den Kopf hin und her. »So, und jetzt leiste für deine Grobheit Abbitte! Netter Ton gegen Respektspersonen!«

Marco, der die Richtigkeit der übertriebenen Schilderung Maffios wenigstens zum Teil anerkannte, lächelte. Er wußte, daß der Oheim nichts übel nahm, wenn er einen Spaß dabei hatte. So sagte er, indem er schon wieder losritt:

»Ganz recht, Maffio, Person höchster Ehrfurcht, ich stehe um Vergebung! Kublai und die Politik aber sind meine Angelegenheiten, wie das Getreide die deine war. Darum zürne nicht, wenn ich das Frühstück am Wegrand aus der Festordnung streiche!«

»Elender Ehrgeizling!« schmunzelte Maffio, dann seufzte er tief und hielt sich mit Mühe an der Seite des Neffen, dessen willensgestähltes Gesicht die Mauern Kambalus gegen sich heranzuzwingen schien.

Schon war das Südtor in greifbarer Nähe.

 

Es hatte aller Tatkraft der Reiter bedurft, die Menschenmassen, die sich im engen Winkelwerk der Altstadt stauten, zu durchbrechen.

Hellste Erregung zitterte über dem Volke. Wußte doch keiner, was die nächsten Stunden bringen würden. Der Herr der Welt zog ein. Strafgericht für die Verschwörung? Plünderung? Neue Steuern und Bußen? Oder Feste und Gepränge? Beides hatte Kambalu schon von den Tataren erlebt: Rache und Liebeswerben.

Marco und Maffio hatten das Gefolge am Tore zurückgelassen. Nur Enrico, die Geleitstafel vor die Brust gebunden und mit einem Bambusstock ab und zu in die Masse einschlagend, sauste ihnen voran.

Kopf an Kopf schoben sich die keuchenden Mengen der Neustadt zu.

In Marco war plötzlich der Wunsch erwacht, das unerhörte Schauspiel wenigstens für einige Augenblicke zu genießen. Maffio hatte jubelnd zugestimmt und die praktische Durchführung gewiesen.

Schon bogen sie in Seitengassen ein, um von der Rückseite zickzack in der Neustadt an die große Straße heranzukommen, auf der der Einzug erfolgen mußte.

Viele Hindernisse hatten sie noch zu überwinden. Nicht zuletzt den Zusammenstoß mit einem allzu selbstbewußten Mandarin, der seine Wichtigkeit so sehr in die Tat umsetzte, daß Maffio ihm den Standpunkt gründlich klarmachen mußte.

Sie jagten jetzt am Palaste Achmaks vorbei. Marco warf einen flüchtigen Blick zum Eingangstor. Düster und verschlossen. Einige lässige Ehrenwachen. Wohin das Gesumme und Treiben, das diesen Mittelpunkt des Geschehens sonst umbrandet hatte?

Drinnen auf der Bahre vielleicht noch die balsamierte, zweigespaltene Leiche. Marco schauerte leicht zusammen. Pferdezähne. Pferdezähne zwischen erstarrten Lippen. Was wird Kublai sagen? Wie werden wir ihm die Schändlichkeiten des Assassinen beibringen? Jetzt beginnt der Kampf um den eigenen Kopf, Marco Polo! Jedes Wort wirst du überlegen müssen. Was tut's? Göttin Ungewißheit! Geglühter Stahl! Was soll geschehen?

Der Palast lag schon weit hinter ihnen.

Sie strebten auf ein kleines Tor der Mittelmauer zu, westlich von dem Wachthause, in dem er an jenem furchtbaren Tage Kogatai gefunden hatte.

Ob Kogatai dem Großkhan entgegengezogen ist? Er wird erstaunt sein, daß er mich noch nicht gesehen hat. Vielleicht hätte ich beim Einzug mitreiten sollen. Unerwünschte Verspätung. Ist Li-ping und der saubere Literat vielleicht unter diesen Menschenmassen? Ich glaube, man würde im Abendland an Zauber denken, wenn man auf einem Fleck solche Menschenmengen sehen würde. Wo sie herkommen, alle die Tausende? Das letzte Nebengäßchen ist zum Bersten voll.

Jetzt befanden sie sich bereits in der neuen Stadt.

Gottlob, ein wenig Luft! Breitere Straßen. Die Gaffer biegen alle zur Hauptzeile ab. Zu jener Straße, auf der damals die Glühwürmchen tanzten. Kein Zweifel, Kublai wird auf diesem Wege einziehen. Herrliches Bild. Berauschend für einen Menschen, der im Machtgefüge dieses Weltherrn endlich den gebührenden Platz einnehmen will.

Gebührt er mir? Ich habe die Frage stets bejaht. Gut, ich bin ein Eindringling. Wer aber im Kosmos der Macht ist kein Eindringling? Macht heißt Eroberung, Eroberung heißt das Ersessene stürzen, umschichten, überrennen. Jedem gebührt der Platz, den er sich erraffen kann. Auch Dschingiskhan hat nicht gefragt, ob sein Urenkel das Recht haben würde, Herr der Welt zu sein. Dschingis war ein Nomade, ein kleiner Tatarenhäuptling ...

»Eine unangenehme Geschichte!« Maffio jappte nach Luft. Schrill: »Hier ist das Haus. Die Kerle sind aber anscheinend alle vorn an der Straße. Die Tore geschlossen. Bei der Madonna, wir müssen einbrechen oder über den Zaun klettern.« Er schwang sich ächzend aus dem Sattel und trommelte mit dem Dolchknauf an die Tür der Gartenumfriedung, die reich geschnitzt vor ihnen aufragte.

Auch Enrico und Marco standen schon auf dem Straßengrund und hielten ihre erschöpften Rosse an den Zäumen.

»Er ist dein Geschäftsfreund?« fragte Marco.

»Gewiß, gewiß! Um mehr als ein Pfund Silber hat der schlitzäugige Kerl mich schon geprellt. Mehr als Geschäftsfreund! Lehrmeister in östlichster Kaufmannskunst.« Maffio wischte sich mit dem staubigen Ärmel das Gesicht, daß eine graue Schminke über seine Wangen lief.

Marco, der ihm erheitert zusah, rief rasch:

»Dann klettre über den Zaun, Enrico, und öffne die Riegel von innen. Der kalksteinerne Fo-hund, der dort im Garten zwischen den Sträuchern steht, wird dich kaum in die Waden beißen!«

Im Hause war man über das plötzliche Auftauchen der abenteuerlich aussehenden Fremden zwar einigermaßen erschrocken. Das Erkennen jedoch beschwichtigte allmählich alle Erregung.

Der chinesische Kaufherr, den die Diener von der Dachterrasse heruntergeholt hatten, machte vor Maffio seine zierlichsten Kotaus und versicherte mehr als einmal, daß ihm erst durch diesen Zwischenfall der Einzug Kublais sehenswert sei.

»Begeht kein Majestätsverbrechen!« lachte Marco.

»O nein, edle Herren, ich meinte ja nur, daß ich erst die erhabene Majestät voll und ganz fühle, wenn ein Abglanz ihrer Größe, seine Vertrauten in meinem Hause weilen!« zog sich der Chinese glatt und grinsend aus der Schlinge.

»Abglanz!?« meckerte Maffio. »Jetzt beleidigt er wieder die Gäste!«

»Kommt auf die Terrasse, sonst versäumt ihr noch das größte Wunder der Welt!« Der Kaufherr machte höfliche Zeichen der Aufforderung.

Marco gehorchte und ging voran, während Maffio bereits mit dem Chinesen über Geschäfte plauderte.

Jeder Schritt aus der steilen Treppe erhöhte Marcos Erregung.

Vorspiel! raunte es in ihm. Vorspiel! Der Anblick soll mich anfeuern, meinen Ehrgeiz aufs höchste stacheln. Wird er das? Wird er mich nicht zerschmettern?

Wozu solche Fragen? Göttin Ungewißheit! Nicht zum erstenmal sehe ich den Herrn der Welt in seinem Glänze. Wohl aber zum erstenmal, da ich mit furchtbarer Verantwortung beladen bin.

Keine großen Worte, Marco! Geh hinauf! Du bist ein Gaffer, gleich allen anderen. Dann renn in den Palast, wirf dich hin vor ihm, sei schlau und erliste den Erfolg.

Ah! Schon weht die Luft um die heißen Wangen.

Farbenflecken. Die Hausgenossen in Festkleidern vorne an den Balustraden.

 

Einen Herzschlag lang gar nichts. Furchtbare, summende Leere. Eindrücke aller Sinne, zugleich hereinstürzend, löschten einander aus.

Marco stand am Geländer, fühlte die Berührung andrer Menschen, beachtete sie nicht.

Er beugte sich vor, daß das geschnitzte Holz krachte.

Da plötzlich schlagartig die Bewußtheit.

Vieltausendhufiges Pferdegetrappel. Hornstöße, Pauken und Trommeln. Noch fernes, hohes Jubeln und Johlen. Vorrückend und verwehend.

Sind wir zurecht gekommen? Er drehte schnell den Kopf. Entlang der Straße, über der sie auf hoher Plattform hingen. Es ist die Straße der Glühwürmchen. Breit und mächtig. Zehn Meilen lang. Von einem Tor zum andem, ohne Biegung, ohne Knickung.

Vor ihnen, jenseits der Straße, die Palastgärten. Ragend die Dächer der beiden Paläste. Der künstliche Hügel mit den bizarren Formen der vielfältigen Bäume.

Neue Hornstöße. Den Blick zurück zur Straße. Ah! Es sind die Tataren Kogatais. Sie bilden die Vorhut.

Links und rechts an den Häusern und Zäunen erstarrte Mauern flüsternder Gaffer. Spaliere abgesessener Wachen. Dazwischen, gegen Süden, bis dorthin, wo der Wall der Altstadt wuchtete, Reiter, Reiter, Reiter. Zehn und zehn nebeneinander. Fast erdrückten einander die glänzenden Pferdeleiber.

In den Sätteln die behelmten Truppen. Bogen, Köcher, Kolben. Einer wie der andre. Sehnig, sprungbereit, mit den Rossen verwachsen. In langsamem Trab brausten sie vorüber, fluteten, wogten.

Jetzt rückten die geballten Jubelrufe näher. Was ist dort im Norden? Wieder Menschenmauern. Buntes Gewimmel. Unterbrechungslos bis zum Nordtor.

Wer soll es fassen, wer zergliedern?

Zwischen den Reitern wie einsame Hügel ragende, schwankende, aufgleißende Massen.

Näher das schrille Sausen der Begeisterungsstürme. Noch näher. Trompeten, Gongs, Kupferbecken, deren Ton das Herz stille stehen ließ.

Standarten flattern. Mond und Sonne auf den Bannern.

Ah, die bunten Rüstungen der Palastwachen!

Er naht, er, er, der Herr der östlichen Welt!

Wieder eine Sturmflut von Reitern. Funkelnde Zäume, stolzere Haltung. Die Zwölftausend sind es. Die »braven Streiter ihres Herrn«!

Marco Polo begann zu beben. Wenige Augenblicke noch, dann würde er in die Sonne des Ostens schauen. Schon enträtselten sich die schwankenden Hügel.

Plötzlich furchtbarer Paukenwirbel. Eine bleierne Stille danach. Dann brach es knapp unter ihnen los.

Marco Polo sank in die Knie.

Ein leerer Raum im Zuge. Einsam und winzig in diesem Räume das tänzelnde Roß Peyens, des Hundertäugigen. Stolz reckte sich der greise Held im Sattel, der für den Herrn die Welt unterworfen hatte.

Dann aber das Wunder.

Marco breitete die Arme und sein Atem stockte.

Vier weiße Elefanten, zusammengekoppelt durch ein goldenes Gebälk, das in der Mitte des Vierecks pyramidenhaft zur Spitze strebte. Eine kleine Estrade. Darauf der Thron. Alles aber überschäumt von glitzernden Edelsteinkaskaden.

»Heil, Kublai! Heil dem Khan der Khane!« Marco brüllte es hinein in das wilde Tosen, daß seine Lungen beinahe barsten.

Dort saß er auf dem Throne. Umgeben von den höchsten Paladinen. Fahnen bauschten sich. Die Elefanten hoben die Rüssel und röhrten. Fächer und Schirme in allen Farben nickten über seinem Haupte.

Hinter ihm der Elefant des Prinzen Dschingis und die Elefanten der vier Gemahlinnen Seiner Majestät. Flankiert von den dunkelroten und hellblauen Jägertausendschaften, auf deren Fäusten die Sperber und Sakerfalken hockten.

Bunte Felle von Jagdleoparden. Wagen mit goldenen Käfigen, in denen brüllende Tiger sich bäumten.

Alles ohne Maß, ohne Zahl, ohne Grenze.

Macht, Macht, Macht! jubelte es in Marco auf. Was bist du, Macht? Bist du der winzige Körper, der dort auf dem Throne ruht, gebrechlich, verschwindend unter all den Tieren und Geschmeiden?

Nein, das bist du nicht! Auch nicht der Geist bist du, der alles erdenkt. Letztes Rätsel bist du, Macht, bist ein Gigant, stampfend auf der Erde, wolkenumweht das Haupt.

Alle Begriffe sprengst du, alle Formen, alle Größen.

Zu dir beten wir, die wir nur Menschen sind, nur Menschen sein wollen. Gipfelpunkt des Lebendigen, dir gilt der Schrei!

»Kublai! Heil, Kublai! Herr der Welt! Heil dem Khan der Khane!« sauste es schrill, so daß die Gebäude, daß selbst die Festen des ewigen Himmels zu wanken schienen.

Marco aber erhob sich und rannte zur Treppe ohne einen einzigen Gedanken.

Erst in den unteren Gemächern gewann er seine Fassung wieder, als Maffio achtlos rief:

»Jetzt schnell zu Tschang-li-sun! Beginn jetzt dein hohes Spiel, mein Bürschchen! Der Teufel brate mich, wenn diese Welt nicht des Schweißes wert ist!«

Marco antwortete nicht. Sein Wille aber ballte sich zu wilder Größe.

 

Kaum eine halbe Stunde später standen sie im inneren Zimmer des Tschang'schen Wohnpalastes.

In der Mitte des Raumes der Minister, um den sich zahlreiche Diener mühten.

Marco und Maffio waren trotz aller Pracht, die noch in ihrem Auge nachglühte, betroffen über die Gewänder, die der Staatsmann anlegte. Seiden seltenster Art. Eine Halskette aus erlesenen, nußgroßen Edelsteinen. Die gelbe Jacke schimmerte von den perlengestickten Golddrachen und vom Staatshute nickten irisierende Pfauenfedern. Um den Leib aber die unbeschreibliche Kostbarkeit des Jade-Gürtels.

»Ein angenehmer Gegensatz!« meinte Maffio lachend und sah an seinem bestaubten Lederwams hinab. »Auch Marco sieht nicht vornehmer aus als ich. Übrigens, hohe Exzellenz, wann geht die Sache los?«

Tschang, der alle Förmlichkeit abgelehnt hatte, lächelte. Dann erwiderte er schnell:

»Wie gesagt, hat Seine Majestät durch Eilboten befohlen, daß ich in einer Stunde im Palaste erscheinen soll. Nach euch aber, edle Herren, sucht man ganz Kambalu ab.«

»Was sollen wir tun? Die verwünschte Verspätung durch unsre Geschäfte ...« Marco knirschte mit den Zähnen vor Ungeduld.

»Ich würde euch mit Vergnügen Staatskleider zur Verfügung stellen, aber es geht doch wohl nicht an, daß ihr als Chinesen auftretet!« Tschang sann vor sich hin.

Plötzlich meckerte Maffio:

»Nein, daß mir das jetzt erst einfällt! Tausend Wagenladungen Seidenwaren führt man täglich in dieses Millionennest und wir zerbrechen uns die Köpfe. Fortwährend dachte ich nur daran, daß in meinem Pekinger Hause keine Staatskleider sind. Dabei vergaß ich, daß es noch Kaufläden gibt. Also du bleibst hier, Marco! Inzwischen besorge ich die Kleider. Nicht umsonst heiße ich Maffio Polo!«

»Der Schmuck steht Euch zur Verfügung. Auch Sänfte und Läufer. Ihr habt recht, edler Herr Ma-fo!« Tschang lächelte befriedigt. Zu Marco:

»Ihr aber gebt mir die Ehre, mit mir inzwischen eine Schale Tee draußen im Inselpavillon zu trinken.«

Maffio stürzte schon hinaus.

Tschang aber raunte einem Diener einige schnelle Weisungen zu.

 

Marco atmete die Luft, die über das Wasser wehte, in vollen Zügen. Kühngeschwungene, leichte Brücken! summte das Gedicht Li-tai-pes in seinem Kopfe. Stück für Stück kam es in ihm herauf und gewann Gewalt über ihn. Damit aber auch die Stimme, die es ihm zum erstenmal verkündet hatte.

Was soll das? Jetzt ist keine Zeit, längst überwundenen Träumen nachzugrübeln. Jeder Gedanke gehört dem Ziel. Keiner darf vergeudet werden.

Wo ist die Wirklichkeit? Alles wie ein Märchen. Bin ich ermüdet? Warum dieses gedämpfte Bewußtsein? Märchen des Ostens! Göttin Ungewißheit, wandelnd über diese verschnörkelten Geschehnisse. Ich wußte, was ich tat, als ich alles von mir warf und hinausfuhr.

Warum spricht Tschang kein Wort? Sitzt mir gegenüber, trinkt Tee, verbeugt sich. Und beobachtet. Ist das Rücksicht? Oder soll nichts ausgesprochen werden, bevor wir Kublai Aug in Auge Rede stehen müssen?

Leichter habe ich mir alles vorgestellt, leichtsinniger. Ist die Gunst Kublais wirklich ohne Grenzen? Vielleicht stürze ich heute, tiefer, als je ein Mensch stürzte. Vielleicht wußte er um Achmaks Schandtaten, wollte sie aber nicht sehen zu höheren Zwecken. Was bleibt mir dann? Pfui, Marco! Knapp an der Feigheit bist du angelangt. Nein, es gibt für meine Tat in diesem Falle keine Beschönigung. Verräter, Empörer bin ich dann, ende unter dem Schwert des Henkers. Eine milde Strafe. Auf Rebellion stehen andere Todesarten.

Dumme Hirngespinste! Ich brauche ja nicht zu sagen, daß ich die Rettung Achmaks halb mitwissend hintertrieb. Wer will es beweisen? Oder wird Tschang mich stürzen? Dann stürzt er mit. Nein, auch das ist nicht sicher. Wer ahnt, wie er die Sache drehen und wenden kann?

Gut! Ich werde leugnen, mich nicht verraten. Werde ich es aber zustande bringen im Angesicht des gütigen Glanzes Seiner Majestät? O, wenn Tschang nur endlich sprechen wollte ...

»Edler Ma-ko-po, Ihr verzeiht, wenn ich von Staatsgeschäften schweige!« klang es als Antwort mitten in die rasenden Gedankenläufe Marcos hinein. »Etwas rein Persönliches muß ich Euch mitteilen!«

Marco sah ihn erstaunt an. Was sollte das sein?

»Ich höre!« flüsterte er, da er sich noch nicht ganz in die Gegenwart zurückgezwungen hatte.

Tschang aber lächelte ihn wieder mit jener väterlichen Güte an, die er schon einmal, in jener Entscheidungsnacht, kurz vor dem Aufbruch zur Tat, an ihm gesehen hatte.

»Ich zauderte lange!« sagte der Minister bedächtig. »Gewiß bin ich mir bewußt, daß Ablenkung für Euch verderblich sein kann, da Ihr eben jetzt aller Kräfte bedürft. Eine zweite Überlegung aber zwang mich, zu bedenken, daß das Ereignis Eure Kräfte auch befeuern kann.«

»Ich verstehe Euch nicht, Exzellenz! Wovon sprecht Ihr?«

»Von Li-ping-erch!« erwiderte Tschang trocken. Er setzte, bevor noch Marco, der aufgefahren war, antworten konnte, kopfschüttelnd fort: »Hofft nicht zuviel, edler Ma-ko -po! Da ich aber alles, was sich zutrug, weiß, halte ich es schon für ein gutes Zeichen, wenn das schöne Mädchen wieder eine Verbindung mit Euch anknüpft.«

»Woher wißt Ihr das? Verzeiht meine Erregung! Antwortet mir schnell!« Marco, auf den ein neuer, verwirrender Strom von Gefühlen einstürzte, stieß es hastiger hervor, als er wollte.

Wieder das väterliche Lächeln:

»So habe ich doch richtig erraten, wenn ich annahm, daß Euch meine Botschaft nicht ganz gleichgültig lassen würde. Noch einmal. Es ist nicht viel. Li-ping hat Euch geschrieben. Der Bote suchte Euch vergeblich droben in den Westbergen. So kam er zu mir. An Tae-pings Gefühlen zu Euch hat sich nichts geändert. Hier ist der Brief.« Er legte das versiegelte Schreiben mit zarter Bewegung auf den Teller Marcos, der sich wortlos verbeugte. Dann abschließend: »Ich werde Euch jetzt verlassen, Ma-ko-po! Verzeiht meine Abwesenheit. Ich muß noch einige Schriftstücke ordnen, die sich auf die Rebellion beziehen.«

Damit neigte er den Kopf und ging, ohne sich umzublicken, langsam über den gewölbten Rücken der zierlichen Holzbrücke seinem Hause zu, das in glasierter Buntheit zwischen den gefiederten Akazienblättern durchglitzerte.

 

Marcos Pulse begannen in unregelmäßigen Rhythmen zu hämmern. Mehr als einmal zog er die Hand zurück, die sich verlangend nach dem Brief auf dem Teller ausstreckte.

Ein Stückchen Papier! Täglich liefen so viele durch seine Finger. Warum plötzlich eben dieses kleine Ding so anders, so schicksalhaft, so unaussprechlich bedeutungsvoll?

Du hast dich zur Tat entschlossen, Marco, hast Li-ping, die dich verließ, schmähte und verleugnete, längst zu den Toten geworfen! höhnte die eine Stimme seines Innern. Was soll es auch sein? Vielleicht neue Vorwürfe, neue Schmähungen? Laß den Brief liegen, Marco, wirf ihn ungelesen in den Teich! Verderben will sie dich, wie ein Dämon deine Kraft im Augenblick lähmen, da es für dich um alles geht.

Selbstlügen! schrillte eine zweite Stimme dazwischen. Überhebe dich nicht, Marco! Warum pocht dein Herz so wild? Hast du sie wirklich vergessen? Bist du nicht vielmehr beim kleinsten Zeichen, daß nicht alles verloren ist, jubelnd wieder in ihre Nähe gekommen? Was sind das für holdselige Gefühle, die dich durchbrausen?

O, schweigt, ihr Stimmen! Ich höre durch die stille Luft plötzlich eine andre, eine reinere Summe. Nein, nur die Melodie einer Stimme. Li-ping-erch! Li-ping-erch! Wieder rufe ich dich wie in jener Fiebernacht!

Feigling, du wagst nicht, den Brief zu öffnen, träumst, sinnst, streitest mit dir selbst, um der Entscheidung auszuweichen.

Kirschenbäume stehen dort drüben. Die Sonne glitzert in einer großen Harzkugel. Wozu sehe ich das? Ich weiß es. Wieder bin ich symbolisch. Angesteckt vom Geist des Ostens.

Meine Seele ist die Harzkugel. Durch und durch wie harter Edelstein erscheint sie dem flüchtigen Betrachter. Ja, das war das Ergebnis meiner Entschlüsse. Hart bis zum Kern! Voll und ganz dem Erfolg hingegeben. Rühr sie nur an, die Harzkugel, Freund Marco! Dünne Krusten werden berstend sich öffnen, weiches Harz quillt in vollem Strom heraus. Länger währt es, heißere Sonnen sind nötig, die Kugel bis zum Innersten zu erstarren!

Marco, wo treibst du hin? Erinnere dich des Einzuges der Majestät! In weniger als einer Stunde stehst du vor ihm, dem Mächtigsten dieser Erde.

Nein, sinkt zurück, Wünsche des Ehrgeizes, in die Tiefen des Vergessens! Leben liegt vor mir, heißestes Leben.

Jetzt habe ich den Brief berührt. Geküßt. Was tue ich?

Er ist geöffnet, meine Augen können die lieben, holden Zeichen nicht mehr verlassen.

Entschieden! Alea jacta!

 

Marco hatte der Umwelt vergessen.

»Es ist so traurig in mir, seit ich Euch, den ich so sehr liebte, den furchtbaren Schimpf antat.« Sei nicht traurig, Li-ping-erch, warum sollte ich dir nicht verzeihen? Da ich doch selbst aus Trotz und verletzter Eitelkeit die Lüge Tae-pings bestätigte?

»Ich hörte von Yü, daß Ihr mich rieft, Ma-ko-po, daß Ihr im Fieber gequält nach mir verlangtet, daß Ihr noch am anderen Tage süße Liebesworte flüstertet, als Euch die Krankheit an den Rand des Todes brachte ...« Wahr ist es, Geliebte. Wer sollte auch nicht nach dir rufen, der dich einmal sah? Dank dem Schicksal, das dir die Wahrheit kündete!

»So flehe ich Euch um Verzeihung, Ma-ko-po, demütige mich, erniedrige mich. Beide sagten wir von Leidenschaft umnebelt Dinge, die wir selbst nicht glaubten. Hat der Mond kein Licht, wenn ihn die Wolke verhüllt? Wolken waren die Worte. Unsre Liebe aber ist der Mond ...« Süße, kleine Dichterin! Wer hat wohl je solch ein hauchzartes Bild gesehen wie du? Sprich nicht weiter, Li-ping-erch. Schon habe ich alles vergessen!

Nein, nicht alles!

Wie eine beklemmende, schale Ernüchterung kroch es plötzlich in Marco herauf. Ungesühnt bleibt deine Wahl. Blind folgtest du dem Bruder. Ebenso ungesühnt die Kälte, mit der du mich von dir stießest, noch bevor Tae-ping in der Türe stand.

Ist der Brief zu Ende? Nein, die Erregung hat nur meinen Blick getrübt.

»Noch etwas, Ma-ko-po! Nie wirst du verstehen, warum ich nicht fragelos deine Umarmung erwiderte. Wähnst du, ich hätte es nicht mit jubelnder Wonne getan? Zeigte ich dir nicht vorher schon aus freien Stücken meine Zärtlichkeit? Oder hieltest du es gar für eine Staatssache, daß ich heraufkam, den Fremden zu warnen und zu schützen?«

Was dann, Li-ping? Sprich weiter. Sprich weiter, die du imstande bist, Fragen zu erraten, bevor du sie von mir hortest!

»Ma-ko-po! Geliebter! Wie soll ich es dir sagen, ohne dich zu kränken? Vielleicht sind andre Frauen klüger als ich. Aber der Leib eines reinen Mädchens, eines Mädchens, das zudem stets mit Liebe verfolgt, bedroht wurde, ist ein eigensinniges Ding. Da hilft kein Wunsch und kein Wille. Verzeih mir auch das, Ma-ko-po! Und glaub mir, daß ich dir mehr gab als je einem anderen, wiewohl es dir so wenig erscheint.«

Recht hast du auch dann, Li-ping-erch. O, ich verstehe dich voll und ganz. Wußte ich es doch, bevor ich noch die Pagode betrat. Warum aber sprachst du so bald von Heimkehr? Hättest du mich noch länger im Märchen gelassen ...

»Jetzt aber das Schmerzlichste, Ma-ko-po! Das wirst du nie begreifen können. Ich mußte meinem Bruder folgen, höre mich, ich mußte. Und ich muß ihm auch weiter gehorchen. Unsre Ahnen sind unsre Götter, Ma-ko-po. Und Tae-ping vertritt an mir die Stelle des Vaters. So lebe wohl, Geliebter, und denke manchmal ohne Groll an das traurige Mädchen Li-ping-erch. Und horche im Frühling auf die Winde, die die Blüten auf ihrem Rücken tragen. Flüstern werden sie dir von meiner Liebe und kleine duftende Blättchen auf deine Lippen werfen, die ich im Garten in die Fernen streute, in denen ich dich dann wähne ...«

Marco starrte in namenlosem Schmerz auf das zierliche Briefchen.

Zum zweitenmal verloren! Verloren für ewig! stöhnte es wild durch seine Brust, die der zurückgestaute Atem fast sprengte. Li-ping-erch! Rätsel des Ostens! Eben er muß dein Gott sein? Er, der zechende, zotenreißende Literat? Furchtbarer Wahn! Er soll fallen! Töten will ich diesen Götzen. Wenn ich es über mich brachte, Uang-tschu in den Tod zu treiben, warum nicht dich, warum nicht dich, höhnische Fratze eines elenden Strebers und Ränkeschmiedes?!

Um Gottes willen! Was steht da am Schlüsse?

»Wenn du mich aber wahrhaft liebst, Ma-ko-po, so verzeihe auch ihm, der mein Blut ist. Er glaubt im Recht zu sein, wenn er dich bekämpft. Was soll ich ihm antworten? Er ist weiser als ich.«

Alle Wege verstellt! Wo finde ich die Lösung?

»Als letzte Bitte. Laß es mich noch heute wissen, ob du mir vergabst.«

Nichts mehr! Letzte Bitte? Es ist zu Ende!

Heute? Wann schrieb sie? O ärmstes Mädchen! Tagelang harrst du meiner Antwort. Erfuhrst du, daß ich fern von Kambalu weilte?

Nein, ich ertrage es nicht! Jetzt nicht mehr, seit ich weiß, daß du mich liebst. Es gibt kein Hindernis. Auf der Stelle will ich zu dir eilen, mit dem Bruder sprechen, Tschang um Vermittlung ersuchen. Vielleicht kann Kublai helfen?!

Ich schrecke auch vor Gewalt nicht zurück!

Ah! Ein zweiter Achmak ist aus mir geworden! Aus mir, der sich nicht genugtun konnte, Achmaks Schandtaten zu verdammen! Gewalt? Was tat er andres? Wohin treibe ich? O, es ist unerträglich! Mich liebt sie ja! Die Weiber, die Achmak zwang, haßten ihn. Oder irre ich auch darin.. ?

 

»Marco! Willst du bis zum Abend in den Teich starren? Erwache, mein Bürschchen!« Maffio stand breitspurig auf der zarten Holzbrücke.

Marco verbarg hastig den Brief im Gewand und fuhr auf.

Maffio übersah geflissentlich den sonderbaren Gesichtsausdruck und die Handbewegung des Neffen. Benissimo! Er hat wieder irgend etwas Seelisches. Wahrscheinlich Li-ping-erch! Es ist aber jetzt keine Zeit für solchen Luxus. Tun wir also so, als ob wir nichts bemerkten.

»Die Kleider sind herrlich. Kublai wird neidig werden, wenn er uns sieht!« lachte er näherkommend. Und als Marco, der sich mit Gewalt in die volle Gegenwart zurückgezwungen hatte, langsam aufstand: »Jetzt aber hurtig, mein lieber Neffe! Es ist höchste Zeit!«

»Ich komme!« erwiderte Marco langsam und gedehnt. Dann aber schoß ein Strom wachen Bewußtseins durch sein Hirn und drängte die Größe der Entscheidung in den Vordergrund. Zumindest für den Augenblick.

Mit sicherem Schritt folgte er dem Oheim, der sich auf der Brücke bereits umgedreht hatte und dem Hause Tschangs zuging.

 

Schon waren sie angekleidet. Maffio hatte nicht zu viel versprochen. Die Prunkgewänder, die er in der Eile besorgt hatte, waren herrlich. Nicht minder der von Tschang großzügig zur Verfügung gestellte Schmuck.

Marco sah mit dem Minister noch schnell einige Namenslisten durch und ergänzte an manchen Stellen die Aufschreibungen.

Dabei schüttelte ihn die Ungeduld. Mühsam unterdrückte persönliche Wünsche drängten gebieterisch herauf und vermengten sich mit der großen Eile, in der alles erledigt werden mußte, zu einem kreiselnden Strom des Mißbehagens.

Plötzlich hatte ihm ein glücklicher Augenblick die Ausflucht zugeworfen.

»Noch eine unaufschiebbare Sache! Bartolomeo muß sogleich nach Kambalu gerufen werden!« sagte er nebenbei zu Maffio. Als dieser hinausgehen wollte, schnell und erschrocken: »Laß mich die Sache besorgen, Oheim! Sei inzwischen so gütig, Seine Exzellenz zu unterstützen!« Und er hastete schon aus dem Empfangsraum des Ministers, in dem sie sich befanden.

Enrico war bald gefunden.

»He, Enrico!« rief er schon von weitem venezianisch, da allenthalben chinesische Diener umhereilten. Näherkommend: »Du hast heute wieder einmal Gelegenheit, dich auszuzeichnen. Verstehst du, Enrico? Heute fordere ich von dir äußerste Anspannung deiner Fähigkeiten!«

Enrico, der herangelaufen war, richtete sich stolz auf: »Va bene, Masser! Der Ton gefällt mir! Ihr sollt zufrieden sein!«

»Auch wenn dir der Ton mißfallen würde ...« Marco war äußerst erregt, fast barsch. »Also erstens: Du reitest mit dem schnellsten Pferd hinauf in die Westberge. Fra Bartolomeo muß am Abend hier sein. Sag ihm kurz die Ereignisse und – ich meine, er ist unentbehrlich aus religiösen Gründen. Unentbehrlich aus religiösen Gründen! Merk dir das!«

»Ich werde es nicht vergessen!« Enricos Gesicht war ein wenig bekümmert. Was war mit dem Herrn los? Nun, das »Zweitens« brachte vielleicht Aufklärung. Ah, er spricht schon weiter.

»Zweitens aber – und das ist ebenso wichtig – will ich heute abends noch mit Li-ping-erch, mit dem fremden Fräulein, das damals bei uns droben war, in Verbindung treten. Womöglich mit ihr zusammenkommen. Nimm die kleine Yü mit. Ich weiß nicht, ob Li-ping mich empfangen will. Du verstehst. Tiefstes Geheimnis. Zur Vorsicht sollen andre Diener und Dienerinnen hieher mitkommen, damit es nicht so sehr auffällt. Alles übrige ist deine Sache. Vor ihrem Bruder Tae-ping hüte dich. Es muß sein! Verstehst du, es muß!« Marco kehrte sich schon ab.

Enrico aber, der sogleich den Zusammenhang begriff, erwiderte treuherzig:

»Ich werde meine Dummheit gutmachen, Masser! Ich meine den Fehler, daß ich sie damals entwischen ließ. Verlaßt Euch auf den alten Bravo!« Dabei grinste er vielsagend.

»Keinerlei Gewalt!« fiel Marco rasch ein. »Die Sache ist in aller Form zu ordnen. Nur Verstand. Keine Degen und Dolche. Laß mich nicht im Stich, Enrico!«

Der Riese schüttelte hinter Marcos Rücken den Kopf. Der arme Masser! Fast bittend hat er den letzten Satz gesagt. Ein Unglück, diese Frauenzimmer! So lang war er vernünftig. Jetzt aber geht die Geschichte wieder an, wie damals in Venedig. Nun, mit Yü zusammen werden wir es schon schaffen. Dem hochwürdigen Herrn aber schneiden wir ein frommes Gesicht. Der wäre imstande, dreinzupfuschen.

Und er begann angespannt verschiedene Möglichkeiten zu überlegen, als Marco das Zimmer verlassen hatte.

 

Tschang-li-sun ritt mit Maffio und Marco in zeremoniellem Aufzuge durch die noch immer erregten Gassen.

Marco war so sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, die zwiespältig Ehrgeiz und Liebe umkreisten, daß er das Gaffen der Menge gar nicht beachtete.

Als Maffio einmal im Gewühl um eine Pferdelänge zurückgedrängt worden war, ritt Tschang nahe an Marco heran und sagte ohne Einleitung:

»Ich würde Euch raten, Ma-ko-po, ein hohes Amt in unsrem Lande anzustreben. Meine Unterstützung werdet Ihr dabei finden. Es würde beide Drachen, die gegenwärtig in Euch ringen, besänftigen. Überlegt Euch meine Anregung. Tae-ping wäre dann kaum imstande, die Werbung um seine Schwester abzulehnen!« Maffio war jetzt wieder an ihrer Seite und horchte erstaunt auf. Tschang aber fügte flüsternd bei: »Schnell jedoch müßt Ihr handeln, edler Ma-ko-po! Er trägt sich mit dem Plan, sie demnächst zu verheiraten. An Bewerbern fehlt es wahrlich nicht!«

Gleich, als ob er nichts gesagt hätte, rief er dem Gefolge schon laute Befehle zu.

Marco aber durchzuckte es mit furchtbarer Wucht. Um Gottes willen! Was wurde da ausgesprochen? Werbung? Sag dir das Wort mit all seinem Inhalt klar und deutlich vor, Marco Polo! Werbung! Noch einmal: Werbung! Sie ist nur durch Heirat zu gewinnen? War ich denn toll, daß nicht ein Schatten meiner Wünsche diese Möglichkeit auch nur streifte? Eroberer. Ein Prokonsul in der unterjochten Provinz. Läßt sich als Tribut die schönsten Mädchen vorwerfen. Marco-Minotaurus. Ein erhebendes Bild! – Wie edel von Tschang, daß er so für mich sorgt. Wie ein Vater berät er mich.

Kann ich also den Gedanken fassen? Heirat? Ich soll ein Mädchen aus Kataja heiraten? Warum nicht? Was geht mich die hiesige Ehezeremonie an? Sie bindet den Christen nicht. Es ist Konkubinat nach unsrem Recht. Ein edelmännischer Ausweg!

»Nun, Marco, mein Söhnchen, sehr aufgeregt?« Maffio belustigte sich unbändig an der Volksmenge, die von den Vorläufern tüchtige Bambushiebe abbekam, gleichwohl jedoch sich im Gaffen nicht stören ließ.

»Aufgeregt?« Marco sagte es gedehnt und abweisend.

»Ich bin nicht so zuversichtlich wie du, Oheim. Ich habe ein sonderbares Gefühl des Unbehagens, das mich noch selten getäuscht hat.«

»Grillen! Hirngespinste! Kublai wird dich umhalsen und mindestens zum Nachfolger Achmaks ernennen!« Maffio pfiff äußerst wohlgelaunt mit einer Grimasse in die Menge.

»Sündhafte Späße!« Marco bändigte sein unruhiges Pferd. »Ich werde froh sein, wenn ich mit heiler Haut aus der Sache herauskomme!« Flüsternd: »Erst jetzt bin ich mir voll bewußt, daß mein staatsmännisches Ränkespiel sehr, sehr nahe an Untreue und Verrat grenzte – wenn man es von einer anderen, durchaus möglichen Seite betrachtet.«

»Unwahrscheinlich! Das beste Mittel, Verwicklungen zu erzielen, sobald man in dieser Weise zu grübeln beginnt. Laß die anderen reden und beschränke dich auf bescheidene Verbeugungen, bist du klar siehst. Mein Rat!« Maffio, um einen Schatten ernster, wiegte sinnend den Kopf hin und her.

 

Kurz nachher in einem kleinen aber erdrückend prächtigen Vorsaal des Kublai-Palastes. Ein Teil der inneren Gemächer, in denen der Großkhan nur die vertraulichsten Besprechungen erledigte.

Tschang-li-sun stand gegen die Wand gekehrt, daß man deutlich das Nicken der erlesenen Pfauenfedern seines Staatshutes wahrnahm. Ab und zu klirrte seine Brustkette leise auf. Ein Zeichen, daß er mit den Fingern diesen Trost des aufs höchste gespannten Geistes suchte.

Maffio sah ohne viel Ungeduld zur Tür, die sich bald öffnen sollte. Er hatte Kublai erst vor wenigen Wochen verlassen, daher bedrückte ihn die Nähe der Majestät am wenigsten.

Marco aber ging geräuschlos auf und nieder. Er vermied die Eingangstüre mit seinem Blick. Grausige Erinnerung. Auch hier standen die zwei bildsäulenstarren Hofleute mit den goldenen Stäben.

Noch immer wogte es in seinen Gedanken. Tschangs unheimlich treffende Offenbarung hat plötzlich beide Ziele zu einem verschmolzen. Ein Amt im Mittelreiche. Ein hohes Amt. Ja, recht hast du, großer Menschenkenner. Das befriedigt meinen Ehrgeiz. Maffio soll keine solchen Witze machen. Nachfolger Achmaks. Wer wird Nachfolger des Tyrannen werden? Pasepa? Unbekannte, ungreifbare Ausblicke. Tschang hat recht! Vielleicht ist jetzt nach Achmaks Fall das Amt nicht so schwer zu erreichen. Aber wie wird Kublai sich dazu stellen, daß wir seinen liebsten Günstling nicht retteten? Davon allein hängt alles weitere ab.

Vergebliche Frage! Gewiß, ich kenne Kublai, kenne ihn besser als Millionen seiner anderen Untertanen. Gleichwohl ein Rätsel. Macht hat eigene Gesetze. Weltmacht eigenste! Laune ist dort Gesetz. Nein, keine Laune. Es steht jenseits aller Begriffe, dieses Urgesetz der Allmacht.

Ich bin sehr verworren! Man sollte doch meinen, daß die Vereinigung zweier Wünsche auf ein einziges Ziel den Willen härtet. Das Amt soll Brücke sein zur Befriedigung des Ehrgeizes, Brücke zum Besitz der Geliebten. Trotzdem ist das Gegenteil eingetreten. Mein Wille zerflattert unter dem Druck des Doppelzieles. O, jetzt verstehe ich! Zwei höchste Einsätze auf ein Feld des Spielbrettes. Das ist es. Doppelte Angst vor einem Mißlingen!

Es wird besser sein, wenn ich davon ablasse, umherzuwandern. Kublai würde in seinem unendlichen Scharfsinn ein häßliches Bild erhalten, wenn er mich durch die plötzlich geöffnete Tür derart ruhelos sähe. Ich höre etwas. Man spricht drinnen. Wir sind also nicht die ersten, mit denen Kublai sich berät.

Böses Omen? Vielleicht sind es nur die Würdenträger, die Kublai von Schan-du hieher geleiteten.

Tschang kehrt sich fragend, wie mahnend zu mir. Gut, ich werde mich beherrschen. Einem zukünftigen hohen Beamten des Mittelreiches geziemt es.

Erlösender Selbsthohn, du hast es gut mit mir gemeint! Ich glaube, daß ein Lächeln auf meinem Gesichte liegt. Der richtige Augenblick!

Lautlos sprang die breite Türe zum kleinen Arbeitsgemach des Herrschers auf.

 

Das erste, was Marco wahrnahm, als er sich vom neunmaligen Fußfall auf einen leisen Zuruf Kublais erhob, war die steinern ruhige Person des Herrschers.

Die schlanke, mittelgroße Gestalt, lässig geneigt in die Polster des getriebenen Silberthrones. Glatt und unbewegt das Antlitz, das in der bräunlichrosigen Farbe des persischen Apfels schimmerte. Klare, tiefschwarze Augen. Alles umrahmt von der edelsteinüberladenen Mannigfaltigkeit des großen Staatsgewandes.

Marco, Maffio und Tschang standen jetzt aufrecht. Noch immer nahe der Schwelle.

Du schlug ihnen eine eigentümliche Welle von Kälte und Unnahbarkeit entgegen, die alle drei in verschiedenem Maße, jedoch mit unzweifelhafter Deutlichkeit erfaßte. Eine bei Kublai noch nie gefühlte Luft des Rätsels benahm ihnen den Atem.

Neben Kublai der große Feldherr Peyen. Der Hundertäugige, vor dem ganz Asien zitterte. Steif, fast linkisch in seiner riesenhaften Biederkeit. Uralt und verwittert. Sein Haar und die spärliche, abwärts gebogene Sichel des Schnurrbartes glänzten in völligem Weiß.

Pasepa zur andren Seite des Thrones. Der einzige, der mit der Miene des Erlösten oder eines nahe der Erleuchtung Wandelnden lächelte.

Verbissen aber und voll zusammengeknirschten Willens eine kleine Schar einander ähnlicher, gleichwohl jedoch höchst verschiedener Männer. Fremde Rasse. Fremd dem Tibeter, fremd den Tataren, fremd den Chinesen. Und fremd den Abendländern.

Marco erschauerte, als er sie sah. Das also die Lähmung? Das die Ursache der unheildrohenden Stimmung?

Sieben Söhne Achmaks bei Kublai! Das Spiel ist verloren! Sieben von den fünfundzwanzig Söhnen.

Blitzartig suchte Marco die Züge der Reihe nach zu erfassen.

Kein Zweifel. Eben die sieben waren es, die ihrem Vater auf der Bahn des Verbrechens und Lasters gefolgt waren.

Jetzt geht's um das nackte Leben, Marco Polo!

 

Noch eine Unterbrechung, die den ersehnten ersten Ausspruch aus Kublais Mund verzögerte.

Hinter sich hörte Marco Polo das leise Geräusch eines Fußfalles. Kogatai stand plötzlich zwischen ihnen. Ein Wink Peyens rief ihn an dessen Seite.

Der Großkhan erhob jetzt den Blick. Marco versuchte, unauffällig die Züge zu durchdringen. Er fand keine Auskunft.

Hingerissen war er wie stets von der reifen Schönheit dieses ruhigen Antlitzes. Ebenmaß vielfältiger Züchtung und Auslese. Wenige Generationen zurück die wildeste Urkraft. Geläutert und veredelt durch die Mütter, die unter zahllosen Millionen gesucht worden waren. Der kurze, tiefschwarze Schnurrbart bebte leise. Jetzt öffneten sich die vollen Lippen:

»Das Reich hat einen unersetzlichen Verlust erlitten!« Kublai sah noch immer mit halbgeschlossenen Augen von einem zum anderen. Es war sprichwörtlich, daß jeder, der vor ihm stand, das Gefühl hatte, der Blick träfe ihn allein. Wenn auch noch so viele anwesend waren. Fortsetzend mit reiner, gedämpfter Stimme: »Mein Schmerz kannte keine Grenzen, als ich von der ruchlosen Freveltat erfuhr, die meinen treuesten Diener und Freund fällte. Zwanzig Jahre edelster Pflichterfüllung trugen ihm diesen Dank ein!« Jetzt hatte er wirklich Marco Polo und Tschang-li-sun ins Auge gefaßt und machte eine Pause.

Erwartete er eine Antwort? Im Kopfe Marcos begannen die Gedanken wild zu kreisen. Was sollte er erwidern? Billigung der kaiserlichen Worte bedeutete Selbstaufgabe, bedeutete die Vernichtung Tschangs, den Emporstieg der verruchten Söhne, siebenfache Achmak-Greuel; Widerspruch aber die furchtbarste Erschütterung. Kublai durfte nicht geirrt haben! Der Herr der Welt war unfehlbar.

Marco sah für den Bruchteil eines Herzschlages erregt und heimlich zu Tschang. Auch dort kein Entschluß. Starres Lächeln des leicht gesenkten Gesichtes.

»Ich will eure Meinung dazu hören, Marco Polo und Tschang-li-sun! Sprecht, sagt offen, was ihr denkt!« Schnell und kalt: »Ich habe manche Gründe, in diesem Punkte Klarheit zu wünschen!«

In Marco kroch Entsetzen herauf. So hatte er bisher den gütigen Kublai nur gesehen, wenn er Angeklagte verhörte. Nie hatte dieser Ton ihn selbst irgendwie getroffen. Schreckliche Wandlung. Ein Berg der Randkette des heiligen Tibet. Zweimal war er bei heller Sonne auf den Gipfel gestiegen. Hatte nie geahnt, wie wild und grausig die lachenden Klüfte und Gletscher sein konnten, wenn die Sonne sich verbarg. Bis ihn einmal ein Unwetter überraschte.

Die Sonne der Gnade steht hinter Wolken. Der Sturm des Grolles tost. Von ferne das Donnern der Lawine.

Plötzlich die Stimme Tschang-li-suns:

»Blut ist Blut, erhabenste Majestät!« Sein Antlitz war gespannt, daß die Haut schimmerte. »Ich billigte es, wie Eurer Majestät bekannt sein dürfte, daß die Täter an Ort und Stelle den Tod erlitten. Darüber hinaus stand die Rettung des Reiches doppelt in Frage: Vom Standpunkt der Einwohner lag das selbstsüchtige Interesse vor, den mächtigen und ruhmreichen tatarischen Eroberer nicht zu reizen und zur Rache herauszufordern. Vom wichtigeren Standpunkte der Weltharmonie aber war es notwendig, das eroberte Mittelreich im ungetrübten Besitz Eurer Majestät zu erhalten!« Er verneigte sich tief.

Kublais Antlitz hatte sich nicht um einen Schatten erhellt. Marco merkte es sogleich. Dafür lag ein boshaftes Grinsen auf den Zügen des zweiten Achmaksohnes, der, anscheinend der Wortführer der anderen, um einen halben Schritt aus der Reihe der Brüder getreten war.

»Eine höchst vieldeutige Antwort!« erwiderte der Großkhan wegwerfend. »Mißversteht mich nicht!« setzte er wie ermüdet fort. »Ich zweifelte nie an den unleugbaren Verdiensten, die Ihr Euch um die Niederkämpfung des Aufstandes erwarbt. Auch der Wunde Marco Polos bin ich eingedenk. Um so mehr schmerzt es mich, daß ich euch nicht, wie ich es anfangs beabsichtigte, meinen vollen Dank sagen und beweisen kann.« Unvermittelt mit erhobener Stimme: »Ich wollte euch ein furchtbares Eingeständnis erleichtem, Marco Polo und Tschang-li-sun! Jetzt aber muß ich ohne Umschweife eine Frage stellen!«

In Marco drängte fast Heiterkeit herauf. Wilde, verzerrte Heiterkeit. Alles ist verloren! Frag nur, Großkhan! O, sie hat gut gearbeitet, die Achmak-Brut! Wir waren die Dummen, so klug wir uns auch dünkten. Wie jämmerlich die Weisheit des großen Tschang am Scharfblick des Größten zuschanden wurde! Und ich stehe da wie ein ertappter Schüler und habe überhaupt noch nicht den Mund geöffnet. Folge ich damit dem Rat Maffios? Nein, es ist nur Feigheit! Ich werde sprechen!

»Wir wollen Eurer Majestät nach bestem Wissen jede Frage beantworten. Wie Kogatai bezeugen kann, überstürzten sich die Ereignisse so sehr, daß jede unsrer Taten einem Zwang entsprach ...« Marco stockte, da Kublai eingefallen war.

»Richtig, Marco Polo! Jedes Wort wahr, das du sagtest! Dazu brauche ich Kogatai nicht zu fragen.« Kublai blickte jetzt schon fast drohend auf Marco Polo. »Kogatai kommt bei der ganzen Sache, um die es sich mir handelt, überhaupt nicht in Betracht!« Unerbittlich: »Was ich wissen will, ist die Lösung des Rätsels, das vor eurem Zusammentreffen mit Kogatai in unendlich seiner Weise geschmiedet wurde. Kurz, ich will erfahren, ob die Rettung des edlen Achmak bei einiger Umsicht noch möglich gewesen wäre. Ich habe die Zeit, in der ihr im Lager draußen fortrittet, mit der Zeit eures Eintreffens im Dschingispalaste verglichen. Für die unleugbare Verzögerung fordere ich Aufklärung! Ich würde sie auch fordern, wenn ich nicht noch schwerer wiegende Verdachtsgründe erfahren hätte.« Steinern: »War Achmak unrettbar oder wurde seine Rettung versäumt?« Kublai lehnte sich bebend zurück.

Da verlor Maffio die Beherrschung. Vielleicht zum erstenmal im Leben. Aus Angst vor einem Geständnis Marcos antwortete er:

»Soviel ich hörte, war es ein Wunder, daß der große Ausstand nicht ausbrach. Für Achmak gab es keine Hilfe ...«

Kublai zuckte auf:

»Es ist schön von Euch, Maffio, daß Ihr Euren Neffen verteidigen wollt. Aber gleichwohl unverständlich. Ich fragte Euch nicht! Deshalb bitte ich Euch zu schweigen! Ihr verzögert nur seine Reinwaschung von häßlichstem Verdachte.«

Soweit also war es? Maffio wurde grellrot vor Entsetzen. Marco aber fieberte danach, sofort allem ein Ende zu machen. Alles sagen! Das einzige, das noch blieb. Vielleicht rettet uns die Aufdeckung der Schandtaten des »edlen« Achmak. Leb wohl, Traum von Aufstieg und Liebe!

Tschang jedoch kam ihm zuvor:

»Es besteht kein Zweifel, erhabene Majestät,« sagte er mit unverständlicher Ruhe, »daß Ihr uns geradezu der Mitschuld, zumindest einer fahrlässigen Duldung des Mordes bezichtigt ...«

»Ihr sprecht es aus!« Kublai sah zu Boden.

»Es ist gut, erhabene Majestät, daß wir auf diese Weise nicht gegen ungreifbare Ränke und düstere Verdachtsnetze kämpfen müssen. Dafür sage ich meinen ehrerbietigsten Dank! Es wird mir geradezu ein Glück bedeuten, von einem solchen Richter den Tod oder den Freispruch entgegenzunehmen, wenn ich mich überhaupt erfrechen darf, Eurer Majestät mein unwürdiges Lob darzubringen.« Als Kublai ungeduldig abwinkte, schnell und sicher: »Zur Sache habe ich zu erwidern, daß ich Achmak wohl hätte retten können. Ich wollte es nicht, da er die Weltharmonie gestört hat und Eure Majestät selbst ins Verderben gerissen hätte. Um das zu beweisen, bitte ich um die letzte Gnade, Eurer Majestät für die Hunderttausende seiner Verbrechen ein Heer von Zeugen vorführen zu dürfen.«

Ungeheure Bewegung entstand in dem kleinen Räume. Kublai hatte mehr als einmal dem Geständnis durch einen Zwischenruf Einhalt tun wollen. Seine Stimme hatte versagt. Düster starrte er vor sich hin.

Der zweite Sohn Achmaks aber, der seinen Sieg in greifbarer Nähe wähnte, rief plötzlich triumphierend:

»Mein Beweis ist erbracht, Majestät!«

Kublai wurde durch den vorlauten Störer wieder voll in die Gegenwart zurückgeholt. Schneidend kalt sagte er:

»Ich weiß genug, Herr Tschang-li-sun! Wähnt nicht, daß ich Eure Beweggründe nicht zum Teil begreife. Ihr seid oberster Minister des chinesischen Kaisers gewesen. Akademiker des Hanlin. Ich mag für Euch ein ›Barbare des Nordens‹ sein. Für schmählich halte ich Eure Tat nicht. Ich werde Euch daher nicht als Rebellen und Majestätsverbrecher, sondern bloß als Mitschuldigen eines gemeinen Mordes betrachten. Auf die Beweise, besser die Verleumdung Achmaks, der selbst nicht mehr erwidern kann, verzichte ich. Dieser Versuch einer Ausflucht kam mir nicht unerwartet. Ich schweige auch davon, daß selbst der gelungene Nachweis noch nicht die Schuld ausschlösse. Denn Richter über Achmak konnte nur meine Majestät und nie Herr Tschang-li-sun sein!«

Indem er sich von Tschang abwandte, der nicht mit einer Miene zuckte, zu Marco Polo: »Und du, den ich so sehr liebte, dem ich voll vertraute? Was hast du zu sagen?«

Der Ton brachte Marco um seine letzte Fassung. Das erstemal heute wieder diese Stimme, die er angebetet hatte, die sein Stolz, seine Hoffnung, seine Verzückung war. Ja, er sieht mich an wie einst. Er will, daß ich leugne. Sein Auge sagt mir: Tschang kannst du nicht mehr retten, erhalte du jetzt dich selbst. Für mich, Marco Polo. Ich will dich nicht verlieren.

Er stürzte aufs Knie. Nein, ich kann nicht lügen, kann Tschang nicht verraten. Lieber in Wahrheit sterben, als durch Tücke und Verrat weiterleben!

»Majestät! Hohe, einzige Majestät! Herr der Welt, den ich vor einer Stunde im Glanze sah, dem ich zujubelte, bis meine Kehle heiser ward, obwohl er es nicht ahnte,« – Marcos Stimme zitterte im Überschwang – »hört mich, Majestät! Seid gerecht und edel auch diesmal, seid der Kublai, vor dem alle aufs Antlitz niederstürzen, nicht aus Furcht, nein, in wahrer Demut!«

»Willst du schmeicheln, Marco Polo? Ich hätte Besseres von dir gedacht!« Kublai senkte enttäuscht den Kopf.

Da zerbrach Marcos letzte Hemmung. Überstürzend kamen die Worte aus seinem Munde, nein, aus seinem Herzen:

»Majestät! Jetzt habt Ihr mich getötet! Keine Strafe gibt es, die mich noch treffen kann. Schmeicheln? Ich Euch schmeicheln? Ich liebe Euch, Erhabener, liebe Euch mit einer siedenden Inbrunst, für die es keine Worte gibt. Ihr wißt, daß ich durch eine kleine Lüge mich aus dem Unheil ziehen könnte. Ich will es nicht, darf es nicht! Zu sehr liebe ich Euch, Majestät! Alles verdanke ich Euch. Nehmt es zurück!« Aufspringend, in mächtigem Tone: »Auch Marco Polo hätte Achmak retten können! Er tat es nicht, da er seinen Herrn mehr liebte als sein Leben! Tötet mich zuerst, dann hört die Beweise Tschangs! Nur mein Andenken soll in Eurem Gedächtnisse rein bleiben.« Schwer atmend schwieg er.

Kublai, der vom Strom der Menschlichkeit, der von Marco ausströmte, ergriffen worden war, zögerte ratlos einen kleinen Augenblick. Genug für den Sohn Achmaks, in satanischer Berechnung, um nur jeden Stimmungsrest zu vertilgen, gellend in die Stille hineinzulachen:

»Bezahlte Schurken, diese Zeugen! Feile Verleumder! Alles ist mir bekannt ...«

Da dröhnte plötzlich eine tiefe Stimme, die bisher geschwiegen hatte, deren Träger wie alle anderen, die nicht im Mittelpunkt des Ereignisses standen, fast vergessen worden war. Peyen, der Hundertäugige, hatte sein weißes Haupt erhoben:

»Haltet Ihr auch mich für einen feilen Schurken, Sohn des Achmak? Ich melde mich Seiner erhabenen Majestät als Zeuge gegen Achmak. Ich hätte geschwiegen, jetzt aber ist es meine Pflicht zu reden, da kein Untertan so heiß unser aller Liebe zum größten Khan aussprach, wie Marco Polo, der Fremde vom westlichen Ozean!«

»Peyen hat recht! Der Ton dieser Stimme kam aus den Tiefen, in denen nur mehr Wahrheit wohnt. Auch ich bitte, über Achmak sprechen zu dürfen!« Pasepa hatte sein Antlitz Kublai zugekehrt und blickte ihm mit seinem erlösten Lächeln in die Augen.

Kublai aber, der einen gräßlichen Kampf mit sich selbst ausfocht, der zudem nicht verstand, wie seine Meinung von Achmak so abgrundtief falsch gewesen sein konnte, schüttelte zweifelnd und noch in schwerstem Zwiespalt das Haupt. Unvermittelt:

»Der Beweis möge geführt werden! Die Beschuldigten haben die Vollmacht, in meinem Namen die Zeugen zu rufen!« Zu Marco: »Von dir aber, Marco Polo, erwarte ich, daß deine Liebe, an der ich nicht zweifle, mir den Weg zeigen wird, der mich in den Irrtum verstrickte. Falls euer Beweis gelingt. Bei meiner Ungnade, Marco Polo!«

Marco, für den die Welt trotz aller Gefahr, die noch zu bestehen war, plötzlich wieder aufleuchtete, warf sich vor den Thron und küßte die Knie des Großkhans. Dieser aber legte ihm, halb unbewußt, die Hand auf das Haupt.

In jähem Umschwung, indem er die Hand zurückzog:

»Erhofft nicht zu viel, Tschang-li-sun und Marco!« Zu den Söhnen Achmaks: »Ihr aber, die ihr euren Vater beweint, führt euren Gegenbeweis! Ihr könnt meiner unerbittlichen, durch keine Zuneigung getrübten Gerechtigkeit sicher sein!«

Damit erhob er sich vom Throne und schritt ohne Gruß zur Tür, die in die innersten Gemächer führte. –

 

Die Verhöre näherten sich nach vielen Stunden ihrem Ende.

Trotz der gigantischen Größe aller Ereignisse, die dieses riesigste Weltreich aller Zeiten erschütterten, trotz des Übermaßes, das eben dadurch jedes Geschehen annehmen mußte, hatte die Geschichte eine derartige Anklage noch nie gesehen.

Bleich und starr saß Kublai, umhüllt vom äußersten Prunk seiner Majestät, im ungeheuren Audienzsaale auf dem goldenen Drachenthron der gestürzten einheimischen Dynastie.

Zu seiner Rechten Prinz Dschingis. Auch er hatte den bräunlich-rosigen Teint, der matt und weich schimmerte. Schön und wohlproportioniert wie sein Vater. Insbesondere aber die großen schwarzen Augen bezauberten alle, die ihm je begegnet waren. Ein leiser Zug von Schwermut und Kränklichkeit um diese Augen. Besorgt und hoffnungslos raunte sich schon seit längerer Zeit ein Gerücht durch die Weiten des Weltreiches: Er, den alle nach Kublai als Herrscher ersehnten, der noch milder, noch zugänglicher allem Guten war, würde zum Schmerz der Völker wahrscheinlich nie den Thron besteigen. Keiner wußte Bestimmtes, noch blühte der Jüngling in Kraft. Die Völker aber ahnten ein Ende, das nur durch jenen sonderbaren Zug um die Augen geweissagt wurde.

Zur Linken aber die erste Gattin des Großkhans. Mutter des Prinzen Dschingis. Ihre noch immer frische Schönheit war das Idol des Reiches. Und ihr allein schrieb man es zu, wenn Hilfe, Wohltat und Gnade unerwartet Not und Entsetzen linderten.

Marco Polo sah ermüdet zur Decke: Einen Augenblick ausruhen vom Katarakt der Worte, von den prüfenden Blicken der Achmaksöhne, die sich in letzter Verzweiflung wehrten!

Peyen, Pasepa, andre Staatsräte, Hofbeamte, Richter, Mandarine. Der Saal barst von Prunk und Macht.

Oben aber die hohe Decke, glitzernd von Gold und Gemälden. Schlachten, Kriegszüge, Triumphe. Kublais Aufstieg, gemalt von den Besten der Zeit, zog in bunten Bildern vorbei. Drachen, Löwen, geschnitzte Säulen. Mosaiksimse. Auch hier keine Ruhe. Kein Zufluchtsort.

Tschang stand groß und aufrecht vor dem Throne. Er war es gewesen, der die Herolde durch die Stadt getrieben hatte, um die Zeugen zu holen. Vorbereitete Aufrufe klebten an den Häusern. Und sie waren gekommen: Ein Heerzug von Klägern hatte seit dem späten Vormittag den heiligen Palast umlagert. Männer, Frauen, selbst Kinder. Soldaten. Chinesen und Tataren. Kaufleute und Beamte, Künstler, Bonzen und Lastträger.

Jetzt war es schon dämmerig draußen über dem Teiche und dem künstlichen Hügel.

Peyen und Pasepa hatten gesprochen, die Hofbeamten hatten gesprochen.

Mord, Verleumdung, Erpressung, Verführung, Raub, Schändung. Mißbrauch der Amtswürde nach allen Seiten. Familienbevorzugung, Unterdrückung fremden Verdienstes. Alles tausendfältig, zehntausendfältig. Jeder einzelne Zeuge machte sich erbötig, hundert nicht erschienene zu nennen. Dazu die Entlarvung unzählbarer Fälschungen der amtlichen Schriftstücke, Lügennetze um die Majestät. Veruntreuung der Steuergelder und des Staatsgutes, Hinrichtung und Folterung Unschuldiger, Befreiung willfähriger Schuldbeladener ... Es nahm kein Ende.

Die Söhne aber leisteten keuchend und zitternd Widerstand. Noch wehrten sie sich, rächten sich versinkend.

Kublai hatte kein Wort gesprochen. Nur seine Züge verfinsterten sich in furchtbarem Erkennen.

Eben hatten zwei Diener die Bahre hinausgetragen, auf der, noch immer siech und schmerzdurchwühlt, jener Mandarin kauerte, dessen Weib der zweite Sohn Achmaks in der Schicksalsnacht seiner Lust unterworfen hatte.

Dschingis verschränkte vor Mitleid die Hände und biß die Zähne aufeinander. Sein gütiges Auge aber loderte furchtbar drohend den Spitzbärtigen an, als er Ausflüchte gurgelte und von Verleumdung faselte.

Plötzlich fuhr Marco Polo in jähem Schreck zusammen. Der Ausrufer, der die Zeugen vorführte, hatte laut einen Namen in die unheildrohende Schwüle des Saales gerufen. Einen Namen, der für ihn die Hälfte aller Seelenkämpfe bedeutete.

»Tretet vor, Literat Tae-ping!« sagte Tschang-li-sun kühl und sachlich. »Keinen Fußfall!« fügte er abwehrend bei. »Seine erhabene Majestät hat alle Zeremonien aus Gründen der Eile verboten. Antwortet kurz und ohne Floskeln!«

Das Auge des Literaten hatte Marco Polo gestreift. Nur für einen Herzschlag. Genug, um Hohn und Verachtung zu bezeigen.

»Ah, der Majestätsverbrecher!« zischte der zweite Achmaksohn. »Pasepa hat ihn widerrechtlich befreit. Mein Vater verhaftete ihn kurz vor seinem Tode wegen Majestätsverbrechens!«

Kublai blickte auf. Warum nicht? Wenn Achmak mich durch zwanzig Jahre belog, warum nicht Pasepa, warum nicht Tschang und Marco Polo? Heute glaube ich alles Schlechte, das man mir vorträgt. Die eine Verbrecherbrut stürzt die andre. Auch die dritte wird geboren werden. Wozu versuchte ich Gerechtigkeit, Milde?

»Der Tatbestand seines Verbrechens? Allgemeine Anklagen ohne Einzelheiten habe ich satt. Was war es?« Kublai fragte es zum Achmaksohn hinüber, auf den er mit dem Edelsteinzepter wies.

Tae-ping aber erbleichte. Marco Polos Rache! Ich bin verloren. Gut! Man kann nichts machen. Die falsche Fährte nahm ihn derart gefangen, daß er die Schultern hochzog und Marco wild anstarrte.

Achmaks Sohn aber wähnte in seiner Verzweiflung, das Blatt habe sich plötzlich gewendet. Er trat noch einen Schritt vor. Plappernd, in irrsinnigem Erhaltungsstreben:

»Er hat meinem Vater, der ihm gütig die Ausbildung in der Akademie Eurer Majestät antrug, höhnend gesagt, sie sei elende Stümperei gegen die Hanlin-Akademie der gestürzten Drachengesichter. Dann hat er noch gesagt ...«

»Wofür trug Euch Achmak die Akademie an?« Marco Polo wagte die Frage, da ihm Kublai bisher Ähnliches noch nicht verwiesen hatte.

Tae-ping aber, der alles eher als die Hilfe des vermeintlichen Todfeindes erwartet hätte, antwortete vor Erstaunen nicht gleich.

»Ich billige die Frage Marco Polos!« warf Kublai ein. »Euer eigenes Vergehen erörtern wir an einem andren Tage. Heute handelt es sich lediglich um Achmak.«

»Die Akademie sollte die Gegenleistung für die Unschuld meiner Schwester sein!« Tae-ping fauchte es in aufsteigendem Erinnerungszorn.

»Es ist wahr, ich kann es bestätigen!« Tschang und Pasepa sagten den gleichen Satz fast im selben Augenblick.

Kublai faßte die Achmaksöhne lange Zeit wortlos ins Auge. Dann tonlos, ohne den Chinesen eines Blickes zu würdigen:

»Du kannst gehen, Literat Tae-ping! Dein Verbrechen bleibt vorgemerkt.« Plötzlich dröhnend und furchtbar: »Es war die letzte Probe, ihr Elenden! Alle weiteren Zeugen sind entlassen. Alle! Ich habe genug gehört. Mehr als genug! Gräßlichster aller Höllenpfuhle!« Er sank erschöpft in sich zusammen.

Da neigte sich Prinz Dschingis besorgt und liebend gegen den Vater und flüsterte:

»Tschang und Marco Polo, väterliche Majestät! Ich bitte für sie. Ihr Übergriff war kleiner als ihr Verdienst um das Reich und die Aufdeckung dieser Verbrechen!«

»Prinz Dschingis hat recht!« Kublai erhob sich. »Mein Sohn hat mich mit vollem Rechte auf das Verdienst aufmerksam gemacht, das Tschang-li-sun und Marco Polo sich dadurch erwarben, daß sie dem Reiche Kataja erhielten und es von diesem giftigen Geschwür befreiten. Daher verzeihe ich ihnen den maßlosen Übergriff. Für ein anderes Mal aber ersuche ich euch um volles Vertrauen zur Majestät. Wer anders handelt, begeht Hochverrat!« Als Marco und Tschang sich vor ihm niederwerfen wollten, kalt und abweisend: »Auch ihr habt ihn begangen. Meine Gnade hat ihn getilgt, da ich die Zwangslage einsah, in der ihr handeltet.« Unvermittelt in ansteigendem Zorn, als sein Auge die Achmaksöhne traf: »Jetzt das Urteil über euch, deren Verbrechen nicht zu zählen sind.« Mit hallender Donnerstimme: »Achmaks Leiche wird von der Bahre gerissen und im Angesicht allen Volkes den Hunden der Straße vorgeworfen. Seine erlisteten, zusammengeraubten Schätze werden eingezogen!« Bebend und gedämpfter: »Ihr aber, Gesindel von Helfershelfern, euch wird die Haut bei lebendigem Leibe vom Fleische geschunden. Viel zu wenig für eure Untaten!« Aufbrüllend: »Faßt sie, in den Kerker mit ihnen!«

Raschelndes Laufen, geducktes Entsetzen, Aufschrei der Verurteilten. Der ganze riesige Saal summte und knisterte. Selbst Tschang und Marco waren über die Gräßlichkeit des Urteiles erbleicht. Dschingis aber war aufgesprungen und stützte den Vater, der in den Thron zurücksinkend sein Antlitz mit dem perlenbesäten Mantel verdeckte.

Kaum einen Herzschlag lang hatte es gewährt. Achmaks Söhne, gepackt von mitleidlosen Fäusten, waren schon hinausgestoßen worden.

Plötzlich blickte das Antlitz des Weltherrschers wieder gebändigt über den Raum:

»Geht alle!« sagte er mit einer Stimme, in der unbezwinglicher Ekel mitschwang. »Alle, alle, ohne jede Ausnahme. Heute kann ich keinen mehr von euch sehen, ohne argwöhnisch zu werden.« Müde: »Fürchtet nichts! Kublai ist nicht nur Herr der Welt, er ist auch Herr seines Gemütes. Aber es war zuviel für einen Tag. Geht, Freunde und Feinde, Schmeichler und Wahrheitsliebende! Geht!« Und er winkte weit ausholend mit der Hand, als ob seine Geste die Unzahl der Würdenträger wie Staub von den Fliesen des Saales fortwischen könnte. Dann blickte er, ohne mehr der Umgebung zu achten, auf einen riesigen Demanten, der an seinem Finger flirrte.

 

Li-ping-erch saß im Abenddämmern auf jener Teichterrasse, auf der Tae-ping am Tage des Achmakmordes mit Uang-tschu und Tscheng-ku gespielt und gezecht hatte.

Nahe am Geländer, so daß die Wasserkühle zu ihr heraufwehte. Sie las in einem Buche des Dichters Thu-su, legte es aber bald beiseite, da fast jedes der Gedichte in ihrer Seele neuen Aufruhr erregte.

Warum habe ich noch keine Antwort von ihm? War die Beleidigung, die ich ihm antat, zu schwer? Ich muß auch das ertragen! Mehr als für immer verloren kann ja der Geliebte nicht sein. Wenn er wüßte, wie es mich quält, daß ich nicht williger in seinen Armen lag! In jenem einzigen, unwiederholbaren Augenblick. Kann man ein ganzes Leben an der Erinnerung eines so flüchtigen Glückes zehren? Ich weiß es nicht. Dichter und Weise, deren Bücher ich besagte, sprechen mehr von der Überwindung der Leidenschaften als von solchen Dingen.

Sie stand langsam auf und sah ins Wasser. Einige bunte Mandarin-Enten schwammen in einer Reihe und vergnügten sich flügelschlagend und die Köpfe untertauchend an der Lauheit des Teiches.

Li-ping erblickte ihr Spiegelbild. Zuerst erfreute sie sich unbewußt am holden Ebenmaß der eigenen Züge. Dann aber war plötzlich ein Haß gegen sich selbst in ihr.

Wozu diese Maske? Wozu? Selbst bin ich unglücklich! Dem Geliebten habe ich wohl auch nur Schmerzen bereitet. Und so lange die Gier der Männer auf mich gezogen, bis ich den Bruder in Gefahr brachte. Wie leicht hat es doch meine von Natur minder begnadete Freundin, die bald mit Stolz, bald neidisch zu mir emporsieht und sich einbildet, ich könnte Himmel und Erde beherrschen. Sie grübelt nicht, ein treuer Gatte sorgt für sie, bald werden ihre Kinder heranwachsen. Ihr einziger Schmerz, daß sie stets um ihr Glück fürchtet und wähnt, alles zu Unrecht zu besitzen.

Warum Tae-ping noch nicht von Kublai zurückgekehrt ist? Ist gar Ma-ko-po im Gefolge des Khans? Wird er sich an Tae-ping rächen? Wer soll die Seele des heißblütigen Fremdlings kennen? Ich glaube fast, er hätte mir schon geantwortet, wenn er in der Nähe weilte.

Die Tage werden also hinschleichen, zwecklos, freudlos, einer wie der andre. Ich weiß nicht, was geschehen soll, wenn er mir geantwortet haben wird. Die letzte Verknüpfung ist dann zerrissen.

O, so leicht und schön wäre es, in den Teich hinabzugleiten, die wolkige Unfaßbarkeit des Wassers zu kosen, wenn er schon geantwortet hätte.

 

Plötzlich fühlte sie die zarte Berührung einer Hand, die sich auf ihre Achsel legte. Erschreckt fuhr sie herum.

»Das Unheil ist für uns noch nicht zu Ende, Schwester!« sagte Tae-ping, der ihr schwach lächelnd ins Auge blickte.

»Unheil? Was ist geschehen?« Ihr zarter Körper, vom vielen Leid zermürbt, begann zu zittern.

»Setz dich neben mich, Li-ping-erch!« In der Summe Tae-pings war etwas sonderbar Weiches, das mit Ausnahme Lis noch kein Mensch von ihm gehört hatte. Sie kannte diesen Ton. Auch das erschreckte sie wieder und wieder. Nicht einmal hier ein Segen. Selbst im Kreise engstverwandten Blutes der Fluch ihrer Schönheit.

Sie gehorchte wie teilnahmslos.

»Sei nicht ängstlich, Schwesterlein!« fuhr der Literat im selben Tone fort. »Ich hätte schweigen sollen! Mit wem aber sollte ich meine Geheimnisse teilen, wenn nicht mit dir? Ob es wohl Länder gibt, in denen Männer und Frauen Freunde sein können wie wir beiden? Bei uns gilt das wohl als Schande. Manchmal argwöhne ich, es mute dich lächerlich an, da es so weit vom Gewöhnlichen entfernt ist.« Er strich ihr zart über den Arm.

Sie senkte das Köpfchen und ein paar Tränen suchten verstohlen den Weg zum Schoß ihres duftigen, gestickten Kleides.

»Was meintest du mit dem Unheil?« lenkte sie sanft ab.

Tae-ping lachte kurz und schmerzlich auf.

»Gut, ich will meine Gefühle von nun an verbergen. Für mich wäre diese Freundschaft eine Schande und du empfindest sie. Es ist alles sehr verworren auf dieser Welt.« Nach kurzer Pause: »Kublai hat über die Achmakbrut ein schweres Urteil verhängt. Sie fanden aber noch Zeit, mich anzuklagen. Soll ich fliehen?«

»Ich weiß es nicht!« antwortete Li-ping tonlos.

»Ich fragte nur so im Scherze!« setzte der Literat fort, wobei schon alles Weiche aus seinen Mienen verschwunden war. »Andere Wege werde ich wählen. In einer Stunde gehe ich zu Pasepa, um mich mit ihm zu unterreden. Über mich selbst, über die Weisheit und über die Maßnahmen, die wir alle gegen die Gefahr, die uns von den Barbaren des westlichen Ozeans droht, ergreifen müssen!«

Li-ping-erch war zusammengezuckt. Barbaren des westlichen Ozeans? O, nur zu gut wußte sie, wen Tae-ping damit meinte.

»Ja, Li-ping-erch! Du hast mich verstanden! Ich sehe es!« sagte er schroff. Ein wenig sanfter: »Ich will gerecht sein, Schwester! Es ist eine Art von Wunder geschehen. Ma-ko-po selbst hat mich im gefährlichsten Augenblick bei Kublai unterstützt. Warum er es tat? Viele Erklärungen! Wenige sprechen zu seinen Gunsten. Ich habe alles überlegt ...«

»Warum darf er nicht wenigstens das eine Mal edel gehandelt haben?« Li-ping-erch hatte sich verwandelt und sah dem Bruder zornig ins Antlitz. Ihr Aufbäumen sank jedoch sofort unter seinem höhnisch befehlenden Blick zusammen.

»Warum?« Tae-ping hatte sich erhoben. »Ich werde es dir sagen, Li-ping-erch! Auch auf die Gefahr hin, daß du mich hassest und verachtest.« Mit äußerster Mühe und Erregung: »Weil er dich früher oder später ins Unglück stoßen wird. Er wird mächtiger werden als Achmak, eben weil er auch sogenannte edle Taten vollbringt. Man wird ihm wenig nachsagen können. Wie soll man ihm etwas verweigern, wenn er Kublais, Tschangs, Pasepas Unterstützung hat? Glaub mir, Schwester, ich sehe das Ende. Sehe es, weil ich dich liebe!«

Li-ping-erch war von der Wucht des Gefühles, das aus jedem Wort auf sie einströmte, überwältigt. Langsam stand sie auf und küßte leise seine Wange.

»Was verlangst du von mir?« hauchte sie.

»Nichts Unbegründetes!« erwiderte er schnell, da er sogleich seinen Sieg erkannte. »Du wirst dich wieder verbergen müssen, Li-ping-erch!« Nachdenklich: »Ich halte es für das beste, wenn du gleich jetzt in das Haus deiner Freundin übersiedelst. Wir geben hier vor, du seist nach dem Süden gereist. Inzwischen habe ich meine Angelegenheit mit dem Majestätsverbrechen geordnet und kann deine Hochzeit vorbereiten. Falls ich jedoch verhaftet würde, wäre es nicht so leicht, dich zu finden.«

Li-ping-erch erschrak zweimal bei seinen Worten, daß ihr Körper erkaltete: Bei dem Gedanken, einem ungeliebten Manne angetraut zu werden. Noch mehr aber beinahe aus der Sorge des Augenblicks, seine, Ma-ko-pos Antwort dadurch zu versäumen; so unsinnig diese Stufenfolge ihrer Angst an sich auch sein mochte.

Gleichwohl willigte sie widerstandslos ein. Denn sie hatte ein Mittel ersonnen, die ersehnte Antwort, falls sie einlangte, zu erhalten.

Der Literat aber war zufrieden. Er wandte sich ab, um alle Vorbereitungen für seine Pläne zu treffen.

 

Maffio Polo hatte schon seit langer Zeit in Kambalu ein Haus in Miete, das allen Mitgliedern seiner Familie zur Verfügung stand, wenn sie ihr Weg zufällig durch die neue Hauptstadt des Weltreiches führte. Marco Polo hatte dort gewohnt, bevor er seinen eigenen Landsitz in den Westbergen erworben hatte.

Als er mit Maffio wegen der Getreidegeschäfte an den Hoang-ho gereist war, hatte man strengen Auftrag erteilt, das ganze Haus instand zu setzen, da man voraussah, daß sie beide während der Anwesenheit Kublais in dessen Nähe weilen mußten.

Das Haus lag nahe der Mauer zwischen Alt- und Neustadt, jedoch noch in den alten Vierteln. Und zwar im Osten, nördlich vom Wohnsitze des Literaten Tae-ping. Es war durchaus nicht prunkvoll oder allzu groß. Jedoch noch immer in der Art der Wohnhäuser wohlhabender Katajer.

Als nun Marco und Maffio am späten Abend dieses Haus betraten, fanden sie schon alles belebt und wohnlich vor. Ihr Gefolge, ein Teil der tatarischen Leibwache Maffios, hatte sich im Garten an einer entlegenen Stelle die Zelte aufgeschlagen. Pferde wieherten im Stalle, und einige Diener, die, wie sich sogleich herausstellte, schon von den Westbergen eingetroffen waren, hatten es sich angelegen sein lassen, alles für die Abendmahlzeit vorzubereiten.

Dazu noch andre Diener, die weder Marco noch Maffio bekannt waren. Tschang hätte sie in höflicher Vorsicht herübergesandt, wurde den Eintretenden gemeldet.

Marco suchte in erster Reihe nach Yü und Enrico.

Sie seien sogleich nach ihrer Ankunft in Kambalu fortgegangen und noch nicht zurückgekehrt. Einkäufe. Die Herren wüßten ohnedies, wurde gesagt. Der schwarze Bonze sei anwesend.

Marco, der von der Fülle der Ereignisse äußerst ermüdet war, hatte nicht die geringste Lust, sogleich den Disput mit Fra Bartolomeo zu beginnen. Um so weniger, als sie nach der furchtbaren Gerichtstagung noch außerhalb der Westmauer die Basare durchwandert hatten, um ihre Geschäfte abzuwickeln und die Stimmung zu erkunden, die nirgends so vielfältig zum Ausdruck kam als in diesem Zusammenstrom weitgereister und mitteilungslustiger Kaufleute.

So bat er Maffio, von dessen Ermahnungen außerdem mehr zu erhoffen war, Fra Bartolomeo in die neueste Lage der Dinge einzuweihen und ihm Verhaltungsmaßregeln für die ereignisschwangere nächste Zukunft zu geben. Er selbst würde inzwischen die Erfordernisse des Hauses prüfen, sich von der Vollständigkeit aller Anordnungen überzeugen und dann kurze Zeit ausruhen.

Maffio lächelte wehmütig.

»Ich glaube, daß ich heute noch einen großen Teil der Nacht in deinem Dienste zubringen muß, mein Bürschchen. Va bene! Mein Fett komme über dich!« sagte er rätselhaft. Dann wegwerfend: »Ich werde es überleben. Mach aber keine Tollheiten, Marco! Sonst verdirbst du meinen seinen Plan. Wir brauchen nicht auszusprechen, um welche Sache es sich handelt. Addio!« Und er kehrte sich schmunzelnd ab und verschwand in das große Empfangszimmer, wo Bartolomeo wartete, wie ihm gemeldet worden war.

Marco aber schlenderte, äußerst betroffen über die Andeutungen Maffios, in den Garten hinaus.

 

Etwa zwei Stunden später. Marco Polo war zu Maffio und Bartolomeo gerufen worden, da ein kaiserlicher Bote eingelangt war. Seine Nachricht lautete nach den wilden Ereignissen des Nachmittags sehr beruhigend: Am nächsten Morgen sollte auf dem künstlichen Hügel ein feierliches Frühstück stattfinden, zu dem Maffio und Marco befohlen waren. Auch Bartolomeo sollten sie wenn möglich mitbringen, da durch den Tod Achmaks staatswichtige Fragen religiöser Art aufgerollt worden seien. Es handelte sich also anscheinend nicht um ein Fest, sondern um eine Staatsangelegenheit, die von Kublai in diese vertrauliche Form gekleidet wurde.

»Der entzückende Gedanke des Gartenfrühstücks stammt sicher vom Prinzen Dschingis oder von der ersten Gemahlin des Großkhans!« meinte Maffio, als der Bote gegangen war. »Kublais gutes Herz aber zeigt sich wieder daran, daß er sich stets zur Milde beeinflussen läßt!«

»Jetzt aber müssen wir Fra Bartolomeo ins Gebet nehmen!« erwiderte Marco fast übermütig, der eben sein verspätetes Abendessen einnahm.

Der Priester lächelte etwas sauer, als sogleich Maffio auf ihn einzureden begann.

Gleichwohl einigte man sich in längerem Disput über die wesentlichsten Punkte des Planes, der für den Vorstoß der Christen gegen die Sarazenen in Betracht kam. Schwerer war es allerdings, ein Mittel zu ersinnen, wie man Pasepa und den Buddhismus aus dem Feld schlagen könnte.

Man war noch in anregende Gespräche vertieft, als plötzlich Enrico hereinstürmte.

Marco, der schon die ganze Zeit trotz allen Interesses für die weltbewegenden Fragen unaufhörlich auf diesen Augenblick mit Ungeduld gewartet hatte, vergaß jede Form, stand mitten im Satze auf und zog Enrico wortlos in ein entfernteres Zimmer.

Maffio tat, als ob er nichts bemerkt hätte, und setzte dem Priester weiter zu.

Enrico, der genau wußte, wie sehr sein Herr auf das Ergebnis seiner Bemühungen gespannt war, ließ sich nicht erst fragen, sondern begann sogleich seinen Bericht, nachdem er sich vorsichtig umgesehen hatte.

»Zuerst, Masser! Hoffentlich ist kein Unglück geschehen. Es sind Verräter im Hause!«

»Verräter?« Marco sagte es ungläubig. »Doch!« setzte er schnell fort, »jetzt fällt mir etwas auf! Ah, ich ahne schon! Als ich im Garten draußen war, hat sich ein angeblich von Tschang gesandter Diener an mich herangemacht und behauptet, er sei bereit, an Li-ping-erch Nachricht zu überbringen.«

»Wie sah er aus?« fiel Enrico erregt ein.

»Warte einen Augenblick!« Marco sann nach. »Ja, jetzt erinnere ich mich. Er ist ungewöhnlich groß und hager und hat eine tiefe Narbe oberhalb des rechten Auges.«

»Ganz richtig!« Enrico gestikulierte. »Ganz recht, Masser! Bei der Madonna, Ihr habt dem Spion doch nicht am Ende etwas aufgetragen?«

»Fast hätte ich es getan!« Marco antwortete beschwichtigend. »Dann fürchtete ich aber, daß dadurch nur Verwirrung angerichtet werden könnte, und ich sagte ihm, daß ich keinerlei Botschaft für Li-ping-erch hätte!«

»Ausgezeichnet, Masser! Der Erzengel hat Euch beschützt. Der Kerl ist ein Vertrauter Tae-pings. Das wäre eine schöne Geschichte geworden, Masser! Wo doch jetzt alles ...«

»Genug!« Marco wurde ungeduldig. »Du hörst, es ist nichts geschehen! Jetzt will ich endlich wissen, was du zustande gebracht hast!«

»Recht habt Ihr, Masser, tausendmal recht! Ich fange jede Erzählung von der verkehrten Seite an. Es wird einmal mein Verderben sein!« Stolz: »Viel habe ich erreicht, unendlich viel!«

Marco, der wußte, daß solche Ausdrücke im Munde Enricos niemals einer Grundlage entbehrten, wurde von freudiger Hoffnung erfaßt. Zuerst die Einladung Kublais, jetzt ein Weg zu Li-ping-erch! Soll ich nicht gläubig und selbstvertrauend werden? Wieder löst das Geschick spielend Verwicklungen, die vor Stunden noch hoffnungslos unentwirrbar schienen.

»Also hört, Masser! Ich will mich kurz fassen, obwohl die Sache sehr schwierig war. Es ist mir mit Hilfe Yüs gelungen, herauszufinden, daß das edle Fräulein noch heute abends zu ihrer Freundin übersiedelt. Alles wissen wir. Der Gatte der Freundin ist auf einer Reise in der Provinz. Li-ping-erch selbst wird mit ihrer Dienerin im Gartenpavillon wohnen. Das heißt, sie dürfte schon dort sein. Die Base Yüs aber wird auf ein verabredetes Zeichen die Gartentür öffnen. Tae-ping verbringt die Nacht bei Pasepa und wird kaum in das Haus der Freundin gehen, da dadurch ja das Versteck des Fräuleins preisgegeben würde. Vor Euch, Masser, soll das Fräulein verborgen werden, behauptet die Base Yüs, die gelauscht hat, als Tae-ping mit der Schwester sprach ...«

»Wo ist Yü?« fiel Marco Polo ein, der in höchster Erregung den bedeutungsvollen Bericht angehört hatte. Er gab sich keine Mühe, seinen Seelenzustand vor Enrico zu verbergen.

Enrico kraute sich verlegen eine der Narben seines kahlgeschorenen Kopfes.

»Ja, das ist so eine Sache, Masser! Ich wollte nur zuerst das Angenehme erzählen!« Rasch: »Sie ist hier, Masser, selbstverständlich! Ich meinte etwas andres.«

Marco verstand nicht, worauf Enrico anspielte.

»Drück dich etwas deutlicher aus!« erwiderte er schroff. »Wie du siehst, habe ich weder Zeit noch Laune, mir über dunkle Andeutungen den Kopf zu zerbrechen!«

Enrico, der sogleich wehmütig zusammenknickte, sah den Herrn jämmerlich an:

»Es war nicht anders zu machen, Masser!« stotterte er.

»Was war nicht anders zu machen?« Marco begann irgend ein gefährliches Hindernis oder gar eine Gewalttat Enricos zu fürchten.

»Einmal muß es ja gesagt werden!« Enrico hatte sich mit aller Anstrengung zum Geständnis aufgerafft. »Also hört, Masser! Hört und werft mich hinaus, entlaßt mich, bestraft mich, wenn Euch etwas nicht zusagt! Ich habe für Euch eine Verpflichtung übernommen, mußte sie übernehmen!«

Eine Ahnung blitzte in Marco aus. Ah, sicher hatte die kleine Yü sich für die Hilfe irgend einen Lohn bedungen. Wenn dieser Lohn die ganze Hilfe nur nicht fruchtlos machte?

»Was hat Yü verlangt?« fragte er ohne Umschweife.

Enrico wurde rot vor Erstaunen.

»Ihr seid ein Gedankenleser, Masser, ein Zauberer!«

»Vorwärts, sprich schnell, ich habe keine Zeit!«

Der Riese zögerte noch einen Augenblick. Dann machte er mit der Hand eine wegwerfende Geste und polterte empört heraus:

»Sie hat zuerst jede Mithilfe verweigert. Sogar gedroht, sie werde alles verraten. Nichts fruchtete. Als ich Gewalt anwenden wollte, hat sie mit einem vergifteten Pfeil umhergefuchtelt. Ich kenne das. Von dem Pfeil erzähle ich später. Also sie hat sich geweigert, sagte ich. Benissimo! Was war da zu machen? Plötzlich hat sie behauptet, es gäbe ein einfaches Mittel, ihre volle Unterstützung zu gewinnen. Was das sei, fragte ich. Nun, es sei sehr einfach, meinte sie. Der edle Herr ›Ma-ko-po‹, wie Euch hier diese zungenschwachen Bösewichter nennen, müsse sie als Nebenfrau behalten, wenn er Li-ping heirate.«

Marco fuhr auf. Schon wieder Heirat! Konnten sich diese Leute denn keine Liebe ohne Pomp und Zeremonie denken? Yü hatte es am letzten notwendig, in dieser Hinsicht anspruchsvoll und peinlich zu sein! Pfui, Marco! Sehr häßlich und undankbar. Du hast das arme Geschöpfchen gierig in die Arme genommen, als du es brauchtest. Es ist auch sonderbar, von einem liebenden Mädchen Kupplerdienste zu verlangen. Yü hat ohnedies schon große Verdienste um meine Liebe zu Li-ping-erch. Wer hat mir von der Pagode gesagt? Wer hat Li-ping von meinen Fieberphantasien erzählt?

Enrico, der Marco befangen anstarrte, stammelte:

»Ohne Yü war nichts zu holen! Zumindest heute. Da habe ich ihr die Zusage gegeben. Als sie mich fragte, ob Ihr, Masser Marco, Euch dadurch gebunden fühlen würdet, habe ich gelogen und gesagt, ich hätte Vollmacht zu solchen Erklärungen!« Er sah zu Boden.

Marco knirschte mit den Zähnen. Ja, tausendmal recht hat er. Enrico hat recht. Es war die einzige Möglichkeit. Was aber soll ich tun? Meine Liebe vorweg mit vertraglicher Untreue belasten?

Enrico ist verzweifelt. Ich muß ihn trösten!

»Du hast alles sehr schlau eingeleitet. Sehr brav von dir, Enrico!« sagte Marco mit erzwungener Ruhe. »Jetzt aber will ich Einzelheiten wissen. Also kurz zusammengefaßt: Hier im Hause ist ein Spion Tae-pings. Den wirst du auf dich nehmen und sicherstellen. Am einfachsten, du läßt ihn durch zwei Soldaten unter einem Vorwand zu Tschang führen, und wenn sich ergibt, daß er nicht vom Minister gesendet ist, wird er bis morgen ins Verließ gesetzt. Wenn er aber von Tschang kam, lasse ich bitten, ihn dort zu bewachen, da er sich verdächtig gemacht habe. Weiters: Li-ping-erch selbst weiß noch gar nichts. Der Zutritt zu ihr ist aber offen und beinahe ohne Gefahr zu bewerkstelligen. Was endlich Yü betrifft, ist das eine Sache, die erst später spruchreif wird. Denn eine Nebenfrau setzt eine erste Gemahlin voraus. Außerdem steht der Grad der Liebesbezeugungen zu einer Nebenfrau wohl im Ermessen des Herrn! Habe ich alles richtig wiedergegeben?«

»Bei der Madonna, Herr! Ihr wäret immer klug, hier im Osten aber seid Ihr ein Weiser geworden!« Enrico war sichtlich erlöst und erfreut.

Marco jedoch überdachte noch schnell, bevor er weitere Fragen stellte, die Erfordernisse der nächsten Stunden. Herrlich berechnet, alles stimmt aufs Haar! höhnte es in ihm. Mit einer einzigen kleinen, ich möchte sagen, unwesentlichen Ausnahme. Es ist nämlich einigermaßen ungeklärt, wie sich Li-ping-erch selbst zu meinem nächtlichen Überfall stellen wird. Ihr gegenüber habe ich die Sicherheit des unbezwinglichen Eroberers, die ich sonst Frauen gegenüber stets hatte, gründlich verloren. Was waren das aber auch für Frauen? Francesca besaß ich nie, Melissa hat sich aus Güte und Laune geopfert. Alle übrigen waren Sklavinnen und Dirnen. Oder nahe daran.

Plötzlich trat der Brief in sein Gedächtnis. Da strömte unendliche Liebe, heißes Begehren in ihm herauf. Sie liebt mich ja! Sie liebt mich! Was sollte da noch ein Hindernis sein? Verwirrt bist du, Marco Polo, und töricht. Schwankender, als du in deiner frühen Jugend warst. Wenn ein Kublai sich heute meiner echten Liebe beugte, warum dann nicht ein liebendes Weib? Aber besitzen will ich dich, bevor ich dich heirate, Li-ping-erch! Heute noch. Sonst kann ich nicht an deine Liebe glauben. Es ist toll, satanisch, widerspricht den einfachsten Regeln gesitteten Lebens. Ich weiß es. Stärker aber ist der Wille in mir als die Gründe des Verstandes. Fürchte nichts, Li-ping-erch! Es ist kein Betrug. Ich werde dich heiraten. Aber nicht vorher, sondern nach der Vereinigung!

Rote Flecken hatten sein Gesicht überhuscht. Seine Zähne schlugen gegeneinander.

Mit heiserer Stimme richtete er an Enrico die erste Frage über die Einzelheiten des Planes.

 

Das Kloster der »tausend Buddhas« war ein weitläufiges Steingebäude, eingefügt in hohe verhüllende Gärten. Es lag im westlichen Teile der Altstadt.

Schon seit geraumer Zeit saß Tae-ping in der ihm so wohlbekannten Zelle Pasepas, die an Kahlheit ihresgleichen suchte.

Pasepa hockte an einer der Längsmauern auf einer Strohmatte und blickte ruhig und abgeklärt vor sich hin. Für den Literaten hatten jüngere Ordensbrüder einen kleinen Sessel hereingebracht, damit er in seinen Gewohnheiten nicht gestört würde.

Der Gegenstand ihrer Unterredung hatte mehrmals gewechselt. Die erste Sorge galt natürlich der Anklage, gegen die Pasepa seinen jungen Freund bei Kublai wirksam zu verteidigen versprach. Dann mengten sich allgemeine Themen ins Gespräch, wurden zergliedert und entführten die beiden in endlose Dispute. Schließlich fand man mit Mühe in die Gegenwart zurück, ohne jedoch lange bei einer Sache nüchterner Wirklichkeit verweilen zu können.

Tae-ping war plötzlich ungewöhnlich ernst, fast traurig geworden.

»Versteht Ihr es, edler Pasepa,« begann er mit abgewandten Augen, »versteht Ihr es, was es heißt, Lebensziele hoffnungslos ohne eigene Schuld vor sich zerschellen zu sehen?«

»Wer von den Leidbeladenen hätte es nicht erlebt?« fragte der Tibeter, dessen Bettelschale unter einer leichten Bewegung leise klapperte. »Oder besser,« setzte er fort, »wer von den Menschen steht außerhalb solchen Schicksales? Nur der, der alles von sich warf, ist frei von der Gefahr, die Ziele des Diesseits einzubüßen, ziellos zu wandern und zu verzweifeln!«

»Ich sehe, daß Ihr mich mißversteht!« Tae-ping geriet in leidenschaftliche Erregung. »Es gibt nämlich Ziele, die ein Zwischending sind von Diesseitigem und Ewigem. Nicht ganz Erde, nicht ganz Himmel. Ich will deutlicher reden. Ich meine die Wissenschaft, die Grade der literarischen Stufenleiter. Nicht als Sprungbrett zu äußeren Würden. Als Selbstzweck, als Selbstbestätigung!« Verzweifelt: »Nie, nie werde ich es verwinden, daß mir der Hanlin-Grad für alle Zeiten versagt ist! Mein erster Kindheitswunsch galt diesem Ziel, mein letzter Wunsch wird ächzend nach dieser Ehre rufen!«

Pasepa, dessen gütiges Antlitz sich in tausend Fältchen des Mitleides runzelte, war aufgestanden.

»Ich will nicht mit Euch rechten!« sagte er leise. »Ich kann irren, wenn ich den Wunsch, der Euer Leben erfüllt, auch nur als rein irdisch ansehe. Sei dies wie immer! Wo ich kann, werde ich Euch helfen. Vielleicht entschließt sich einmal Kublai, die Akademie wieder ins Leben zu rufen ...« Ablenkend: »Ich sprach von Kublai. Ich muß Euch Wichtiges mitteilen!« Und er ging langsam zur Tür und verließ den Raum.

Der Literat aber, der aus den Worten Pasepas plötzlich den winzigen Keim einer kühnen Hoffnung geschöpft hatte, blickte in verbissenem Willen zu Boden. Ein Satz Pasepas hatte ihm unerwünschte Erkenntnis zugeworfen: »Wer von den Leidbeladenen hätte es nicht erlebt?« Hatte nicht er selbst seiner Schwester, die er so heiß liebte, das Ziel ihres Lebens, ihrer irdischen Seligkeit ohne Bedenken vernichtet? Gewiß nur ein kleines Ziel, ein gewöhnliches, in diesem Falle sogar ein verwerfliches Ziel. Doch aber vielleicht Inhalt eines Lebens! Was hatten Li-ping und er verbrochen, daß sie beide unglücklich sein mußten?

Zu wild ist unser beider Gemüt, zu wenig ausgeglichen mit dem heiligen Tao, der Weltharmonie! stellte er halb verzweifelt, halb höhnend fest. Oder ist das Tao nur eine äußere Erscheinungsform all derer, die mich umgeben und auf mich den Eindruck der Abgeklärtheit machen? In Wahrheit aber sind sie alle elend und beladen mit Leid?

 

Pasepa war inzwischen wieder hereingekommen. Er trug ein großes Buch in der Hand und blickte den Literaten mit all der Güte an, die seiner mächtigen Gestalt in der gelben Kutte förmlich zu entströmen schien.

»Es ist mir gelungen,« sagte er, indem er sich in die Stellung des Erleuchteten niederließ, »die heiligen Bücher der Männer des westlichen Ozeans aufzufinden. Vor tausend Jahren, damals als sich das Mittelreich noch weit gegen Westen erstreckte, mag sie ein gelehrter Mann dort entziffert und in unsre Sprache übertragen haben.«

Tae-ping horchte auf. Wozu beschäftigte sich Pasepa mit dieser sicherlich verruchten Lehre? Um sie zu billigen, zu durchforschen? Oder um sie zu widerlegen? Haß erhielt in seinem Gemüte sogleich die Oberhand über Schmerz und Ergebung.

»Kublai hat mir nämlich heute nach dem furchtbaren Gerichte mitteilen lassen, daß er jetzt endgültig die Frage der Religion entscheiden müßte. Ich war auf ähnliches vorbereitet. Daher habe ich schon vor langer Zeit nach diesem Buche gesucht, um es wirksam bekämpfen zu können.«

»Das wird wohl nicht schwer sein!« warf Tae-ping verächtlich ein.

Pasepa sah ihn erstaunt an.

»Ich verstehe Euch nicht ganz, Tae-ping!« erwiderte er fast verweisend. »Soviel ich aber gesehen habe, enthält dieses heilige Buch nur Dinge, die auch der Erleuchtete selbst gesprochen haben könnte.« Fest: »Es wird sehr schwer sein, Freund Tae-ping!«

»Nun, ich kann irren!« Der Literat schürzte die Lippe. »Jedenfalls entnahm ich den Wert der Religion aus den Taten und der Lebensweise ihrer Anhänger!«

»Was meinst du?« Der Unmut Pasepas über die Heftigkeit Tae-pings wuchs.

»Ich hätte nichts erwähnt!« Die Augen des Literaten begannen plötzlich zu flackern. »Jetzt bleibt mir wohl nichts andres übrig, als Euch alles mitzuteilen!« Zischend: »Einen Gaukler und Schwindler hat Euch der schwarze Bonze genannt! Alle Eure Wunder seien Teufelswerk und Taschenspielerkünste! Die anderen Unflätigkeiten, die er Euch nachsagte, sind mir entfallen.«

Pasepa senkte betrübt den Kopf.

»Das gleiche berichtete mir Achmak. Ich glaubte es nicht!«

Tae-ping aber, der sogleich erkannte, daß seine Zwecke nahe der Erfüllung waren, sprach schnell weiter:

»Ihr seid verpflichtet, Pasepa, auch dieser Glaubenslehre das Handwerk zu legen! Gut, ich gebe zu, daß die heiligen Bücher alles Edle enthalten mögen. Was aber soll aus dem Mittelreich, aus dem Osten werden, wenn ein Glaube zur Herrschaft gelangt, bei dem Lehre und Leben einander ungestraft widersprechen dürfen? Wo bleibt da die Sicherheit? Der Aufstieg der Menschen zur Harmonie, zum Nirwana, wie Ihr es nennt?«

Pasepa unterbrach die feurige Anklage:

»Genug, Freund Tae-ping! Ich weiß genug! Ich werde alles tun, um meiner eigenen Lehre treu zu bleiben und Kampf und Gehässigkeit zu vermeiden. Nur die Wahrheit soll siegen. Kublai aber darf nicht wähnen, daß wir Gaukler und Betrüger sind. Dieser Vorwurf muß zum Heil der Welt von meinen Brüdern genommen werden. Denn die letzte aller Seligkeiten können doch nur wir vermitteln!«

»Und was werdet Ihr tun?« Tae-ping fragte es in kaum verhaltener Erregung.

»Das werden mir die Umstände vorschreiben, Tae-ping! Zum Angriff will ich keineswegs schreiten. Ihr werft den westlichen Männern mangelnde Übereinstimmung von Leben und Lehre vor. Mir liegt daran, von solchen Vorwürfen frei zu sein. Ich hoffe, daß Ihr diese Ansicht billigt.«

Der Literat antwortete nicht. Er bemühte sich, seinen leidenschaftlichen Haß, der ihm das klare Denken trübte, zu überwinden, und leitete mit äußerster Willensanstrengung das Gespräch wieder auf Fragen der Philosophie hinüber.

 

Eine verschlossene Sänfte hatte Marco Polo zu dem mit Enrico vereinbarten Platz gebracht.

Es war kurz nach Mitternacht. Als Marco dem Palankin entstieg, merkte er erst, wie klug der Ort gewählt war. Eine verlassene Gegend in der Nähe eines schweigenden Tempelbezirkes. Tiefe Dunkelheit. Zu linker Hand schien sich eine Wiese zu erstrecken. Rechts die Umrisse von Gartenmauern und Bäumen, die gegen den Sternenhimmel erkennbar waren.

Marco wartete, bis die Schritte der Sänftenträger in der Feme verhallt waren. Dann ließ er seinen leisen Pfiff ertönen, der das Geräusch eines Nachtvogels nachahmte.

Keine Antwort. Sollte Enrico noch nicht hier sein? Oder sind meine Sänftenträger doch vom richtigen Wege abgekommen? Ist das gar nicht der verabredete Platz?

Jedenfalls war Vorsicht notwendig.

Er ging also zuerst einige Male eine kurze Strecke der Mauer entlang, kehrte um, versuchte es neuerdings.

Dann, schon ungeduldig, weiter in der Richtung, in der das Endziel liegen mußte.

Noch immer nichts. Er besorgte, durch allzuoft wiederholte Pfiffe unerwünschte Zeugen anzulocken. Plötzlich überkam ihn Angst, da er im Wirrsal der Gedanken die Länge der zurückgelegten Strecke vergessen hatte.

Da, knapp vor ihm, ein Schatten, der sich über die Gartenmauer auf die Straße schwang. Marco blieb augenblicklich stehen und hielt den Atem an. Denn der Schatten war spurlos verschwunden.

Schon überlegte er, ob er nicht doch wieder das Zeichen wagen sollte, als es unvermittelt hinter ihm halb links aus der Wiese klar und deutlich herüberklang.

Kein Zweifel! Enrico! Aber war der Schatten auch Enrico gewesen?

Marco antwortete mit seinem Zeichen.

Im nächsten Augenblick stand der Riese neben ihm und faßte ihn zart am Arme.

»Warst du die Gestalt, die vor mir über die Mauer sprang?« flüsterte Marco.

»Gewiß, Masser!« kam es ebenso leise zurück. »Ich bin aufgehalten worden!« ergänzte er hastig. »Bei Tschang-li -sun. Der Minister hat allerlei Bedenken gehabt, da er angeblich für die Verläßlichkeit des ihm bekannten Dieners des Herrn Tae-ping haften kann. Ich mußte erst Lügen ersinnen, ehe er mir gestattete, das Galgengesicht wieder mitzunehmen und von unsren Tataren einkerkern zu lassen.«

Marco Polo, der nur mit halber Aufmerksamkeit zuhörte, ging schon in die ersehnte Richtung weiter.

»Das mit dem Diener werden wir morgen ordnen!« sagte er abschließend. »Ist sonst noch eine Gefahr oder ein Hindernis?«

»Nichts dergleichen! Ausgenommen, Masser, daß Ihr einen falschen Weg einschlagt.« Enrico war froh, keinen Tadel zu erhalten. »Wir werden diese Wiese überqueren!« flüsterte er erläuternd.

»Gut, führe mich!«

 

Nach längerem, schweigendem Wege über Wiesen und öde Plätze waren sie in belebtere Gegenden gekommen. Dunkelheit zwar auch hier. Doch blitzte schon ab und zu ein Lichtschein aus Gärten oder halbverschlossenen Fenstern. Und manches Laternchen verspäteter Fußgänger torkelte einsam über dem Spiegel der breiten Straße.

Da sie selbst keine Lampions trugen, wich man ihnen aus. In dieser Gegend, in die sich die Scharwachen nur selten verirrten, war ein Überfall durch Räuber eine gefährliche Sache. Und es schienen zumindest verdächtige Gesellen zu sein, die ohne Licht umherschlichen.

»Wir sind am Ziel!« flüsterte plötzlich Emico nahe am Ohr seines Herrn.

Da wurde es Marco erst voll bewußt, worum es ging. Wie im Traum war er bisher Enrico gefolgt, hatte sich absichtlich fast willenlos leiten lassen. Und hatte versucht, alles für unwirklich zu halten, um sich seine Kraft für die Entscheidung aufzusparen.

Irgend ein Duft, eine Stimmung erinnerte ihn unvermittelt an seinen ersten Besuch bei Melissa. Der ganze Inhalt seiner damaligen Gefühle stieg in ihm empor. Wird es so herrlich, so märchenhaft enden, wie damals im maurischen Palazzo? Nur keine törichte Hoffnung! Um wieviel aussichtsreicher, wie viel mächtiger war er als Jüngling vor dem Unerforschten, Unerlebten gestanden, als jetzt vor diesem Rätsel Li-ping-erch! Abstieg! Mein Leben ist ein Abstieg, eine Kette von Schwächung und Hinabsinken! Für selbstverständlich hielt der Jüngling trotz alles Bebens das glückliche Ende. Der Mann sieht das Janusantlitz des Wagnisses ...

»Wir dürfen hier nicht stehenbleiben, Masser!« raunte Enrico, da von fern wieder ein Lampion sichtbar wurde.

Marco fuhr aus seinen Gedanken auf.

»Folgt mir!« setzte Enrico fort. »Aber Vorsicht! Kein noch so leises Geräusch, bis wir die Hauptgebäude weit genug im Rücken haben!« Damit schlich er zu einer niederen Pforte voran, an der er mit äußerster Behutsamkeit scharrte, daß es klang, als ob ein Schritt vorbeischlurfte.

.Es währte noch endlose Augenblicke, ehe sich die kleine Tür von innen öffnete.

»Schnell!« hauchte es irgendwoher aus dem Gebüsch. Dann standen sie beide plötzlich auf einem plattenbelegten Weg, der zwischen Bäumen ins Unbestimmte lief. Wenigstens schien es so. Deutlich konnte man nichts wahrnehmen.

Marco versuchte die Erregung vor sich selbst zu leugnen. Vergeblich. Sein Herz pochte derart ungebärdig, daß er das Rauschen des eigenen Blutes für fremde Stimmen hielt.

Eine unsichtbare Führerin leitete Enrico. Ab und zu blinkte im Rest des Sternenscheines ein helles Gewand auf, dem sie rasch folgten.

Plötzlich ein freierer Ausblick. Weit vor ihnen, jenseits eines unbestimmbaren Zwischenraumes, ein weicher, gedämpfter Schimmer. Felderwerk chinesischer Fenster.

»Das Ärgste ist überwunden!« flüsterte Enrico.

Marco hätte in jähem Umschwung seiner Gefühle fast herausgelacht. Biederer Enrico! Dir ist die Welt wohl wenig geheimnisvoll. Du magst recht haben. Aber für mich wird das Gefahrvollste erst beginnen, wenn ich jenen Pavillon betrete, dessen Umrisse sich jetzt schon deutlich vom Himmel abheben.

Die Führerin betrat schon den gepflasterten Raum, der den Pavillon umgab. Marco sah sie knapp vor sich. Ein kleines chinesisches Mädchen. Ihre Dienerin. Unverkennbar. Ich habe sie schon in der Pagode gesehen. Sie ist der allzutreuen Yü ungemein ähnlich.

Nein, ich will nicht an Yü denken! Sonst lähmt ihre Bedingung meine Taten. Was soll ich tun? Soll ich Li-ping eingestehen, um welchen Preis ich das Abenteuer erkaufte?

»Ich habe eines nicht bedacht!« raunte unvermittelt das Mädchen. »Wie wollt Ihr eintreten, edler Herr, ohne die Herrin zu erschrecken?«

»Ich weiß es nicht!« Marco Polo, betroffen über den selbstverständlichen Einwand, blickte sinnend zu Boden.

»Ist sie noch wach?« fragte Enrico dazwischen, da auch er keine Lösung sah.

»Gewiß!« antwortete die Dienerin. »In keiner der letzten Nächte hat sie vor dem Morgengrauen Schlaf gesucht!«

Da, ein leiser, dunkler Ton eines Gongs. Noch einer.

Marco und Enrico erschraken.

Das Mädchen aber sagte schnell:

»Die Herrin ruft nach mir! Wartet unter den Bäumen! Ich komme gleich wieder. Vielleicht ersinne ich inzwischen eine Möglichkeit ...«

»Halt, Mädchen!« Marco hatte sie am Handgelenk gefaßt. Mit unterdrücktem Jubel: »Ich weiß die Lösung! Ihr bleibt hier, ihr beide! Bewacht den Umkreis und warnt mich im Augenblick einer Gefahr. Ich aber gehe hinein!«

»Es wird dadurch nichts besser! Hütet Euch, Herr! Das edle Fräulein wird um Hilfe rufen. Dann ist alles verloren!« Sie versuchte, sich dem Griffe Marcos zu entwinden.

»Überlaßt es mir! Keinen Widerspruch! Öffne die Tür, Mädchen!« Und er war schon mit raschem Schritt an der Wand des zierlichen Pavillons.

Die Dienerin aber, die noch immer mit sich kämpfte, schob schließlich zitternd und gehorsam die Tür ein wenig zurück.

 

Marco hatte den kleinen Vorraum durchschritten. Nur ein gestickter Vorhang trennte ihn noch von der Geliebten. Er klammerte sich an eine leise Hoffnung: Sie wird mir nicht entgegenblicken, wenn ich den Raum betrete. Versonnen sieht sie in ein Buch, liest Gedichte ...

Wie körperlich stand dieses Bild vor ihm. Entschlossen schob er den Vorhang zurück und schaute geblendet in die Helle des bunten Raumes.

Zuerst fand er sich nicht zurecht.

Plötzlich jubelte es in ihm auf. Doppelt war sein Jubel. Wirklich saß sie dort unter der bemalten Lampe an einem Tischchen und wendete ihm halb den Rücken. Nein, sie liest nicht, sie schreibt. Wie ihre lieben Fingerchen den Pinsel halten ...

Ein Strom toller Liebe durchbrauste ihn. Noch faßte er es nicht, daß dieses Traumbild Wahrheit war.

Da, ein Gedanke. Ein heiterer, bunter Gedanke. Er machte einen leisen Schritt ins Zimmer und kniete still nieder, während seine Arme sich wie verlangend nach dem Bilde streckten.

»Warum mußte ich mehrmals den Gong schlagen, bis du endlich kamst, Lo?« Li-ping sagte es vorwurfsvoll vor sich hin, ohne im Schreiben innezuhalten.

Marco, der sich nicht bewegte, war am Rande seiner Beherrschung, als er die Stimme vernahm.

Einige Atemzüge verrannen.

»Warum antwortest du nicht?« Der Pinsel stockte. Li-ping wandte sich jäh herum.

Da verließ Marco das volle Bewußtsein. Ein Gefühl jenseitigen Schwebens bannte ihn und nahm alles Körperliche aus seinem Gemüte. Entrückt strahlte sein Antlitz ihren Augen entgegen, die weitgeöffnet sich das Unfaßliche zu deuten versuchten.

Für beide aber war der Lauf der Zeit unterbrochen.

 

»Ihr seid gekommen, Ma-ko-po?« Ein immer noch verständnisloser Hauch war ihre Frage, die zuerst die wogende Stille zerbrach.

Der Klang aber genügte, um die Herrschaft des Mannes über seine Seele wieder aufzurichten. Mit einem Lächeln, in dem alle Wahrheit seines Herzens lag, antwortete er leise und heiß:

»Ich erwidere den Besuch, edle Li-ping-erch, mit dem du mich beglücktest, bevor die Wolken heranzogen! In mir aber leuchtet der Mond, Li-ping-erch ...«

Li-ping bedeckte ihr süßes Antlitz mit den Händen. Ihre Finger bebten, daß Marco erschrak.

Nur einen Herzschlag währte ihre Fassungslosigkeit. Schon hatte sie sich erhoben und trat mit gesenktem Köpfchen einen Schritt näher.

In ihrem Ton aber lag unendliche Trauer und Seligkeit zugleich, als sie sagte:

»Ich frage nicht, zürne nicht, juble nicht, Ma-ko-po! Steh auf, Geliebter!« Und sie neigte ihr Antlitz noch weiter vor und schloß die Augen.

Was soll ich tun? zitterte es in Marco Polo. Nein, keine Bedenken! Jetzt geht es um alles!

Und er schnellte lautlos empor und umschlang sie in heißem Begehren. Im letzten Augenblick dämpfte er die Urkraft, die aus ihm hervorbrach, zu inniger Zärtlichkeit.

Ganz leise zuckte ihm Widerstand entgegen. Doch nur für einen Atemzug. Dann aber, als er sich gebändigt hatte und in seinem Ansturm nachließ, drängte sich plötzlich schüchtern ihr Leib an ihn heran. Unendlich keusch und hold. Und ihre Lippen suchten sein Antlitz und bedeckten es mit kindlich reinen Küssen. Bis sie fest geschlossen an seinem Munde ruhten und erbebend sich bäumten.

In Marco aber, der den Anfang des Sieges fühlte, tauchte aus all dem Berauschenden eine flackernde, klare Gedankenkette auf. Hüte dich! rief es ihm zu. Hüte dich, Marco Polo! Zerstöre nicht den Traum, wie damals im Fieber. Langsame Steigerung deiner Leidenschaft wird sie dir unterwerfen. Tausend Weiber! Auch du bist mir verfallen, Geliebte! Heute noch!

Und mit furchtbarer Willensanstrengung zertrat seine Bewußtheit die züngelnden Flammen der Gier, die von allen Seiten emporglühten. Kaum merklich zog er den zitternden Leib der Jungfrau stets enger und enger an sich und löste seine Lippen leise vom Duft ihres Mundes, um sie in den Angriff hinüberzuzwingen.

Schon waren ihre Sinne entfacht. Wonniges Versinken zerschmolz ihren Widerstand zu süßer Wehmut, und der schmerzende Mangel, der ihren Leib durchwehte, versuchte dürstend, von seinem Munde Linderung zu trinken und sich an seine Kraft zu ranken.

 

Da, ein jähes Erschrecken. Ein peitschendes, gellendes Erschrecken. Was war es? Ein Ton, ein kalter Lufthauch? Oder die kosende Hand des Geliebten?

Was ist es? Ich weiß es nicht! Keinen Kuß mehr! Ich bin verloren, verfallen! Verzeih mir, Geliebter! Später! In einer Stunde! Ich fürchte mich, daß mein Leib von Kälte überschauert wird!

Sie stieß einen dünnen Schrei aus, leise wie ein kleiner Vogel, der durch den Schlaf das Heranschleichen des Marders fühlt.

Marco lockerte für einen Augenblick die Umarmung, die sie umfing.

Schon entglitt Li-ping, die sich sanft, doch unaufhaltsam seinen Armen entzogen hatte.

Verständnislos, noch im Schauer naher Erfüllung, blickte er auf die Geliebte, die wie erstarrt mit schlaffen Armen vor ihm stand und in flehender Angst seine Miene durchforschte.

»Was tat ich dir, Li-ping? Liebst du mich nicht?« keuchte er mit gepreßter Summe heraus, während seine Augen in hervorbrechender Leidenschaft zu glühen begannen. Schon bebte alles an ihm, sie in letztem Ansturm an sich zu reißen.

Plötzlich ein sonderbarer Ton aus ihrem Munde. Eine abgrundtief klare und traurige Stimme:

»Gibt es in der Liebe keine Gnade, Ma-ko-po? Ich bin wehrlos, Geliebter! Du weißt es ...«

»Ich verstehe dich nicht!« flüsterte er heiß, während er sich näherte.

»Gnade, Ma-ko-po! Gnade!« Noch schmerzlicher, noch zerrissener: »Später, Geliebter! Nicht jetzt!« Verwehend: »Hat nur ein Mörder Hoffnung auf Großmut?«

Marco erschrak über den todestraurigen Blick, der ihm entgegensah.

Seine Liebe besiegte das Begehren.

Um Gottes willen! Was geschieht? Sie wankt!

Und er sprang hinzu und sing sie zart und fest in seinen Armen auf und trug sie wie ein Kind auf ihr Lager.

Vertrauend schmiegte sie sich sogleich an ihn und streichelte bittend seine Wange, während er von tausend Fragen durchwogt am Rande des Lagers saß.

»Ich danke dir, edler Geliebter!« flüsterte sie noch immer bebend. »Jetzt liebe ich dich erst wahrhaft!« Und sie preßte das zierliche Händchen an sein heißes Antlitz. »Du weißt nicht, Geliebter, was meine Pflicht gewesen wäre, wenn ...« Sie stockte beschämt. Plötzlich gefaßt und klar: »Ich bat um deinetwillen, Ma-ko-po! Denn niemals hätte ich es länger als eine Stunde überlebt!«

»Was sprichst du?« Marco fuhr entsetzt auf.

»Es ist so, Geliebter, wie ich es sage!« erwiderte sie sanft und ergeben. »Wie auch hätte ich mit dem Gefühl weiterleben können, nie mehr dein Weib sein zu dürfen?« Mit ersterbender Stimme: »Und nie mehr zu den Ahnen meiner Eltern zu beten, ohne vor Scham zu vergehen!« Leise wehrte sie ab, als Marco sie unterbrechen wollte. Kopfschüttelnd: »Ich weiß, Geliebter, daß du das nicht verstehen kannst. Selbst hier in meinem Lande begreifen es nicht alle voll und ganz. Es ist die Weltharmonie, Geliebter, die mir mein Handeln vorschreibt.«

Marco, dessen Gedanken am Rätsel dieser Seele zerschellten, machte eine Bewegung, als wollte er sich erheben.

»Bleib noch bei mir, Geliebter!« flüsterte sie ängstlich. »Ich habe dir noch viel zu sagen! Auch kosen sollst du mich! Nur nichts begehren, das uns das Morgen vernichtet!«

Marco verharrte für kurze Zeit in Schweigen, da ihre Stimme ihn tief erschüttert hatte. Plötzlich ein Entschluß:

»Du sprichst von der Zukunft, Li-ping-erch. Werde ich dich je wiedersehen? Soll ich mein Leben ohne Erfüllung beschließen, wenn uns wieder das Schicksal trennt?«

Da richtete sich Li-ping-erch auf und sah ihm stolz und fest in die Augen:

»Ich will dein Weib sein, Ma-ko-po! Dein Mut und deine Weisheit werden dir den Weg zeigen!« Langsam und feierlich: »Wenn aber das Schicksal es nicht gewährt, dann werde ich zu dir finden, Ma-ko-po. Du wirst nicht sterben, Geliebter, ohne Li-ping-erch schrankenlos besessen zu haben. Denn auch Li-ping-erch kann nicht sterben, ohne in den Armen des einzigen gelegen zu sein, den sie liebte und lieben wird!«

Sie faßte den Kopf Marcos mit beiden Händen und preßte ihre Lippen in heiligem Schwur auf seinen Mund. Seine Augen aber füllten sich mit Tränen, da er zum erstenmal im Leben den höchsten Schauer der himmlischen Liebe ahnte.

 

Als Tae-ping, eingesponnen in ein Wirrsal von Gedanken und Überlegungen, kurz vor Morgengrauen sein Haus betrat, wurde ihm gemeldet, ein Fremder erwarte schon länger als eine Stunde seine Heimkehr.

Wer konnte es sein? Ma-ko-po wird doch nicht die Kühnheit besitzen, bei mir einzudringen? Er fragte scharf und erregt. Die Beschreibung, die man ihm gab, paßte eher auf Ma-fo.

Ich habe ihn eingeladen. Es ist nichts zu ändern. Aber jetzt, zur Nachtzeit? Ist es Sitte bei den Barbaren, um solche Stunde Besuche zu machen? Vielleicht will er Li-ping im Dienste seines Neffen ausspähen. Mein Einfall war trefflich, sie zu entfernen. Schon jetzt bewährt er sich. Lange könnt ihr suchen, tölpelhafte Fremde!

Mit diesen Gedanken eilte er in den Empfangsraum.

Maffio Polo, der auf und nieder schritt, blickte ihm äußerst liebenswürdig entgegen. Keine Spur von Befangenheit. Er schien alles für selbstverständlich zu halten.

Tae-ping, den diese Sicherheit zugleich reizte und entwaffnete, brachte es nur bis zu einem verzerrten Grinsen und einer sehr nachlässigen Verbeugung, als Maffio geraden Weges auf ihn zukam und ihm die Hand hinstreckte.

»Ihr verzeiht doch hoffentlich, ehrenwerter Literat!« begann Maffio harmlos. »Gewiß, ich sehe ein, es ist eine sehr sonderbare Besuchsstunde! Aber ich habe Euch eine derart wichtige und für Euch erfreuliche Botschaft zu bringen, daß ich es vorzog, Euch lieber zu erschrecken, als Euch noch weiter in Ungewißheit zu lassen!«

Der Literat zwang sich, seine Miene zu freundlicherem Ausdrucke zu glätten. Vielleicht spricht der fremde Teufel die Wahrheit. Man kann nicht wissen. Schließlich war er mir stets der Liebste von dieser Brut. Und er erwiderte:

»Es ehrt mich, edler Herr Ma-fo, daß Ihr zu mir fandet. Eure Weisheit hat sicher alles reiflich erwogen, bevor Ihr handeltet. Seid so gütig, Platz zu nehmen!«

Maffio schmunzelte, während er sich setzte. »Meine größte Angst war, Eure edle Schwester zu beunruhigen!«

»Sie ist gestern nach dem Süden gereist!« Tae-ping grinste hämisch. Also doch ein Späher! Ah, er zuckt zusammen. Ihr seid nicht sehr schlau, ihr Barbaren des westlichen Ozeans.

Maffio tat, als ob er sich von seiner Enttäuschung erst erholen müßte. Unvermittelt:

»Es kränkt mich sehr, lieber Freund Tae-ping, daß Eure Schwester in Sorge abreiste. Ich kam nämlich,« er legte ein zusammengefaltetes Dokument auf den Tisch, »ich kam, wollte ich sagen, um Euch die vollständige Niederschlagung des Verfahrens gegen Eure werte Person mitzuteilen! Und um Euch hiezu Glück und Segen zu wünschen, ehrenwerter Literat!«

Tae-ping fuhr auf. War das eine Verhöhnung, eine Finte, ein schlechter Scherz? Oder gar die Wahrheit?

»Was meint Ihr?« fragte er ein wenig heiser.

Da lachte Maffio gutmütig heraus:

»Was soll ich meinen, lieber Freund? Ich darf Euch doch wohl so nennen? Nun, ich war vor wenigen Stunden bei Seiner Majestät. Richtiger gesagt, im Palaste. Wir besprachen dort mit den Staatsräten Verschiedenes. Davon später. Kurz, der Großkhan hörte von meiner Anwesenheit, ließ mich rufen, da er keinen Schlaf fand, ich heiterte ihn auf – nun, und so kam die Begnadigung zustande. Zur Vorsicht verlangte ich ein Schriftstück. Es liegt vor Euch, edler Tae-ping! Ihr könnt also ruhig schlafen. Verzeiht Ihr jetzt den späten Besuch?«

Der Literat, der noch immer irgend eine Falle witterte, zog das Papier zu sich heran und begann erregt zu lesen. Er schüttelte erstaunt den Kopf. Klar und deutlich. Unterschrift des Großkhans. Er vergaß die Umgebung, denn ein Jubel erfüllte seine Brust. Sicherlich war er kein Feigling. Aber es war doch mehr als günstiges Geschick, aller Angst und Unruhe so unerwartet überhoben zu sein.

Langsam sah er auf und gelangte durch den Anblick Maffios wieder in die Gegenwart. Plötzlich ein neuer Verdacht: Er wird zum Dank die Schwester begehren. Was soll ich tun? Ma-ko-po hat den Grund gelegt für meine Rettung, Ma-fo hat sie vollendet. Es war ja schließlich sehr edel von beiden. Ich kann es nicht leugnen. Ich möchte ihn fast bitten, nicht von Li-ping zu sprechen, möchte ihm meine Beweggründe erläutern. Wanke ich selbst schon? Ich muß antworten.

»Ich werde Euch diese Freundestat nie vergessen!« Er erhob sich mit einer tiefen Verbeugung. Während er sich wieder setzte, tonlos und gepreßt: »Vielleicht ist der armselige Literat Tae-ping imstande, einst Vergeltung zu üben!« Dabei erschrak er bei dem Gedanken an die Ränke, die er eben bei Pasepa gegen die Christen angezettelt hatte. Man kann nichts machen. Religion und Privatleben sind getrennte Welten. Doch ist mir nicht sehr behaglich zumute.

»Davon ist wohl nicht die Rede!« erwiderte Maffio schnell. »Ich bin nicht für Euch eingetreten, um irgend etwas dafür zu verlangen. Eure Freude ist mir Gegengabe genug für meine kleine Bemühung!« Dabei faßte er Tae-ping scharf ins Auge, da er genau wußte, was im Kopfe des Literaten vorging.

Tae-ping war stutzig geworden. Sie sind vielleicht doch schlau, die fremden Teufel, kreiste es in seinen Gedanken. Ich verstehe sie nicht. Oder sollten sie sich strenger an ihre selbst von Pasepa edel genannte Lehre halten, als ich annahm?

»Darf ich Wein wärmen lassen, verehrter Freund?« fragte der Literat, um Zeit zu gewinnen. »Es war niederträchtig von mir, gegen einen solchen Gast bisher derart unhöflich gewesen zu sein.«

»Ich habe nichts dagegen einzuwenden!« lächelte Maffio. »Beim Wein werdet Ihr die Überraschungen, die Ihr noch erleben sollt, leichter ertragen!«

Tae-ping, dem der Ton des letzten Satzes mißfiel, kehrte sich rasch ab und rief die Diener.

 

Maffio hatte es verstanden, den Literaten für einige Zeit in wissenschaftliche Gespräche hineinzulocken, die er zudem ab und zu mit allerlei Schnurren unterbrach.

Als er jedoch merkte, daß sich beim Weine wieder wie damals im Gartenpavillon eine Art von harmloser Vertrautheit eingestellt hatte, sagte er ohne merkliche Überleitung:

»Erlaubt, Freund Tae-ping, daß ich vernünftig mit Euch spreche!« Er sah ihn dabei mit schiefem Kopf an und pfiff leise durch die Zähne.

»Habt Ihr bisher ausschließlich unvernünftig geredet?« lachte der Literat auf, dessen Laune der Wein schon sehr gehoben hatte.

»Nur kein Mißverständnis!« erwiderte Maffio nebenhin. »Ich meine es ganz anders. Es ist nur ungemein schwer, die richtige Form dafür zu finden.« Plötzlich forschend: »Soviel ich hörte, ist es doch Euer Wunsch, den Hanlin- Grad zu erlangen! Oder irre ich?«

Der Literat erstarrte mitten in seiner Tätigkeit: Er vergaß, das bereitgestellte Glas vollzuschenken, und hielt die Weinkanne steif in der Luft.

»Ihr irrt nicht!« sagte er hastig. »Vielmehr scheint es mir aber, daß Ihr mich zum besten haben wollt. Ihr wißt doch selbst genau, daß ohne Akademie kein Hanlin-Grad erreichbar ist. Scherzt also nicht damit. Der Spott trifft mich zu schmerzlich!« Seine Hand zitterte, als er sich endlich entschloß, die Weinschalen zu füllen.

Maffio aber legte sofort sein Gesicht in gekränkte Falten.

»Wo denkt Ihr hin?« antwortete er vorwurfsvoll. »So viel Lebensart werdet Ihr mir hoffentlich zutrauen, daß ich mit solchen Zielen keinen Spaß treibe. Ich selbst wäre glücklich, wenn ich auch nur den ersten literarischen Grad erreichen könnte!«

Da drängte eine kühne Hoffnung in Tae-ping empor, die ihm den klaren Verstand benahm. Sollte das Wunder geschehen können? Wußte der Günstling Kublais etwa von Absichten, die die Akademie betrafen?

»Was meint Ihr also?« hastete er heraus.

Maffio lehnte sich zurück und schlürfte behaglich den ausgezeichneten Wein. Er ließ sich reichlich lange Zeit, da er die Wirkung seiner Andeutung sah.

»Ich muß ein wenig ausholen,« begann er langsam. »Also,« und er stellte die Schale hin. »Also, es hat sich ein großes Ereignis der Geschichte zugetragen, von dem bisher nur wenige Leute wissen. Ich erfuhr es im Palaste. Und dieses Ereignis, eben dieses Ereignis wird den ganzen Aufbau des tatarischen Weltreiches einschneidend verändern. Bei allem aber, was künftig geschieht, ich meine bei der Neuordnung der Dinge, werden Ma-ko-po und ich sehr viel mitzusprechen haben. Dies aus erster Quelle. Ich kann Euch verraten, daß es mir Kublai selbst gesagt hat. Nun, und dabei ließe sich sehr unauffällig und sehr passend die Wiedereinsetzung der Akademie durchführen. Die Stärke meines Einflusses dürftet Ihr aus der Sache mit Eurem Majestätsverbrechen erkannt haben. Es war so nebenbei als kleiner Beweis gedacht!«

Tae-ping war aufgesprungen. Vorgeneigt, mit verzerrtem Antlitze. Er durchschaute alles. Jetzt würde die entsetzliche Bedingung folgen. Er verkrampfte die Hände, daß sich die Nägel ins Fleisch gruben. Was sollte er tun? Ja, sie haben die Macht, die Akademie einzusetzen! Ich verstehe die Andeutungen: Das Ereignis ist der Tod des letzten Sung-Kaisers Ti-ping. Er braucht es nicht zu sagen. Ich weiß es plötzlich, ich fühle es. Kublai wird also den Thron der zehntausendjährigen Drachengesichter besteigen. In aller Form Kaiser des Mittelreiches werden. Nicht der erste Fall in unsrer Geschichte, daß ein Eroberer so handelte. Dann aber, dann kann auch die Akademie wieder erstehen, mein Lebensziel in erreichbare Nähe rücken ...

Muß ich mich verkaufen, um es zu erlangen? Ahnen, hohe Ahnen helft mir, rettet mich und Li-ping-erch!

»Ich glaube, Ihr habt mich verstanden, Freund Tae-ping!« sagte Maffio liebenswürdig, der den Kampf im Gesichte des Literaten unauffällig beobachtet und ihm geduldig Zeit gelassen hatte, alles zu überlegen.

»Das tut Ihr jetzt wohl nicht ohne Gegenleistung, Ma-fo!« ächzte Tae-ping, der in seinen Stuhl gesunken war. »Oder bin ich so sehr durch meine Hoffnung verwirrt, daß ich Euch verkenne?« Fast flehend blickte er gegen Maffio, um eine Bestätigung seiner letzten Worte zu hören.

»Gegenleistung?« Maffio erwiderte es gedehnt. »Wozu dieses häßliche Kaufmannswort bei solch heiligen Dingen?« Schnell: »Es ist nebenbei ein Ehrenstandpunkt, möchte ich sagen. Müßt Ihr nicht selbst zugeben, daß Ihr Menschen nicht gut noch weiter als Barbaren des westlichen Ozeans ansehen könnt, die trachten, dem Mittelreiche wieder den höchsten Sitz seiner Bildung zurückzugeben?«

»Ich habe Euch nie gesagt, daß Ihr ein Barbare seid!« Tae-ping wehrte sich mit letzter Anstrengung, da er noch immer hoffte, es handle sich doch vielleicht nicht um den Gegenstand seiner Furcht.

»Mir nicht, Freund Tae-ping! Aber einem anderen habt Ihr es gesagt, der mir sehr nahe steht und in unsrer Angelegenheit noch einflußreicher ist, als ich selbst!« Maffio zog die Augenbrauen hoch und pfiff vor sich hin.

»Macht es kurz! Was wollt Ihr?« Tae-ping hatte sich abgewandt. Tonlos: »Ich bin bereit, mich zu entschuldigen, wenn es Eure Bedingung ist.«

Maffio lächelte fast väterlich. Dann erwiderte er in warmem, eindringlichem Tone:

»Nun will ich ganz offen sprechen, Freund Tae-ping! Ihr erlaubt es doch?« Als keine Antwort kam, rasch fortsetzend: »Ich denke also, wir stellten fest, daß Ihr uns mit dem Titel von Barbaren weder bezeichnen könnt – noch wollt! Daraus leite ich aber Folgerungen ab, edler Literat! Ihr habt nämlich nach dieser Feststellung gar keinen Anlaß mehr, mir und Ma-ko-po Dinge zu verweigern, die Ihr einem vornehmen Einheimischen gewähren würdet. Insbesondere nicht, wenn einer von uns, Ihr versteht schon, also, wenn einer von uns in diesem Lande eine hohe Stelle erhielte!« Maffio schwieg.

Tae-ping aber, der jetzt das Äußerste unausweichlich vor sich sah, verlor die Beherrschung:

»Wiedergeburt Achmaks!« zischte er mit flackernden Augen Maffio ins Gesicht. »Feiner und schlauer, nicht jedoch besser!« Ächzend: »Laßt mich, laßt mich, ich verzichte ...« Er stockte, erschrocken über sich selbst.

Maffio wich seinem Blicke nicht aus. Im Gegenteil. Ein leises, verstehendes Mitleid in seinen Zügen ließ die Wut Tae-pings zusammensinken.

»Ich zürne nicht!« erwiderte er mit männlicher Würde. »Was ich aber gegen den Vergleich mit Achmak, – der ja rein äußerlich für einen Heißsporn, wie Ihr es seid, naheliegt – was ich also dagegen einzuwenden hätte, ist der kleine Unterschied, daß Eure ehrenwerte Schwester Ma-ko-po liebt und ihn auch aus freien Stücken erhören würde, wenn sie nicht Euer Starrsinn und Eure Drohungen daran hinderten!«

»Sie liebt ihn nicht, Ihr lügt!« flüsterte Tae-ping.

»Gestattet mir, daß ich darüber besser Bescheid weiß. Beleidigt mich nicht in Eurem eigenen Hause zum zweiten Male!« Maffio hatte den Ton verschärft. »Zudem bin ich doppelt so alt wie Ihr, Tae-ping. Ich verstehe Euer Betragen nicht!« Nach kurzer Pause: »Übrigens wißt Ihr um die Liebe der edlen Li-ping ebenso gut wie ich. Da hielt ich es nur für gerecht, daß Bruder und Schwester zugleich ihr heißest begehrtes Ziel erreichen. Wenn Ihr jedoch nicht wollt, gut! Ich kann ja gehen!« Und er wagte alles und erhob sich mit gespielt verstimmtem Antlitze. »Vielleicht habt Ihr recht! Ein Barbare hat sich um die chinesische Bildung nicht zu bekümmern! Ich werde Kublai die abendländische Weisheit empfehlen!«

Tae-ping knirschte die Zähne zusammen. Eine Welle von Haß wollte ihn schon zum endgültigen Bruche treiben. Da sah er auf seinen goldenen Gürtel hinab. Plötzlich eine Vision: Die Robe des Hanlin. Ich werde die Robe des Hanlin tragen. Leb wohl, Schwester! Vermisch dich mit dem Barbaren, wenn deine Brunst dich dazu treibt. Gut, sie haben mich für den Augenblick besiegt. Die Akademie aber wird sie in wenigen Menschenaltern unterjochen, diese hochmütige, fremde Brut. Kriechen werden sie, betteln um unsre Weisheit, uns die Schuhe lecken und die Tusche anreiben, wie jene übermütigen Schranzen, die Li-tai-pes ewige Sendung verkannt hatten.

»Ich werde nicht ja und nicht nein sagen!« erwiderte Tae-ping, indem er sich verbeugte. »Aber ich werde auch nichts behindern und die Geschenke der Ehevermittler entgegennehmen, wenn die Wiedererrichtung der Akademie beschlossen und Herr Ma-ko-po zum Mandarinen ernannt worden ist.«

Maffio ging lächelnd auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter:

»Sie ist beschlossen, lieber Freund Tae-ping! Unter der Bedingung allerdings, daß ich und Ma-ko-po nichts einwenden. Das hat mir Kublai selbst zugestanden. Ihr werdet also die Güte haben, Seine Exzellenz, Herrn Tschang-li-sun und mich an einem der nächsten Tage als Fürsprecher zur Vollendung der Ehezeremonie zu empfangen. Die Ernennung Ma-ko-pos wird, soviel ich sehe, nicht schwierig sein.« Ein wenig höhnisch: »Es ist nur schade, daß das edle Fräulein nach dem Süden gereist ist. Wir werden ihr Eilboten nachsenden!«

Tae-ping zitterte vor Ärger, obwohl eine andre Region seiner Seele in hellem Jubel sich schon nach den lieben Büchern sehnte, in die er sich bereits morgen vertiefen würde. Es gab ja nichts mehr zu überlegen. Ich habe ihn beleidigt. Ihn, den älteren. Er weiß, daß keiner der Prüfer des Hanlin-Examens diesen furchtbaren Verstoß erfahren darf. Ohne weitere Prüfung würde man mich abweisen!

So sagte er plötzlich in gebändigter Liebenswürdigkeit:

»Jetzt werden wir einen besonderen Wein trinken, lieber Freund Ma-fo! Eure beispiellose Geduld hat mir doch sicher meine frühere Heftigkeit schon vergessen, obwohl ich keine Verzeihung verdiene.«

»Ihr habt recht, wir wollen jetzt wieder fröhlich sein, lieber Tae-ping! Von einer Heftigkeit habe ich nichts bemerkt, muß ich eingestehen! Ernste, schwierige Auseinandersetzungen beurteile ich nie nach ihrer Form, sondern nur nach dem Ergebnis. Ich glaube, wir verstehen einander!« Maffio sah vergnügt schmunzelnd zu, wie die Diener den neuen Wein hereintrugen, und brachte es in der ihm eigenen Gewandtheit zustande, Tae-ping so sehr mit Fragen über das Studium zu überschütten, daß der Literat, selbst begeistert über die Zukunftsausblicke, ein Buch nach dem anderen aus den Nebenräumen holte und Maffio in zunehmendem Feuer zu belehren begann. –

 

Ein kleiner aber auserlesener Kreis war auf Befehl Kublais für den nächsten Nachmittag in den mittleren Speisesaal des Palastes gerufen worden, um dem angekündigten Wunder Pasepas beizuwohnen.

Marco stand mit Maffio nahe der Eingangstür in leisem Gespräche.

Der Längsachse des Saales folgend, erhob sich ein teppichbelegtes Podium, auf dem ein mächtiger Tisch stand. Aus hellgrünem Gestein, wie die Tafel dieses Tisches, die Pfeiler der Wände. An der Spitze des Podiums der edelsteinbedeckte Thronsessel Kublais. Daneben kleinere Prunkstühle für Dschingis und die Gemahlinnen.

Der Großkhan selbst war noch nicht erschienen. Peyen, neben einigen Staatsräten, lehnte schweigend an der gegenüberliegenden Wand. Einige Schritte von ihm entfernt Pasepa, der zu Boden sah, als wenn keine Umgebung vorhanden wäre.

Fra Bartolomeo aber, dessen Züge in unheimlicher Entschlossenheit gekerbt waren, umklammerte das Brustkreuz und starrte ab und zu gegen die berückend schönen Mädchen, die sich an der oberen Schmalwand mit Goldgeschirr und Pokalen zu schaffen machten.

Eben betrat ein Schwarm von Hofbeamten den Saal.

Maffio stieß Marco an:

»Bei der Madonna! Der arme Bartolomeo tut mir wahrlich leid! Sieh nur, Marco, wie hilflos wütend er die süßen fünfundzwanzigkarätigen Mädchen ins Auge faßt. Sie sind aber auch herausgeputzt, daß einem schwül werden kann. – Nun, ich möchte nicht in seiner Haut stecken!«

»Er ist selbst schuld an allem!« Marco antwortete mit einer nachlässig müden Geste. »Pasepa hätte nie das Wunder vorgezeigt, wenn ihn unser unseliger Bartolomeo heute vormittags nicht so sinnlos beleidigt hätte.«

Maffio, dem plötzlich wieder der peinliche Auftritt vor Augen stand, wiegte den Kopf hin und her.

»Was willst du tun? Er hat nur die Wahrheit gesagt. Klugheit ist ihm natürlich unbekannt. Er leugnet ihre Berechtigung auch zu höherem Zwecke!« Maffio suchte mit den Äugen im Saale umher.

Auch an Marco zogen jetzt die Ereignisse des Vormittags in abgerissener Eile vorüber.

Nun gut! Wir haben es vorausgesagt, daß ein Unglück geschehen wird. Es ist da. Ich sehe wenigstens keinen Ausweg. Denn Pasepa wird das Wunder vollbringen. Dafür verwette ich schon jetzt den Kopf. Was wird Bartolomeo gegen den Augenschein ausrichten können? So schön war alles bei diesem feierlichen Frühstück! Wieder die volle Gunst Kublais. Ich selbst noch mit dem Nachklang Li-ping-erchs in der Seele. Groß und erhaben aber die erste Ausrufung der neuen Dynastie des Mittelreiches. Auch Kaiser der Mitte ist er jetzt, der mächtigste aller Herrscher!

»Tschang ist in der Tat nicht erschienen! Wer soll diese Leute verstehen?« sagte Maffio vor sich hin.

Ja, recht hast du, Oheim! Wer soll sie begreifen? Alles hätte ich erwartet, nur nicht diese stille Resignation Tschang-li-suns. Wie edel er sich verbeugte, als der Großkhan ihm die oberste Würde des Mittelreiches anbot. Warum ziehst du dich von den Staatsgeschäften zurück, Tschang? Ist es wirklich dein einziger Grund, daß deine Beweise und Anklagen nicht gleich das Ohr Kublais fanden und erst meine heiße Liebe die Entlarvung Achmaks möglich machte? Hast du dadurch das Gesicht verloren, Tschang? Ich glaube es nicht recht! Eher wähne ich, daß du als Vorsitzender der Hanlin-Akademie jene Männer in aller Stille heranziehen willst, die nach deinen eigenen Worten den fremden Eroberer in wenigen Menschenaltern geistig verschlingen sollen. Sei es wie immer! Ungewöhnlich war deine Ablehnung der Ministerwürde, erstaunlich, wieder ein unergründliches Rätsel des Ostens!

Maffio pürscht sich jetzt langsam aber sicher in die Nähe der Palastmädchen. Der gute Maffio. Mehr hat wohl noch kein Mensch für mich getan als er. Ich gönne ihm alle die reizenden Dinger, die dort umherhuschen.

Ich werde heiraten! Ein abenteuerlicher und doch schöner Gedanke. Meine Stelle im Mittelreiche werde ich vielleicht auch erhalten. Tschang hat ausdrücklich im Namen seines Volkes darum gebeten. Kublai ist, von allem andren abgesehen, viel zu klug, um eine solche Bitte zu überhören.

O, Prinz Dschingis kommt mit seinen Begleitern! Ich werde jetzt hinaufgehen müssen.

Dschingis war soeben eingetreten. Freundlich nach allen Seiten grüßend.

»Nur Seine Majestät soll an der Tafel sitzen,« sagte der Prinz lächelnd. »Mein Thron und die anderen Prunkstühle mögen an die Wand gerückt werden!«

Einige Palastbeamte führten den Befehl aus. Dschingis ließ sich nieder und winkte Marco Polo heran.

»Ich bin sehr bestürzt über den Vorfall!« sagte er so leise zu Marco, daß es die andern, die sich sogleich zurückzogen, nicht verstanden. Fortsetzend: »Es war gewiß edel von eurem Priester, daß er nicht log, als ihn Pasepa fragte, ob er die Schmähungen wirklich ausgestoßen habe.« Nach einer Pause: »Gleichwohl aber hätte er leugnen müssen! Wie ich genau weiß, beabsichtigte Pasepa ursprünglich, den Glaubensstreit rein geistig mit Grund und Gegengrund auszutragen. Auslegung der Schriften, Erörterung des wahrhaft Guten, Prüfung der letzten Vollendung! Einer solch argen Herausforderung gegenüber war er jedoch gezwungen, mit Taten zu antworten. Seine Majestät und ich haben es verlangt. Das müßt Ihr verstehen, Marco Polo!«

Marco verneigte sich tief:

»Gewiß, Hoheit, ich verstehe es! Ich selbst leugne auch diese Wunder nicht, kann sie nicht leugnen. Trotzdem glaube ich nicht an ihren überirdischen Ursprung!«

Dschingis lächelte.

»Auch ich nicht, Marco Polo! Wohl aber die Millionen unsrer Völker. Ich hoffe mit Euch, sosehr ich Pasepa liebe, daß der heutige Tag Aufklärung bringen wird.« Damit verabschiedete er Marco mit einem Kopfnicken und richtete seinen Blick auf Peyen, der sogleich heranschritt und das Knie beugte.

Marco schob sich unauffällig in die Nähe Bartolomeos, der zu Boden blickte, um das sprühende Feuer seiner Augen und das Zucken der Wangenmuskeln zu verbergen.

»Fügt Euch den Tatsachen, Fra Bartolomeo!« hauchte Marco im Vorbeischreiten. Hastig: »Sagt nichts, laßt Pasepa gewähren! Wir werden nachher beraten, was zu unternehmen ist. Ganz verloren ist das Spiel noch nicht!«

Bartolomeo sah nicht einmal auf. Er tat, als ob er nichts gehört hätte.

Marco aber zog bedauernd die Achseln hoch und ging auf einen Staatsrat zu.

Meinetwegen soll Bartolomeo ins Verderben rennen! Schwer wäre es wahrlich nicht gewesen, wenigstens zum Teil unsre Lehre durchzusetzen. Gut! Der befugte Stellvertreter des Papstes will es anders. Was bleibt mir, dem Laien, da übrig, als an meine profanen Angelegenheiten zu denken? Ich bin knapp vor der Erreichung meines Doppelzieles! Li-ping-erch! Lockende Macht meines neuen Wirkungskreises! Das Possenspiel der streitenden Mönche mag beginnen. Ich werde zusehen, wie man hierzulande die Grillenkämpfe betrachtet. Ein gutes Wort: Kampf der Grillen! Ich tat mein Äußerstes, um dieses Ende zu verhüten.

Und er lächelte dem Staatsrat unbefangen entgegen und richtete eine höfliche Frage an den würdigen Greis.

Der Khan der Khane – seit heute morgens in China Shi-tsu, der erste Kaiser der Juen-Dynastie genannt – saß, angetan mit den chinesischen Herrschergewändern, an der Spitze der erhöhten Tafel.

Viele Würdenträger waren nach seinem Eintritt noch hereingeströmt. Bunteste Trachten. Offiziere, hohe Mandarine, die Astrologen des Hofes, der rote und der hellblaue Oberstjägermeister.

Die Palastmädchen knieten in ihren leichten Kleidchen vor den Pokalen und lächelten holdselig.

Kublai schien ungemein wohlgelaunt. Trotz seines Feingefühls, das er in religiösen Dingen stets bekundet hatte, nahm er anscheinend die bevorstehenden Ereignisse nicht allzu ernst.

Mehr als einmal nickte er einem der Anwesenden zu, vergaß nicht, Maffio und Marco zu sich heranzurufen und sie seiner Gunst zu versichern, und vertiefte sich endlich in ein längeres Gespräch mit Peyen.

Niemand außer dem Großkhan hatte an der Tafel Platz genommen. Alle Würdenträger standen an der vom Eingangstore rechten Längsseite des Saales in einem Halbkreis um den Thron des Prinzen Dschingis.

Plötzlich sah Kublai auf.

»Fra Bartolomeo!« rief er mit voller Stimme. »Ihr seid eingeladen, Euren Sitz zu meiner Linken einzunehmen. Euch gegenüber wird der edle Pasepa sich niederlassen, dem ich zugleich gestatte, seine Absicht näher zu erklären!« Er blickte wohlwollend gegen die Gerufenen. Einen Unterschied zwischen den Vertretern beider Lehren schien er trotz des peinlichen Auftrittes vom Vormittag nicht machen zu wollen.

Maffio lächelte Marco zu, da die edle Gerechtigkeit Kublais leise Hoffnung in ihm erweckte.

Pasepa verbeugte sich leicht und ging um das untere Ende der Tafel herum, da er nicht hinter Kublai vorbeischreiten durfte, ohne das Zeremoniell zu verletzen.

Bartolomeo aber, auf dessen Wangen Stränge angespanntester Willenskraft hervortraten, richtete sich zu voller Größe auf und stieg in achtunggebietender Haltung die wenigen Stufen zum Podium hinauf. Es war unverkennbar, daß die düstere Wucht seiner Persönlichkeit auf alle einen tiefen Eindruck machte.

Pasepa wandte sich fast demütig an seinen Gegner:

»Eure heiligen Bücher, ehrwürdiger Priester der schwarzen Lehre,« begann er mit seinem erlösten, entrückten Lächeln, »erzählen von vielen Wundern, die Euer erhabener Weiser und Sohn Gottes vollbracht hat. Ich wähne, daß Ihr an diesen Wundern nicht zweifelt, ebensowenig aber daran, daß es wahre Wunder gewesen sind!«

Marco blickte erstaunt auf, als er hörte, daß Pasepa über die christliche Lehre unterrichtet war. Warum war Bartolomeo stets so halsstarrig gewesen? Um wie viel mächtiger wäre er heute, wenn er Buddhas Reden kennen würde! Um wie viel stärker, wenn er die vornehme Achtung Pasepas für fremde Lehren besäße!

»Eure Frage ist beinahe überflüssig!« erwiderte Bartolomeo dumpf. Man merkte, wie er sich schon jetzt bemühte, seine Heftigkeit zu bekämpfen. »Es freut mich übrigens,« setzte er um einen Schatten freundlicher fort, »daß Ihr einige Kenntnis der einzig wahren Lehre besitzt ...«

»Diese Wahrheit ist zu beweisen, Bartolomeo! Wir wollen am Ende und nicht zu Beginn von der Wahrheit sprechen!« Kublai warf es in ruhigem, fast heiterem Tone ein.

»Gewiß, Majestät!« Bartolomeo war wieder düster geworden. »Ich wollte nur sagen, daß ich natürlich sowohl die Tatsache, als die Eigenschaft der Wunder unsres erhabenen Erlösers weder in Zweifel ziehe, noch auch bezweifeln lasse.« Er umklammerte sein Brustkreuz, hob es zum Munde und küßte es in einer Aufwallung fanatischer Gottesliebe.

»Ich bin darin einer Meinung mit Euch!« erwiderte Pasepa leise. »Ich stehe nicht an, zu erklären, daß die Reinheit Eurer Lehre unanfechtbar ist. Daher ziehe ich Euer heiliges Wort auch nicht im mindesten in Zweifel.« Er machte eine kleine Pause, um die große Überraschung aller Anwesenden abklingen zu lassen. Unvermittelt mit einer Stimme, die wie aus Träumen geboren klang: »Euer Erleuchteter, lieber Bruder, hat, soviel ich las, bei einer Hochzeit aus Güte und Barmherzigkeit viele Krüge köstlichen Weines herbeigezaubert. Das Wunder von Kana nennt ihr die Erzählung, wenn das Buch recht in unsre Sprache übertragen ist.«

Fra Bartolomeo nickte. Wo wollte Pasepa hinaus? Plötzlich durchzuckte ihn ein gräßlicher Schreck. Ja, es war so: Der Tibeter wollte dieses Wunder durch Teufelskünste oder Taschenspielereien nachahmen!

»Ich habe also im Wesen alles richtig wiedergegeben?« Pasepa sprach langsam, fast flüsternd. »Sofern ich Euer Schweigen nicht falsch deute.«

»Ich kann Euch nicht widersprechen! Die Heilige Schrift berichtet über dieses Wunder unsres Heilandes!« Bartolomeo sah zu Boden und preßte die Hand neuerlich um das Brustkreuz.

Ein Rauschen der Erwartung ging durch den Saal.

Kublai lächelte, da ihm beide Mönche in ihrer edlen Wahrhaftigkeit äußerst wohlgefielen.

Maffio aber stieß Marco leicht an und flüsterte:

»Hol der Teufel den hellen Kopf des Tibeters! Ich glaube, jetzt wird es schief gehen!«

Marco, der eben wieder an Li-ping gedacht und in sich geforscht hatte, ob seinem Stolze die Eroberung einer Frau durch die Ehe genüge, kräuselte die Stirne. Er hatte von vornherein die dialektische Überlegenheit Pasepas nie bezweifelt. Wenn nur jener Erzbischof aus Venedig oder Tebaldo Vesconti dort oben säße! Armer, armer Bartolomeo! Was wird dir aller heiße Glaube, alle todesmutige Wahrhaftigkeit gegen die dunklen Kräfte dieser Magier nützen?

Pasepa war aufgestanden.

»Eure Majestät!« sagte er mit klingender, starker Stimme. »Da mein westlicher Bruder meine Worte nicht bestreitet, sind weitere Reden überflüssig. Ich werde mit Erlaubnis Eurer Majestät die Wahrheit meiner Lehre durch eine Tat beweisen, die ich nie hätte vollbringen wollen, wenn mein westlicher Bruder nicht die Reinheit unsrer Behauptungen heftig angegriffen hätte. Wohlgemerkt! Ich trage ihm seinen Angriff nicht nach, weil meine Lehre Haß und Zank verbietet. Ich will ihn nur freundlich darüber belehren, daß er uns gelben Priestern Unrecht tat!« Weich und eindringlich: »Alle, die ihr im Saale seid, sollt des Wunders teilhaftig werden, wie sich auf mein Geheiß reiner Wein aus dem Nichts gebiert!«

Bartolomeo fuhr in wildester Erregung auf. Seine Augen sprühten.

»Lästert nicht Gott!« keuchte er wild.

»Ich sehe keinen Grund zu diesem Anwurf!« Kublai blickte ihn scharf an und winkte ihm Schweigen zu.

Pasepa, der den Zwischenruf absichtlich überhörte, setzte gelassen fort:

»Jeder kann sich überzeugen, daß sich kein Wein im Saale befindet. Seine Majestät selbst, als der Zeuge aller Zeugen, wird, sofern es in seinem Willen steht, den Becher prüfen, der zu ihm kommen soll. Mein westlicher Bruder aber möge scharf auf alles achten und das Wunder entweder übertreffen oder aber es widerlegen, wenn er dies vermag!«

Pasepa ließ sich auf seinem breiten Sessel in der Stellung des Erleuchteten nieder und murmelte leise vor sich hin.

Kublai aber nickte zustimmend und zwang Bartolomeo mit einem Blick seiner beherrschenden Augen, einen weiteren Wortstreit zu unterlassen.

 

Nicht der leiseste Ton unterbrach die gläserne Stille, die über dem Saale lag.

Marco und Maffio beugten sich vor, um besser sehen zu können. Von den nächsten Augenblicken hing das Schicksal der Welt ab!

Pasepa bewegte sich überhaupt nicht.

Plötzlich begann alles zu kreisen. Nur für die Dauer eines Atemzuges. Es schien heller zu werden im Saale: Ruckweise, wogend, als ob ein unfaßliches Herz durch das All schwänge und jeder neue Blutstrom neue Lichter entzündete.

Schon hatte die Helligkeit einen unerträglichen Grad erreicht.

Marco versuchte vor sich selbst die sonderbare Stimmung zu zergliedern. Alles ist Täuschung! Nichts hat sich verändert! Ruhig sitzt Kublai an seinem Platze, Bartolomeo knirscht die Zähne zusammen, Pasepa schläft oder sinnt in Entrückung. Die Würdenträger starren, die Palastmädchen lächeln. Nichts, nichts! Die Helligkeit war Einbildung! Da, ah, was ist das? Folge der Erregung?

Nein, jetzt wieder! Eiskalte Luft streicht durch den Saal. Schauer überrieseln meinen Rücken. Die Gedanken beginnen zu flattern.

Ich lasse mich nicht überwinden! Keine Kraft der Welt soll mich beugen!

Pasepa hebt die Hand. Was sind das für Augen? Wie Abgründe, in die man versinkt. Laßt mich los, Augen!

Es ist vorüber. Die Augen schließen sich. Schlaff neigt sich die erhobene Hand.

Das Wunder ist mißlungen! Schon flüstert es im Saale. Bartolomeo macht eine Bewegung, als wolle er aufstehen. Auch Kublai lächelt mit leichtem Hohn.

»Der Wein, Majestät!« sagte da plötzlich klar und deutlich eine Stimme, die von der Höhe der bunten Decke herabzuklingen schien.

Bevor auch nur ein einziger sich gefaßt hatte, ertönte ein leises Klirren und Sausen. Ängstlicher Aufschrei eines Mädchens.

Langsam und selbstverständlich glitt durch die flimmernde Luft in schlankem Bogen ein mächtiger Pokal, der sich hinter dem Mädchen erhoben hatte. Und stellte sich, noch leise torkelnd, knapp vor Kublai auf die Tafel.

Der Großkhan faßte ihn sogleich mit der Hand, setzte ihn an die Lippen und trank.

Noch ein Augenblick fassungsloser Ruhe. Dann ein Orkan des Beifalls, der jedoch sogleich schwieg, als sich Kublai erhob.

»Euer Wein war vortrefflich, Pasepa!« sagte der Großkhan lächelnd.

Da gellte ein so hämisch verzweifeltes Lachen durch den Raum, daß alle zutiefst erschraken. Bartolomeo stand knapp neben dem Großkhan.

»Das also war das Wunder?« stieß er hervor. »Das die Tat, die der freche Heide mit dem Wunder von Kana zu vergleichen gewagt hat?« Neuerlich auflachend. »Nichts war es, nichts, als ein plumper Versuch, Eure Majestät zu täuschen!«

»Was heißt das? Ich verstehe Euch nicht!« Kublai blitzte den Priester drohend an.

»Blickt in den Becher, Majestät! Kein Tropfen Wein war je darinnen. Er ist trocken bis zum Grund. Eines der Mädchen hat ihn verstohlen herübergestellt. Ich sah es. Dann aber hat Euch Pasepa behext!«

»Der Becher ist noch naß vom Weine! Hier!« Kublai hielt Bartolomeo den Pokal hin.

»Trocken ist er! Staub liegt am Grunde!« Bartolomeo fuhr mit den Fingern in das Gefäß und hielt sie triumphierend hoch.

»Wein träuft von Euren Händen, armer Schelm!« lachte Dschingis, der begütigend herangetreten war. »Gebt doch die Wahrheit zu. Ihr macht Euch ja nur lächerlich!«

Marco, der hinzugesprungen war und Bartolomeo an der Soutane gefaßt hatte, zischte ihm zu:

»Was fällt Euch ein? Schweigt! An Eurer Hand glitzert der Wein!«

Mit einem Ruck befreite sich der Priester:

»Wer macht sich lächerlich?« dröhnte er, während sein Antlitz von Röte flammte.

Kublai, der sich angewidert abgekehrt hatte, wandte sich herum.

»Ihr seid über Eure Niederlage erregt, Fra Bartolomeo!« sagte er nachlässig. »Ich begreife es! Geht mit Marco oder Maffio Polo ein wenig aus dem Saale, beratet Euch miteinander. Ich bin gerne bereit, vernünftige Einwände, die nicht dem Augenschein widersprechen, zu prüfen. Vielleicht wiederholen wir das Wunder unter strengeren Vorsichtsmaßregeln oder Ihr selbst zeigt uns ein größeres Wunder!« Der Großkhan drehte sich zu Peyen, der eben herbeikam.

»Gehorcht!« zischte Marco, der wußte, was jedes weitere Wort bedeutete.

Bartolomeo entfernte sich mit gesenktem Kopf einige Schritte vom Platze der Majestät. Plötzlich zuckte sein ganzer Körper. Laut und rücksichtslos sprach er in die gedämpfte Unterhaltung der anderen hinein:

»Ich verzichte auf weitere Beweise! Lügen sind es, Lügen und Hirngespinste! Ich habe nichts Wunderbares gesehen. Ausgenommen, daß die Majestät aus einem leeren Becher trinkt und ihn für voll hält. Der Becher war leer!« Aufschreiend: »Der Becher war leer! Die Wahrheit wird siegen!«

Totenstille plötzlich im ganzen Saale. Kublai saß steinern auf seinem Throne und blickte den Schreienden furchtbar drohend an:

»Ich erkläre Euch zum letzten Male,« auch Kublai hatte die Stimme zu mächtigem Klange erhoben, »ich erkläre Euch, daß ich noch den Geschmack des Weines im Munde fühle. Ich habe alles klar gesehen. Wachend und klar. Versteht Ihr? Was habt Ihr zu antworten?«

Pasepa machte mit schmerzlichem Antlitz eine warnende Geste zu seinem Gegner, der dem Großkhan wild in die Augen sah.

»Die Wahrheit!« donnerte Bartolomeo. »Ein Christ darf nur die Wahrheit sagen! Der Becher war leer!«

Nicht nur Marco und Maffio und alle Würdenträger erstarrten in lähmendem Entsetzen. Auch Kublai erbleichte. Hatte der Wahnsinn den Priester erfaßt, daß er etwas leugnete, was alle deutlich gesehen hatten?

»Was habt Ihr wahrgenommen, Marco Polo? Kein Zeuge kann für Euch vorteilhafter sein, fremder Priester!« Der Großkhan sagte es mit bebender Stimme.

Marco fuhr es wie ein peitschender Schreck durchs Hirn. Was sollte er antworten? Habe ich andre Augen als Bartolomeo? Oder ist Bartolomeo der einzige, dessen Kraft der Macht Pasepas ebenbürtig ist?

»Nun, Marco Polo?« Kublai stampfte ungeduldig mit dem Fuße. Aber auch Bartolomeos Blick bohrte sich tief in sein Antlitz.

Er möge fallen! heulte es in Marco auf. Besser der eine als wir alle!

»Ich habe nichts andres gesehen als Eure Majestät!« erwiderte er in äußerster Selbstbeherrschung. »Der Becher ist langsam durch die Luft gezogen und vor Eurer Majestät stehen geblieben. Eure Majestät aber haben dann daraus getrunken. Schließlich blinkten an der Hand Bartolomeos klare, dunkelrote Weintropfen!«

»Ihr seht es!« sagte Kublai kalt, während bei den Worten Marcos ein Rauschen der Zustimmung auftönte. »Geht, Bartolomeo! Ich will Euch nie mehr blicken! Auf diese Weise kämpft man nicht!«

Maffio, der die Geduld des Großkhans verehrend bewunderte, wollte den Priester hinausführen.

Dieser aber verlor die letzte Besinnung, als er alle gegen sich fühlte:

»Pech und Schwefel über Gomorrha!« kreischte er in gräßlichem Tone. »Die babylonische Hure beherrscht die Welt! Die Lüge siegt! Der Becher war leer! Alle haben gelogen! Der Becher war leer! Leer!«

»Wie Ihr wollt!« Kublai sagte es in bedauerndem, fast wehmütigem Tone. »Ihr werdet einsehen, Bartolomeo, daß ich Euch im Verlaufe Eurer Reden schon mehrmals begnadigte. Jetzt aber bin ich am Ende!« Hart und endgültig: »Ich muß Euch wegen Beleidigung der Majestät zum Tode verdammen!« Indem er sich abkehrte: »Führt ihn hinaus!«

Marco, der als erster alles voll begriff, warf sich vor dem Throne nieder:

»Gnade, Majestät! Er ist von Wahnsinn umnebelt!«

»Ich bin andrer Ansicht!« Kublai wandte sich ab. Beinahe barsch: »Ihr habt mit dieser Sache nichts zu schaffen, Marco Polo! Ich hoffe, daß Ihr mich versteht!«

Fra Bartolomeo aber, den schon die Schergen gefaßt hatten, war plötzlich erwacht. Sein Antlitz leuchtete in überirdischer Reinheit, als er klar und gebändigt sagte:

»Ich will keine Gnade, Majestät! Ich will auch nicht, daß Ihr wähnt, es wäre meine Absicht gewesen, Euch oder einen anderen zu beleidigen und zu kränken. Da ich aber erkenne, daß niemand im Saale stark genug war, den Teufelskünsten zu widerstehen, will ich als Blutzeuge der Wahrheit fallen. Noch einmal! Der Becher war leer! Das Wunder von Kana aber hätte auch ich gesehen, da es ein wirkliches Wunder und kein Zauberstück war! Amen!« Und er warf den Kopf zurück und schritt demütig ohne jeden Widerstand mit den Schergen aus dem Saale.

Tiefe Beklemmung schwebte über den Zurückbleibenden. Auf Pasepas Antlitz lag abgründiger Schmerz. Kublai blickte zweifelnd und ungeduldig gegen den blitzenden Demanten seines Ringes. Die beiden Venezianer aber harrten ungeduldig des Zeichens, das ihre Entlassung verkündigte.

 

Marco und Maffio saßen nach dem Abendessen in tiefer Niedergeschlagenheit beim Tee, als sich Tschang-li-sun zu einem formlosen Besuche anmelden ließ.

»Es ist ja doch nichts zu machen, Marco!« sagte Maffio, der sich schon seit längerer Zeit bemühte, seinen Neffen vor allzu düsteren Gedanken zu bewahren. »Du mußt jetzt die eigenen Pläne in den Vordergrund stellen! Tschang ist und bleibt für dich eine der Hauptpersonen! Also nimm dich zusammen, mein Bürschchen, und laß den Kopf nicht hängen! Das ist keine Haltung für einen zukünftigen Mandarinen!«

Marco antwortete nicht mehr, da Tschang schon das Zimmer betrat. Er sprang vielmehr sogleich auf und ging dem Minister entgegen:

»Eure unermeßliche Bescheidenheit,« begann er, »hat mich verhindert, Euch an der Tür zu empfangen, Exzellenz!« Er bot alle Willenskraft auf, ein Lächeln auf die Züge zu zwingen. »Im übrigen segne ich den Abschluß dieses Tages, da er es mir noch vergönnte, Euch zu sehen!«

Tschang hatte sich vor beiden verneigt und ohne Zeremonie am Tische Platz genommen, um zu zeigen, daß er auf weitere Förmlichkeiten verzichte.

Er antwortete auch ohne Einleitung, indem er Marco mit jenem väterlich gütigen Ausdruck seines Antlitzes anblickte:

»Es ist mir nur eine angenehme Pflicht, edler Ma-ko-po, Euch in Euren Mißhelligkeiten nicht allein zu lassen. Um so mehr, als meine Botschaft Freude und Leid zugleich bringen wird!« Nach kurzem Schweigen: »Ich komme vom erhabenen Kaiser Shi-tsu, von Kublai, wie ihn die anderen nennen. Er hatte mich rufen lassen. Es war von vornherein klar, daß ich meinen Entschluß, soweit er mich selbst betraf, nicht ändern konnte. Die Erklärung dafür sollt Ihr später hören, edler Ma-ko-po! Es liegt mir nämlich sehr viel daran, daß eben Ihr, der Ihr jetzt bald einer der unseren sein werdet, die Gründe voll durchschaut!«

»Wie war Kublai gelaunt, wenn ich solche Dinge fragen darf?« mischte sich Maffio höflich ins Gespräch.

»Undurchdringlich und liebenswürdig!« antwortete Tschang. Aufblickend: »Ich wagte sogar, für Euren Priester zu bitten. Ich glaube, Eure Frage bezog sich darauf!«

»Hat Kublai geantwortet?« Marco, dessen Gesicht eine Blutwelle färbte, zuckte auf.

Wieder das gütige Antlitz Tschangs, als er langsam sagte:

»Leider hat er geantwortet! Unbedingte Ablehnung meiner Bitte! Ich rate Euch als Freund, Ma-ko-po, die Sache nie mehr zur Sprache zu bringen.« Leise und mit sichtlicher Mühe: »Ihr vergebt mir, Ma-ko-po, wenn ich erkläre, daß Seine Majestät nicht ganz unrecht hat. Die Majestät darf nicht irren, darf sich nicht der Lüge zeihen lassen! Am wenigsten, wenn alle anderen mit bestem Gewissen die Wahrheit des kaiserlichen Wortes bestätigen können.« Ablenkend: »Jetzt aber zu erfreulicheren Dingen, edle Herren!«

Er nahm den Tee, den ein Diener auf den Tisch stellte, unter leichten Verbeugungen entgegen.

In Marco aber hatte eine winzige Ursache alles Mitleid entfesselt: Der Diener hatte aus Versehen um eine Schale zu viel hereingebracht.

Fra Bartolomeo! Armer, armer Bartolomeo! Kalt sitzen wir alle über dich zu Gericht, beweisen vor uns selbst mit Spitzfindigkeit, daß die beleidigte Majestät höher steht als dein heißes Herz, dein wahrhaftiger Mund, der morgen schon für ewig schweigen soll. Du bist so allein, so grenzenlos einsam jetzt in deinem elenden Verlies. Keiner tröstet dich, keiner spricht zu dir. Vielleicht ächzt neben dir ein Wegelagerer, ein Meuchelmörder in grausamen Fesseln. Ich wünsche dir selbst solche Gesellschaft, damit du nicht einsam diese endlose Nacht verbringen mußt.

Wir aber, in behaglicher Ruhe, denken an morgen wie an einen kurzen lästigen Alp, den wir abschütteln wollen, um zu Lust und Erfolg zu schreiten. Und ich darf nichts unternehmen! Tschang warnt nicht, wenn er keine Gründe hat. Wo ist mein Zorn gegen dich, leidender Bruder? Alles Gute nur, alles Edle sehe ich plötzlich ...

»Ich war auch bei Tae-ping!« sagte Tschang-Ii-sun lächelnd, da ihm die Gefühle, die er vom bewegten Antlitz des Venezianers ablas, nicht unklar blieben. Womöglich noch heiterer: »Der edle Literat war kaum von seinen Büchern fortzubringen. Sein Lerneifer ist grenzenlos wie ein Ozean! Endlich hat er mich angehört. Es freut mich unsäglich, edler Ma-ko-po, Euch mitteilen zu können, daß Li-ping-erch wieder im Hause des Bruders weilt und dem Tage ihrer Hochzeit still und beseligt entgegenträumt.«

Marco, dessen Gedanken durch die Worte des Ministers sofort in eine andere Richtung geworfen wurden, sah Maffio fragend an. Der Oheim hatte sich nicht so deutlich, nicht so bestimmt geäußert, als er den Erfolg seines Gespräches mit Tae-ping mitteilte.

»Ich habe dir zur Vorsicht weniger gesagt, als ich wußte!« schmunzelte Maffio. »Da nun aber Seine Exzellenz aus unmittelbarer Quelle meine Eindrücke bestätigt, fällt für mich der letzte Grund weg, Geheimnisse zu machen. Wir warten nur noch deine Ernennung ab, Marco! Dann wird Seine Exzellenz die unendliche Gnade haben, mit mir bei Tae-ping um das holde Fräulein anzuhalten.«

»Auch wegen des Amtes habe ich mit Kublai gesprochen!« fiel Tschang ein, der bei den Worten Maffios zustimmend genickt hatte. »Seine Majestät hat unter einer Bedingung zugesagt. Es fehle, hat er mir geantwortet, noch der Beweis Eurer überragenden staatsmännischen Klugheit. Keiner seiner Ratgeber wäre bisher imstande gewesen, aufzuklären, wieso Achmak unter seinen Augen Frevel auf Frevel häufen konnte, ohne daß er es bemerkte. Von Euch aber erwartet er eine Deutung, die diesen Makel seiner Menschenkenntnis, weithin verständlich vor aller Welt, tilgt. Ihr sollt – und jetzt muß ich, der Bote des Kaisers, wieder Schmerz in Euch erwecken – Ihr sollt also morgen noch vor der Hinrichtung der Übeltäter bei Seiner Majestät erscheinen!« Er sah zu Boden: »Ich habe gegrübelt, Ma-ko-po, um Euch den Rat erteilen zu können, der diese Laune der Majestät befriedigt. Nichts habe ich gefunden, das tauglich wäre. Ich muß zu meinem großen Bedauern die Lösung Eurer Weisheit und Eurem günstigen Schicksal überlassen!«

Alle drei schwiegen. Marcos Gedanken schwankten auf und ab. Er sann dem unfaßbaren Rätsel nach, warum gerade er von allen unterstützt wurde, warum sich bei ihm alles stets wieder zu Glück und Erfolg zurückbog. Dieses Gefühl der Geborgenheit ließ aber sogleich wieder das Bild des einsamen Märtyrers vor seinem Inneren erstehen, der vielleicht eben jetzt in hoffnungsloser Verzweiflung seinen Gott verfluchte, dem er so treu, so ohne jeden Vorbehalt gedient hatte.

Maffio, dessen seiner Takt fühlte, daß Tschang einige Dinge am Herzen hatte, die er nur Marco sagen wollte, erhob sich unter einer glaubwürdigen Entschuldigung und verließ den Raum.

Tschang aber wollte wieder nicht den Anschein erwecken, als ob er diese freiwillige Flucht Maffios gewünscht hätte. Deshalb lächelte er leicht und erzählte, an früheres anknüpfend, einige Einzelheiten seines Besuches bei Tae-ping, wobei er es nicht unterließ, Marco über die zukünftige Haltung des Literaten vollends zu beruhigen.

Erst nach geraumer Zeit wählte er eine passende Überleitung, um dem Gespräche eine ernstere Wendung zu geben.

»Ich sprach vorhin nur vom Äußerlichen!« begann er. »Vom Standpunkte rein innerer Anteilnahme will ich nicht verhehlen, daß mir durch Freunde berichtet wurde, der Mut und der Glaubenseifer des schwarzen Priesters habe auf alle, die dabei waren, eine tiefe Wirkung geübt. Ich bitte Euch daher, edler Ma-ko-po, mir die Lehren Eurer Religion zugänglich zu machen, da ich es nicht unterlassen will, sie in den Kreis der Wissenschaften unsrer Akademie einzubeziehen.« In edler Schlichtheit: »Es soll Euch und dem tapferen Kämpfer, der für seinen Glauben sein Leben verwirkte, eine Genugtuung sein! Die einzige, die Euch das Reich bieten kann, dessen Harmonie Ihr mit Eurem Blute bewahrtet!«

Marco sah ihn betroffen an. War die Dankbarkeit dieses Weisen ohne Grenze? Nach all den vielen Beweisen noch dieser letzte, sicherlich schwerste?

Schon wollte er zu einer Erwiderung, zu begeisterten Dankesworten ansetzen, als ihm Tschang ins Wort fiel:

»Was ich tue, ist selbstverständlich, Ma-ko-po! Um nichts mehr! Es ist auch nicht viel. Denn es wäre ja von vornherein vergeblich, zu hoffen, daß das Mittelreich eine einzige Glaubenslehre annehmen könnte. Niemals werden wir einer einzigen Religion zuschwören. Wir werden alle Lehren prüfen, um zu sehen, wie dem Tao am besten entsprochen werden kann. Daher ist meine Bitte mehr Eigennutz als Verdienst!«

Er schwieg. Marco aber fand keine rechte Fortsetzung dieser ungeheuren Gedanken, von denen er, wie ihm jetzt erst klar ward, bloß die äußersten Zonen erfaßte.

Tschang jedoch blickte ins Leere. Erst nach einer Weile sagte er tonlos:

»Und nun zum Schluß von mir selbst, Ma-ko-po!« Durchdringend: »Ihr habt gewiß an der vollen Aufrichtigkeit meiner Erklärung gezweifelt, Ma-ko-po, die ich heute vormittags dem Kaiser entgegenhielt, als er mir die höchste Ehre des Mittelreiches verleihen wollte!? Es ist so, edler Ma-ko-po, Ihr habt gezweifelt!« Hart: »Ich will aber, daß Ihr diese letzte Weisheit der Staatskunst begreift, bevor Ihr selbst mein Volk, einen Teil meines Volkes regiert!« Weicher, fast entschuldigend: »Der oberste Prüfer der Hanlin-Akademie darf so zu Euch sprechen, Ma-ko-po! Jetzt darf er es, da Ihr einer der unseren werden wollt!« Er sah wieder entrückt ins Leere. Langsam: »Prägt es in Euer Gedächtnis, edler Ma-ko-po, daß nur dann ein Reich auf dem Wege ist, dem Tao zu entsprechen, wenn seine Leiter den Mut aufbringen, sich selbst rücksichtslos abzusetzen, falls ihre Staatskunst einmal versagte. Denn nur auf diese Weise hat das Reich die Aussicht, stets die fähigsten Leiter und Lenker zu besitzen. Denn tausendmal milder ist oft die Majestät und das Volk, tausendmal geduldiger als das eigene Gefühl. Und tausendmal mehr der Gewohnheit und Trägheit ergeben!«

Zunehmend hatte seine Stimme einen feierlichen Klang bekommen.

Marco aber, erschüttert von der Größe dieser Auffassung, die Macht und Einfluß dem Ehrgeiz entwand, senkte sein Antlitz und begann sich zu prüfen, ob er selbst nicht zu jeder staatsmännischen Tat unfähig sei.

»Ich wollte Euch ein höchstes Ziel zeigen! Nicht aber in Euch Zweifel und Sorge erwecken!« setzte Tschang leise fort. »Erst hohes Alter kann Euch den Sinn meiner Worte voll erschließen, Ma-ko-po! Es gibt auch andre Wege, dem Tao zu dienen! Wer hätte es deutlicher gezeigt, als Ihr, der Ihr mich vor Kublai zum Heil des Reiches besiegtet?« In andrem Tone: »Darf ich Euch bitten, Ma-ko-po, den edlen Herrn Ma-fo rufen zu lassen, damit ich noch eine Stunde den Blumen Eurer Weisheit und Eures Witzes lauschen kann?«

Marco, der nicht im Zweifel war, daß diese Wendung einen endgültigen Abschluß des philosophischen Gespräches bedeutete, zwang sich, dem Lächeln seines Gastes eine harmlose Miene entgegenzusetzen, und schlug den Gong.

Tschang aber führte zierlich eine Schale Tee zum Munde und verbeugte sich. – – –

 

Vor dem Palastteiche, in dessen glitzernder Oberfläche sich die Bläue eines wolkenlosen Morgens spiegelte, begegnete Marco Polo dem tibetischen Mönche.

Die gelbe Kutte leuchtete von weitem in der Sonne. Das Haupt Pasepas aber war geneigt und sein sonst so beflügelter Schritt müde und schleppend.

Marco wollte schon ohne Gruß an ihm vorbeigehen, da Zorn gegen den Urheber des Unheils in ihm emporstieg.

Pasepa jedoch blieb demütig vor ihm stehen, blickte ihn mit traurigen Augen, aus denen jedes Lächeln der Erlösung verschwunden war, an und sagte leise:

»Ich war bei Kublai, edler Ma-ko-po! Ich habe mich ihm zu Füßen geworfen und um Gnade für meinen westlichen Bruder gefleht. Es war fruchtlos! Wollt Ihr es noch einmal versuchen, Ma-ko-po?«

Marco, der erst jetzt, nach einer durchwachten, von wilden Gesichten durchpeinigten Nacht, die volle Wirklichkeit des Schrecknisses fühlte, dessen Zeuge er zudem noch würde sein müssen, wurde bei den Worten Pasepas von einem Frösteln überschauert.

»Wartet hier oder beim Tor auf mich, edler Pasepa!« erwiderte er heiser. »Vielleicht können wir gemeinsam noch etwas ausfindig machen, um das Äußerste zu verhindern. Ich selbst bin machtlos, da Kublai mir verboten hat, auch nur davon zu sprechen.« Nach einer kleinen Pause: »Ich wagte dieses Ansinnen, da Ihr ja selbst die Absicht zu haben scheint, dem Unglücklichen zu helfen.«

»Ich werde Euch beim äußeren Tor erwarten!« Pasepa neigte den Kopf noch tiefer und schritt langsam weiter.

 

Marco Polo hatte allen Willen aufbieten müssen, um vor Kublai nicht mit verdüstertem und haltlosem Gesichtsausdruck zu erscheinen.

Er war auf die Höhe des künstlichen Hügels geleitet worden, wo die seltsamen Bäume unter dem Hauche einer kühlen Morgenbrise rauschten.

Der Khan der Khane stand neben einem verschnörkelten Thronsessel aus grüngeädertem Nephrit und hatte die Rechte leicht auf dessen Lehne gelegt.

Er bedeutete Marco, der sich vor ihm auf die glatte Täfelung des Marmorpflasters niedergeworfen hatte, sogleich sich zu erheben, und sah ihn mit einem umschatteten Zug von Wehmut an:

»Du sollst nicht glauben, Marco,« begann er mit fast zärtlicher Stimme, »daß ich nicht mit dir, mit Maffio und mit Eurem unseligen Freunde fühle. Was kann ich aber tun? Eben wieder hat Pasepa für ihn gebeten. Vor Pasepa Tschang-li-sun, meine erste Gemahlin und Peyen. Prinz Dschingis hat mich aufmerksam gemacht, daß der Priester ja Gesandter Seiner Heiligkeit des westlichen Papstes sei.« Der Großkhan schüttelte wie in Erinnerung den Kopf. »Mit Freude suchte ich diesen Ausweg zu benützen. Mein Page war in der Nacht bei ihm im Kerker, um ihm freies Geleit zurück zum Papst anzubieten. Allerdings geheim.« Kublai machte eine verzweifelte Geste: »Weißt du, Marco Polo, was er mir antwortete? Er sei nicht Gesandter, schrieb er mir zurück, er sei Untertan meiner Majestät. Er habe bisher die Vorteile aus dieser Stellung gezogen, folglich müsse er auch den Nachteil tragen. Zweierlei Wahrheit gebe es nicht! Ja, nicht einmal ein ungläubiger Philosoph Eurer Vorzeit, schrieb er mir weiter, ich glaube Sokrates war sein Name, sei in ähnlichem Falle dem Kerker entflohen. Um so weniger gezieme dies einem Christen. Er bittet nur um die Gunst, mit ungefesselten Händen zu sterben, um sein letztes Gebet frei und in aller Form verrichten zu können.« Kublai schwieg.

Marco, in dessen Gedanken plötzlich wieder ein leiser Haß gegen den Starrsinn Bartolomeos aufstieg, biß die Zähne zusammen und sah zu Boden. Fast reifte in ihm der Entschluß, keine Hand mehr für den Todestrunkenen zu rühren, der um jeden Preis nach der Glorie des Märtyrers strebte.

Der Großkhan aber hatte sich in den Thronsessel niedergelassen und beschied Marco mit einem Wink, ebenfalls auf einem der kleinen Steinsitze, die den Thron im Halbkreise umgaben, seinen Platz einzunehmen. Dabei sprach er schon weiter:

»Diese Rechtlichkeit grenzt nahe an Wahnsinn, Marco Polo!« Aufschauend: »Mehr noch, sie grenzt an Bosheit! Gegen mich und dich. Ich sehe keinen Ausweg. Dich habe ich begnadigt, Tschang, den Literaten Tae-ping. Ein Teil meiner Räte beginnt bereits zu lächeln. Ein andrer zu murren. Beide haben recht. Kublai, der Nayan, den eigenen Oheim, schonungslos hinrichten ließ, darf sich nicht in Weichherzigkeit und Schlaffheit verlieren. Sonst zerfällt das Weltreich. Es würde mehr Blut kosten als das Blut dieses Einzelnen!« Plötzlich hoheitsvoll und abschließend: »Ich wollte dir das nur sagen, Marco Polo, weil deine Liebe es verdient und weil du nicht an dem Edelmut Kublais zweifeln sollst!« Hart: »Kein Wort mehr davon! Ich habe dich rufen lassen, damit du mir Auskunft erteilst, wie der Frevel Achmaks vor mir verborgen bleiben konnte!« Er blickte Marco forschend und streng an.

Der Augenblick der Entscheidung war da! Ein Chaos verworrener Gedanken und Gefühle brandete in Marco empor. Fort mit der Erinnerung an Bartolomeo! Jeder Herzschlag, den ich zögere, entfernt mich vom Ziele unzähliger Jahre. So nah, so fern zugleich war die Erfüllung noch nie. Und ich weiß nichts. Nichts, nichts! Wie ausgedörrt ist mein Hirn. Warum hat Bartolomeo das Wunder nicht gesehen? So standhaft kann nur einer den Tod erleiden, der seiner Wahrheit gewiß ist. Warum habe ich das Wunder gesehen, warum Kublai? Nein, zurück zum Ziele! Warum hat Kublai Achmaks Frevel nicht bemerkt? Warum die anderen? Ha, jetzt fließt alles ineinander. Gott, einziger Gott, erleuchte mich! Ich will deinen Knecht Bartolomeo retten ...

»Nun, Marco Polo?« Kublai lächelte ironisch. »Ich dachte, deine Liebe würde mir etwas zeigen können, das den anderen verborgen blieb. Oder sollte ich mich getäuscht haben? Vielleicht bist du heute zu erregt, siehst nicht klar. Allerdings, die echte Staatskunst darf nicht an solchen Hindernissen scheitern ...« Er schwieg.

Marco verstand die Worte kaum. Nur die Ballung letzten Willens war noch in ihm. Die Begriffe schoben sich ineinander. Warum hat Kublai Achmaks Frevel nicht bemerkt? Warum sah Bartolomeo das Wunder nicht, obwohl ... Ah! Die Erleuchtung!

Plötzlich war Ruhe über Marco gekommen. Er sprang auf, um sich vor dem Großkhan neuerlich niederzuwerfen.

Kniend rief er mit lauter Stimme:

»Ich wagte es nicht, Majestät, die Wahrheit zu sagen! Jetzt aber muß ich gehorchen. Achmak hat Euch all die Jahre mit Teufelskunst verzaubert, Majestät! Er war ein Assassine, ein Jünger des letzten Königs, der sich der Alte vom Berge nannte! Der schwarzen Kunst fiel die Reinheit Eurer Majestät zum Opfer!«

Kublai lächelte dem Venezianer, in dessen Zügen helle Begeisterung über die Lösung des Rätsels lag, freundlich ins Antlitz.

»Ich danke dir, Marco Polo!« sagte er. »Dein Rat zeigt mir deinen staatsmännischen Blick!« Mit einem ganz leisen Unterton belustigten Hohnes: »Ein besserer Gedanke, eine glaubhaftere Ausflucht konnte nicht ersonnen werden. Die Beweise für den angeblichen Zauber werden nicht schwer zu erbringen sein!« Ernster: »Für dich aber freut es mich, daß du als Statthalter der Provinz Jang-tscheu-fu deine hohen Fähigkeiten zur Geltung wirst bringen können. Du bist entlassen, Marco Polo!« Dumpf: »Auf dem Richtplatze sehe ich dich wieder!« Und er hinderte den Venezianer, der ihm in überströmendem Dank die Knie küssen wollte, an seiner Absicht und kehrte sich endgültig ab.

 

Vor den Stadtmauern der Westseite erstreckte sich ein mächtiger Anger. Der riesige Platz war heute mit Seilen umzirkt, hinter denen sich unabsehbare Mengen bunten Volkes stauten. Die eine Seite der Wiese aber stieg in Form eines Erdwalls an. Dorthin war der Zutritt jedem ohne Ausnahme verboten, da am Fuße dieses Walles die Pfähle der Verurteilten standen.

Einige Tausendschaften tatarischer Krieger bildeten innerhalb der Seile ein undurchdringliches Spalier, das nur in der Mitte unterbrochen war, wo, dem Erdwall gegenüber, hohe Bauten für die Throne der Majestäten und Plattformen für die Würdenträger aufgeführt waren.

Maffio befand sich mit zahlreichen anderen Personen des Hofes bereits auf der Richtstätte, obwohl bis zum Eintreffen Kublais noch lange Zeit war.

Er blickte heute mit ungewöhnlichem Ernst vor sich hin und gab sich äußerste Mühe, die versteckten Bosheiten einiger Neider mit gebührendem Witz abzuwehren.

Sein Auge aber glitt unauffällig über den Platz. Gegenüber beim Erdwall die sieben Achmaksöhne, an Holzpfähle gebunden. Ihre Körper waren bis auf einen Lendenschurz entblößt, die Antlitze mit Tüchern umhüllt.

Knapp vor den Tribünen aber kniete groß und erhaben Fra Bartolomeo in seiner schwarzen Soutane auf einer Strohmatte und betete entrückten Blickes, wobei er nur ab und zu das Brustkreuz umklammerte. Kein Zeichen von Angst oder Erregung. Eher ein reifer Ausdruck überweltlicher Erfüllung und Ergebenheit.

Neben ihm im Grase hockte der Henker, dessen frischgeschliffenes, langes Schwert in der strahlenden Sonne glitzerte.

Vor den Söhnen Achmaks aber drängte sich ein ganzes Rudel dämonischer Gestalten, die ihre bläulichen Krummdolche höhnend an Steinen wetzten und sich laut und erbarmungslos unterhielten.

»Euer Priester ist ein Held!« sagte ein junger tatarischer Offizier zu Maffio. »Schade um ihn. Er hätte lieber Führer einer Zehntausendschaft werden sollen!«

»Der Hauptmann hat recht!« warf Kogatai ein, der hinzugetreten war und den Schnurrbart zwirbelte. »Ich erwarte noch ein Wunder!« setzte er fort, indem er die drei Finger der Rechten vorstreckte. »Ich meine ein Wunder, das ihn rettet! Die Soldaten sind alle von ihm begeistert! Jeder wünscht ihm Befreiung.« Er sah sich um. »Obwohl natürlich sein Benehmen gegen die erhabene Majestät den Tod reichlich verdient!« fügte er vorsichtig bei.

»So ist es!« antwortete Maffio und wiegte den Kopf hin und her. »Ich wäre froher als Bartolomeo, wenn es schon vorbei wäre. Solche Dinge sind unerquicklich, auch wenn man schon viel Blut gesellen hat.«

»Auch mir ist die wildeste Feldschlacht oder Plünderung lieber!« meinte der junge Hauptmann. »Ein kleiner Trost, daß er keine gefesselten Hände hat.« Mit einem Blick gegen die Pfähle: »Den Achmaksöhnen dort gönne ich die Stricke. Sie haben wohl ärgere Foltern ersonnen und Unschuldige damit gequält. Diese Sache werde ich seelenruhig ansehen!«

Maffio war inzwischen wieder von anderen Würdenträgern angesprochen worden. Ein ihm sonst fremdes Gefühl der Beklemmung und Machtlosigkeit trieb ihn dazu, die nichtigsten Dinge breit und ausführlich zu besprechen. Zudem hatte er dadurch Gelegenheit, seinen Bück von der Stätte des Grauens abzuwenden. –

 

Wie im Traum hatte Marco die Palastgärten durchschritten. Ein verzerrter Traum, in dem die Bilder und Gestalten gleich tibetischen Tanzmasken sich durcheinanderschoben und stets unwahrscheinlichere Formen annahmen.

Warum ist um mich ein Ring von Geborgenheit und Schutz? Alle Ziele in greifbarer Nähe. Mehr noch, die Ziele sind erreicht. Ich sollte jubeln. Wahrlich, ein passender Zeitpunkt. In einer Stunde wird das Blut eines Menschen fließen, der zehnmal edler war als ich. Also ist Erfolg doch nur Schwindel? Satan hilft den Seinen. Ein Glücklicher aber soll denen helfen, die ohne Schuld ins Unglück gerieten. Warum habe ich kein Wort für Bartolomeo gesprochen? Kein Wort! Vielleicht hat Kublai meine Fürbitte erwartet. Verzichten hätte ich sollen wie Tschang-li-sun und als Gegengabe Gnade für den Priester fordern. Feig war ich, feig und gelähmt. Jetzt ist es zu spät. Wie soll ich einen Tag meinen Erfolg genießen mit dem gräßlichen Bild der Erinnerung? Muß ich es sehen? Ich werde erkranken, mich entschuldigen. Neue Feigheit!

Jetzt erkenne ich plötzlich das Einfachste, das bisher keiner bedachte. Muß denn die Mehrheit im Rechte sein? Wurden wir nicht alle von Pasepa betrogen? Auch Achmaks wegen fielen zahlreiche, die der Majestät die Wahrheit sagen wollten. Jetzt biegt sich die Kette der Gedanken zurück zum Ausgangspunkt: Achmak hat gezaubert, wenigstens nach meiner Behauptung. Mehr als das. Er hat verzaubert, behext. Auch Pasepa hat uns behext. Worte Bartolomeos. Ein kleiner Schimmer von Hoffnung. Kaum eine Aussicht, kaum die Möglichkeit einer Rettung. Gleichwohl meine Pflicht, nichts zu unterlassen. Pasepa selbst soll mir Rede stehen. Wird er warten? Ist er nicht fortgegangen?

Marco lief fast schon auf der breiten Zufahrtstraße gegen das äußere Tor des Palastbezirkes zu.

Nichts: Ich sehe ihn nicht! Vielleicht draußen. Und er hastete, ohne sich um das Aufsehen zu bekümmern, das er bei den tatarischen Wachen erregte, hinaus auf die Straße.

 

In seiner Verworrenheit und Anspannung hätte er fast einen lauten Jubelruf ausgestoßen, als er die gelbe Kutte des tibetischen Mönches erblickte, der regungslos an der äußeren Mauer stand und zu Boden sah.

Das Gefolge Marcos, das er hier zurückgelassen hatte, einige Diener und Träger mit einem offenen Tragsessel, strebte gegen ihn zu. Er beachtete es nicht.

»Pasepa!« keuchte er, als er in die Nähe des Mönches gelangt war.

»Was ist geschehen, edler Ma-ko-po?« Noch trauriger, noch umdüsterter erschien das Antlitz des Mönches.

»Geschehen? Nichts!« Marco winkte seine Leute, die ihm nachgedrängt waren, fort. »Hört mich, Pasepa, es muß gesagt sein!«

»Es war ja der Zweck meines Harrens, mit Euch zu sprechen!« antwortete der Tibeter leise und demütig. Nach einem Blick auf die Straße, die in weitem Umkreis leer lag, ein wenig lauter: »Ich schloß aus Eurem Antlitz auf umwälzende Ereignisse.« Er schwieg, doch mit jenem Schweigen, das stehend um Fortführung unaussprechlicher Gedanken ringt.

»Es sind keine Ereignisse, die mich bewegen!« Marco geriet in zunehmendes Feuer. »Es ist das Ereignis, edler Pasepa! Das Ereignis! Hört Ihr?« Er holte tief Atem. Dann unaufhaltsam: »Vor Kublai mußte ich schweigen! Was hätte ich sagen sollen? Euch aber will ich es sagen, da Ihr der einzige seid, der über einen Punkt Aufschluß geben kann.«

Über das Gesicht des Mönches huschte ein Zug unerbittlichsten Verstehens. Abwehrend hob er mit letzter Kraft die Arme.

»Es ist so!« Marco trat ganz nahe an ihn heran, da sich die Straße zu beleben begann. »Gleich wird man uns stören, Pasepa, wo es sich doch nur mehr um Augenblicke handelt!« Heiß und unbeugsam: »Habt Ihr überlegt, was es bedeutet, unschuldig gerichtet zu werden? Habt Ihr das überlegt? Ich verstehe alles! Gut! Die gelbe Lehre steht auf dem Spiele! Hat diese edle Lehre es jedoch notwendig, über Leichen zu schreiten, um zu triumphieren? Ist das der Wille des Erleuchteten? Nichts mehr füge ich bei, als eine Frage: War es ein Wunder, das Ihr vollbrachtet, oder die Lähmung unsres Willens? Der Zwang für uns, das zu sehen, was Ihr befahlt? War der Becher in Wahrheit voll oder war er leer?« Marco stand, hochgerötet, mit weitgeöffneten flackernden Augen, vor dem Tibeter. Seine Fäuste hatten sich, ohne daß er es wußte, geballt.

Pasepa aber, dessen Antlitz sich mit tausend Fältchen unendlichsten Seelenkampfes überzogen hatte, erbebte. Kein Irrtum. Seine ganze riesige Gestalt, die mächtige Gestalt des Halberlösten, die jeder Askese, jedem Ansturm standgehalten hatte, bebte.

Ein Zug von neugierig gaffenden Fußgängern wanderte eben vorbei. Marcos Gefolge hatte sich träge und gleichgültig in einiger Entfernung an den Fuß der hohen Mauer in die Sonne gelungert. Die Sänftenträger begannen mit einem Holzbecher zu spielen.

Alles summte und flirrte. Noch lag der wilde Klang der letzten Worte Marcos in der Luft.

Plötzlich ein Ruck, der die gebeugte Gestalt Pasepas um Handbreiten wachsen ließ. Die Fältchen glätteten sich. Das erlöste Lächeln lag auf seinen. Zügen.

»Wieder hat das Herz des Westens über die kühle Weisheit des Ostens gesiegt!« erwiderte er mit entrückter Stimme. »Euer Herz ist es, Ma-ko-po, Euer heißes, unbändiges Herz, das alle Widerstände zerbricht. Wir irren vielleicht, wenn wir die Leidenschaft verdammen, sie abschütteln, sie überwinden. Auch in der Leidenschaft mag sich manchmal das letzte aller Weltprinzipien ausdrücken!« Stark und endgültig: »Es war mein Wille, der Euch alles sehen ließ! Euren Priester aber konnte ich nicht überwinden. Der Becher war leer!«

 

Schweigend, mit gesenktem Blick, saß Marco Polo in seinem Palankin. Nur ein Gedanke besaß ihn: Würde Kublai dem gelben Mönche noch Gehör schenken? Würde die Wahrheit imstande sein, den Augenschein und die Beleidigung der Majestät zu tilgen?

Hocherhobenen Hauptes hielt sich Pasepa mächtig ausschreitend an seiner Seite. Auch sein Auge sah nur vorwärts, sehnte die Gelegenheit herbei, den wüsten Traum, der noch alle umnebelte, mit der Sonne des Geständnisses zu erhellen; wiewohl ein furchtbarer Unterton seinen Selbstsieg mahnend begleitete: Er wollte den Bruder retten und gab damit den Triumph seiner Lehre preis!

Sie eilten jetzt durch das enge Winkelwerk der Altstadt und strebten dem Westtore zu.

Plötzlich ein Zusammenstrom von Menschen, ein erregtes, wildes Laufen, Schieden und Drängen, das ihnen den Durchgang versperrte.

Eine kurze Strecke wurden sie von der Menge, die, aus allen Nebengassen flutend, sich noch vermehrte, vorwärtsgestoßen.

Achmaks Palast kam in Sicht.

Da, ein schrilles Geschrei, ein tollwütiges, hassendes Gejohle.

Marco fuhr empor.

Sie waren eingekeilt. Kein Zuruf, keine Drohung nützte. Man beachtete sie nicht.

Unvermittelt die Erklärung. Auf der zinnengekrönten Mauer des Achmakpalastes tauchten einige Soldaten auf, die ein langes, in Linnen geschnürtes Bündel schleppten.

Pasepa sah Marco fragend an. Als Marco schaudernd nickte, wandte er sich ab.

Ein neues Aufschreien. Klatschend flog das Bündel auf den Grund der Straße.

Die Menge aber verlor den letzten Rest von Beherrschung. Tobend, pfeifend, ächzend stürzten sich die Zunächststehenden gegen die Leiche des Todfeindes, balgten sich um die Stofflappen, die sie von der Umhüllung rissen, zerstampften alles zu Brei, warfen Knochen und Gewandstücke in die Luft und rasten, daß dicke Staubwolken aufdampften und die schweißtriefenden Antlitze mit grauen Flecken sprenkelten.

Dabei zischte der Name Achmak aus weitgeöffneten, geifernden Mündern.

Marco jedoch suchte mit verzweifelten Blicken einen Ausweg aus den bis zum Wahnsinn aufgepeitschten Menschenmassen.

 

»Zu spät!« rief Pasepa entsetzt, als sie der Richtstätte ansichtig wurden.

Unheimliche Sülle lag über den Zehntausenden, deren zusammenhängende Vielheit sie erblickten. Auf dem hochragenden Throne aber saß, deutlich erkennbar an den umgebenden Standarten und Fächern, Kublai, der Khan der Khane.

Marcos Züge verzerrten sich in wildem Schrecken. Furchtbares Geschick! Warum hatte diese haßtolle Menge sie aufgehalten, es für wichtiger erachtet, den Leichnam zu schänden, als den Lebendigen zu retten? Lebendig? In unerbittlicher Vision sah Marco das edle Haupt des Wahrhaftesten auf dem Rasen liegen, sah den armseligen Rumpf, der vornübergeknickt war unter dem Streiche des Henkers.

Da, ein neues Schrecknis: Plötzlich heiseres, tierisches Aufbrüllen, zügelloses, schmerzdurchschüttertes Brüllen, ersterbend in vieltausendstimmigem, mitleidlos aufgellendem Gelächter.

»Die Folterung der Achmaksöhne!« schrie Marco wie zu sich selbst und hieb mit dem Fächer, den er in der Hand hielt, sinnlos auf den vorderen Träger des Palankins ein, um ihn zu äußerster Eile anzutreiben.

Der Geschlagene merkte es kaum. Denn seine eigene Neugierde jagte ihn vorwärts.

Pasepa aber schien zu schweben. Stets hielt er sich auf gleicher Höhe mit Marco Polo.

Noch einmal das gräßliche Brüllen und das schmetternde Gelächter. Näher und grausiger.

 

Keuchend und kaum ihrer Stimme mächtig, warfen sich Pasepa und Marco zugleich vor Kublai nieder. Farben kreiselten vor ihren Augen, als sie sich erhoben. Sie konnten nichts deutlich wahrnehmen. Zudem brandete jetzt ringsherum eben wieder die schauerliche Zweiheit des Todesschmerzes und des Hohnes auf.

»Warum habt ihr euch verspätet?« Kublai rief es hart, als der tobende Lärm sich gelegt hatte.

»Die Volksmenge, die Achmaks Leiche zerstampfte, war nicht zu durchdringen ...« flüsterte Pasepa noch immer atemlos.

Marco aber hatte einen flüchtigen Blick hinaus auf die Richtstätte geworfen. Zuerst nichts als das wilde Meer der tatarischen Truppen und des Volkes. Dann nackte Körper an Pfählen: Die Achmaksöhne! Eben löste ein Henker einem der Unseligen die Haut in breitem Streifen vom Leibe, daß grelle Röte aufleuchtete. Marco biß die Zähne gegeneinander. Dort, blutüberströmt, der Zweite. Schon schlug wieder das Gebrüll herüber.

Er hörte es nicht mehr. Da, – ah – da Bartolomeo, Fra Bartolomeo! Er kniet auf der Matte. Hat die Hände zum Gebet erhoben. Blickt ruhig und verklärt vor sich hin. Ein Held, ein Vorbild hehrsten Glaubensmutes. Der Henker mit dem langen Schwert hockt im Grase. Frisch geschliffen blitzt die Klinge auf.

Marco riß den Kopf herum. Eben neigte sich Dschingis flüsternd zu Kublai und faltete bittend die Hände. Der Großkhan ersuchte seinen Sohn mit einer Gebärde um einen Augenblick Geduld.

Marco erblickte das Antlitz Maffios, der ihn bekümmert ansah und Tränen im Auge hatte. Peyen sah er und Kogatai, sah andre bekannte Würdenträger, die Oberstjägermeister.

Alles wie ein aufgleißendes und verwehendes Bild.

»Marco Polo! Geh hinunter! Der schwarze Priester will von dir Abschied nehmen!« Kublai sagte es in undurchdringlicher, abweisender Ruhe.

Da stand Pasepa knapp vor dem Throne.

»Er ist schuldlos, Majestät!« rief er mit gebändigter Stimme und sah dem Herrscher ohne Furcht ins Antlitz. »Laßt mich an seiner Statt sterben! Ich habe Euch betrogen, Majestät! Der Becher war leer!«

Kublai fuhr auf. Doch nur für einen Augenblick. Dann lächelte er sonderbar. Ohne zu antworten, winkte er Kogatai heran und sagte kühl:

»Oberst Kogatai, gebt den Tausendschaften den Befehl, die Achmakbrut mit Pfeilen zu überschütten. Prinz Dschingis hat mich um dieses Schauspiel gebeten!«

Unvermittelt wandte er sich an Pasepa.

»Mit dir werde ich später sprechen!« Kopfschüttelnd: »Ich will dir aber jetzt schon ankündigen, daß deine Worte die Zahl der Hinrichtungen wahrscheinlich um eine vermehren werden. Damit du darauf gefaßt bist, Pasepa!« Er blickte hinaus und gab den Henkern ein Zeichen, in der Folter einzuhalten und sich schleunigst zu entfernen.

Kurze Befehlsrufe pflanzten sich von Hundertschaft zu Hundertschaft fort. Noch einen Augenblick. Dann spannten sich wie mit einem einzigen klirrenden Ruck die zahllosen Bogen und eine sausende, surrende Wolke von Pfeilen durchschnitt mit schauerlich hohlem Tone die Luft.

Ein klatschender, peitschender Schlag: Die nackten blutüberströmten Leiber der Achmaksöhne waren verschwunden. An ihrer Stelle aber hingen an den Pfählen riesenhafte, borstige Fabelwesen, die ungeheuren Insekten glichen und in ihrer grausigen Lächerlichkeit alle Herzen stillestehen ließen.

»Die Gnade des Prinzen hat ihre Qual um Stunden verkürzt!« sagte Kublai lässig. »Dschingis hat mich richtig beraten! Unsere Majestät hat es nicht notwendig, das gleiche zu verüben wie diese ruchlosen Frevler, deren Seele eben zum höchsten Totenrichter enteilte!« Ablenkend: »Und nun zu dir, Pasepa!«

Atemloses Schweigen lag auf dem Gefolge, über der Menge, auf der Richtstätte. Marco stand noch starr auf seinem Platze. Kublai hatte es gesehen, ohne einen neuen Wink zu erteilen.

»Du willst dich für deinen Gegner opfern, Pasepa!« fuhr Kublai in milderem Tone fort. »Ich verkenne die edle Absicht nicht im geringsten!« Er schwieg.

Pasepa aber kniete nieder. Ohne Pathos und Leidenschaft. Still erhob er die Augen zum Herrscher und antwortete:

»Ich will mich nicht opfern, Majestät! Nur büßen will ich! Wie soll ich es Eurer erhabenen Majestät beweisen? Die ganze Nacht grübelte ich, rang mit mir. Am Morgen war ich noch zu feig, zu unklar, es zu gestehen. Dann aber kam mir die Erleuchtung. Wisset denn, Majestät, daß unsre Wunder von denen nicht gesehen werden können, die Askese üben. Tausend Versuche in unsren Klöstern mißlangen. Es war mein Betrug, daß ich Euch das nicht vorher sagte, Majestät! So ist denn mein Wunder nicht der Beweis meiner Heiligkeit, sondern vielmehr der Beweis von der Reinheit und heiligen Lebensführung meines Bruders, der dort unten kniet und den Lauf der Welt nicht versteht, da er ja nur die Wahrheit sprach!«

Kublai hatte ruhig und geduldig zugehört. Plötzlich, nach langem Schweigen, lachte er wehmütig und bitter auf:

»Hole den armen Schelm herauf, Marco Polo!« sagte er mit einer Stimme, in der leiser Hohn bebte. »Er soll leben! Mir aber verübelt es nicht, edle Priester, wenn ich für alle Zukunft davon absehe, meinem Volke die einzig wahre Lehre zu verschaffen. Ich werde weiter zu den filzumhüllten, hölzernen Bildern beten, die in unsren Jurten standen, als wir, noch kleine Nomadenhorden, die nördlichen Wüsten durchstreiften. Zu den Göttern werde ich beten, die uns groß und weltbeherrschend gemacht haben. Für meine Handlungen aber werde ich nicht Bücher, sondern die Stimme befragen, die in meiner Brust aufklingt und mich leitet. Es ist eure Schuld, Priester, ob ihr nun Sarazenen, Buddhisten oder Christen heißt, wenn einmal ein Herrscher nach mir folgt, dessen innere Stimme rauher tönt als die meine!« Er hob den Kopf: »Beide habt ihr edel gehandelt! Beide! Bartolomeo und Pasepa! Die endgültige Wahrheit aber konntet ihr mir nicht vermitteln. Dazu bedürfte es stärkerer Beweise!« Lächelnd: »Auch dir verzeihe ich ausdrücklich, edler Betrüger, Pasepa!«

Er gab Marco einen leisen Wink.

Das Volk aber schrie vor freudigem Erstaunen auf, als es sah, wie der Günstling Kublais den zum Tode Verdammten wild in seine Arme preßte und den Henker fortwies.

 

Nicht allzuweit von der westlichen Stadtmauer Kambalus. Draußen in der Ebene, wo die ersten Dörfer begannen.

Marco, Maffio und Fra Bartolomeo waren den Sänften entstiegen und wanderten schweigend einen Feldpfad entlang. Der Priester hatte die Poli gebeten, mit ihm diesen Umweg zu machen, da er den neugierigen Blicken der in die Stadt zurückflutenden Menschenmenge entgehen wollte.

Tiefer, durchsonnter Friede über den Fluren. Bienen und Käfer summten, Schmetterlinge gaukelten über Blumen, Grillen zirpten.

Plötzlich blieb Fra Bartolomeo stehen. Kein Zug seines Antlitzes sprach von den Leiden der Nacht, vom Schauer des Todes, an dem er so nahe vorbeigeglitten war. Güte war in seinen Augen, Demut und leise Traurigkeit.

»Ich lockte euch hieher,« begann er mit voller, tiefer Stimme, »um von euch Abschied zu nehmen, Maffio und Marco Polo!« Ohne das fassungslose Erstaunen seiner Weggenossen zu beachten, schnell weiter: »Gott hat mich für unwürdig befunden, als Blutzeuge zu sterben. Ihr, Kinder der lachenden Welt, werdet es nicht verstehen: Verstoßen fühle ich mich, unnütz und leer! Wie Kains Opfer, dessen Rauch am Boden kroch, hat mich der Herr der Heerscharen zurückgestoßen. Sein Name sei gebenedeit!« Er faßte sein Brustkreuz und küßte es fanatisch. Aufblickend: »Ich werde heimwärts wandern, Brüder! Allein und einsam.«

»Die furchtbare Nacht hat Euch verwirrt, Fra Bartolomeo!« Besorgt und väterlich legte Maffio die Hand auf die Schulter des Priesters.

»Sie hat mich erleuchtet!« kam es zurück. »Noch einmal, ich werde heimwärts wandern. So ich aber das Abendland erreiche, wird ein Kloster den schweigenden Mönch Bartolomeo aufnehmen. Keiner wird wissen, woher er kam, er, der sich untauglich erwies, das Vertrauen des heiligen Vaters zu rechtfertigen.«

Er schritt weiter. Marco war jetzt an seine Seite getreten und flüsterte:

»Überlegt es Euch, hochwürdiger Bruder! Noch ist nicht alles hier verloren. Kublai kann anderen Sinnes werden...«

»Bartolomeo nicht! Der hat ausgekämpft!« Wieder blieb der Priester stehen.

Maffio wiegte den Kopf hin und her und wischte sich den Schweiß von der Stirne:

»Ihr wißt nicht, was Ihr tun wollt!« Nach einer Pause: »Was soll mit Euren Sachen geschehen? Wir werden Euch wenigstens ein kleines Gefolge beschaffen, wenn Euer Entschluß schon unabänderlich sein sollte.«

Bartolomeo lächelte milde:

»Meine Sachen, die wenigen Dinge, die ich sammelte, mögt ihr als Geschenk nehmen, Brüder! Nichts kann mich hindern. Auch ohne Gefolge werde ich das Ziel erreichen, das Gott mir bestimmt hat. Sprecht kein weiteres Wort. Kniet nieder, ich will euch segnen!«

Sein Ton war so feierlich geworden, so aus den tiefsten Abgründen der Seele emporgestiegen, daß die beiden Venezianer unwillkürlich seinem Befehle gehorchten und das Knie beugten.

Über die Felder strich ein kühler Wind, der die Halme aufrauschen ließ.

Bartolomeo breitete segnend die Arme und murmelte ein kurzes Gebet.

Dann kehrte er sich schroff ab und begann mit mächtigen Schritten westwärts zu wandern.

Maffio und Marco aber fanden nicht die Kraft, sich zu erheben.

Erst als die hohe, schwarze Gestalt, abgegrenzt gegen das rauchige Blau der Westberge, auf dem Kamme einer Hügelkette stand, bemerkten die beiden, daß sie nicht mehr knieten.

»Groß und unverständlich! Er will sterben!« Maffio schüttelte bekümmert den Kopf und machte eine Bewegung, als wollte er dem Priester nacheilen.

Marco aber sagte:

»Wir sind Kinder der lachenden Welt, Oheim! Er weiß es besser als wir, was sein Gott befiehlt. Alle freundlichen Mächte mögen ihn schützen! Amen!«

Und er warf den Kopf fast wild zurück und machte die ersten Schritte gegen die Stadtmauer, die wie ein weißes Band oberhalb der Felder lag. –

 

Als Marco die Schattenkühle des Hauses betrat, konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Ohne Unterbrechung suchte ein nagender Zweifel in ihm all die Ängste und Sorgen der letzten Tage.

Er verabschiedete sich von Maffio und ging in sein Zimmer. Schwer ließ er sich auf das Ruhebett fallen, saß vorgebeugt da und preßte beide Hände stützend an die Schläfen.

Sorgen? Gefahren? Ich finde sie nicht! Schweig endlich, du dunkler Unterton, den ich nicht fassen, nicht greifen kann, der mich aber stets aufs neue wieder in Schreck auffahren läßt, wenn er an der Grenze meines Bewußtseins anklingt.

Was will ich? Wo bin ich? Was ist geschehen?

Da, plötzlich ein mächtiger Strom des Jubels. Ich träume nicht. Wirklichkeit ist es, Wirklichkeit, die mich umgibt. Erfüllt und herrlich die Zukunft. Berauschende Tätigkeit und Macht vor mir. Bah! Ein Traum ist es, der hinter mir liegt. Nichts als ein Traum. Nein, doch kein Traum. Ist es nicht ein zweites, größeres, glückverheißendes Ziel, das ich aus der Dunkelheit herüberrettete? Ja, auch das steht greifbar nahe vor mir! Li-ping-erch! Alles, alles ist gelungen! Marco Polo hat gesiegt!

Und er sprang stark und feurig auf und begann im Zimmer auf und nieder zu wandeln. Ein Gefühl unendlichen Glückes sprengte ihm fast die Brust, die sich schwer atmend hob und senkte. In der Flucht der Bilder aber, die vor ihm vorüberbrausten, wuchsen von Herzschlag zu Herzschlag zwei Gesichte stets heischender, stets seligkeitstrunkener empor: Das Bild der Geliebten, deren holder Leib sich bald an den seinen schmiegen, deren süßes Geplauder unverlierbar um ihn sein würde; und das Bild der Macht und Tätigkeit: Brücken sah er, sah Kanäle und Ernten, beladene Schiffe, sah Truppen, die er lenkte, sah Richterspruch und hilfreiche Taten für Arme und Bedrängte, als er zum Spiegel ging und seine Kleider zurecht glättete.

In wenigen Augenblicken würde er wieder hinausschreiten in das Licht und mit festem Griff die Frucht seines Sieges pflücken.

Er schob die Tür zurück, um die ersten Weisungen zu erteilen, die alles in Gang bringen sollten.

Hell und unerbittlich wußte er, daß er auf dem Kulm seines Lebens stand. Und ein heißes, ungesprochenes Dankgebet wogte in ihm auf.

 

Er hatte sich nicht getäuscht. Kein Hindernis trübte mehr die Vollendung seines Erfolges.

Eine Stunde der Wehmut war ihm noch beschieden, als er die kleinen Habseligkeiten Fra Bartolomeos ordnete und versiegeln ließ. Sein stürmischer Sinn aber und die stromgleich auf ihn einstürzenden Verpflichtungen überlärmten eine Liebe zu dem edlen Priester, die erst jetzt, nach der Trennung, so recht in ihm emporkeimen wollte.

Das Leben um ihn herum war in ruhige Bahnen gekommen. Staatsgeschäfte alltäglicher Art beschäftigten den Hof und über dem Weltreich lag tiefer Friede.

Maffio, der von seinen aufblühenden Getreidegeschäften voll in Anspruch genommen war, hatte gleichwohl noch Zeit gefunden, die Hochzeit seines Lieblings mit aller Umsicht zu rüsten, und Tschang-li-sun stand in väterlicher Fürsorge kaum hinter dem Oheim zurück.

Tae-ping, erfüllt von Studienplänen, hatte sich zurückgezogen und betrug sich das einzige Mal, da Marco ihm Aug in Auge gegenübertrat, mit kaltem Anstande.

Li-ping-erch aber wurde beim leisen Klange ferner Flöten, im Duft nächtlicher Blütenkelche, im bunten Scheine zitternder Papierlaternen, die sich in lauen Wassern spiegelten, das Weib Marco Polos.

Die Wolken waren verschwunden, ihre Liebe war der Mond. – – –

 

Ein ausnehmend milder Spätsommer beglückte in diesem Jahre das Reich der Mitte. Schon begann der September und die sonnige Milde wollte kein Ende nehmen.

Die ersten Wochen der Vereinigung hatte Marco Polo mit Li-ping-erch auf seinem Landsitze in den Westbergen zugebracht. Wie ferne Gesichte erschienen den beiden, die nur mehr Gegenwart kannten, ihre Erinnerungen an Achmak, an Bartolomeo, an Uang-tschu.

Li-ping-erch hatte einmal eine Bitte ausgesprochen, die Marco verstehend erfüllte. Sie wollte mit dem Geliebten eine Nacht in der Pagode der irrenden Kobolde weilen. Um die letzte Mahnung an begangenes Unrecht zu verwischen, sagte sie ergeben und stehend. Und sie tilgte das Wort, das sie damals Marco zugerufen hatte: In jener Nacht flackerte aus den letzten Tiefen ihres unerschöpflich reichen Wesens ein heller Brand empor, der Marco fast versengte und ihn zum erstenmal im Leben restlos beseligte.

Durch kühle Nebel des grauenden Morgens schritten sie schweigend zurück zum Landsitz. –

Die niedliche Yü aber diente treu und ergeben der Herrin und harrte geduldig der Stunde, da der strenge Gebieter sein Versprechen einlösen würde. Ihr kleines, verliebtes Hirn zweifelte nicht daran, daß diese Stunde bald kommen müßte. –

Mitten in diese Märchen schlug ernüchternd der Befehl des Khans der Khane, der Marco ersuchen ließ, noch vor dem Antritt seines neuen Amtes mit kaiserlicher Vollmacht nach Karakorum zu reisen, um sich vom Zustand der Stammresidenz der Khane durch Augenschein zu überzeugen, darüber zu berichten und etwaige Mißstände zu beseitigen.

Marco, dessen Wanderlust trotz aller äußeren Veränderung ungeschmälert in seinem Innern lebte, empfand die Störung nicht so schmerzlich, um so weniger, als ja nach seiner Rückkehr das neue Märchen des großen Wirkungskreises winkte.

So zog er fröhlich mit zahlreichem Gefolge gegen die große Mauer. Li-ping-erch aber lächelte stolz, als ihr Gatte die gelbe Jacke und die Tracht des Mandarinen zweiten Ranges anlegte.

 

Weit im Nordwesten, an den Grenzen des heiligen Landes Tibet.

Weiße Wolkenfetzchen rasten auf grellem Himmelsblau hoch über dem zackigen Kamm des kahlen Randgebirges. Im Felsental jedoch regte sich kein Lüftchen. Nur der breite Gebirgsfluß rauschte über mächtige Felsblöcke, schäumte auf, gurgelte an schmaleren Stellen zwischen eng aneindergerückten Steintafeln.

Ein buntes Bild in der erhabenen Verlassenheit: Dort, wo der Fluß auf ebenem Grunde dahinglitt, eine lange Kette von zwanzig bis dreißig nackten, sehnigen Gestalten, die in der Mitte des Flußbettes bis zur Brust in den klaren Wassern standen und einander mit einer Hand am Gürtel hielten, um von der Wucht des an ihrem Körper emporgebäumten Strömens nicht fortgerissen zu werden.

Am Ufer streng zeremoniell ein kleines Bambustischchen, an dem ein chinesischer Militärmandarin saß und mit einem roten Stift oberhalb eines großen Papierbogens wippte.

Daneben ein hoher, hagerer Mann im Ledermantel. Ein fast wagrecht vorstehender Ziegenbart im verwitterten Antlitz. Kleine, stechende Augen.

Eben hatte ein Soldat auf ein glitzerndes Kupferbecken geschlagen, daß es laut dröhnte und sich an den Felsen im Echo brach.

»Der hundertste Stein!« sagte Nicolo Polo mit tiefer Stimme, während der Militärmandarin gravitätisch einen roten Punkt auf das Papier setzte.

Aus dem Flusse war, emporgerissen von den Nachbarn, eine der nackten Gestalten aufgetaucht.

»Wenn Ihr gestattet, edler Herr Ni-ko-po, so lasse ich jetzt die Taucher für einen Augenblick rasten. Sie könnten sonst durch die Kälte des Wassers erstarren!«

Nicolo stimmte zu. Er winkte den Soldaten heran, der die Holzschüssel mit den bunten Ju-Steinen bewachte. Die Taucher aber turnten sich lachend und singend aus den Strudeln des durchsichtigen Gebirgsflusses ans Land.

Nicolo setzte sich zum Mandarin, der sorgfältig die roten Punkte auf seinem Papierbogen zählte. Der Venezianer hatte einen Beutel geöffnet, in den er seinerseits die reiche Ausbeute des heutigen Tages, die schneeweißen, dunkelgrünen, wachsgelben, zinnoberroten und tintenfarbenen Kostbarkeiten hineinzählte, die in ihrer glasigen, abgeschliffenen Glätte das Auge berauschten.

Plötzlich entstand bei den Zelten, die nicht weit vom Flusse am Hange einer Felswand aufgeschlagen waren, eine auffallende Bewegung. Einige Soldaten, die dort mit der Zubereitung der Speisen beschäftigt waren, liefen auf und nieder, andere schwenkten Tücher und kletterten auf einen Felsblock, der die Aussicht weiter hinauf ins Tal versperrte.

»Es stimmt, Herr Ni-ko-po!« sagte der Mandarin. »Ich habe hundert Punkte aufgezeichnet.«

»Auch meine Zahl ist hundert!« erwiderte Nicolo mit leicht verzerrten Zügen. »Leider mit der Einschränkung, daß ein gewöhnlicher Kiesel dabei ist. Gegen diese Galgenvögel von Tauchern sind alle Vorsichtsmaßregeln vergeblich. Wie sollen wir nun beweisen, ob der Taucher sich über die Echtheit des Steines irrte oder ob er den echten verschluckte und den Kiesel einschmuggelte?«

Der Mandarin grinste:

»Es wird nichts übrigbleiben, als die Kerle noch schärfer zu bewachen! Für diesmal sind wir ohnmächtig ...«

Seine Aufmerksamkeit war abgelenkt worden, da ein Soldat von den Zelten angelaufen kam.

Auch Nicolo stutzte.

»Ein hoher Herr, ein mächtiger Herr mit großem Gefolge kommt entlang dem Flusse herab. Was sollen wir tun, edle Herren?« keuchte der Soldat.

»Nichts! Ich werde ihm selbst entgegengehen!« antwortete Nicolo und schob den Bart vor, daß er fast wagrecht stand. »Ihr bleibt da, edler Mandarin! Hier der Beutel mit den Steinen!« Und er legte das Säckchen auf den Tisch und eilte dem Soldaten nach, der inzwischen schon wieder gegen die Zelte lief.

Er hatte noch kaum die halbe Strecke durchschritten, als schon um den hohen Felsblock die Vorreiter des Gefolges sichtbar wurden. Rote Staatsfächer, Lanzen, Ehrentafeln. Edle Pferde. Ein geschlossener Palankin mit einer blitzenden Kugel, die das Dach krönte. Neuerlich Reiter. Schließlich die stumpffarbenen Büffelhautrüstungen tatarischer Krieger.

Wer sollte das sein? Nicolo durchzuckte eine Ahnung. Und er preßte die Hand gegen sein wild pochendes Herz und beschleunigte seine Schritte sosehr, daß er fast schon lief.

Noch ein Augenblick der Spannung. Das Gefolge senkte plötzlich Lanzen und Fächer. Das große Begrüßungszeremoniell.

Der Sänfte aber entstieg ein hoher Mandarin. Leuchtend rot das Gazefutter seines Reisehutes. Nickende Pfauenfedern. Die gelbe Jacke mit den edelsteingestickten kaiserlichen Drachen funkelte in der reinen Sonne. Wie sonderbar jedoch das gebräunte Antlitz in dieser Tracht, das Antlitz, in dem eine edle schmale Nase stand und große runde schwarze Augen strahlten.

Nicolo breitete die Arme und schluchzte auf. Das Erkennen und die Verwandlung des Ankömmlings hatten ihn überwältigt.

Schon kniete der hohe Mandarin vor ihm auf dem felsigen Boden.

»Vater! Vater!« tönte laut und klar die Stimme Marcos. »Dein Sohn kniet vor dir, um dir zu danken und dir die Erfüllung kühnster Träume zu melden! Nicht nur der edle Brauch des Mittelreiches, der diese Kindespflicht vorschreibt, trieb mich hieher. Es ist mein Herz, das dir auf fremdestem Boden heiß entgegenschlägt!« Marco ergriff die alte, sehnige Hand und preßte sie an die Lippen.

Nicolo antwortete leise und zitternd, als er den Sohn zu sich emporhob:

»Jetzt ist mein Glück vollkommen, Marco! Jetzt kann ich sterben! Ich segne den Tag, da ich dich nötigte, mit mir in die Weiten der großen Welt hinauszuziehen!« Seine Stimme zerbrach in einem erstickten Seufzer.

Marco aber schwieg, da plötzlich auf dem Grunde seiner Seele ein rätselhafter Mißton aufgeklungen hatte.

 

Am Abend saß eine fröhliche kleine Gesellschaft im geräumigen Zelte Nicolo Polos.

Marco, neben ihm der Militärmandarin, der Nicolos Bedeckungsmannschaft befehligte und vorhin die roten Punkte aufgezeichnet hatte, weiters ein junger tatarischer Edelmann von Marcos Leibwache, ein chinesischer Mandarin fünften Grades, der zum Sekretär Marcos ernannt worden war, und schließlich Nicolo selbst.

Während draußen ein kalter Wind pfiff, wärmten Diener beim Scheine von Lampions Wein und Tee auf einem Holzkohlenfeuer. Und verschiedene Leckerbissen, die man von den Hirten der Umgebung in der Eile erstanden hatte, schmückten schon die grobe Holztafel.

Nicolo Polo war ungemein angeregt und munter. Er sah beträchtlich jünger aus als zur Zeit, da ihn Marco das erstemal erblickt hatte.

Die Mandarine überboten einander an unterwürfiger Höflichkeit gegen den erhabenen Herrn Ma-ko-po; der junge Tatare aber saß still und bescheiden an seinem Platz und ließ es sich gut schmecken.

Es wurde eben über Edelsteine gesprochen.

»Ich denke, daß in diesem Jahre hier im Norden nicht mehr viel zu holen sein wird!« warf Nicolo hin. »Mein Gewissen hindert mich, die Taucher noch weiter in das eisige Wasser zu treiben, wiewohl sie hartgesottene Sünder sind.«

»Das sind sie!« fiel der Militärmandarin überzeugt ein. »Ich würde wenig Rücksicht üben, edler Herr Ni-ko-po! Krank wird man vor Ärger über das Gesindel!«

Marco fragte dazwischen:

»Kann denn trotz aller Vorsicht ein Diebstahl vorkommen?«

»Erst heute, eben als du erschienst, hat einer der Kerle einen Ju-Stein verschluckt!« lächelte Nicolo. Erklärend: »Wir stellen sie nebeneinander in den Fluß. Sie tasten mit den Füßen umher. Die Beschaffenheit und Gestalt eines Ju- Steines sind nicht zu verkennen. Da sie nun außerdem strengsten Auftrag haben, nur zu tauchen, wenn kein Zweifel besteht, ist das weitere sehr einfach. Bückt sich einer der Taucher, so schlägt der Soldat auf das Kupferbecken. Im gleichen Augenblick zeichnet der ehrenwerte Militärmandarin seinen roten Punkt ein. Der Stein wandert dann von Hand zu Hand ans Ufer und wird in die Schüssel gelegt. Am Schluß wird die Zahl der Punkte mit der Zahl der Steine verglichen. Anders geht es nicht. Wir müssen nämlich äußerst schnell arbeiten, damit die Leute nicht erfrieren. Zudem aber müssen wir auf so viele Nebenumstände, wie Strömung, Wetter, heranrollende Steinblöcke achten, daß ein Bewachen jedes Fundes den Erfolg in Frage stellen würde.«

Marco hatte aufmersam zugehört. Er wurde plötzlich abgelenkt, da ein eintretender Tatare ihm Meldung über den Zustand der Pferde, über die Vollendung des Lagers und über sonstige alltägliche Kleinigkeiten erstattete.

Nicolo hatte inzwischen für neuen Wein gesorgt. Als er den Becher hob, sah er Marco liebevoll an und sagte venezianisch: »Auf das Glück deiner Ehe, Marco! Deine ferne, junge Frau soll in Liebe ihres Gatten gedenken und ihn mit einer verheißungsvollen Botschaft überraschen, wenn er heimkehrt!« Er setzte lächelnd fort, als er getrunken hatte: »Jetzt ist wohl der letzte Rest von Wehmut über die Zerstörung deiner Jugendträume aus deinem Herzen geschwunden, Marco? Oder bereust du es noch, daß du uns gefolgt bist?«

Marco tat mechanisch Bescheid und führte den Becher an die Lippen. Er zwang sich sogar zu einem freundlichen Lächeln, da die Augen des Vaters so heiter strahlten, wie er sie noch nie gesehen hatte.

In seinem Innern aber schwoll der Mißton, den er schon bei der Begrüßung gefühlt hatte, jäh zu einem ungeheuren Sturm des Zweifels an. Nicht gegen den Vater kehrte sich der Zwiespalt der Seele. Nein, gegen sich selbst und gegen die Befriedigung über das Erreichte.

Während er ruhig und beherrscht weiterplauderte, huschten die düsteren Gedanken am Saume seines Bewußtseins vorbei:

Unerbittlich bemerkte er, daß trotz alles äußeren Glanzes sich nichts geändert hatte. Das Wort des Vaters höhnte ihn, wenn er nur an seine Würden dachte. »Mein Glück ist vollkommen!« Ja, Vater, von außen mag sich solch ein Erfolg glücklich ausnehmen. Was aber sagt er dem Innern? Unbegrenzt ist die Stufenleiter der Macht. Eine kleine Sprosse habe ich erklommen. Unmöglich fast scheint ein weiterer Aufstieg. Und was bedeutet er auch, gemessen an der Allmacht eines Kublai? Und selbst Kublai! Hat ihm nicht eine Enttäuschung nach der anderen die Grenze dieser Allmacht gewiesen? Dabei will ich garnicht an die Art denken, wie das Glück zustande kam. Nichts als ein elendes Würfelspiel war es, ein Spiel, das mir so recht zeigte, wie nahe Macht und Größe an Abgründe des bodenlosen Sturzes grenzt. Die zertretene Leiche Achmaks, die geschundenen Söhne sind ein Sinnbild. Aber auch edle Machthaber sind schon gestürzt. Besonders hier im Osten, wo der Boden unaufhörlich knistert, geheime Kräfte wühlen und raunen ...

»Ist der Wein nicht vortrefflich für die rauhe Gegend? Ich bedaure dich, Marco, daß du um diese Jahreszeit noch weiter gegen Norden ziehen mußt!« sagte Nicolo mit tiefer, voller Stimme.

»Verzeih den Übermut, Vater,« erwiderte Marco und schob den prächtigen Reisehut mit dem roten Gazefutter ein wenig aus der gebräunten Stirne, »ich freue mich aber sogar auf die neuen Eindrücke, die mir die Wildheit des Wetters vermitteln wird. Im Herbst habe ich die Wüsten noch nicht gesehen. Dann aber wird es ja wieder nach Süden gehen, weit nach dem Süden. In meine Provinz! Dort will ich, so es Gott verleiht, das Neujahrsfest feiern!« Er machte sich mit dem Wein zu schaffen, da die zweite Gedankenreihe ihn mit aller Wucht in ihren Bann gezogen hatte.

Li-ping-erch! Was hatte der Vater gesagt? Ja, von dort winkte Erlösung, winkle Zufriedenheit. Da war ein Ewiges, ein schlichtes Erdenglück! Zum erstenmal hatte Nicolo das volle Bewußtsein davon geweckt: Die Geliebte, das Weib würde ihm Kinder schenken, liebliche kleine Püppchen, die heranwachsen und in ferner Zeit auch einmal vor dem Vater knien und ihm danken würden für das Erdenlos, zu dem er sie erweckt hatte. Groß und stark werden die Söhne vor mir stehen, holdselig die Töchter heranblühen. Li-ping-erch ist schön, ich bin stark. Was könnte da geschehen? Nein, das ist kein Gefühl des Ehrgeizes, kein erlisteter Erfolg. Mann und Weib, durch Urgewalt der heiligsten Liebe aneinander gekettet, setzen ihre Liebe fort in die dämmrigen Unendlichkeiten der Zukunft! Das ist der Gewinn, das ein Glück, dem ich zujubeln darf!

Und er sagte, anknüpfend an eine längst verwehte Frage des Vaters, plötzlich laut und freudig in seiner Muttersprache:

»Du hattest recht, Vater! Es fällt mir nicht leicht, mich meiner einstigen Gefühle, die mich an die Heimat fesselten, auch nur zu erinnern. Um so weniger beschweren sie mich mit Schmerz und Wehmut!« Er ergriff neuerlich den Becher. »Auf das Wohl meines erhabenen Vaters!« setzte er chinesisch fort und erhob sich.

Die Chinesen schnellten von ihren Sitzen empor und verbeugten sich ehrerbietig vor Nicolo und Marco, da nach ihren Begriffen diese Huldigung vor dem Erzeuger einer heiligen Handlung gleichstand.

Nicolo aber preßte gerührt und beseligt die Hand Marcos, die er unwillkürlich erfaßt hatte. –

 

Karakorum war eine der sonderbarsten Städte, die je die Laune mächtiger Herrscher hervorgezaubert hatte. Weit und breit nur Wüste und felsige Gebirge. So lag die »Stadt des schwarzen Sandes« eingeschlossen in ihre hohen Wälle; sie, die den Großkhanen als unzugänglicher Herrschersitz gedient hatte, bevor Kublai in die fruchtbaren Gefilde des Südens hinabgestiegen war.

Ein leiser Herbstwind trieb auf dem riesigen Platz vor dem verlassenen Palaste die Birkenblätter über den Boden, zwischen dessen Fliesen spärliches Gras wucherte.

Der Himmel aber war grau und Wolkenballen hingen auf den Kuppen der nördlichen Gebirgskette.

Marco Polo, dicht eingehüllt in einen schweren Ledermantel mit schimmerndem Zobelbesatz, stand, umgeben von einer Anzahl von Würdenträgern, vor dem Wunder Karakorums, dem silbernen Brunnen.

Im Hintergrund, den weiten Platz nach Norden abschließend, die mächtige Fassade des alten Tatarenpalastes, die der Front einer abendländischen Kirche glich. Auch hier wie überall mahnende Zeichen des beginnenden Verfalls. Säulenkapitäle fehlten, große Flecken der äußeren Wandgemälde waren herabgestürzt, ja selbst der Sims eines der zwölf Idoltempel, die im Kreise den Palast umgaben, zeigte bedenkliche Risse und Sprünge.

Das Auge Marcos wanderte zum Brunnen zurück. Er entsann sich in leiser Wehmut der Zeit, da sich hier das bunte Gewimmel des Hofes gedrängt hatte, wenn der silberne Engel, der hoch oben den Brunnen krönte, den lauten Ton aus seiner Fanfare geschmettert hatte. Dann war aus den Rachen der vier Silberlöwen der Wein geflossen, die Schlangen, die sich um den mächtigen Silberbaum wanden, hatten Milch, Kumisch und Met gespien und das silberne Laub des Riesenbaumes hatte klingend aufgerauscht.

Wohin alles? Die Drommete des Engels hing verbogen herab, keiner konnte mehr sagen, wo der Eingang war, der zur Treppe im Innern des Baumes leitete. Höhnend ächzte nur der Wind, wenn er sich im Metall verfing und herabbaumelnde Silberzweige an den Stamm schlug.

»Es ist mir unverständlich,« sagte Marco Polo scharf zum Aufseher der Paläste, »daß man sich keine Mühe gab, dieses einzigartige Werk der Schmiedekunst zu erhalten. Seine Majestät wird über meinen Bericht erstaunt sein ...«

»Die Unbilden des Wetters, Exzellenz! Wir haben kein Geld zur Verfügung? Hundert andre Hindernisse!« stotterte der Aufseher, ein chinesischer Beamter.

»Und die Ferne Seiner Majestät! Ich verstehe!« schloß Marco unerbittlich. Plötzlich aufblickend: »Ich erinnere mich, einst gehört zu haben, daß der Brunnen von einem Mann aus dem Westen erbaut wurde. Bin ich recht berichtet?«

»Es ist so, Exzellenz!« fiel ein tatarischer Offizier ein, da der Chinese verlegen schwieg. »Gewiß, Ihr habt die Wahrheit gesprochen, Exzellenz! Der Mann ist hier in Karakorum – wenn er noch lebt! Darüber kann ich allerdings keine Auskunft geben.«

»Er möge gesucht werden und hieherkommen!« entschied Marco. »Ihr aber könnt inzwischen in den Palast vorangehen und mich erwarten. Nur die Diener sollen hierbleiben!«

Die Würdenträger entfernten sich sogleich. Besonders der Chinese war äußerst betreten, der für seine Stellung zitterte und seine Versäumnisse bitter bereute, wiewohl sie ihm bereits ein Vermögen eingetragen hatten.

Marco aber hatte gar nicht die Absicht, ein strenges Strafgericht zu üben. Die Weisung Kublais lautete auch nur dahin, daß er, wenn möglich, selbst die gröbsten Unterlassungen gutmachen und die säumigen Beamten versetzen solle. Karakorum war ja schon längst aufgegeben. Es konnte im besten Falle noch für einige Jahrzehnte ein kümmerliches Dasein fristen.

Als Marco allein war, befiel ihn eine abgrundtiefe Traurigkeit. Verfall, Verfall, nichts als Verfall! Warum bedrückt mich das? Nur, weil ich diese Stadt noch im Glanze sah? Was geht mich Karakorum an? Oder nehme ich es wieder als Symbol? Noch leben hier muntere Menschen, es gibt hier Liebe, Kinder werden geboren, vom Minarett der Moschee ruft der Muezzin zum Gebet, die nestorianischen Christen, die uns römische Katholiken auf Schritt und Tritt verleumden, die in erster Reihe an Kublais Stellungnahme gegen Bartolomeo Schuld tragen, machen sich in ihrer Kirche breit. Kurz, ein buntes Völkergemisch belebt diese nördlichste Zauberstadt. Karawanen kommen und gehen durch die Wüsten, vor dem Osttore wird nach wie vor das Korn gehandelt, im Westen ist der Markt für Schafe und Ziegen, im Süden drängen sich die Ochsenherden und Wagen und beim Nordtore wiehern die Rosse, die des Käufers harren. Genug daran, daß ich dieses Mirakel der Wüstenstadt sah, die in hundert Jahren ein Trümmerfeld sein wird. Wozu mache ich mir Sorgen um Dinge, die erst nach meinem Tode eintreten werden? Oder fühle ich mich, wie Tschang sagte, auch als einzelner für die Weltharmonie verantwortlich ...?

Ah, da bringt der Chinese einen Greis, der sich mühsam über die Fliesen schleppt. Sollte es der Meister des Brunnens sein?

Marco ging den beiden entgegen. Sein Staunen wuchs mit jedem Schritte. Denn der Greis, dessen eisgrauer Bart im Winde flatterte, hatte das Antlitz eines Apostels, eines abendländischen Weisen.

»Wer seid Ihr?« fragte Marco freundlich, als er nahegekommen war. Unwillkürlich bediente er sich der lateinischen Sprache.

»Sprecht chinesisch oder tatarisch mit mir, Herr! Der Klang der Heimatsprache ist für mich verweht!« erwiderte in einem holperigen Gemisch romanischer Brocken der Alte und sah Marco aus hilflos traurigen Augen ins Antlitz.

»Ich fragte Euch, wer Ihr seid!« wiederholte Marco seine Worte und winkte den Chinesen fort.

»Maitre Guillaume aus Paris hieß ich in meiner Jugend! antwortete der Alte mit gesenktem Haupt. »Hier nennen sie mich den Meister des silbernen Brunnquells.«

»Ihr also seid der Künstler, der dieses Werk schuf?« Marco wies gegen den Brunnen.

»Der bin ich!« lispelte der Greis müde und wankte.

»Wir wollen uns auf die Ruhebank am Fuße Eures Werkes setzen!« fiel Marco ein, nahm den Alten behutsam am Arm und leitete ihn zum Sitze.

Plötzlich sah Maitre Guillaume flehend auf:

»Herr, warum läßt man mein Lebenswerk, das dem Großkhan so wohlgefiel, das Tausenden Freude bedeutete, kalten Herzens verfallen? Muß das sein?«

Marco schüttelte erstaunt den Kopf.

»Eben das Gegenteil sollte geschehen! Deshalb rief ich Euch. Ich wähnte, es wäre unmöglich gewesen, den Brunnen wieder herzustellen ...«

»Unmöglich?« Der Goldschmied schluchzte auf. »Täglich gehe ich zu den Verwaltern, täglich bettle ich! Sie grinsen und gebrauchen Ausflüchte. Meine Bittschriften an Seine Majestät bleiben unbeantwortet ...«

»Seid getrost, Meister!« Marco versuchte, durch ein Lächeln den Schmerz des Greises zu lindern. »Morgen beginnt die Arbeit. Man wird auch am Lohne nicht knausern!« Ablenkend: »Jetzt aber möchte ich wissen, wie Ihr, der Sohn Frankreichs, nach Karakorum gelangtet.«

Der Goldschmied machte eine abwehrende Geste. Nach längerer Pause sagte er dumpf:

»Gut! Da Ihr es wünscht, edler Herr! Möge wieder einmal die Wunde bluten!«

»Nein, antwortet nicht!« Marco schüttelte den Kopf. »Verzeiht meine Neugierde! Wir wollen von andrem sprechen.«

»Ich danke Euch, hoher Herr, für Euer Zartgefühl. Ich habe nichts zu verzeihen. Ihr mögt vielmehr mein Zaudern entschuldigen, Ihr, hoher Herr! Die gräßliche Einsamkeit ließ mich so scheu werden. Eure abendländischen Augen aber haben den Panzer meines Herzens gesprengt.« Er sah zu Boden. Als Marco nichts erwiderte, hub er plötzlich an:

»Meine Geschichte ist kurz, wenn man sie erzählt, edler Herr! Unendlich lang aber für den, der sie erlebte. Ich war Goldschmied zu Paris. Mein Ruhm und mein Ehrgeiz trieben mich fort von Weib und Kind, Heim und Wohlstand. Ich begann eben in Belgrad, wohin mich die Reise verschlagen hatte, goldene Fenster für den Palast des Statthalters zu schmieden, als die Tataren wie eine Sturmflut heranbrausten. Vierzig Jahre, vielleicht fünfzig Jahre mag es her sein. Ich weiß es nicht. Wie Herden trieben sie uns nach Osten. Immer weiter. Ein Zufall offenbarte meine Kunst. Ich durfte schaffen, neuen Wohlstand begründen. Und ich erwarb so sehr die Gunst der Majestät, daß keine Hoffnung auf Heimkehr blieb ...« Er stockte, überwältigt von Erinnerungen. »Dieses Gefühl der unendlichen Ferne, der Unmöglichkeit, Nachricht zu geben oder zu erhalten, hat mich Jahre lang gefoltert. Tot und lebendig, lebendig und dennoch tot!« Leise: »Es wurde stumpf, dieses Gefühl! Kraft und Lebenswille siegten. Ich versuchte, mich im fremden Boden zu verwurzeln. Eine Chinesin wurde mein Weib, da mir dieses Volk durch seine Bildung näher stand als die Tataren. Auch einen Sohn hatte ich!« Sein Ton hob sich zu wilder Erregung: »Ich hatte eines vergessen, Herr! Daß mein Sohn ein Chinese werden könnte. Neues Leiden begann. Vater und Sohn haßten einander, bis endlich der Tod meines chinesischen Weibes die letzte Beziehung löste. Kalt und höhnend verließ er mich, er, der Schlitzäugige, Kleine, Verschlagene, der mich als Barbaren verachtete. Ich weiß nicht, wohin er ging. Jetzt aber werde ich in der Fremde sterben, Herr! Einsam im kalten Norden. In Paris bin ich wohl schon seit fünfzig Jahren ein Toter. Das ist meine Geschichte, edler Herr!«

Marco, dessen Seele jedes der Worte wie gräßlichste Enthüllung, furchtbarste Zukunftsmahnung getroffen hatte, stand still auf. Mühsam preßte er hervor:

»Es wird für Euch gesorgt werden, Meister Guillaume! Eure Heimkehr werde auch ich nicht durchsetzen können, wohl aber die Erhaltung Eures Werkes und vielleicht Eure Übersiedlung nach einem freundlicheren Ort. Wenn Ihr es wollt, Meister!«

Der Greis antwortete nicht. Marco winkte Diener herbei und befahl, den Meister nach Hause zu geleiten. Er würde ihn heute noch aufsuchen, rief er ihm nach.

Dann schritt er in tiefster Niedergeschlagenheit gegen den Palast, in dem ein Rudel ängstlicher Schranzen semer harrte. –

 

Zur Rückreise hatte sich Marco Polo Landstriche gewählt, die er noch nie durchmessen hatte. Mehr als einer Gefahr mußte sein Abenteuerzug trotzen, ehe sie wieder an die große Mauer gelangten, die sich an der Nordgrenze des Reiches in unwahrscheinlicher Höhe den wildgezackten Falten kahler Felsberge anschmiegte.

Aber auch als sie schon die chinesische Provinz Kan-su betreten hatten, wollte sein Herz noch nicht ruhiger schlagen.

Wozu all dieses gigantische Erleben? fragte es stets in ihm. Wem soll ich es erzählen? Li-ping-erch? Sie ist doch ein Kind dieses Zauberlandes. Was sollte sie da wunderbar anmuten, sie, von der ich selbst die größten Wunder der chinesischen Geschichte vernahm? Habe ich nicht unbewußt stets im tiefsten den Wahn gehegt, einst wieder über Piazza und Piazzetta zu schreiten und das Getuschel um mich zu hören, das vor Jahrhunderten ein Lucianus von Samosata erträumte? »Das ist er! Seht, er ist es!« sollten die Landsleute raunen und an seinem Munde hangen, wenn er die Märchen und Wunder seines Aufstieges erzählte ... War das Eitelkeit? Oder doch nur der Urtrieb, ein Nichtloskönnen vom Boden, der uns gebar?

Da höhnte es schon, höhnte grausam und unerbittlich: Sei des Goldschmieds eingedenk, Marco Polo! Auch er hat die Maskerade fremdester Fremdheit angelegt, ist geehrt worden, hat Reichtum erworben, Kunstwerke geschaffen, die kein König Frankreichs je hätte zahlen können. Für wen hat er sie geschaffen? Tot ist er seit fünfzig Jahren in seiner Heimat, Karakorum wird verfallen, der schwarze Sand wird den silbernen Brunnen überrieseln ...

Und sein Sohn? Wie freute ich mich, als mein Vater seinen Segenswunsch sprach, wie klammerte ich mich an das Glück, das mir bevorsteht. Alles ist anders geworden, seit Maitre Guillaume mir sein furchtbares Vaterschicksal offenbarte. Auch Li-ping-erch ist mit ihrem Boden verwachsen, auch sie. Was würde sie sagen, wenn ich sie ins Abendland entführte? Würde sie nicht hinsiechen, verwelken, verdorren? Was würden erst die Venezianer sagen, wenn sie die fremdartigen Züge meines Weibes wahrnähmen? Lachen würden die Knaben auf der Piazza, gaffen würden die Mädchen; Doge, Erzbischof und Senatoren würden die Köpfe schütteln. Ich weiß es! Eine Heidin! Vielleicht ließe sie sich taufen. Würde dadurch die Farbe der Haut, der Schnitt der Augen anders? Ich nehme an, es würde schließlich Abstumpfung eintreten. Was aber wird aus den Kindern werden? Söhne, die klein und verschlagen sind, deren Körperbau, deren Wesensart unsrer fremd ist? Gut, Venedig ist an den Anblick ferner Völker gewöhnt. Armenier, Turkomanen, Mohren. Aber ein Polo darf es nicht sein, der solche Züge trägt, nicht ein Mann der Nobilität!

O Li-ping-erch! Ist es eine Sünde, wenn ich zu Gott flehe, er möge deinen Schoß unfruchtbar sein lassen? Möge dir den gräßlichen Zwiespalt der zwei unversöhnlichen Welten ersparen?

Beinahe habe ich meine Provinz vergessen, fasle von einer Heimkehr, die unmöglich ist, türme Schlußfolgerungen auf nebelhafte Voraussetzungen. Und habe meine Liebe vergessen, die mich so sehr beglückte!

Zur Göttin Ungewißheit will ich beten, die bisher stets alles verwandelte, will der zwei Drachen gedenken, die um die Perle der Vollkommenheit ringen; deren Kampf erst das Leben erzeugt. Und will nicht mehr Ruhe und Bewahrtheit vor dem inneren Zwiespalt suchen. Ein Ziel, das wohl nur jene erreichen, deren träges Blut auch keiner Freude fähig ist ...

 

Auf und ab wogten diese Kämpfe in Marcos Brust, als er durch die Provinzen Schen-si und Ho-nan zog.

Schon neigte sich der Januar dem Ende zu. Zunehmend aber wurden die Gegenden, durch die sie eilten, südlicher und südlicher. Die Farbe des Himmels strahlte in einem Blau, das Marco mit Urgewalt sein Vaterland vor Augen rückte. Die Seen waren blau wie der Himmel, überall knospte der Vorfrühling. Dichte Maulbeerwälder, Magnolien,

Orangenhaine. Die Gewässer überwuchert vom Grellrot der Nenuphar-Blüten. Bambushaine rauschten.

Da wurde die Seele des jungen Venezianers, der so lange das Weib hatte entbehren müssen, vom Schäumen seines Blutes überwältigt. Ahnungsvoll wie ein Märchentraum lag ein Flor von Wonne, von Hoffnung, von Sorglosigkeit über seinen düsteren Gedanken; bis der letzte Rest von Sorge durch das jubelnde Singen bunter Vögel, die ihre Kehlen blähten, durch den Farbenrausch der goldenen Fasane, der Damhirsche und Reiher, durch das Duften berstender Knospen getilgt war.

Erhobenen Hauptes, wieder gefestigt und voll Zukunftsglauben, überschritt Marco Polo die Grenze seiner Provinz mit ihren siebenundzwanzig Städten, die sich um Jangtscheu-fu scharten.

 

Un einem Spätnachmittag, an dem der Himmel in sonderbarem Rot leuchtete, erblickte er zum erstenmal den Sitz seiner Herrschaft. Ein würziger Wind blies vom nahen östlichen Meere herüber. Im Norden glitzerten die Flächen der mächtigen Seen.

Sein Gefolge war zu einem unabsehbaren Zug angewachsen. Mandarine der untergebenen Provinzstädte, einige Hundertschaften tatarischer Truppen, Bonzen aller Pagoden, Ehrengesandtschaften benachbarter Provinzen gaben dem neuen Statthalter das Geleite.

An den Mauern der Stadt kamen ihm die Ortsmandarine, neue Truppen, ein Zug von Kaufleuten mit Geschenken und eine neugierige Volksmenge entgegen.

Marco Polo, angetan in die großen Staatsgewänder, saß zu Pferd. Ein edler Schimmel mit rotem Zaumzeug trug ihn. Um ihn herum aber brandete die Huldigung, wippten die rotgoldenen Staatsfächer und Standarten, dröhnten die Trompeten und Trommeln, jubelte das Volk.

Hart sah er vor sich hin, zuckte mit keiner Muskel seines sonnverbrannten Antlitzes, nur die Augen leuchteten seltsam.

Während aber die Bauten der ungeheuren Stadt, die farbigen Schnitzereien, die Wimpel und Fahnen stets prächtiger, stets märchenhafter an seinem Blick vorbeizogen, während der Zusammenstrom des Volkes stets riesenhafter anschwoll, tönte, hundertmal wiederholt, der eine Satz durch sein Inneres:

»Plötzlich erhebt sich der Drache im Sprunge aus den Tiefen des Wassers und steht leuchtend am Himmel, weithin sichtbar: Der Drache des Erfolges, der Macht, der Größe!«

 

In blühenden, üppigen Gärten standen die weitläufigen Gebäude seines Palastes. Ehrenwachen, wimmelnde Scharen von Dienern vor den ragenden Toren, auf denen die bronzenen Löwen und Drachen sich verschnörkelt bäumten.

Wie in tiefem Traum stieg er im Vorhofe ab, erwiderte die letzten Zeremonien.

Nur mehr von ferne klang das Brausen des Festes. Endlich, endlich wieder die Möglichkeit, menschlichste Sehnsucht zu erfüllen! Li-ping-erch! Seit Wochen harrt sie hier schon meiner! Li-ping-erch! Ich komme!

Er machte noch eine Bewegung des Grußes gegen die Zahllosen, die sich tief verneigten. Dann ging er schnellen Schrittes durch die inneren Tore, die sich geräuschlos vor dem neuen Herrn öffneten.

Um Mitternacht in einem der innersten Gemächer, das die zarte Fürsorge Li-ping-erchs genau nach dem Vorbild jenes heimatlichen Zimmers eingerichtet hatte.

Marco saß am Rande des breiten Ruhelagers. Unter dem Umhang aus hellblauer Seide wölbte sich seine mächtige Brust und die breiten Schultern traten wie gemeißelt hervor.

Eine porzellanene Ampel beleuchtete sein Antlitz.

Kohlenbecken durchwärmten wohlig den Raum und verbreiteten einen herbsüßen Duft verbrannter Harze und Arome.

Li-ping-erch lag, in durchscheinende Gewebe hauchfeiner Seiden gehüllt, auf dem Ruhelager. In raschem Wogen hob und senkte sich die zierliche kleine Brust, während das Mündchen halbgeöffnet dem schnellen Atem freie Bahn gewähren wollte. Eine Hand ruhte stützend unter dem Kopf. Die zweite koste lind und wie suchend den Arm des Geliebten. Die Augen aber verbargen sich unter umschatteten Lidern.

Heißer Rausch der Wiedervereinigung hatte die beiden durch Ewigkeiten des Naheseins getrieben, hatte ihre Körper, alles verlöschend, durchbrandet.

Marcos Blick glitt eben den holden Formen ihres Leibes entlang, verweilte bei den Füßchen, den Knien, den Schultern, von deren einer die Seide herabgeglitten war und die rührende Falte zwischen Achsel und Brüstchen entblößte.

Li-ping-erch fühlte diese forschenden Blicke. Unmerklich öffneten sich ihre Lider und ein weiches Lächeln strömte dem Manne entgegen; plötzlich aber erlosch es und verwandelte sich in ängstliches Beben, als Marcos Auge zu lange die Linien ihrer Hüften und ihres Leibes betrachtete.

Mit einer schnellen Bewegung erhob sie sich in kauernde Stellung, zog die Füßchen an sich und umschlang ihn mit beiden Armen. Ein Kuß hauchte an seinem Halse vorbei.

»Drückt dich ein Leid?« flüsterte er, während seine Hand sie fest an sich nahm und innig koste. »Sag mir alles, Li-ping!«

Ihr Köpfchen fiel auf seine Schulter. Er fühlte, wie sie Wange und Auge an ihn preßte. Dabei wurde ihr Atem fast keuchend.

»Li-ping!« Er faßte das weiche Antlitz mit beiden Händen und sah ihr in die abirrenden Augen. »Sprich doch, Geliebte! Sicherlich hältst du irgend eine Kleinigkeit für ein großes Ungemach!« Dabei hatte aber auch ihn schon die Angst überkommen. Nein, solche Gedanken waren Wahnsinn! Untreue war bei jedem Weibe möglich, nur nicht bei ihr!

Unvermittelt ein tiefer, trauriger Strahl ihrer dunklen Augen. Ein schmerzliches Lächeln:

»Dein Wunsch, deine ungesprochene Frage ist fruchtlos, Ma-ko-po!« Ihre Stimme war dünn und weh. »Du mußt eine zweite Frau wählen, Geliebter!« setzte sie müde fort. »Mein Leib hat sich nicht bewährt. Noch fühle ich nichts, was auf Segen der Erde schließen ließe.« Die letzten Worte erstickte ein aufquellendes Schluchzen.

Marcos Gedanken aber jubelten erlöst. Gott hat mein Gebet erhört. Sie hielt meine Angst für den Wunsch, die Arme! Nein, Li-ping-erch, sei nicht traurig! Das soll das kleinste Hindernis unsrer Liebe sein!

Mitten im Weinen erstarrte sie. Was war das? Narrte sie ein wüster Traum? Warum lächelte der Geliebte so befreit, so selig, da sie ihm ihre tiefste Qual offenbart hatte.

Sie sah ihn entsetzt fragend an.

Marco, der plötzlich alles voll begriff, wandte sich ab und blickte auf den Papagei, der eben mit den Flügeln schlug und sich mit dem Schnabel in die Gitterstäbe einhackte, um sich possierlich hinabzuturnen.

»Li-ping-erch!« sagte Marco leise, ohne sich zu bewegen. »Heute werde ich dir etwas zu erklären suchen, von dem ich fürchte, daß du es nicht verstehst. So wie du mir einst Dinge schriebst, die nach deinen Worten meiner Welt ewig fremd bleiben müßten.« Zunehmend heißer und erregter: »Auch ich habe viel gelitten, Li-ping, in der Zeit, da wir einander körperlich so ferne weilten. Sehnsucht nach der Heimat ist in mir emporgestiegen, Schicksale durchlebte ich schon, die erst unsere Zukunft bringen könnte. Und da fand ich ...« Er stockte und schloß die Augen, die zu schmerzen begannen. »Da fand ich,« setzte er tonlos fort, »daß es vielleicht besser ist, wenn unserer Liebe keine Kinder entsprießen, Li-ping-erch! Unsere Liebe kann die Kluft zweier Welten überbrücken, sie kann die Mauern durchstoßen, die die Natur zwischen uns türmte. Der Zwiespalt aber, der vielleicht die Seelen unserer Kinder zerfleischen würde, den wird keine Liebe heilen können. Da ja kämpfende Kräfte in der eigenen Brust nur den Haß dessen erzeugen, dem sie das Gleichmaß seiner selbst zerstören.« Er kehrte sich herum und sah ihr voll ins Gesicht.

Er erschrak. Denn der Ausdruck fassungslosen Entsetzens, der ihm entgegenzitterte, lag weit jenseits seiner schlimmsten Befürchtung. Doch währte dieser Ausdruck nur einen kurzen Atemzug lang. Schon glättete sich Li-pings Antlitz zu willensstarker Ruhe.

»Ich werde deinen Wunsch nicht vergessen, Geliebter!« erwiderte sie mit sonderbar klarer Stimme. »Ich weiß, daß du mich mit deinen Worten trösten wolltest.« Betont: »Glaub mir auch, daß meine Liebe heiß genug ist, dich zu begreifen und deinen Wunsch zu teilen; so sehr dieser Wunsch von all dem abweichen mag, was mir selbst als heilig und als unverrückbares Gebot der Weltharmonie scheint. Entscheiden aber wird es doch nur das Schicksal selbst, ob wir uns in unsren Kindern fortsetzen dürfen!«

Noch einen Augenblick senkte sie das Köpfchen und zog die zarten Schultern in wildem Seelenkampf hoch. Dann preßte sie den Geliebten wie im Fieber glühend an sich und küßte ihn so wild und begehrend, daß er in die zeitlosen Tiefen höchster Lebenserfüllung versank.

 

Nächsten Morgen führte ihn Li-ping-erch durch den Palast. Ihr Wesen war wie zurückverwandelt in jene Zeit, da sie einander zum erstenmal gesehen hatten. Ohne Anspruch auf eine Antwort plauderte sie heiter, und jedes Zimmer, das sie durchschritten, gab ihr Gelegenheit, die Buntheit der Seele, die tausend kleinen Kostbarkeiten ihres Gemütes zu offenbaren. Da war kein Winkel, keine Wand, die ihr Kunstsinn und ihr Geschmack nicht für den Geliebten verziert und vorbereitet hätte.

Marco ließ sich im Strom dieser unerschöpflichen Zärtlichkeit, dieser Kunst, dem Leben letzte Süße abzugewinnen, wortlos dahintreiben. Die neuen Eindrücke hatten ihn schon jene Worte vergessen lassen, die für einen Herzschlag ihre Seelen weltenweit auseinandergetrieben hatten. Li-ping hat recht. Nur das Schicksal kann unsre Zukunft entscheiden. Warum sprach ich die plumpen, selbst nur halb geglaubten Befürchtungen aus? Trugschlüsse mögen es sein, Irrgänge der Gedanken, die dem Einzelfall des französischen Goldschmiedes allgemeine Geltung beilegen. Die Natur selbst kann doch nicht heiligste Liebe zulassen, wenn sie die schlichten Folgen nicht will. Vater und Sohn haben sich schon oft entzweit, verfolgt, getötet, auch wenn sie gleichem, ähnlichstem Stamme angehörten. Vielleicht eben dann ...

Er flüsterte der Geliebten einige Worte des Dankes zu, die ihr wieder ein Lächeln entlockten.

»Laß meine dummen Worte ungesprochen sein, Li-ping-erch!« fügte er hinzu und drückte ihre zarten Fingerchen. »Erlebnisse der Reise, die mich verwirrten. Ich bin doch so stolz und glücklich, Geliebte, dich errungen zu haben!«

Sie sah ihn erstaunt an und schwieg plötzlich. Dann aber, als ob sie nicht verstanden hatte, setzte sie den unterbrochenen Satz fort und beugte sich nieder, um ihm ein besonders kostbares Stück der Einrichtung, eine Tasse aus Jade, zu zeigen.

 

Viele Monate waren in herrlichem Glanze vorbeigezogen. Jang-tscheu-fu, die wimmelnde, bunte Handelsstadt, blühte mit ihren siebenundzwanzig Tochterstädten unter der zielsicheren Regierung Marco Polos zusehends auf und gelangte schon in dieser kurzen Zeitspanne zu so hohem Wohlstand, daß der Statthalter die doppelte Summe an Steuern der Majestät des Kaisers zu Füßen legen konnte.

Kleine Reisen, Fahrten zum nahen Meer in prächtigen Staatsdschunken, Feste, Einweihung von Bauten und Gepränge wechselten einander ab.

Eine neue Welle von Erfüllung und Zufriedenheit hatte in Marcos Gemüt auch den letzten Rest der Zweifel fortgespült, umsomehr, als ihn die Liebe seiner Frau mit stets gleichmäßiger Holdseligkeit umgab.

Der Sommer neigte sich schon dem Ende zu, als er einmal auf zwei Wochen seine Residenz verlassen mußte, um den Besuch eines benachbarten Statthalters zu erwidern und mit ihm gemeinsame Angelegenheiten ihrer Provinzen zu erörtern.

 

An einem stillen Abende kehrte er nach Jang-tscheu-fu heim.

Schon im Vorhofe fiel ihm die beklemmende Förmlichkeit auf, mit der er von den diensthabenden Mandarinen empfangen wurde. War ein Unglück geschehen? Ein Ereignis, das seine Provinz betraf? Nein, er hätte es doch bemerken, etwas davon erfahren müssen, als er sein Gebiet durchzog. Also etwas, das die eigene Person anging? Ein furchtbarer Schreck durchzuckte ihn. Li-ping-erch! Was aber? War sie krank ...?

Weiter wagte sein entsetztes Gemüt nicht zu denken. Alles kreiste in seinem Kopfe.

Ah! Dort kommt Enrico gelaufen. Verstört. Schweigt, sagt nichts. Ich will nichts wissen!

»Masser! Masser Marco!« stammelte der Riese, der sich vor ihm auf die Knie geworfen hatte und seine Hand küßte. »Sie ist fortgezogen, fort! Niemand weiß wohin. Wir konnten Euch nicht zurückrufen, keine Nachricht geben. Die Boten fanden Euch nicht!«

»Wer? Was? Ich verstehe nichts!« Marco war stehengeblieben und machte eine hilflos fragende Geste.

»Die Herrin, Masser! Sie ist verschwunden. Vor vielen Tagen schon!«

Marco stampfte verzweifelt mit dem Fuß:

»Tot? Geraubt? Ich verstehe noch immer nicht!«

»Nein, bei der Madonna, tausendmal nein! Fortgezogen ist sie, hat gesagt, sie will nie wiederkommen. Ihre Dienerin hat es Yü gesagt ...«

Marco erbleichte und begann zu wanken. Mit letzter Kraft faßte er sich und ging mit langen, eckigen Schritten in den Palast, dessen verschnörkelte Schnitzereien und farbige Glasuren vor seinen Augen verschwammen.

Alle wichen ihm scheu und mitleidig aus, als er gegen das Gemach Li-pings zuschritt.

Plötzlich war es so sonderbar grell und kalt in ihm. Was ist denn geschehen? lallte es zerbrochen in seinem Kopfe.

»Der Brief, den Euch die edle Herrin hinterließ!« lispelte es plötzlich neben ihm.

Ja, es ist Yü! Yü ist das! Ich träume. Alles habe ich geträumt. Ich liege noch im Fieber im Landhaus auf den Westbergen. In der Pagode der irrenden Kobolde. Ob ich sie wohl treffen werde. Fort von mir, Tae-ping! Sie ist ja mein Weib. Alle Zeremonien wurden erfüllt. Nein, das Fieber will nicht weichen. Die Wunde ist entzündet. Gleich wird Enrico kommen. Ich muß mich beeilen, sonst sieht er, daß ich den Raum durchs Fenster verlasse ...

Ein Aufschluchzen, ein wildes, jammerndes Weinen.

Yü hatte seine Knie umklammert.

Was war das eben? War das der Wahnsinn?

Nein, leiden bis ans Ende! Der Traum zerrinnt!

»Gib mir den Brief!« ächzte er heiser hervor und entwand sich ihrer Umklammerung.

»Hier ist er, armer, unglücklicher Herr!« Ein Ton abgründigen Mitleidens, der ihm Trost zuwehte, so sehr er auch das kleine Geschöpfchen im Augenblick haßte.

»Laß mich jetzt allein!« Sein Antlitz war nur mehr eine harte Maske verkrampfter Muskeln, aus der die Augen starr hervorloderten.

»Wenige Worte, Geliebter, zeichne ich auf dieses Blatt, wiewohl es die letzten Worte sind, die du von Li-ping-erch vernimmst. Freiwillig und bewußt bin ich von dir gegangen, habe alles, alles, was die Erinnerung an mich wecken könnte, mit mir genommen. Nichts soll bei dir bleiben als ein zarter Nachklang unsrer Seligkeit!«

Marcos Brust wurde von trockenem Schluchzen erschüttert. Unendliche Zeiträume schienen vorbeizurollen, bis es ihm wieder möglich war, den Sinn der süßen kleinen Schriftlichen zu erfassen.

»An meiner Liebe hat sich nichts geändert, Ma-ko-po! Ich schwöre es dir bei allen Göttern. Nur der sehnliche Wunsch meiner Einsamkeiten, der Wunsch nach dem Kinde, reifte zur Erfüllung. Fürchte nichts, Geliebter! Nicht deine Worte, die du einst nach deiner Heimkehr sprachst, schrieben mir mein Handeln vor. Eigene Gedanken, viel später in mir selbst emportauchend, führten meine Seele zum Entschluß. Ich hätte dir nie in deine Heimat folgen können, Geliebter. Hätte nie das heilige Reich der Mitte verlassen dürfen. Ich sehe die Frage in deinen Zügen, Ma-ko-po. Antwort sei dir mit den Worten, die euer Priester dem großen Kublai sagte: Es gibt nicht zweierlei Wahrheit! Für mich nicht, Ma-ko-po! Wahrheit ist deine Sehnsucht nach der Heimat, Wahrheit deine Furcht vor dem fremden Kinde. Wahrheit aber auch meine Pflicht, die Ahnentafeln meiner Vorfahren nie zu vergessen. Du verstehst mich nicht, Geliebter! Ich will es dir schlichter sagen. An einem trauten Orte werde ich dein Kind gebären, werde es heranziehen, für seine Bildung sorgen. Nie werde ich Mangel und Sorge leiden. Dann aber will ich es lehren, an der Ahnentafel zu opfern, die deinen Namen trägt, Ma-ko-po. Goldenen Flitter, Bilder und Backwerk wird dein Kind vor der Tafel verbrennen. Besser wird so dem Tao gedient sein, als wenn sich bei deiner Abfahrt nach den westlichen Ozeanen Li-ping-erch den Tod gegeben hätte. Sich und ihrem Kinde. Denn wer würde dann für dich in heißer Liebe beten, Ma-ko-po?

Such mich nicht, Geliebter! Denn nur eine Tote könntest du finden. Was ich dir verdanke, Geliebter, weiß ich. Nur Liebe, eine Liebe, die so groß ist, daß sie nicht mehr besitzen will, wird manchmal dich umwehen. Dann aber wirst auch du mir danken, mich segnen und heiter lächelnd für mich beten!«

Marco hatte das Blatt sinken lassen und starrte ohne Fassung vor sich hin. Was ist das? Was bedeuten diese Worte? Zweierlei Wahrheit gibt es nicht! Ja, für dich gibt es nur eine Wahrheit, Geliebte. Doch welche? Ich verstehe sie nicht. Nichts, nichts verstehe ich! Vielleicht willst du nur die Schuld auf dich nehmen, die mein Wunsch, mein frevelhaftes Gebet um Vernichtung deiner gottgewollten Bestimmung als Weib in die Welt brachte. In unsre kleine, sonnige Welt.

O entsetzliches Geschick! Sie wähnen mich zu befreien und schlagen mich in die wildesten Fesseln. In die Fesseln der Reue, des Wahnsinns, der Selbstverneinung!

Oder ist es doch etwas anderes? Ist dieser Verzicht Melissens, Francescas, Li-pings nicht doch nur die Überzeugung von meiner Wertlosigkeit? Ende einer kaum bewußten Enttäuschungskette?

Ein Rätsel ist es, ein unlösbares Geheimnis!

Und das Gräßlichste! Ich kann nicht leugnen, daß jetzt schon in mir jener lockende Satan flüstert, jener Satan, der mir mitten in der Verzweiflung Trugbilder der Zukunft vorgaukelt.

Nein! Es gibt keine Zukunft! Abstieg! Abstieg gibt es noch, Schalheit und Schwermut!

Leiden will ich, will büßen, nicht fremde Seelen meine Schuld tragen lassen!

Schon ist Satan vertrieben. Nur mehr Schmerz, hoffnungsloser Schmerz in allen Tiefen meiner Seele! –

Seine Gedanken stockten. Denn plötzlich stiegen die kleinen Dinge vor ihm auf, Bilder, Worte, Gesten der Geliebten. Ihre Kleider sah er, sah die Fingerchen, hörte ihr Geplauder.

Verloren! Für ewig verloren! Kein Trost! Leere, gähnende Leere!

Und aus allen Zonen der Seele zugleich stürzte Schmerz auf ihn ein, daß er aufs Ruhelager sank und mit verdorrtem Hirn vor sich hinstöhnte. Bis auch der letzte Laut seines Wehs erstarb und nichts zurückblieb als ein tränenloses, keuchendes Atmen.

 

Endlich nach ungezählten Wochen eines Leidens, das ihn trotz scheinbarer äußerer Ruhe mehr als einmal an den Rand der Vernichtung gelockt hatte, war das Unerklärliche Sieger über den Schmerz geblieben.

Große Ereignisse, Rebellionen im Süden, rissen ihn wieder zum Mittelpunkt der Tat. Entscheidungen, die er zu treffen hatte, nahmen durch viele Tage Geist und Gemüt in Anspruch, bis versteckt unter dieser Oberfläche des männlichen Dranges die Zeit ihre verwischende, verschleiernde Arbeit verrichtet hatte.

Zuerst hatte er sich noch aufgebäumt, hatte es unternommen, mit allen Mitteln von List und Vorsicht ihre Spur zu suchen. Bald jedoch raunte ihm die flüchtige Botschaft eines plötzlich aufgetauchten Chinesen eine furchtbare Warnung zu. Der nächste, auch nur kleinste Versuch zur Entdeckung würde die ferne Geliebte töten. Ernst sei diese Nachricht, unerbittlicher Ernst!

So sank auch dieser letzte Widerstand gegen das Endgültige der Trennung kraftlos zusammen.

Neue Tat mußte neuen Inhalt schaffen.

Marco Polo klomm auf der Stufenleiter der Ehren von Tag zu Tag empor. Mehr als einmal huldigte ihm das anvertraute Volk, mehr als einmal zeigte Kublai sichtbar seine Gnade. Mit doppelter Liebe und hingebendem Eifer aber mühten sich alle, die um ihn waren, seine Zufriedenheit zu erringen, da sein Antlitz sichtbare Spuren des durchlittenen Schmerzes trug.

 

Im Frühsommer des nächsten Jahres.

Marco Polo saß im Garten seines Palastes. Scharlachrot die Seide seines Gewandes. Bestickt mit Smaragden und grünen Türkisen. Ein Thron, auf dem er ruhte.

Er blickte über den blumenprangenden Rasen, blickte hinaus auf den glitzernden See, der von der Nachmittagssonne mit einem leisen Rauch verschleiert wurde.

Flüchtige Bilder, Bilder von märchenhafter Größe und Buntheit vor seinem innern Auge:

Quin-sai hatte er gesehen, Quin-sai, die größte Stadt der Erde, gegen die Kambalu verblaßte. Die Stadt des Himmels mit ihren Kanälen, ihren gepflasterten Straßen, ihrer vielfarbigen Pracht und Üppigkeit. Paläste, Märkte, Haine, Tempel, die Buhlerinnen, die man nie mehr vergißt, wenn man einmal ihrer wissenden Liebkosung teilhaftig wurde, all das hatte er gesehen, durchwandert, erlebt. Wälder von Schiffen auf dem Flusse, hohe Brücken über die Kanäle wie in Venedig. Nur alles tausendfältig. Und ein lachendes, sorgloses Volk, ein Volk, in dem der Lastträger reicher war als anderswo ein Mandarin und in bunter Seide einherging. Und eine sonnige Ruhe, ein Friede, den nie ein Streit oder ein Aufstand unterbrach.

Marco lächelte. Die fünf zierlichen Palastmädchen, die vor ihm auf dem Rasen mit Yü ihre kindlichen Spiele trieben, liefen eben um die Wette mit einem kleinen Reh, das tolle Sprünge vollführte und plötzlich zitternd stehen blieb.

Du hast es gut mit mir gemeint, edler Kublai! Mehr Liebe hätte mir ein Vater nicht beweisen können als deine erhabene Majestät, die mir die schönsten Mädchen schenkte, um mein Herz zu trösten.

Wie sie jetzt mit dem goldenen Ball spielen, die schlanken Geschöpfchen! Sie wollen nichts, sie denken nichts. Sie lächeln und plaudern, gehorchen und freuen sich ihrer Jugend und untadeligen Vollkommenheit.

Fünfundzwanzig Karat! Ein sonderbarer Gedanke des Weltherrschers, die Reize der Mädchen wie Edelsteingewicht zu beziffern. Wo mag man sie gesucht haben, bis sie die wochenlange Prüfung der Schönheit unter Zehntausenden bestanden? Vielleicht in Persien, in Indien, in den Steppen von Karazan, an der Grenze Tibets ...

Spielt und freut euch, Mädchen! Auch euer Herr hat seine Seele wieder zur Ruhe gezwungen.

Die Mädchen hatten sich ins Gras gelagert und kosten das verängstigte Rehlein, das sich mit jämmerlich treuherzigen Augen der unbekannten Gefahr entwinden wollte.

Yü aber lief umher und suchte Blumen, um einen kleinen Kranz daraus zu flechten.

Marco blickte eben wieder gegen die Bambuswälder jenseits des Sees, die in berstender Üppigkeit sproßten, als plötzlich ein atemloser Chinese neben ihm kniete.

»Ein Besuch, Herr! Ein hoher Besuch, Exzellenz!« keuchte der Chinese hervor.

»Wer ist es?« Marco kehrte sich lässig herum, da er über die Störung der seltenen Muße nicht eben erfreut war.

»Ein hoher Herr vom Hanlin-Rang! Seinen Namen hat er mir nicht genannt. Er wird sogleich hier sein. Er will Euch überraschen, Exzellenz!« Der Diener lief schon davon.

Wer sollte es sein? Gar Tschang-li-sun? Marco klammerte sich an diese Hoffnung. Ja, es kann nur Tschang sein. Ich kenne keinen anderen Akademiker des Hanlin so nahe, daß er mich besuchen könnte. Endlich darf ich wieder seiner Weisheit lauschen, endlich Antwort auf so viele Zweifel und Rätsel erhalten ...

Die Höflichkeit verbot ihm, sich umzuwenden: Die Überraschung durfte nicht vereitelt werden. Plötzlich sah er das entgeisterte Gesichtchen Yüs, die ihren Kranz fallen ließ und steif dastand.

Da tönte auch schon eine Stimme knapp hinter ihm:

»Es ist mir eine Ehre, edler Herr Ma-ko-po, Euch meinen Besuch abzustatten!«

Wie ein Peitschenhieb klatschte es über Marcos Seele. Er verfärbte sich und sprang jäh auf. Er hatte die Stimme erkannt.

Tae-ping, in der gelben, perlengestickten Jacke, den Knopf des Mandarinen erster Klasse auf dem Reisehut, stand aufrecht und hämisch vor ihm und grinste, als er sich geschmeidig zum Kotau verneigte.

Kaum eines Gedankens fähig, erwiderte Marco das Zeremoniell.

»Setzt Euch, werter Mandarin zweiten Ranges!« sagte Tae-ping mit betonter Herablassung. »Ich kann stehen. Ich habe Euch nämlich nur wenige Worte zu sagen.«

Marco winkte Yü mit einer wilden Geste, einen Sessel für den Besuch herbeizuschaffen.

»Noch einmal, gebt Euch keine Mühe!« näselte Tae-ping geringschätzig. »Daß ich den heiligen Grad erreichte, dürftet Ihr wohl bemerkt haben. Ich habe sogar, trotz meiner Abneigung, für beschränkte Zeit eine Stelle im Staatsrate des Mittelreiches angenommen. Eurethalben, lieber Ma-ko-po! Damit ich endlich bei Euch das Gefühl des Unterschiedes zwischen einem durch keine Prüfung beschwerten Statthalter und einem wirklichen Hanlin hervorrufe. Seine Majestät, der erhabene Kaiser Shi-tsu, hatte nämlich die Gnade, die alten Rechte der Bildung wieder einzuführen!«

Marco war nahe daran, aufzufahren und seinem Todfeind einen Schimpf anzutun. Im letzten Augenblick beherrschte er sich. Rache des Bruders für die Erniedrigung der geliebten Schwester, heulte es in ihm auf. Ich bin machtlos, doppelt ohnmächtig! Kein Zweifel, er hat mich auf der Stufenleiter der Gewalt übertroffen. Mein Amt ist verloren, wenn ich ihn im eigenen Hause schmähe. Ducken muß ich mich, muß mich verneigen, muß die Zähne zusammenbeißen! Auch die Gunst Kublais kann nichts daran ändern. Waren doch wir es, die ihm den Steigbügel zum Aufstieg hielten. Maffio und ich selbst ...

»Noch etwas, edler Ma-ko-po!« lächelte der Hanlin, der sich lässig in den von Yü herbeigebrachten Stuhl niedergelassen hatte. Er spielte mit der Edelsteinkette. Plötzlich mit furchtbarem Ernst: »Ich wollte so nebenhin feststellen, daß es doch besser gewesen wäre, wenn ich meine Schwester mit einem Lastträger aus Nan-king verheiratet hätte! Ich habe dabei mein eigenes Glück, das Glück Li-pings und schließlich auch Euer Glück, sehr ehrenwerter Mandarin des zweiten Ranges, im Auge. Vom großen Tao schweige ich, da ich nicht weiß, wieweit Ihr diese Lehre anerkennt – oder begreift!« Er lehnte sich zurück.

Marco aber hörte nicht mehr die Beleidigung, hörte nicht Hohn und Rache. Nur die gräßliche Wirklichkeit des Schmerzes blieb in ihm, als er leise erwiderte:

»Ich bin zu stolz, edler Tae-ping, um meine Schuld zu leugnen oder zu beschönigen! Ich liebte Eure holdselige Schwester mehr, als ich je ein Weib liebte ...«

»Ihr verstandet, Euch zu trösten!« Tae-ping wies in verzweifeltem Spott gegen die Mädchen, die unbekümmert ihre Spiele weitertrieben.

Marco beachtete den Einwurf nicht. Hart setzte er fort:

»Das Ende aber erfloß nicht aus meiner Schuld allein. Es war das Schicksal, der tiefste Urgrund des Schöpfungsplanes, der getrennte Welten schuf, die einander zwar lieben, nie aber einander durchdringen können!«

Tae-ping lächelte plötzlich wie belustigt:

»Nie habe ich etwas andres behauptet, edler Ma-ko-po! Niemals! Laßt Euch nicht durch die Schärfe täuschen, die mein Kampf öfter annahm. Ich griff nur zur Schärfe, weil Ihr alle die Grundwahrheit der Wahrheiten leugnen wolltet. Jetzt aber habt Ihr selbst zugegeben, daß ich weiser war, als ihr alle. Und daß deshalb mein Hanlin-Grad nicht so unberechtigt sein dürfte!« Er stand auf.

Marco aber, der wußte, daß er nach strengem Gesetz des Landes durch sein Einbekenntnis endgültig das Gesicht verloren hatte, der weiter wußte, daß sein Feind diesen Makel ohne Gnade gegen ihn ausspielen würde, raffte sich zum letzten Gegenhieb auf. Sein Antlitz war fahl und er bebte, als er herauskeuchte:

»Es war mir und meinem Oheim eine Ehre, eine unaussprechliche Ehre, einen bescheidenen Anteil an der Wiederaufrichtung der Stätte höchster Weisheit beizutragen! Möge das große Tao niemals durch Ehrgeiz getrübt werden ...«

Tae-ping zuckte unter der Antwort, die schonungslos seinen Verkauf der Schwester bloßlegte, zusammen. Er lachte gellend auf:

»Noch weniger aber, Ma-ko-po, möge das heilige Vertrauen, der edelste Ehrgeiz unsres Volkes zur Erreichung erkannt unmöglicher Ziele mißbraucht werden! Keiner von allen, die in deine Nähe kamen, hat Strahlen auf das Gesicht bekommen, Ma-ko-po! Ich sehe die Kraft nicht, die dir innewohnt. Es ist eine dunkle, höllische Zauberkraft. Der Verstand allein war es nicht, der dich jetzt rettete, edler Statthalter!« Und er machte schnell seine Verbeugungen und eilte mit zurückgeworfenem Haupte über den Rasen dem Tore zu.

 

Marco Polo aber sank in sich zusammen. Wieder der Fluch, wieder und wieder! Keiner, der in meine Nähe kommt, kann bestehen, kann glücklich weiterleben. Was heißt das? Bin ich wirklich ein höllischer Dämon? Ist der Fluch überhaupt wahr? Maffio, mein Vater, Enrico, die kleine Yü, Kublai, die vielen Freunde. Wer von euch wurde durch mich unselig? Mädchen ohne Zahl, die mir nicht fluchten!

Viel schwerer das Rätsel, viel unheimlicher, daß alle, die gut und edel waren, zerschellten. Warum zog sich der große Tschang zurück, warum floh Bartolomeo in die Wüsten? Wo ist Pasepa? Wo Li-ping-erch? Wo Uang-tschu? Warum nur ich selbst und Tae-ping auf den Höhen des Erfolges? Gleich stark wir beide, einander hassend, bedrängend. Doch aber unbesiegbar einer für den andren!

Ist nicht der Hanlin mein verzerrtes Spiegelbild? Fehlte nicht oft nur ein Wort, eine Geste, daß wir einander in die Arme sanken? Fremder Bruder Tae-ping! Vielleicht stehst du mir näher, als ich es ahnte!? Beide verwechselten wir vielleicht unsren unerfüllten Wunsch nach Reinheit, unsren unerfüllbaren Wunsch nach dem Guten mit der Wirklichkeit unsres Charakters!

Plötzlich die Erleuchtung! Tschang und Pasepa, Li-ping, Bartolomeo und Uang-tschu gehören in jene Welt, die das Reich Francescas, Malipieros, Moris war: Sie kennen nur einerlei Wahrheit!

Tao, heiliges Tao! Auch dich begreife ich jetzt erst voll und ganz! Wie ein Traum zerrinnt die Vielfalt meines Erlebnisses und ich halte hier, am Rande der Welt, nichts andres in der Hand als mein nacktes, jämmerliches Ich!

Alle, die ich ehrte, denen ich nachstrebte, die mir schließlich unverständlich wurden, lebten im Gesetze! In einem hohen, heiligen Gesetz des Ich. Es ist das Tao, für das sie sich auch als einzelne verantwortlich fühlen, ohne das die Welt nicht bestehen kann, ohne das sie ins Chaos zurücksänke. Still und ergeben legten sie ihr Glück, ihr Leben auf den Altar als Opfer. Dir opferten sie sich, heilige Weltharmonie, fielen als einzelne, auf daß das Ganze lebe!

Ich aber und Tae-ping lebten nur für uns selbst. Nur für uns! Freibeuter sind wir, kennen kein Gesetz. Vielfache Wahrheit läßt uns das Tao durchbrechen, zeigt uns Rettung und Ausweg, läßt uns aufsteigen zu Macht, Ruhm und Glanz.

Marcos Blick ruhte, noch nicht voll bewußt, auf den Mädchen, die in einer Aufwallung spielerischen Übermuts ihre leichten Kleidchen abgeworfen hatten und in das seichte Wasser sprangen.

Helles Lachen und Scherzworte wehten zu Marco herauf. Die herrlichen, schlanken Mädchenleiber schimmerten in der Sonne, umschäumt von aufgewirbeltem Gischt.

Plötzlich löste sich eines der zierlichen Geschöpfe von ihren Gespielinnen ab und lief das Ufer entlang zu den Zweigen der Bäume, die ins Wasser hingen.

Als sie wieder auftauchte und langsam in ihrer schlanken Größe die Wiese gegen Marco zuschritt, saß ein weißer Fasan auf ihrer Hand.

Ah! Was ist das? Schweigt Gedanken! Die Wirklichkeit entfaltet sich und weist mir letzte Erkenntnis ...

Schon stand sie knapp vor dem Throne: Leuchtendrot wie flüssiges Kupfer ihr widerspenstiges Haar, durch das die Sonne flirrte. Bläulichweiß aber die Haut, die sich straff um die charitischen Formen ihres knospenden Mädchenkörpers spannte.

Der mächtige Vogel schlug mit den Flügeln, und die langen geschwungenen Federn seines Schwanzes zitterten, als er gegen die kleine rosige Spitze ihrer Brust pickte.

Sie zuckte unter dem Schmerze leicht zusammen. Dann aber lächelte sie ihrem Herrn lockend und schelmisch ins Antlitz und warf die Achseln zurück, daß der volle Busen ihm entgegenschwoll.

Marco, der alles zugleich erblickte, dem das süße Wunder dieses Mädchens nur der zufällige Mittelpunkt eines viel größeren, weiteren Reiches war, eines Reiches, das die Blumen, Bäume, Seen, Wolken, Pagoden, alle Düfte und Töne umfaßte, lächelte freundlich zurück.

Seine Gedanken aber knüpften wieder an Früheres an, verbanden es, suchten den Abschluß.

Das Herz war es, das mich siegen ließ! Das Herz ist es, das vielfältige Wahrheit kennt. Sich selbst setzt es ein, wenn es Freude sucht. Nie war ich wirklich feig, nie verkroch ich mich vor den Folgen.

Diese Welt ist es, der ich gehöre. Doppelsinnig! Der Welt des Herzens, der Welt des diesseitigen Lebens, Genießens und Leidens. Die zwei Drachen heißen jetzt Leid und Liebe. Sie kämpfen nicht um die Perle der Vollkommenheit. Bescheidener sind sie vielleicht als die Drachen der andren Welt. Ihnen ist ihr eigenes Dasein das Ziel.

Ein Zurück aber ist mir für ewig versperrt. Wer sein Herz als Einsatz gab, kann nicht mehr zurück!

Nie mehr werde ich dich entbehren können, lockendes Wunder von Macht, Reichtum und Holdseligkeit ...

Und er nickte dem Mädchen zu, das sich in unbekümmerter Natürlichkeit neben seinem Thron in die Polster niederließ, ihren kupfernen Lockenkopf an sein Knie lehnte und dem schneeweißen Vogel über das schimmernde Gefieder strich. – – –


 << zurück weiter >>