Gilbert Keith Chesterton
Das Geheimnis des Paters Brown
Gilbert Keith Chesterton

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Das Alibi der Schauspielerin

Der Theaterdirektor Mundon Mandeville schritt rasch durch den hinter der Bühne her führenden Gang. Er war elegant und festlich gekleidet, vielleicht ein wenig zu festlich. Festlich war die Blume in seinem Knopfloch, festlich der Glanz seiner Schuhe, nur sein Gesicht war nicht im geringsten festlich. Er war ein großer, stiernackiger, schwarzer, finsterer Mann, und in diesem Augenblick war sein Gesicht finsterer als gewöhnlich. Er hatte natürlich die üblichen hundert Sorgen eines Theaterdirektors, große und kleine, neue und alte. Es ärgerte ihn, die alte Pantomimenszenerie zu sehen, die hier unten aufgestapelt war. Er hatte nämlich seine Laufbahn an diesem Theater erfolgreich mit sehr volkstümlichen Pantomimen begonnen, sich dann aber verleiten lassen, zu ernsteren Stücken und zum klassischen Drama überzugehen, was ihm ein gut Stück Geld gekostet hatte. Daher gab ihm der Anblick der blauen Tore von Blaubarts blauem Palast oder Teile des verzauberten Orangenhains, die, mit Spinnweben bedeckt und von Mäusen benagt, an der Wand lehnten, nicht jenes besänftigende Gefühl einer Rückkehr zur Einfachheit, das wir alle haben sollten, wenn wir mal wieder einen Blick auf dieses Wunderland unserer Kindheit werfen dürfen. Aber er hatte auch gar keine Zeit, von dem Paradiese der Kindheit zu träumen, denn er war eilig gerufen worden, um ein praktisches Problem zu lösen, das nicht der Vergangenheit angehörte, sondern jetzt in der unmittelbaren Gegenwart nach sofortiger Lösung schrie. Es gehörte zu jenen unangenehmen Dingen, die manchmal in der sonderbaren Welt hinter den Kulissen passieren, war aber bedeutend genug, um ernst zu sein. Fräulein Maroni, die talentierte junge Schauspielerin italienischer Abkunft, die in dem an diesem Nachmittag zu probenden und am Abend aufzuführenden Stücke eine bedeutende Rolle übernommen hatte, hatte sich im letzten Augenblick plötzlich und sogar heftig geweigert, aufzutreten. Er hatte mit der launischen Dame noch gar nicht gesprochen, und da sie sich in ihrer Garderobe eingeschlossen hatte und der Welt durch die Tür Trotz bot, war es unwahrscheinlich, daß ihm das vorerst gelingen würde. Herr Mundon Mandeville war Engländer genug, um zur Erklärung dieser ärgerlichen Geschichte vor sich hinzumurmeln, alle Ausländer seien verrückt. Aber der Gedanke, daß ihn ein gütiges Geschick auf die einzig geistig gesunde Insel des Planeten versetzt hatte, besänftigte ihn ebensowenig wie die Erinnerung an den verzauberten Orangenhain. All das mochte sehr ärgerlich sein, und doch hätte in einem aufmerksamen Beobachter der Verdacht aufsteigen können, daß Ärger allein Herrn Mandeville nicht so mitnehmen konnte.

Wenn ein wohlgenährter und gesunder Mann hohl aussehen kann, so sah Herr Mandeville hohl aus. Sein Gesicht war voll, aber seine Augen waren hohl. Seine Lippen zuckten, als versuche er, auf den schwarzen Schnurrbartstreifen zu beißen, der jedoch für solch ein Vorhaben zu kurz war. Man hätte ihn für einen Mann halten können, der begonnen hatte, Betäubungsmittel zu nehmen, aber selbst wenn man das angenommen hätte, mußte man zugleich aus gewissen Anzeichen ersehen, daß er Grund dazu hatte, daß das Gift nicht die Ursache der Tragödie, sondern die Tragödie die Ursache des Giftes war. Was auch immer sein tieferes Geheimnis war, es schien in dem dunklen Ende des langen Ganges zu stecken, wo sich der Eingang zu seinem eigenen kleinen Zimmer befand, und als er den leeren Korridor entlang schritt, warf er dann und wann einen nervösen Blick zurück.

Aber Geschäft ist Geschäft, und er drang entschlossen zum entgegengesetzten Ende des Ganges vor, wo Fräulein Maroni den Weg zu sich mit einer glatten grünen Tür versperrt hatte. Eine Gruppe Schauspieler und anderer in Mitleidenschaft gezogener Personen stand bereits vor der Tür, und die ganze Korona machte eine Miene, als überlegte und beriete sie, ob es nicht angebracht wäre, einen Rammklotz in Tätigkeit treten zu lassen. In der Gruppe fiel eine bekannte Gestalt auf, deren Photographie auf manchem Kaminsims und deren Autogramm in manchem Album stand. Denn obgleich Norman Knight jugendlicher Held in einem noch etwas provinzlerischen und altmodischen Theater war, das seine Verdienste nicht gebührend zu schätzen wußte, so befand er sich doch sicher auf dem Wege zu größeren Triumphen. Er war ein hübscher Mann mit langem gespaltenen Kinn und blondem, tief in die Stirn gekämmten Haar, das ihm ein ziemlich neronisches, zu seinen plötzlichen und schnellen Bewegungen jedoch nicht ganz passendes Aussehen gab. In der Gruppe stand auch Ralph Randall, der gewöhnlich ältere Charakterrollen spielte. Sein freundliches Gesicht war bleich von Schminke, nur die Wangen zeigten den bläulichen Schimmer der Rasur. Neben ihm stand Mandevilles zweiter jugendlicher Held, ein dunkler, kraushaariger junger Mann mit etwas semitischem Profil, der den Namen Aubrey Vernon führte.

Ferner befand sich in der Gruppe die Garderobiere oder Ankleidefrau, eine sehr imponierende Person mit dichtem roten Haar und einem hartgeschnittenen unbewegten Gesicht, und zufällig auch Mandevilles Frau, die ruhig im Hintergrunde stand. Sie hatte ein bleiches, geduldiges Gesicht, dessen Linien eine klassische Ebenmäßigkeit und Strenge nicht verloren hatten, das aber um so bleicher aussah, weil ihre Augen bleich waren, und ihr bleiches gelbes Haar ihr in zwei glatten Zöpfen um den Kopf lag, wodurch sie Ähnlichkeit mit einer sehr archaischen Madonna erhielt. Nicht jeder wußte, daß sie ehemals eine bedeutende und erfolgreiche Darstellerin in Ibsenschen Stücken gewesen war. Aber ihr Mann hielt nicht viel von Problemstücken, und in diesem Augenblick konzentrierte sich sicher sein ganzes Interesse auf das Problem, wie man eine ausländische Schauspielerin aus einem verschlossenen Zimmer herausbringen konnte.

»Ist sie noch immer nicht herausgekommen?« fragte er, mehr zu der geschäftskühlen Ankleidefrau als zu seiner Frau gewandt.

»Nein,« antwortete Frau Sands düster.

»Wir werden allmählich etwas unruhig,« sagte der alte Randall. »Sie schien ganz heiter zu sein, aber jetzt fürchten wir, sie könnte sich sogar etwas antun.«

»Zum Teufel noch mal!« sagte Mandeville in seiner einfachen und ungekünstelten Art. »Reklame ist ganz gut, aber für diese Art Reklame haben wir keine Verwendung. Ist niemand hier mit ihr befreundet? Hat niemand Einfluß auf sie?«

»Jarvis meint, der einzige, der mit ihr fertig werden kann, ist ihr Priester von der Kirche hier ganz in der Nähe,« sagte Randall, »und ich dachte, es wäre vielleicht besser, wenn er käme, falls sie wirklich daran geht, sich an einem Kleiderhaken aufzuhängen. Jarvis holt ihn und . . . ah, da kommt er ja schon.«

Zwei neue Gestalten erschienen in dem unterirdischen Gange unter der Bühne. Der erste war Ashton Jarvis, ein lustiger Geselle, der gewöhnlich Bösewichter darstellte, jetzt aber dieses hohe Fach an den kraushaarigen Jüngling mit der semitischen Nase abgetreten hatte. Der andere war klein und dick und ganz in Schwarz gekleidet. Es war Pater Brown von der nahe gelegenen Kirche.

Pater Brown schien es für ganz natürlich und kaum des Aufhebens wert zu halten, daß er herbeigerufen wurde, um sich das seltsame Betragen eines seiner Schäfchen anzusehen und sich darüber klarzuwerden, ob es als schwarzes Schaf oder nur als verlorenes Lamm zu betrachten sei. Aber von der Möglichkeit eines Selbstmordes schien er nicht viel wissen zu wollen.

»Sie wird wohl ihren Grund dafür haben, daß sie sich eingeschlossen hat,« sagte er. »Weiß jemand, worum es sich handeln könnte?«

»Ich glaube, sie ist mit ihrer Rolle unzufrieden,« antwortete der ältere Schauspieler.

»Das sind sie immer,« brummte Herr Mundon Mandeville. »Ich dachte, meine Frau hätte dafür gesorgt, daß alles klappt.«

»Ich kann nur sagen,« bemerkte Frau Mandeville mit ziemlich müder Stimme, »daß ich ihr die meiner Meinung nach beste Rolle gegeben habe. Wollen bretterkranke junge Schauspielerinnen nicht gerade die schöne junge Heldin spielen, die in einem Blumenregen und unter dröhnendem Beifall der Galerie den schönen jungen Helden heiratet? Frauen meines Alters müssen sich natürlich damit begnügen, ehrenwerte Matronen darzustellen, und ich habe es mir gar nicht einfallen lassen, andere Wünsche zu hegen.«

»Die Rollenbesetzung kann natürlich jetzt nicht mehr geändert werden,« sagte Randall.

»Daran ist nicht zu denken,« erklärte Norman Knight fest. »Ich könnte kaum eine andere Rolle spielen – jetzt jedenfalls ist's zu spät.«

Pater Brown war unauffällig zur Tür gegangen und lauschte.

»Ist nichts zu hören?« fragte der Direktor ängstlich und setzte dann mit leiserer Stimme hinzu: »Glauben Sie, daß sie sich etwas angetan haben kann?«

»Man hört etwas,« antwortete Pater Brown ruhig. »Ich möchte aus dem Geräusch wohl entnehmen, daß sie damit beschäftigt ist, Fenster oder Spiegel einzuschlagen, wahrscheinlich mit ihren Füßen. Nein, ich glaube nicht, daß die Gefahr eines Selbstmordes besteht. Das Einschlagen von Spiegeln mit den Füßen ist ein sehr ungewöhnliches Vorspiel zu einem Selbstmord. Wenn sie eine Deutsche wäre, die sich zurückgezogen hätte, um ruhig über Metaphysik und Weltschmerz nachzudenken, wäre ich dafür, die Tür aufzubrechen. Die Italienerinnen sterben nicht so leicht und bringen sich auch nicht regelmäßig in einem Wutanfall um. Jemand anders vielleicht . . . ja, möglicherweise . . . es dürfte gut sein, die gewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln zu treffen, wenn sie mit einem Sprung herausgesetzt kommt.«

»So sind Sie nicht dafür, daß man die Tür aufbricht?« fragte Mandeville.

»Wenn Sie wollen, daß sie spielt, nicht,« erwiderte Pater Brown. »Wenn Sie die Tür aufbrechen, wird sie das Dach in die Luft sprengen und sich weigern, noch einen Augenblick zu bleiben; wenn Sie sie in Ruhe lassen, wird sie wahrscheinlich aus bloßer Neugierde zum Vorschein kommen. An Ihrer Stelle würde ich die Tür von jemandem bewachen lassen und alles übrige der Zeit anheimstellen, die wohl in einer oder in zwei Stunden eine Entscheidung herbeiführen dürfte.«

»In diesem Falle,« sagte Mandeville, »können wir nur die Szenen proben, in denen sie nicht auftritt. Meine Frau wird alles Nötige für die Probe arrangieren. Schließlich ist der vierte Akt die Hauptsache. Am besten fangen wir damit an.«

»Keine Kostümprobe,« sagte Mandevilles Frau.

»Sehr gut,« bemerkte Knight. »Wozu Kostümprobe? Die Kostüme sind ohnehin lästig genug.«

»Wie heißt das Stück?« fragte der Priester mit einem Anflug von Neugierde.

»Die Lästerschule,« antwortete Mandeville. »Es mag Literatur sein, aber ich will Stücke. Meine Frau liebt die sogenannten klassischen Komödien, die weit mehr klassisch als komisch sind.«

In diesem Augenblick watschelte der alte Portier Sam, der einzige Bewohner des Theaters in den Stunden, in denen nicht gespielt und geprobt wurde, auf Mandeville zu, überreichte ihm eine Karte und bestellte, Lady Miriam Marden wünsche ihn zu sprechen. Mandeville ging fort, aber Pater Browns Blick blieb noch ein paar Sekunden auf Mandevilles Frau haften, und er sah auf ihrem bleichen Gesicht ein schwaches Lächeln, kein durchaus angenehmes Lächeln.

Pater Brown ging mit dem Manne fort, der ihn hergeholt hatte und der, wie das bei Schauspielern nicht ungewöhnlich ist, dieselbe Weltanschauung hatte wie er. Als er fortging, hörte er, wie Frau Mandeville Frau Sands die ruhige Anweisung gab, neben der verschlossenen Tür Wache zu halten.

»Frau Mandeville scheint eine intelligente Frau zu sein,« sagte der Priester zu seinem Begleiter, »obgleich sie sich ziemlich im Hintergrunde hält.«

»Sie war einst eine hochintelligente Frau,« sagte Jarvis melancholisch, »aber man sagt wohl nicht zuviel, wenn man behauptet, daß sie durch die Heirat mit solch einem Hohlkopf wie diesem Mandeville auf den Hund gekommen ist. Sie hat vom Drama die höchsten Ideale, aber sie kann diese natürlich nur selten bei ihrem Herrn und Meister durchsetzen. Wissen Sie, daß er eine solche Frau tatsächlich in einer Pantomime in einer Hosenrolle auftreten lassen wollte? Er gab ihre schauspielerischen Qualitäten zu, sagte aber, Pantomimen machten sich besser bezahlt. Danach werden Sie sein Verständnis und sein Einfühlungsvermögen beurteilen können. Aber sie hat sich niemals beklagt. Sie sagte mir einmal: ›Klagen kommen vom Ende der Welt als Echo zurück, aber Schweigen stärkt uns.‹ Wenn sie jemanden geheiratet hätte, der ihre Ideen verstände, hätte sie eine der großen Schauspielerinnen unserer Zeit werden können. Tatsächlich schätzen sie literarisch eingestellte Kritiker noch sehr hoch. Aber nun ist sie mit einem solchen Wrack verheiratet.«

Er zeigte auf den breiten schwarzen Rücken Mandevilles. Der Direktor unterhielt sich mit den Damen, die ihn ins Vestibül gebeten hatten. Lady Miriam war eine sehr lange, gelangweilt aussehende, elegante Dame, nach der neuesten, sich hauptsächlich von ägyptischen Mumien herleitenden Mode gekleidet. Ihr schwarzes Haar war helmförmig zugestutzt, ihre stark bemalten und vorstehenden Lippen gaben ihrem Gesicht einen anhaltenden Ausdruck der Verachtung. Ihre Begleiterin war eine sehr lebhafte Dame mit einem in seiner Häßlichkeit anziehendem Gesicht und grau gepudertem Haar. Sie war ein Fräulein Theresa Talbot und schnatterte tüchtig drauflos, während ihre Begleiterin anscheinend zu müde war, um auch nur den Mund aufzutun. Aber gerade als die beiden Männer vorüberkamen, brachte Lady Miriam die Energie auf zu sagen:

»Theaterstücke langweilen mich, aber ich habe noch nie eine Probe in Straßenkleidern gesehen. Die muß ganz hübsch sein. Man kann heutzutage nie etwas finden, was man noch nie gesehen hat.«

»Also, Herr Mandeville,« sagte Fräulein Talbot, indem sie den Direktor mit freundschaftlichem Nachdruck auf den Arm tätschelte, »zu der Probe müssen Sie uns Zutritt verschaffen. Wir können heute abend nicht kommen und haben auch keine Lust dazu. Wir möchten einmal all die komischen Leute in den falschen Kleidern sehen.«

»Ich kann Ihnen natürlich eine Loge zur Verfügung stellen, wenn Sie wollen,« sagte Mandeville hastig. »Vielleicht würden Sie die Güte haben, meine Damen, mit mir zu kommen.« Und er führte sie durch einen anderen Gang hinweg.

»Nun möchte ich doch mal gern wissen,« sagte Jarvis nachdenklich, »ob selbst Mandeville diese Art Frauen nicht auf die Nerven geht.«

»Haben Sie einen Grund, das Gegenteil anzunehmen?« fragte sein Begleiter.

Jarvis blickte, bevor er antwortete, ihn einen Augenblick fest an.

»Mandeville ist uns allen ein Geheimnis,« sagte er ernst. »O ja, ich weiß, daß er sich äußerlich in nichts von irgendeinem Piccadillybummler unterscheidet. Aber trotzdem ist er wirklich ein Geheimnis. Es muß ihn etwas bedrücken. Auf seinem Leben liegt ein Schatten. Und ich glaube, dies hat mit ein paar modischen Liebschaften ebensowenig zu tun wie mit seiner armen vernachlässigten Frau. Wenn aber doch, so ist mehr dahinter als man auf den ersten Blick vermutet. Tatsächlich weiß ich rein zufällig mehr darüber als irgendein anderer. Aber mit dem, was ich weiß, kann ich nichts anfangen, er bleibt mir nach wie vor ein Geheimnis.«

Er sah sich um, um sich zu überzeugen, daß sie allein waren, und setzte dann mit gesenkter Stimme hinzu:

»Ihnen kann ich's ja ruhig erzählen, weil ich weiß, daß Sie ein Turm des Schweigens sind, wenn es sich um Geheimnisse handelt. Aber ich erlebte neulich eine merkwürdige Überraschung, die sich seitdem mehrmals wiederholt hat. Sie wissen, daß Mandeville immer in dem kleinen Zimmer am Ende des Ganges, gerade unter der Bühne, arbeitet. Ich kam zufällig ein paarmal an diesem Zimmer vorüber, als jedermann dachte, er sei allein, und was wichtiger ist, als ich bestimmt wußte, daß alle Schauspielerinnen und alle Frauen, die möglicherweise mit ihm zu tun haben konnten, entweder nicht da waren oder sich auf ihrem üblichen Posten befanden.«

»Alle Frauen?« fragte Pater Brown.

»Es war nämlich eine Frau bei ihm,« sagte Jarvis fast flüsternd. »Es muß eine Frau geben, die ihn ständig besucht, eine Frau, die niemand von uns kennt. Ich weiß nicht einmal, wie sie zu ihm gelangt, da sie nicht hier durch den Gang kommt, aber ich glaube, ich sah einmal eine verschleierte oder verhüllte Gestalt hinten aus dem Theater wie ein Geist in die Dämmerung tauchen. Aber sie kann kein Geist sein. Ich glaube auch nicht, daß es sich um eine gewöhnliche Liebschaft handelt. Es ist meiner Ansicht nach keine Liebesaffäre, sondern eine Erpressungsgeschichte.«

»Was bringt Sie auf diesen Gedanken?« fragte Pater Brown.

Jarvis' Gesicht wurde noch ernster. »Ich hörte einmal da drinnen heftige Worte, die nach einem Streit klangen, und dann sagte die fremde Frau mit einer metallischen, drohenden Stimme vier Worte: ›Ich bin deine Frau‹.«

»Sie glauben, daß er in Bigamie lebt?« sagte Pater Brown nachsinnend. »Bigamie und Erpressung gehen natürlich oft Hand in Hand. Aber die Frau kann auch exaltiert oder verrückt gewesen sein. Theaterleute haben oft mit solchen Menschen zu tun. Sie mögen recht haben, aber ich würde mit Schlußfolgerungen vorsichtig sein. Aber, wie mir gerade einfällt, Sie sind doch auch ein Theatermensch, und beginnt jetzt nicht die Probe?«

»Ich trete in dieser Szene nicht auf,« antwortete Jarvis lächelnd. »Sie proben jetzt nur einen Akt, bis Ihre italienische Freundin wieder zu Verstand kommt.«

»Da Sie gerade von meiner italienischen Freundin sprechen, möchte ich doch wissen, ob sie schon wieder bei Verstand ist.«

»Wir können ja zurückgehen und nachsehen,« sagte Jarvis, und sie stiegen wieder in den langen Korridor hinab, an dessen einem Ende sich Mandevilles Zimmer, an dessen anderem sich die verschlossene Tür der Signora Maroni befand. Die Tür schien noch immer verschlossen zu sein, und Frau Sands saß grimmig vor ihr, bewegungslos wie ein hölzernes Götzenbild.

Sie sahen gerade, wie an diesem Ende des Ganges einige Schauspieler die Treppe zur Bühne hinaufstiegen. Vernon und der alte Randall gingen schnell voraus, aber Frau Mandeville hatte es in ihrer ruhigen, würdevollen Art nicht so eilig, und Norman Knight schien etwas zurückzubleiben, um mit ihr zu sprechen. Ein paar Worte drangen zu den Ohren der unfreiwilligen Lauscher.

»Was ich Ihnen sage,« rief Knight aufgeregt, »er hat Frauenbesuch.«

»Pst!« sagte die Dame. »Sie dürfen das nicht sagen. Denken Sie daran, daß er mein Mann ist.« Ihre silberne Stimme hatte einen stählernen Beiklang.

»Ich wollte, ich könnte es vergessen,« sagte Knight und lief die Treppe zur Bühne hinauf.

Die Dame folgte ihm, bleich und ruhig wie immer.

»Es weiß noch jemand davon,« sagte der Priester ruhig, »aber ich zweifle, ob dies uns etwas angeht.«

»Ja,« murmelte Jarvis. »Es scheint, daß jeder etwas und niemand etwas Bestimmtes weiß.«

Sie schritten den Gang entlang zu der verschlossenen Tür, vor der Frau Sands starr wie ein Götzenbild saß.

»Nein, sie ist noch nicht zum Vorschein gekommen,« sagte die Frau in ihrer mürrischen Art. »Tot ist sie nicht, denn ich hörte sie einigemal auf und ab gehen. Ich möchte nur wissen, was sie eigentlich vorhat.«

»Wissen Sie vielleicht,« fragte Pater Brown höflich, aber entschieden, »wo Herr Mandeville augenblicklich ist?«

»Ja,« antwortete sie prompt. »Ich sah ihn vor einigen Minuten in sein Zimmer gehen, gerade bevor die Probe begann. Er muß noch drinnen sein, denn ich habe ihn nicht herauskommen sehen.«

»Sie wollen sagen, daß das Zimmer keinen anderen Eingang hat, nicht wahr?« sagte Pater Brown so ganz nebenbei. »Die Probe scheint ja jetzt in vollem Zuge zu sein, mag auch die Signora noch so schmollen.«

»Ja,« bemerkte Jarvis nach kurzem Schweigen. »Man kann die Stimmen von der Bühne hier hören. Der alte Randall hat ein ziemlich kräftiges Organ.«

Sie lauschten beide eine Weile, und in der Stille konnte man die kräftige Stimme des Schauspielers tatsächlich ziemlich deutlich vernehmen. Bevor einer von ihnen wieder den Mund auftat, und bevor sie aus ihrer vorgebeugten lauschenden Stellung wieder in ihre normale Haltung zurückfielen, wurden ihre Ohren von einem anderen Laut erfüllt. Es war ein dumpfer, aber schwerer Fall, der aus Mandevilles Privatzimmer kam.

Pater Brown flog wie ein vom Bogen geschnellter Pfeil den Gang entlang und zerrte heftig an der Türklinke, bevor Jarvis noch Anstalten getroffen hatte, ihm zu folgen.

»Die Tür ist verschlossen,« sagte der Priester, dessen Gesicht ein wenig bleich geworden war. »Und ich bin durchaus dafür, daß man diese Tür aufbricht.«

»Meinen Sie,« fragte Jarvis mit einem ziemlich geisterhaften Blick, »daß die unbekannte Besucherin wieder hier im Zimmer ist? Glauben Sie, daß es . . . daß es etwas Ernstliches ist?« Dann setzte er hinzu: »Vielleicht kann ich den Riegel zurückschieben, ich kenne den Mechanismus dieser Schlösser.«

Er kniete nieder, zog ein Taschenmesser mit einer langen Stahlklinge heraus und arbeitete eine Weile an dem Schloß herum, bis die Tür aufsprang. Sie sahen sogleich, daß das Zimmer keine andere Tür hatte und nicht einmal ein Fenster vorhanden war, das Licht kam von einer großen, auf dem Tisch stehenden elektrischen Lampe. Aber das war nicht das erste, was sie feststellten, denn zuerst sahen sie, daß Mandeville mitten im Zimmer ausgestreckt mit dem Gesicht nach unten am Boden lag, und daß kleine gewundene Blutbäche, die in dem unnatürlichen unterirdischen Licht in unheimlichem Scharlachrot glitzerten, unter seinem Gesicht wegsickerten.

Sie wußten nicht, wie lange sie einander angeblickt hatten, als Jarvis endlich eine Bemerkung machte, die er bis jetzt zurückgehalten hatte.

»Wenn die Fremde hier war, so ist sie jetzt jedenfalls irgendwie verschwunden.«

»Vielleicht denken wir zuviel an die Fremde,« sagte Pater Brown. »Es sind hier in diesem Theater so viele merkwürdige und fremde Dinge, daß man leicht einige vergißt.«

»Welche Dinge meinen Sie?« fragte der Schauspieler.

»Viele, zum Beispiel die andere verschlossene Tür.«

»Aber die andere Tür ist verschlossen,« rief Jarvis.

»Aber Sie vergaßen sie trotzdem,« sagte Pater Brown.

Nach einer Weile setzte er nachdenklich hinzu:

»Diese Frau Sands ist ein ziemlich brummiges und unfreundliches Geschöpf.«

»Glauben Sie, daß sie lügt, und daß die Italienerin doch herausgekommen ist?«

»Nein, ich glaube, meine Bemerkung war nur eine mehr oder weniger objektive Charakterstudie.«

»Sie wollen doch wohl nicht sagen,« rief der Schauspieler, »daß Frau Sands die Täterin ist.«

»Ich habe nicht gesagt, daß sich die Charakterstudie auf sie bezog.«

Während sie diese zusammenhanglosen Bemerkungen austauschten, war Pater Brown neben Mandeville niedergekniet und hatte festgestellt, daß jede Spur von Leben aus dem Körper geflohen war. Neben der Leiche lag, obgleich von der Tür nicht sofort sichtbar, ein Dolch von der Art, wie man sie auf der Bühne verwendet, er lag so, als wäre er aus der Wunde oder der Hand des Mörders gefallen. Wie Jarvis sagte, der den Dolch eingehend in Augenschein nahm, war mit dem Mordwerkzeug nicht viel anzufangen, wenn die Sachverständigen keine Fingerabdrücke finden würden. Es war ein Requisitendolch, der irgendwo herumgelegen hatte, und den jedermann in der Hand gehabt haben konnte. Der Priester stand auf und sah sich ernst im Zimmer um.

»Wir müssen die Polizei verständigen,« sagte er, »und einen Arzt holen lassen, obschon der Arzt zu spät kommt . . . Wenn ich mir dieses Zimmer ansehe, so verstehe ich nicht, wie die Italienerin das zuwege bringen konnte.«

»Die Italienerin?« rief der Schauspieler. »Wieso? Ich meine, wenn irgendeiner von uns ein Alibi hat, so hat sie's. Zwei getrennte Zimmer, beide verschlossen, an den entgegengesetzten Enden eines langen Ganges gelegen, vor der einen Tür eine Wächterin.«

»Das Alibi ist nicht ganz lückenlos,« sagte Pater Brown. »Die Schwierigkeit ist, wie sie hierher gelangen konnte. Ich glaube, sie ist aus ihrem Zimmer ausgebrochen.«

»Und warum?«

»Ich sagte Ihnen doch, daß es sich anhöre, als würde da drinnen Glas zerbrochen, Spiegel oder Fenster. Dummerweise vergaß ich etwas, von dem ich sichere Kenntnis habe, nämlich daß sie ziemlich abergläubisch ist. Es dürfte nicht wahrscheinlich sein, daß sie einen Spiegel zerschlug, darum vermute ich, es war ein Fenster. Die Zimmer liegen allerdings tief im Kellergeschoß, aber sie kann ja ein Fenster am Lichtschacht eingeschlagen haben. Aber hier scheint es keine Lichtschächte zu geben.« Und er starrte eine ganze Zeit lang überlegend unter die Decke.

Plötzlich kam er mit einem Ruck wieder in Bewegung. »Wir müssen hinaufgehen, telephonieren und die traurige Nachricht kundgeben. Mein Gott, hören Sie, wie die Schauspieler da oben deklamieren und herumstampfen? Die Probe ist noch immer im Gange. Dies meint man wohl, wenn man von tragischer Ironie spricht.«

Als nun nach des Schicksals Bestimmung sich das Theater in einen Ort der Trauer verwandeln sollte, war den Schauspielern eine Gelegenheit geboten, viele der echten Tugenden ihrer Gattung und ihres Standes offen zu zeigen. Sie hatten Mandeville nicht alle gern gehabt oder ihm Vertrauen geschenkt, aber sie wußten nun genau das zu sagen, was die Gelegenheit erforderte. In ihrer Haltung gegenüber Mandevilles Witwe lag nicht nur Sympathie, sondern auch ein großes Zartgefühl. Sie war in einem neuen und andersartigen Sinne eine Tragödin geworden, ihr geringstes Wort war Befehl, und während sie langsam und traurig umherwandelte, suchte ihr jeder einen Wunsch von den Augen abzulesen und lief schon, wenn sie nur einen Finger bewegte.

»Sie war immer ein starker Charakter,« sagte der alte Randall mit etwas heiserer Stimme. »Niemand von uns war so gescheit wie sie. Der arme Mandeville konnte es an Bildung und so weiter natürlich nicht mit ihr aufnehmen, aber sie hat immer glänzend ihre Pflicht getan. Es griff einem ans Herz, wenn sie manchmal seufzend den Wunsch äußerte, ein befriedigenderes intellektuelles Leben zu führen, aber Mandeville – nun, nil nisi bonum, wie man sagt.« Und der alte Schauspieler wackelte traurig mit dem Kopf.

»Nil nisi bonum, ausgezeichnet!« sagte Jarvis grimmig. »Randall jedenfalls scheint von der Geschichte mit der fremden Dame noch nichts gehört zu haben. Was ich sagen wollte, glauben Sie nicht, daß diese fremde Dame wahrscheinlich die Täterin ist?«

»Das hängt davon ab,« sagte der Priester, »wen Sie mit dieser fremden Dame meinen.«

»Oh, an die Italienerin denke ich nicht,« sagte Jarvis hastig. »Übrigens haben Sie richtig geraten. Als man die Tür erbrach, war das Fenster zum Lichtschacht zertrümmert und das Zimmer leer, aber soweit die Polizei feststellen kann, ist sie ganz einfach heimgegangen. Nein, ich meine die Frau, die ihm bei der geheimen Zusammenkunft drohte, die Dame, die sich als seine Frau bezeichnete. Glauben Sie, daß sie wirklich seine Frau war?«

»Es ist möglich,« sagte Pater Brown, ins Leere stierend, »daß sie wirklich seine Frau war.«

»Dann würde das Motiv des Mordes klar sein: Eifersucht wegen seiner Wiederverheiratung, denn ein Raubmord liegt nicht vor. Man braucht keine diebischen Bedienten oder abgebrannte Schauspieler in Verdacht zu haben. Denn es wird Ihnen wohl aufgefallen sein, daß sich dieser Fall durch einen besonderen Umstand auszeichnet.«

»Ich habe mehrere besondere Umstände bemerkt. Welchen meinen Sie?«

»Ich meine, daß alle Personen ein Alibi haben,« sagte Jarvis. »Es dürfte nicht oft vorkommen, daß eine ganze Schauspielgesellschaft ein solches Alibi hat. Die Bühne war hell erleuchtet, und jeder konnte den anderen kontrollieren. Es stellt sich jetzt als ein Glück heraus, daß der arme Mandeville diese beiden spleenigen Westenddamen in eine Loge gesetzt hat, damit sie der Probe beiwohnten. Sie können bezeugen, daß der ganze Akt ohne Unterbrechung heruntergespielt wurde, und alle Darsteller auf der Bühne waren. Die Probe begann, bevor Mandeville in sein Zimmer ging. Sie spielten noch fünf oder zehn Minuten, nachdem wir die Leiche fanden. Und glücklicherweise waren in dem Augenblick, als wir Mandeville fallen hörten, alle auf der Bühne.«

»Ja, das ist sicher sehr wichtig und vereinfacht die Sache,« stimmte Pater Brown zu. »Wir wollen mal die Personen, auf die dieses Alibi Anwendung findet, an uns vorüberziehen lassen. Zuerst Randall. Ich glaube, daß Randall den Direktor aufrichtig haßte, wenn er auch jetzt seine Gefühle verbirgt. Aber er kommt nicht in Betracht. Wir hörten ja in dem entscheidenden Augenblick seine Stimme über unseren Köpfen. Dann kommt unser jugendlicher Held, Herr Knight. Ich habe guten Grund zu der Annahme, daß er in Mandevilles Frau verliebt war und dieses Gefühl nicht so ganz verbergen konnte, wie er wohl gemocht hätte. Aber er kommt ebenfalls nicht in Betracht, denn er wurde gerade von Randall auf der Bühne angeschrien. Auch dieser liebenswürdige Jude, der sich Aubrey Vernon nennt, scheidet aus. Es bleibt noch Frau Mandeville übrig, die ebenfalls durch dieses gemeinsame Alibi gedeckt wird, das, wie Sie sagen, hauptsächlich von Lady Miriam und ihrer Freundin abhängt, obschon man auch ohne sie vernünftigerweise annehmen könnte, daß der Akt ohne Unterbrechung, wie es bei solchen Proben üblich ist, durchgespielt wurde. Die gesetzlichen Zeuginnen dafür sind jedoch Lady Miriam und Fräulein Talbot. Sie haben doch nichts gegen sie einzuwenden?«

»Gegen Lady Miriam?« fragte Jarvis überrascht. »O ja, ich weiß wohl, Sie meinen, weil sie ein wenig verdächtig aussieht? Aber Sie haben keine Ahnung, wie selbst die Damen aus den besten Familien heutzutage aussehen. Haben Sie übrigens einen besonderen Grund, ihre Aussagen anzuzweifeln?«

»Nein, nur stellt uns dieses gemeinsame Alibi, das für jeden gleichviel gilt, vor eine kahle Mauer. Diese vier Personen waren zur fraglichen Zeit die einzigen anwesenden Schauspieler. Personal war kaum da, tatsächlich niemand außer dem alten Sam, der den Haupteingang bewacht, und der Frau, die Fräulein Maronis Tür bewachte. Bleiben nur noch wir beiden übrig. Wir könnten gewiß des Verbrechens bezichtigt werden, besonders da wir die Leiche gefunden haben. Sonst ist niemand da, der angeklagt werden kann. Sie haben ihn doch nicht etwa getötet, als ich meine Augen anderswo hatte?«

Jarvis fuhr erschreckt auf und starrte ihn an, dann klärte sich sein Gesicht aber gleich wieder auf. Er schüttelte den Kopf.

»Sie haben es nicht getan,« sagte Pater Brown, »und wir wollen einmal annehmen, bloß um der Annahme willen, daß ich es auch nicht getan habe. Da die bei der Probe beschäftigten Schauspieler nicht in Betracht kommen, bleiben wirklich nur die Signora hinter der verschlossenen Tür, die Schildwache vor ihrer Tür und der alte Sam übrig. Oder denken Sie an die zwei Damen in der Loge? Sie könnten natürlich die Loge einen Augenblick ungesehen verlassen haben.«

»Nein,« sagte Jarvis, »ich denke an die unbekannte Dame, die sich als Mandevilles Frau bezeichnete.«

»Vielleicht war sie's,« sagte der Priester. Seine Stimme hatte einen so sonderbaren Klang, daß Jarvis erneut auffuhr.

»Wir nahmen an,« bemerkte er leise und aufgeregt, »daß diese erste Frau auf die zweite Frau eifersüchtig gewesen sein könnte.«

»Nein,« sagte Pater Brown. »Sie hätte vielleicht auf die Italienerin oder auf Lady Miriam Marden eifersüchtig sein können, aber nicht auf die zweite Frau.«

»Und warum nicht?«

»Weil keine zweite Frau da war. Herr Mandeville scheint mir das gerade Gegenteil eines Bigamisten gewesen zu sein, ein höchst monogamisch veranlagter Mensch. Seine Frau war fast zu viel bei ihm, so viel, daß sie alle barmherzigerweise annehmen, es müsse noch eine andere Frau da sein. Aber ich verstehe nicht, wie sie bei ihm sein konnte, als er ermordet wurde, denn wir sind uns darüber einig, daß sie die ganze Zeit auf der Bühne war und dazu noch eine wichtige Rolle spielte . . .«

»Meinen Sie wirklich,« rief Jarvis, »daß die fremde Frau, die zu ihm kam wie ein Geist, nur die bekannte Frau Mandeville war?« Aber er erhielt keine Antwort, denn Pater Brown starrte mit einem fast idiotischen Ausdruck ins Leere. Er sah immer am idiotischsten aus, wenn er die klügsten Gedanken hatte.

Sein Gesicht wurde immer gequälter und betrübter. »Scheußlich,« sagte er. »Vielleicht habe ich noch nie eine so verzwickte Sache gehabt. Aber ich muß mit ihr fertig werden. Würden Sie vielleicht Frau Mandeville fragen, ob ich sie einmal unter vier Augen sprechen kann?«

»O gewiß,« sagte Jarvis und ging auf die Tür zu. »Aber was haben Sie?«

»Ich denke nur darüber nach, was für ein geborener Dummkopf ich bin, eine sehr allgemeine Klage in diesem Tal der Tränen. Wie konnte ich nur vergessen, daß das gespielte Stück Die Lästerschule war!«

Er ging unruhig im Zimmer auf und ab, bis Jarvis mit veränderter und sogar beunruhigter Miene wieder in der Tür erschien.

»Ich kann sie nirgendwo finden,« sagte er. »Niemand scheint sie gesehen zu haben.«

»Norman Knight hat auch niemand gesehen, nicht wahr?« fragte Pater Brown sarkastisch. »Nun, mir bleibt auf diese Weise wenigstens die peinlichste Unterredung meines Lebens erspart. Gott sei mir gnädig, aber ich hatte beinahe Angst vor dieser Frau. Doch sie hatte auch Angst vor mir, Angst vor etwas, das ich gesehen oder gesagt hatte. Knight lag ihr immer in den Ohren, mit ihm zu fliehen. Jetzt hat sie's getan, und er tut mir wirklich leid.«

»Er?« fragte Jarvis.

»Nun, es kann gerade kein sehr angenehmes Gefühl sein, mit einer Mörderin davonzulaufen. Aber sie war in Wirklichkeit noch schlimmer als eine Mörderin.«

»Und was gibt es Schlimmeres?«

»Sie war eine Egoistin,« sagte Pater Brown. »Sie gehörte zu den Menschen, die zuerst in den Spiegel blicken, ehe sie aus dem Fenster schauen, und das ist das schlimmste Unglück, das Sterblichen passieren kann. Der Spiegel hat ihr Unglück gebracht, aber eher deshalb, weil er nicht zerbrochen ist.«

»Ich verstehe nicht, was dies alles bedeuten soll,« sagte Jarvis. »Jeder hielt sie für eine höchst ideale Frau, die sich auf einer höheren geistigen Ebene bewegte als wir übrigen . . .«

»Sie sah sich selbst so an und verstand es gut, allen anderen dieselbe Meinung beizubringen. Vielleicht habe ich sie nicht lange genug gekannt, um mich in ihr zu täuschen. Aber nachdem ich sie fünf Minuten gesehen, wußte ich, was für ein Mensch sie war.«

»Oh, was Sie da sagen!« rief Jarvis. »Der Italienerin gegenüber hat sie sich nach meiner Überzeugung tadellos benommen.«

»Ihr Benehmen war immer tadellos. Jeder hat mir hier berichtet, wie fein und vornehm und wie geistig überlegen sie Mandeville war. Aber alle diese Feinheit und Geistigkeit scheint mir auf die einfache Tatsache hinauszulaufen, daß sie sicher eine Lady, und er kein Gentleman war. Aber ich bin mir niemals ganz sicher gewesen, daß dieses die einzige Eigenschaft ist, auf die Petrus am Himmelstore Wert legt. Was das übrige anbetrifft,« fuhr er mit steigender Lebhaftigkeit fort, »so ersah ich aus ihren ersten Worten, daß sie trotz ihrer so fein zur Schau getragenen kalten Hochherzigkeit der armen Italienerin nicht wirklich wohlgesinnt war. Und als ich erfuhr, daß das Stück Die Lästerschule war, wurde mir das von neuem klar.«

»Sie gehen mir zu schnell vorwärts,« sagte Jarvis verdutzt. »Was hat das Stück damit zu tun?«

»Nun, sie sagte, sie habe der Schauspielerin die Rolle der schönen Heroine gegeben und sich selbst mit der Rolle einer Matrone begnügt. Bei fast jedem anderen Stücke wäre das eine hochherzige Rollenverteilung gewesen, aber gerade bei diesem Stücke werden dadurch die Tatsachen verfälscht. Sie kann nur gemeint haben, daß sie der Italienerin die Rolle der Maria zuteilte, die kaum eine Rolle zu nennen ist. Und die Rolle der unbeachteten und sich selbst in den Hintergrund drängenden verheirateten Frau kann nur die Rolle der Lady Teazle gewesen sein, die einzige, die jede Schauspielerin zu spielen wünscht. Wenn die Italienerin eine erstklassige Schauspielerin war, der man eine erstklassige Rolle versprochen hatte, so gab es wirklich eine Entschuldigung oder wenigstens einen Grund für ihre tolle italienische Wut. Das trifft bei italienischen Wutanfällen meistens zu. Die Lateiner sind eine logische Rasse und haben einen Grund, wenn sie wütend werden. Eben dieser kleine Umstand sagte mir, wie es mit ihrer Großherzigkeit bestellt war. Aber es war noch etwas anderes, was mir gleich auffiel. Sie lachten, als ich sagte, daß das mürrische Gesicht der Frau Sands für mich eine Charakterstudie sei, aber keine Studie über den Charakter der Frau Sands. Das stimmte. Wenn Sie über eine Dame wirklich Bescheid wissen wollen, so müssen Sie nicht sie selbst betrachten, denn sie kann zu schlau für Sie sein. Betrachten Sie auch nicht die Männer, von denen sie umgeben ist, denn sie können zu vernarrt in sie sein. Aber sehen Sie sich eine andere Frau an, die immer in ihrer Nähe ist, und besonders eine, die unter ihr steht. In diesem Spiegel werden Sie ihr wirkliches Gesicht erblicken, und das Gesicht, das sich in Frau Sands spiegelte, war sehr häßlich.

Und wie waren die anderen Eindrücke, die ich empfing? Ich hörte eine Menge über die Unzulänglichkeit des armen Mandeville, aber alle diese Unzulänglichkeit lief darauf hinaus, daß er ihrer nicht wert war, und ich bin überzeugt, daß diese Einschätzung indirekt von ihr herrührte. Aus dem, was jeder sagte, ging offenbar hervor, daß sie bei jedem über ihre geistige Vereinsamung gestöhnt hatte. Sie selbst sagten, sie beklage sich niemals, und zitierten dann ihr Wort über die Seelenstärkung klaglosen Schweigens. Das ist der richtige Ton, der unverkennbare Stil. Leute, die klagen, sind liebenswerte schwache menschliche Wesen, die man bedauern kann. Aber Leute, die klagen, daß sie niemals klagen, sind des Teufels. Sie sind wirklich des Teufels. Ist dieser großtuerische Stoizismus nicht der Angelpunkt des Byronschen Satanskults? Ich habe dies alles vernommen, aber wie sehr ich meine Ohren auch aufmachte, ich konnte nicht entdecken, worüber sie sich denn eigentlich zu beklagen hatte. Niemand behauptete, daß ihr Mann trank oder sie schlug oder ihr kein Geld gab oder untreu war, wenn man nicht das Gerücht über die geheimen Zusammenkünfte so auslegen will, und dieses Gerücht hat sie durch ihre pathetische Gewohnheit verschuldet, ihm in seinem Arbeitszimmer Gardinenpredigten zu halten. Und wenn man, abgesehen von dem vagen Eindruck des Martyriums, den sie hervorzurufen suchte, die Tatsachen betrachtete, so erhielt man ein ganz anderes Bild. Mandeville hörte auf, mit Pantomimen Geld zu verdienen, um ihr einen Gefallen zu tun, er opferte Geld für die Aufführung klassischer Dramen, ihr zu Gefallen. Sie richtete Stück und Ausstattung ganz nach ihrem Belieben ein. Sie wollte Sheridans Stück haben, und sie hatte es, sie wollte die Rolle der Lady Tearzle spielen, und sie spielte sie, sie wünschte gerade zu dieser Stunde eine Probe ohne Kostüme, und die Probe fand statt. Besonders dieser letzte Wunsch verdient Aufmerksamkeit.«

»Aber was soll diese ganze Tirade?« fragte der Schauspieler, der kaum jemals seinen geistlichen Freund so viel Worte hatte machen hören. »Wir kommen mit all diesem psychologischen Zeug immer weiter vom Morde weg. Sie mag mit Knight davongelaufen sein, sie mag Randall und mich zu Narren gehalten haben, aber ihren Mann kann sie nicht ermordet haben, denn es steht doch fest, daß sie während der ganzen Szene auf der Bühne war. Sie mag schlecht und durchtrieben sein, aber eine Zauberin ist sie nicht.«

»Nun, so sicher würde ich das nicht behaupten,« sagte Pater Brown lächelnd. »Aber Zauberei brauchte sie in diesem Falle nicht anzuwenden. Ich weiß jetzt, daß sie die Tat ausführte, und die Ausführung ganz einfach war.«

»Warum sind Sie dessen so sicher?« fragte Jarvis und sah ihn verwundert an.

»Weil das Stück Die Lästerschule war,« erwiderte Pater Brown. »Und dann gerade dieser Akt der Lästerschule. Ich möchte Sie daran erinnern, daß sie das Stück nach ihrem Belieben inszenierte, so daß sie die Möbel stellen konnte, wie sie wollte. Ich möchte Sie ferner daran erinnern, daß die Bühne für Pantomimen gebaut und benutzt wurde, so daß also sicher Falltüren und allerlei Versenkungen vorhanden sind. Und wenn nach Ihrer Meinung die beiden Damen bezeugen können, daß alle Darsteller auf der Bühne waren, so möchte ich Sie daran erinnern, daß in der Hauptszene des Stückes eine der Hauptpersonen eine beträchtliche Zeit auf der Bühne bleibt, aber nicht sichtbar ist. Nach der Anweisung des Autors ist sie auf der Bühne, aber in Wirklichkeit kann sie ganz anderswo sein. Das ist das Versteck der Lady Teazle und das Alibi der Frau Mandeville.«

Nach einer Pause des Erstaunens sagte der Schauspieler: »Sie glauben, daß sie aus ihrem Versteck durch eine Falltür nach unten zum Zimmer des Direktors gelangt ist?«

»Wahrscheinlich,« sagte Pater Brown. »Das erscheint mir schon aus dem Grunde als wahrscheinlich, weil sie eine Probe ohne Kostüme veranstaltete, denn in den Reifröcken des achtzehnten Jahrhunderts wäre es wohl schwieriger gewesen, durch eine Falltür zu steigen. Es sind natürlich noch viele kleine Unklarheiten vorhanden, aber ich glaube, sie lassen sich alle aufklären.«

»Am unklarsten ist mir,« sagte Jarvis, »daß eine solche Frau derartig ihr körperliches Gleichgewicht verlieren konnte, von ihrem moralischen Gleichgewicht ganz zu schweigen. Lag denn ein so starkes Motiv vor? War sie denn so in Knight verliebt?«

»Ich hoffe es,« erwiderte Pater Brown, »denn das würde die menschlichste Entschuldigung sein. Aber ich muß leider sagen, daß ich meine Zweifel habe. Sie wollte ihren Mann los sein, der ihr zu provinzlerisch war und ihr nicht einmal genug Geld verdiente. Sie wollte als die Frau eines glänzenden und rasch berühmt werdenden Schauspielers Karriere machen. Sie hat ihren Mann nicht aus einer menschlichen Leidenschaft heraus ermordet, sondern aus der kühlen Überlegung, daß sie an seiner Seite nicht die Rolle spielen konnte, die sie sich erträumt hatte. Sie setzte ihrem Mann ständig im geheimen zu, er solle sich scheiden lassen oder ihr sonst aus dem Wege gehen, und da er sich weigerte, mußte er schließlich für seine Weigerung büßen. Sie müssen sich auch noch etwas anderes vor Augen halten. Sie verehrten diese Frau wegen ihrer literarischen und philosophischen Neigungen. Aber ihre ganze Philosophie drehte sich nur um den Willen zur Macht und das Recht auf Leben und Erlebnisse . . . alles verdammter Unsinn und mehr als das – Unsinn, der zur Verdammnis führt.«

Pater Brown runzelte zornig die Stirn, was bei ihm sehr selten vorkam, und seine Stirn war noch immer bewölkt, als er den Hut aufsetzte und in den Abend hinausging.

 


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