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IV.

Die Evangelien

Merken Sie, mein Freund, dass Sie fast nicht genau und simpel genug bei der Geschichte Jesu bleiben können.
( Herder)

Das, mit nichts zu Vergleichende an den Evangelien wurde im vorigen Kapitel genügend betont; in dem vorliegenden möchte ich versuchen, die Beschränkungen, welche die damaligen Zeitverhältnisse mit sich brachten in der Weise anzudeuten, daß der Leser es lernt, in den Berichten über Jesu Worte und Taten das Unechte vom Echten zu scheiden, was unerläßlich ist, soll die Gestalt des Heilandes in ihrer Reinheit erfaßt werden.

Ehe wir jedoch diese Aufgabe in Angriff nehmen, wird es nötig sein, uns über den Sinn des Wortes Evangelium kurz zu verständigen: ohne eine systematische Entwirrung kann dies nicht gelingen.

Zwischen zwei Bedeutungen des Ausdruckes »Evangelium Christi« unterscheiden die Theologen. Ursprünglich – also zur Zeit der ersten Christen – verstand man unter Evangelium nicht sowohl das, was der Heiland gesprochen und gelehrt hatte, als vielmehr die Kunde von seinem Tode, seiner Auferstehung und seiner Auffahrt gen Himmel, sowie die aus diesen Begebnissen geschöpfte Überzeugung, daß er für unsere Erlösung gestorben und daß, wer dies glaubt, zum ewigen Leben berufen sei. Dieses war und ist der eigentliche Inhalt, die eigentliche Bedeutung dessen, was man in der ersten Zeit die Frohbotschaft, das Evangelium nannte. Als jedoch das Zeitalter der ersten Begeisterung vorüber war und die Kunde des Evangeliums nicht mehr überraschend wirkte, schlich sich bei vielen, mehr oder weniger unbewußt, eine andere Bedeutung ein, die später, namentlich bei Deisten und Rationalisten vorwog, und auch heute uns Laien vielfach vorschwebt: nach diesem uneigentlichen Gebrauch versteht man unter »Evangelium« dasjenige, was der Heiland selber gesprochen und gelehrt hat; und nicht bloß oberflächliche Geister, sondern sogar ein Goethe und ein Kant feiern »das Evangelium« – worunter sie, wie gesagt, Jesu eigene Worte verstehen – als »erhabenste Sittenlehre«, indem sie zugleich das eigentliche Evangelium – die Frohbotschaft der Apostel – außer acht lassen oder stillschweigend beiseite schieben. Dieses muß als uneigentlicher Gebrauch des Wortes Evangelium erkannt, bezeichnet und getadelt werden, da es Verwirrung stiftet und ein geschichtlich eindeutiges inhaltreiches Wort seines ursprünglichen Sinnes entkleidet.

Über diese Unterscheidung zwischen einem eigentlichen und einem uneigentlichen Gebrauch des Wortes Evangelium sind sich alle Theologen einig; sie ist so einfach, klar und wohlbegründet, daß, einmal aufmerksam gemacht, jeder Mensch sie verstehen und billigen muß, handelt es sich doch hierbei lediglich um den nachweisbaren Sinn eines Wortes.

Verwickelter liegen die Verhältnisse bei einer zweiten notwendigen Unterscheidung, welche, wohlbetrachtet, weniger den Sinn des Wortes Evangelium betrifft, als die Lehren Jesu, wie sie uns durch Matthäus, Markus, Lukas und Johannes überliefert worden sind.

Verbreitet ist unter uns die Meinung, Jesus Christus habe eine auf reine Sittlichkeit hinzielende undogmatische Religion gegründet, die manchmal als »Jesusreligion« bezeichnet und im Gegensatz zu der Religion des Paulus und der Kirche gefeiert wird. So gibt z. B. Immanuel Kant in seinem Buch über Religion – hauptsächlich nach der Bergpredigt, doch mit Heranziehung verwandter Stellen – eine Zusammenfassung der dort verkündeten Lehren, aufgefaßt als reine Sittenlehren, die er mit den Worten beschließt: »Hier ist nun eine vollständige Religion, die allen Menschen durch ihre eigene Vernunft faßlich und überzeugend vorgelegt werden kann«, und einige Zeilen weiter heißt es: »die jedem Menschen verständlich und ohne allen Aufwand von Gelehrsamkeit überzeugend sein muß« (4. Stück, I. Teil, 1. Abschn.). Bei aller Ehrfurcht vor dem größten Denker kann man nicht umhin, diese Behauptung Kant's als irrig zu bezeichnen, oder wenigstens als irreführend. Historisch stimmt es nicht, daß die sittlichen Gebote der Bergpredigt den Inhalt des christlichen Glaubens und seine ungeheure Lebenskraft ausgemacht hätten; innerlich stimmt es aber noch weniger, daß mit dieser Auffassung des Heilandes als eines Moralpredigers der Kern seiner Botschaft an uns Menschen getroffen sei. Ein sehr zuverlässiger Führer, Bischof Lightfoot, äußert sich hierüber (in dem Vorwort zu seinem Buch über den Philipperbrief): »Eine natürliche Gegenwirkung gegen die Last der Dogmen verleitet dazu, allen Nachdruck auf die sittlichen Lehren des Evangeliums zu legen. Manche Menschen nehmen stillschweigend an, manche behaupten sogar ausdrücklich, die Bergpredigt bilde den Kern des Evangeliums. Diese Auffassung entspringt gewiß einem gesünderen Instinkt als engherziger Dogmatismus, aber in Wirklichkeit ist sie nicht weniger gefährlich und bedroht selbst die Sittlichkeit: denn sind erst die Quellen des Lebens abgeschnitten, so wird der Strom bald aufhören zu fließen.« Den Quellpunkt jeglichen Lebens bildet, wie wir aus den beiden vorangehenden Kapiteln erfuhren, die Überzeugung, in Jesu Christo den Mittler zwischen Mensch und Gott zu besitzen.

Die Jünger selber würden am allererstauntesten sein, wenn sie erführen, man erkläre auf Grund ihrer eigenen Berichte ihren Herrn und Meister für einen bloßen Sittenlehrer, eine Art jüdischgefärbten Stoiker – ihn, den Gottgesandten, der sie durch Wort und Beispiel gelehrt hatte, sich stets in Gottes unmittelbarer Gegenwart zu fühlen, um des Gottesreiches willen Vater und Mutter zu verlassen und voll Freude in den Tod zu gehen, – und dessen Worte ihnen noch in den Ohren klangen: »Wer mich verleugnet vor den Menschen, den will auch ich verleugnen vor meinem Vater im Himmel« ( Matth. 10, 33).

So viel nur über Gebrauch und Mißbrauch des Wortes Evangelium; reden wir nun von diesem selbst.


Seit Monaten (vielleicht schon seit Jahren) den göttlichen Heiland begleitend als stundstündliche Zeugen seiner Erdentage, hatten die Jünger – aus dem, was uns alle bändigt, entrückt – gleichsam im Vorhof des Reiches Gottes gelebt; nun aber war der Verrat wie ein Blitz in ihre Reihen gefahren, jäh gefolgt von der Gefangennahme, der Verurteilung und dem qualvollen Tode; um dem Heiland nachzufolgen, hatten sie alles verlassen, und jetzt war er – der sonst Kranke heilte und Tote erweckte – ihnen allen in den Tod vorangegangen, und zwar in die, nach der Vorstellung der Juden, schmählichste aller Todesarten: »verflucht ist jeder, der am Holze hänget!« (nach Gal. 3, 13). Plötzlich jedoch war das nie Erwartete geschehen: der Entschwundene stand wieder lebend mitten unter ihnen! Seine Liebe hatte ihn zu seinen Getreuen zurückgeführt, womit die Gewähr ihrer göttlichen Eigenart und ihrer ewigen Dauer gegeben war. Aus diesem ungeheueren Erlebnis schöpften jene einfachen Männer die Kraft zu dem mehr als menschlichen Werke, das sie jetzt vollbrachten: hiermit ward das Christentum geboren.

Wenig Bildung besaßen die Jünger, über gar keine weltlichen Verbindungen verfügten sie, in einem abgelegenen Erdenwinkel waren sie daheim: Eines aber – ein Einziges – wußten sie, sie allein wußten es, und gerade nach diesem Einen fragten und suchten durch tausend Verworrenheiten hindurch alle Menschen: diese Galiläer hatten den Mittler zwischen Mensch und Gott gefunden und dadurch zugleich die Fähigkeit empfangen, ihn der ganzen Welt zu verkünden.

Nun waren diese Männer – wie schon bemerkt – nicht Männer, die über philosophische Kenntnisse verfügten und dementsprechend sich hätten neue Lehrsätze erfinden können; notwendig mußten sie ihr Erlebnis des lebendigen und des von den Toten auferstandenen Heilandes in irgendeiner ihnen, als Menschen aus dem Volke geläufigen Vorstellung unterbringen – ich will sagen, sie waren unfähig, für das Neue einen gedanklich neuen Behälter zu schaffen; vielmehr griffen sie einfach die damals weitverbreitete Vorstellung eines erwarteten Retters der Judenheit aus allen Nöten auf und überzeugten sich und Andere, Jesus von Nazareth sei dieser ersehnte Messias, d.h. »der Gesalbte« aus dem Hause David's – ins Griechische übertragen, »der Christ«.

Aus diesem Umstand ergibt sich mit Notwendigkeit, daß von den evangelischen Berichterstattern einige Gewaltsamkeit zu erwarten steht. Hierbei ruht unsere Aufmerksamkeit zunächst besonders auf den drei ersten Evangelien; doch erweist sich das vierte Evangelium den drei anderen, bei genauerer Erforschung, näher verwandt, als man auf den ersten Blick vermutet; es entstammt dem gleichen Urquell und teilt darum, trotz aller Weiterentwickelung, die gleichen Lebensbedingungen.

Nach der Evangelisten eigenem Bericht entsteht der Gedanke, Jesus sei der verheißene Messias der Juden, unter den Jüngern selbst erst gegen Ende der irdischen Laufbahn ihres Meisters; zurückblickend aber färbt er – wie nicht anders möglich – ihre ganze Erzählung und veranlaßt nicht allein Mißverständnisse, sondern auch unbewußte Zusätze und Erfindungen. Nicht etwa, daß wir den guten Glauben und die wesentliche Wahrhaftigkeit jener Männer anzweifeln, vielmehr haben wir diese Eigenschaften an ihrem Werke im vorigen Kapitel über alles Lob erhaben gefunden; es war aber unvermeidlich, daß, wer dieses einzige Leben und Lehren nach dem Schema »Messias der Juden« sich zurechtlegte, beiden – dem Leben und dem Lehren – höchst gewaltsame Deutungen aufzwingen mußte. Den Erzählern kam es eben nicht bloß darauf an, ihre Erlebnisse treu zu berichten, sondern fast noch mehr darauf, Andere zu ihrer Überzeugung von der Messiaswürde des Heilandes zu bekehren.

Diese Überzeugung beglückte sie, denn »Messias« war der höchste Ehrentitel, der innerhalb des ihnen einzig vertrauten jüdischen Weltbildes verliehen werden konnte; erkannte das ganze jüdische Volk in Jesus den erwarteten Messias, so schwanden alle Schwierigkeiten und Hindernisse, die Prophezeiungen waren einfach bisher mißverstanden worden, man mußte sie anders lesen lernen; war er der Messias, so mußte notwendig alles stimmen. Wer sich diese Zusammenhänge ruhig und freien Sinnes überlegt, wird den Eindruck eines zwangsmäßig wirkenden Gedankens – was die Wissenschaft eine Suggestivwirkung nennt – gewinnen; folgerichtig war er durchaus nicht, vielmehr sprach dieser Gedanke aller Logik Hohn, und die Jünger selber vernichteten auf immer durch diesen einen Einfall eines leidenden, den Verbrechertod sterbenden Messias ihren eigenen Hauptzweck: das Judentum von der göttlichen Sendung Jesu Christi zu überzeugen; denn kein echter judäischer Jude konnte zugeben, Jesus sei der von seinem Volk erwartete Messias, ohne zugleich aufzuhören, Jude zu sein.

Uns heutigen Christen eignet, infolge fast zweitausendjähriger Gewohnheit, eine Vorstellung von der Bedeutung des Wortes Messias, die nicht bloß der Vorstellung der Juden – und derjenigen der unmittelbaren Jünger Christi – nicht entspricht, sondern kaum einen Berührungspunkt mit ihr aufweist. Für uns ist eben die Annahme, Jesus von Nazareth sei der Christ (und d.h. der Messias), die Grundlage alles Kirchenglaubens; darum wird es uns ohne besondere Belehrung schwer, uns den Messias der Juden vorzustellen; unsere Phantasie ist schon ausgefüllt, so daß bei dem Worte Messias uns sofort der Heiland der Evangelien vor Augen steht und wir das Wort als gleichbedeutend mit »Gott-Sohn« und mit »Erlöser« betrachten – was bei dem Messias der Juden nicht zutrifft. Wer sich über letzteren unterrichten will, greift vielleicht am besten nach Emil Schürer's im vorigen Kapitel angeführten Werk, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, wo er, Band II, § 29, einen lückenlosen geschichtlichen Überblick und eine ausführliche »systematische Darstellung« der messianischen Hoffnung finden wird. Da diese Hoffnung eigentlich zu allen Zeiten einen Bestandteil des israelitischen Glaubensschemas ausgemacht hat, so wird es uns nicht wundernehmen, wenn sie im Laufe der vielen Jahrhunderte und der wechselnden Schicksale verschiedene Gestalten annahm, vielmehr werden wir eher über die Beharrlichkeit des leitenden Gedankens staunen: zu allen Zeiten und unter wechselnden Einkleidungen blieb die Idee des Messias eine durch und durch politische Vorstellung (vgl. Sanday: Christ in recent research, S. 136); immer bestand der Hauptinhalt dieser Vorstellung in der erhofften Weltherrschaft der Juden, mit begleitender Unterjochung oder gar Vertilgung aller Nichtjuden. In den sogenannten Psalmen Salomo's – einer Schrift, die in der Zeit kurz vor Jesu Geburt entstand – lesen wir von dem Messias als »dem Sohn David's mit Kraft gegürtet, der Jerusalem reinigt, mit eisernem Stabe die gottlosen Heiden verdirbt, ein heiliges Volk regiert, unter dem künftig weder Beisasse noch Fremder wohnen darf. ... Der Messias hält die Heidenvölker unter seinem Joche, daß sie ihm dienen« (Psalm 17). In dem ungefähr gleichzeitigen Buch der Jubiläen heißt es von dem Erfolg des Messias: »Israel soll nach Willkür herrschen über alle Völker und soll die ganze Erde an sich ziehen und sie ererben auf Ewigkeit« (32, 19). Eine Stelle aus der Midrasch entnehme ich Merx, in der die liebliche messianische Hoffnung zum Ausdruck kommt, »hinter den Israeliten her werde eine (von Jahve gesandte) Flamme alle Nahrung der übrigen Erdenvölker verbrennen und in Jerusalem große Herrlichkeit einrichten« ( Evangelien, 2. Teil, 1, 354). Diese wenigen Stellen genügen, um ein lebhaftes Bild von der verbreitetsten Vorstellung der messianischen Hoffnung zur Zeit Jesu zu wecken. Gewöhnlich wurde der Messias als ein König aus dem Stamme David's erwartet – wie wir das vorhin in den Psalmen Salomo's hörten – der das Reich Juda wieder aufrichtet und zum Weltreich erweitert; doch lagen hierüber keine dogmatischen Feststellungen vor, und in Zeiten großer Erniedrigung war es edler gearteten Männern eingefallen, zum Messias werde kein bloßer Kriegsheld genügen, vielmehr habe man darunter einen prophetischen Erneuerer strengster jüdischer Gesetzestreue zu erwarten; und einmal auf diesem Wege, hat es nicht an Zeloten gefehlt, die das ganze messianische Reich in ein himmlisches verwandelten: als Auftakt sollte das Weltende mit Schrecken und mit Vertilgung aller Nichtjuden vorangehen, worauf dann – sei es auf einer erneuten Erde, sei es im Himmel – ein neues herrliches Jerusalem entstehen, beziehungsweise sich herabsenken werde, in welchem der Messias thront. Wichtig ist aber die Feststellung, daß die ersten dunklen Andeutungen in jüdischen Schriften, nach denen vielleicht ein leidender Messias dem triumphierenden vorangehen werde, erst zwei Jahrhunderte nach Christi Tod auftauchten und offenbar durch das sich ausbreitende Christentum eingegeben sind (vgl. Stanton: The Jewish and the Christian Messiah, S. 122 fg.); übrigens gewann diese Auffassung vereinzelter Schwärmer innerhalb des Judentums nie Geltung. Das viel genannte 53. Kapitel des Deuterojesaia wird von dem jüdischen Targum mit Recht nicht von einem leidenden, sondern von einem triumphierenden Messias verstanden (siehe Merx, 2. Teil, 2. Bd., 83). In Kautzsch's maßgebender Ausgabe des Alten Testamentes schreibt Professor Guthe zu diesem Abschnitt: »Der Knecht Jahve's kann doch hier nichts anderes bedeuten als in dem übrigen Buche, nämlich das Volk Israel«.(1, 640) – nicht also den Messias, die Verse:

Gemißhandelt ward er und er beugte sich willig
Und tat seinen Mund nicht auf,
Wie ein Lamm, das zur Schlachtung geführt wird,
Und wie ein Schaf, das vor seinen Scherern verstummt

sind eine fast wörtliche Anführung aus Jeremia (11, 19) und beziehen sich auf die Mißhandlung, die Jeremia selber von seinen Feinden zu erleiden hatte (Cheyne: Isaiah, S. 246). Ebensowenig wie einen leidenden Messias haben die Juden jemals einen göttlichen oder halbgöttlichen Messias erwartet; zwar sollte er nach einigen mehr apokalyptisch gefärbten Schriften aus dem Himmel zur Erde herunterkommen, doch als echter Mensch und als Geschöpf Gottes: hierfür berufe ich mich auf den heutigen jüdischen Gelehrten C. Montefiore ( St. Paul and Judaism, S. 52).

Um nun ein Urteil über die Darstellung des Lebens Jesu durch die Evangelisten zu gewinnen, ist vor allem notwendig zu wissen, daß die ersten Jünger in der ersten Zeit auf jüdischem Boden stehen blieben.

So läßt sich z. B. mit aller Strenge nachweisen, daß sie – in der echten jüdischen Überlieferung aufgewachsen – den erwarteten und nunmehr von ihnen gefundenen Messias für einen Menschen, und nicht für Gott oder Gottes Sohn hielten: der Ausdruck »Sohn Gottes« war ein den Juden geläufiger und diente einerseits zur Bezeichnung der Engel, andrerseits zum bildlichen Lobe ausgezeichneter Menschen – so z. B. guter Könige und gotterfüllter Propheten – wurde aber natürlich niemals buchstäblich verstanden, was ja innerhalb des jüdischen Glaubens ohne jeden Sinn gewesen wäre. Man betrachte nur die ersten Reden Petri in der Apostelgeschichte; Form und Inhalt zeugen für ihre Echtheit. Da heißt Jesus » ein Mann, der sich durch gewaltige Taten und Wunder und Zeichen, die Gott durch ihn getan hat in eurer Mitte, als von Gott hergesandt erwiesen hat« (2, 22 fg.); die Botschaft richtet sich an »das Haus Israel« allein, und da heißt es, diesen Mann »hat Gott zum Herrn und Christus gemacht« (2, 36). In seiner zweiten Anrede spricht der selbe Apostel: »Der Gott Abraham's und Gott Isaak's und Gott Jakob's, der Gott unserer Väter hat seinen Knecht Jesum verherrlicht ...« (3, 13). Auch in dem ersten gemeinsamen Gebet hören wir: »sie haben sich versammelt in dieser Stadt wider Deinen heiligen Knecht Jesum, den Du gesalbt, ...« (4, 27). Immer handelt es sich um einen Menschen, den Gott zum Messias der Juden erhoben hat. Das gleiche bezeugt das Wort, welches der Evangelist den beiden Jüngern auf dem Wege nach Emmaus, am dritten Tage nach der Kreuzigung, in den Mund legt: »Er (Jesus) war ein prophetischer Mann, gewaltig in Kraft und in Werk und in Wort vor Gott und dem ganzen Volk« { Lukas 24, 19, nach dem ältesten Text): gleichviel, ob man annehmen will, dieses Wort wurde wirklich gesprochen, oder ob man es dem Erzähler zuschreibt – die bloße Tatsache, daß es überhaupt geschrieben wurde, genügt, uns über das, was die Urgemeinde dachte, vollkommen aufzuklären; keine spätere Zeit hätte so zu sprechen gewagt.

Es steht unwidersprechlich fest: die ersten Jünger, aus deren Kreis die Evangelisten, oder wenigstens die Evangelien hervorgingen, hielten Jesus für den von allen Israeliten (noch heute) erwarteten Messias, den Mann aus David's Stamme, von Gott zur Wiederaufrichtung seines auserwählten Volkes bestimmt. Erst im Evangelium Johannis erblicken wir den Übergang zu der neuen, unjüdischen Auffassung; in diesem Evangelium – wie der Spezialforscher E.F. Scott ausführt – »tritt die Frage der Messianität in den Hintergrund und wird schließlich aus den Augen verloren angesichts der weit höheren Würde. ... Der Name Messias verlor seine historische Bedeutung und wurde gleichlautend mit Gott-Sohn« ( The Fourth Gospel, its purpose and theology, 2. Aufl., S. 70 u. 369). An derjenigen Stelle, wo Johannes den Vorfall von Caesarea Philippi erzählt (6, 69) und wo Matthäus (16, 16), Markus (8, 29) und Lukas (9, 20) das angebliche Bekenntnis des Petrus bringen: »Du bist der Messias«, läßt ihn Johannes sprechen: »Du bist der Heilige Gottes.« Die Gedanken der drei ersten Evangelisten aber – also derjenigen, aus denen wir die lebendige Vorstellung der Persönlichkeit zu schöpfen pflegen – bewegen sich, wie gesagt, noch innerhalb der echt jüdischen Messias-Vorstellung. Daß sie überhaupt auf einen solchen Gedanken verfielen, läßt sich nur aus der Armut des religiösen Lebens der Juden erklären, welches ihnen eine einzige Idealgestalt bot.

Freilich erheben einzelne neuere Gelehrte den Einwurf, die messianische Hoffnung sei zur Lebenszeit Christi im eigentlichen Volke so gut wie ausgestorben gewesen; die Behauptung ist jedoch offenbar irrig, da kurz vorher und kurz nachher verschiedene Männer die Messiaswürde für sich in Anspruch nahmen, die Fahne der Empörung aufrollten und großen Anhang (namentlich in Galiläa) fanden; außerdem haben Schürer und Stanton nachgewiesen, daß die Erwartung des Messias dazumal besonders hoch gesteigert war. Insofern kann man es also begreifen, wenn schlichte Männer aus dem Volke sich überzeugten, Jesus müsse der erwartete Messias gewesen sein.

 

Indem jedoch die Jünger sich anschickten, diese Überzeugung öffentlich zu vertreten, fanden sie sich bald zu dreierlei Unternehmungen verpflichtet, durch welche sie sich in allerhand Widersprüche und Gewaltsamkeiten verwickelten und einen Teil ihrer reinen Naivität, der Erscheinung des Göttlichen gegenüber, einbüßten: sie mußten nachweisen, daß die Propheten Israels einen leidenden, duldenden, verschmähten und schimpflich getöteten Messias von Anfang an geweissagt hatten, was der Meinung sämtlicher Schriftkenner widersprach; sie mußten den Glauben an die glorreiche apokalyptische Wiederkehr des Gekreuzigten einflößen, und drittens mußten sie das Wunderwirken Jesu mit möglichst grellen Farben ausmalen, weil gerade dieses Beweismittel bei dem unwissenden Volk stets den stärksten Eindruck macht. In allen drei Fällen mußten sie von ihren echten Erinnerungen an Jesum mehr oder weniger abweichen.

Der Beweis aus Weissagung war darum unerläßlich, weil die Juden nur das als geschichtlich wahr annehmen durften, was ihre Propheten vorverkündet hatten (Holsten: Paulus 2, 19). – Mit dem Offenbarungswesen der Apokalyptik verhielt es sich folgendermaßen: je tiefer das jüdische Volk politisch sank, und je ferner infolgedessen seine Hoffnung auf Weltherrschaft rückte, um so mehr hatte sich – unter dem Einfluß babylonischer und persischer Ideen – eine früher den Juden unbekannte Phantastik über das Ende der Welt, und was alles darauf folgen sollte, entwickelt. Diese Lehren »von den letzten Dingen«, von der Wissenschaft Eschatologie genannt und von den gelehrten Rabbinern zu allen Zeiten mißtrauisch behandelt, wenn nicht gar verworfen, bildeten einen Ersatz für den versiegten Strom der Prophezeiung. Schon der 74. Psalm (gedichtet anderthalb Jahrhundert vor Christi Geburt) erhebt die Klage: »Kein Prophet ist mehr da!« An Stelle der Propheten, die stets in der politischen Gegenwart wurzelten und mit ihrer Person sich für ihre Lehren einsetzten, verbreitete sich jetzt – gerade um die Zeit kurz vor und kurz nach Jesu Leben – aus dunklen Winkeln ein frommes Schrifttum, das seine angeblichen Offenbarungen – um ihnen Gewicht zu geben – Männern der Vorzeit zuschrieb, z.B. dem Moses, dem Jesaja oder gar dem Erzvater Enoch. Dieses sonderbare Schrifttum übte zu der Zeit, von der wir handeln, eine mächtige Wirkung auf die Phantasie, namentlich der Volkskreise, aus und hat infolgedessen die Evangelien bedeutend beeinflußt. – Daß der Beweis aus Wundern Jesu ebenfalls unerläßlich war, bedarf keiner weiteren Begründung.

Widmen wir eine kurze Betrachtung jedem dieser drei erwählten Beweismittel für die Messianität Jesu. Vorausschicken will ich noch zwei kurze Bemerkungen.

Die erste ist wichtig. Uns Heutigen stehen alle drei Beweismittel der Evangelisten besonders fern; weder Weissagungen noch Offenbarungen noch Wunder sind geeignet, auf uns überzeugend zu wirken: daher bedarf es einer geschichtlichen Erwägung, damit wir ihre frühere Bedeutung erfassen.

Der zweiten Bemerkung wollen wir kein besonderes Gewicht beilegen, immerhin ist sie jedoch geeignet, auf gewisse Dinge aufmerksam zu machen, welche sonst unbeachtet bleiben. Ganz allgemein gesprochen, darf man behaupten: im Evangelium des Matthäus wird noch mehr Gewicht als in den anderen Evangelien auf die prophetischen Beweise gelegt, immer von neuem vernehmen wir die Worte »damit die Schrift erfüllet werde«; Lukas liebt es, »die letzten Dinge« – Hölle und Himmel, Strafen und Belohnung – besonders zu betonen; Markus ist der derbe Mann, der sich auf den Eindruck der gewirkten Wunder am meisten stützt und der den Heiland seinen Jüngern verheißen läßt, sie würden Schlangen mit den Händen aufheben, ohne von ihnen gebissen zu werden, und Gifte trinken, ohne daran zu sterben ( Mark. 16, 18) – also genau die Kunststücke, welche noch heute wandernde Derwische und andere orientalische Zauberer ausüben; bei Johannes treffen wir zwar alle drei Beweismittel noch an, doch in wunderbar verklärender Vergeistigung.


Der Drang, Kunde über das Zukünftige zu erlangen, scheint allen Menschen angeboren zu sein: ein angeborener Wahnsinn, urteilen wir Heutigen, nichtsdestoweniger ein Drang, der im Altertum alle, auch die kultiviertesten Geister beherrschte, und der noch unter uns »Aufgeklärten« manchen sonst gescheiten Menschen in nächtlich verbergender Stunde zur Kartenlegerin führt. In der hellenischen Welt, zur Zeit der höchsten Blüte, gab es Hunderte von Heiligtümern, an denen Fragen, die Zukunft betreffend, Beantwortung fanden. Beinahe alle Götter, außerdem manche Heroen der Altzeit wurden zu diesem Zwecke angerufen. Die allgemeine Sitte trieb sowohl den Privatmann, dem ein wichtiges Geschäft bevorstand, wie die Gemeinde, die eine neue Verordnung zu erlassen beabsichtigte, und den Staat, der unschlüssig schwankte, ob er Krieg erklären solle oder nicht, zum Orakel hin, sich Rats zu holen. Die amtierenden Priester, die entweder die Stimmen der Götter zu vernehmen vorgaben, oder aber deren Antwort aus dem Rauschen einer Eiche, aus dem Geplätscher einer heiligen Quelle, aus dem Klirren einer am Altar angeschlagenen Kette, aus dem Zungenreden einer in Extase geratenen Priesterin zu deuten wußten, hießen bei den Griechen Propheten. Durchaus anders geartet war der israelitische und der jüdische Prophet (der Nabi) – ohne Frage die bedeutendste Erscheinung, welche diesem dürren Boden entwuchs. Mit wenigen Ausnahmen stand er in schroffem Gegensatz zur amtlichen Priesterschaft; Jesaia z. B. erklärt, »Gott möge den Sabbat nicht und hasse die festgesetzten Feiertage«, und Jeremia stellt sich vor dem Tempel zu Jerusalem auf und ruft laut: »Verlaßt euch nicht auf die Lügen, wenn sie sagen, hier ist des Herrn Tempel!« Diese Propheten beantworten keine müßigen Fragen, vielmehr stehen sie im Mittelpunkt des politischen Lebens ihrer Gegenwart und sind leidenschaftlichen Tribunen zu vergleichen. Nicht die Verkündigung der Zukunft schwebt ihnen als Ziel vor, vielmehr die veredelnde Umgestaltung der Gegenwart, und sie malen nur in flammenden Farben – wie sie Orientalen zu Gebote stehen – abschreckende und anlockende Zukunftsbilder ihren Volksgenossen vor die Augen hin, um sie zu bewegen, sofort das Bessere zu erwählen. Daher genossen die israelitischen Propheten auch außerhalb des Judentums Ansehen; Griechen, die dem Christentum nicht angehörten, lasen gern in ihnen und fanden ihre eigene Mythologie bestätigt: so z. B. entnahmen sie dem Liede Jakob''s die Vorverkündigung des Dionysos, Jesaia's angebliches Wort über die Jungfrau, die einen Sohn gebären sollte, galt ihnen als Andeutung auf den Perseus, und wenn der Psalmist von einem Mann redet »stark wie ein Riese«, so konnte sich das offenbar nur auf Herakles beziehen (Hatch, Greek Ideas, S. 73 fg.).

Schon an diesen Beispielen ersieht man aber, daß es weniger darauf ankam, was die Propheten hier und da über zu erwartende Begebenheiten wirklich verkündet haben mochten, als auf das, was man in sie hineinlas; jedes Wort wurde als geheimes Zeichen für ein anderes Wort gedeutet; kein Satz durfte nach seinem geraden Sinn verstanden werden. Da blieb man denn nicht auf die eigentlichen Propheten beschränkt, vielmehr dehnte man diese Methode auf das ganze Alte Testament aus und deutete alle die berichteten Vorgänge aus der Vergangenheit zugleich als geheime Hinweise auf kommende Begebnisse. Derartige Auffassungen herrschten damals allgemein; nirgends aber war die Kunst der Deutung so entwickelt wie bei den jüdischen Schriftgelehrten; von diesen übernahmen die Evangelisten das Verfahren, Paulus und die ersten Christen, sodann die Kirchenväter eiferten ihnen nach, und während Jahrhunderten bildete »der Beweis aus der Schrift« – gegraptai, es steht geschrieben – das Hauptüberzeugungsmittel der Messianität Jesu, sowie der anderen grundlegenden Kirchenlehren. Der geistesmächtigste Mann unter den frühen Christen, Origenes, lehrt: »Die Schriften (der Bibel) sind vom Geiste Gottes erfaßt und tragen nicht allein die beim ersten Blick zu ersehende Bedeutung, sondern zugleich einen anderen tieferen Sinn, auf den die meisten Leser nicht achten. Denn die geschriebenen Worte sind die Behälter für gewisse Geheimnisse (sacramenta) und die Abbilder göttlicher Dinge« (De Principiis, Vorw., Abschn. 8). Und der selbe Origenes sagt in seiner berühmtesten Schrift Gegen Celsus (den Gegner des Christentums): »Das stärkste aller Beweismittel zur Bestätigung dessen, was wir von Jesu behaupten, bildet die Tatsache, daß sein Kommen von den jüdischen Propheten vorausgesagt ward« (Buch 1, Kap. 49). Auch Ignatius überliefert den Einwand der Juden: »Wir glauben dir nichts aus dem Evangelium, solange du es uns nicht nachgewiesen hast in den Archaia – d.h. in den Schriften des Alten Testamentes« (nach Burkitt).

Ich greife hier etwas weiter, damit der Leser die Geistesstimmung kennen lerne, aus der die Evangelisten zu ihrem uns so fremd anmutenden Unternehmen die Anregung schöpften. Die Theologen treiben zwar das Allegorisieren noch heute munter weiter, doch uns Anderen fällt es zunächst schwer, und es regt sich im Innern der Geist des Widerspruches, wenn uns zugemutet wird, in der Tatsache, daß Moses eine eherne Schlange in der Wüste aufrichtete, durch deren Anblick Gebissene geheilt werden sollten, eine sichere Vorherverkündigung des Kreuzestodes Jesu Christi zu erblicken ( Joh. 3, 14). Und doch fehlt diese eherne Schlange als »Beweis« bei vielleicht keinem einzigen Kirchenvater, so sicher konnten sie des Eindruckes sein, den diese allegorische Umdeutung auf ihre Leser machen mußte. Ich füge ein zweites Beispiel hinzu, gleichfalls der Wüstenwanderung Israel's entnommen. Der Leser wird sich erinnern, daß, als einmal das Volk vor Durst verschmachtete, Moses von Jahve den Befehl erhielt, mit seinem Stabe auf einen Felsen zu schlagen, worauf dann dem Felsen Wasser entquoll; Paulus nun deutet diesen Vorgang folgendermaßen: »Sie tranken aus einem mitgehenden geistlichen Felsen, der Fels aber war der Christus« ( 1. Kor. 10, 4)! Einmal auf diesem Wege, war es schwer, eine Grenze anzuerkennen, und so zieht denn schon Justin das ganze mosaische Ritualgesetz herbei als symbolische Vorherverkündigung des Lebens und Leidens Jesu Christi. Ein Beispiel. Er redet vom Passah-Lamm (vgl. 2. Buch Mosis 12, 9) und sagt: »die Verordnung, das Lamm unzerteilt zu braten, deutet symbolisch auf das Kreuzesleiden Christi. Das gebratene Lamm wird derartig angerichtet, daß es ein Kreuz darstellt, indem nämlich einer der beiden Spieße den Körper der Länge nach durchsticht, während der andere quer durch den Rücken gesteckt wird und an letzterem die Pfoten angebunden werden« ( Dialog mit Tryphon 40, 3). An der selben Stelle folgt gleich ein zweites Beispiel. Am jüdischen Feste der Versöhnung (vgl. 3. Buch Mosis 16, 5 fg.) werden zwei Böcke dargebracht, von denen der Hohepriester den einen auf dem Altar opfert, während der andere – der Sündenbock – in die Wüste hinausgejagt wird: diese gottesdienstliche Handlung verkündet fraglos, nach Justin, die zweimalige Erscheinung Jesu Christi auf Erden – die erste, die zum Kreuzestode führt, die zweite, wo er kommen wird auf Wolken des Himmels usw. Ehe ich von Justin – der weniger als hundert Jahre nach den Evangelisten schrieb – Abschied nehme, will ich noch auf einen Text aufmerksam machen, den er nicht müde wird als einen der schwerstwiegenden Beweise für die Wahrheit der christlichen Lehre anzuführen und eingehend von allen Seiten zu beleuchten. Dieser Text entstammt dem sogenannten Abschiedslied Jakob's ( 1. Buch Mosis, Kap. 49). Hier heißt es, mit Bezug auf Juda: »Er wird sein Füllen an den Weinstock binden, und seiner Eselin Sohn an den edlen Reben. Er wird sein Kleid in Wein waschen, und seinen Mantel in Weinbeerblut.« In diesen Worten erblickt Justin nicht allein die Voraussage der Passion, von Jesu Einzug in Jerusalem, auf einem Esel reitend, an, bis zum Lanzenstich am Kreuze, sondern er entnimmt daraus noch allerhand Belehrung. Der »Mantel« z. B., »von dem der Heilige Geist an dieser Stelle durch den Propheten redet, bedeutet die Gesamtheit der gläubigen Menschen, die Jesus in seinem Blute reinwaschen sollte«. Und daß von »Weinbeerblut« die Rede ist, zeigt an, daß Jesus »wohl Blut in den Adern führen werde, nicht aber aus Mannessamen geboren, sondern aus der Kraft Gottes« (siehe z. B. 1. Apologie, Kap. 32 und Dialog mit Tryphon, Kap. 54). Namentlich das Eintreffen der »ausdrücklichen Prophezeiung« bezüglich des Esels und seines Füllens beim Einzug in Jerusalem bildet nach Justin »den unwiderleglichsten aller Beweise, daß Jesus der Christus sei« ( Tryphon, Kap. 53, 2). Nebenbei sei daran erinnert, daß Justin's Apologie an den Kaiser Mark Aurel gerichtet ist. Was der Imperator dazu gesagt hat, ob ihm überhaupt die Schrift zu Gesicht kam, weiß man nicht, doch die Tatsache bleibt, daß ein hoher kirchlicher Würdenträger von edler feuriger Gemütsart derartige Argumente für geeignet hielt, einen solchen Mann zu überzeugen. Die Juden freilich müssen sich in dieser Luft heimisch gefühlt haben, nur ward es ihnen schwer bis zur Unmöglichkeit, derartige Vergewaltigungen des Sinnes ihrer alten Schriften gläubig hinzunehmen; hierüber schreibt Paulus: »Bis heute, wenn Moses gelesen wird, liegt die Decke über ihren (der Juden) Herzen. Wo aber die Bekehrung zum Herrn eintritt, wird die Decke weggenommen« ( 2. Kor. 3, 15, 16).

Den Evangelisten muß man die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie einen verhältnismäßig bescheidenen Gebrauch von den angeblichen Vorherverkündigungen machen; immerhin beherrscht auch sie diese Wahnvorstellung in nicht unbedenklichem Grade. Wie einer aus ihrem Kreise schreibt: »Ihr tut gut, euch an das prophetische Wort festzuhalten, als an einer Leuchte, die da scheint an finsterem Ort, bis der Tag durchbricht und lichtbringend aufgeht in euren Herzen, darüber vor allem klar, daß keine Schriftweissagung eigene Lösung zulässet, denn nie ist eine Weissagung durch menschlichen Willen geschehen, sondern getragen vom Heiligen

Geist haben von Gott aus Menschen geredet« ( 2. Petrus 1, 19fg.). An gar vielen Orten, fürchte ich, haben sich die Evangelisten, sowie namentlich ihre späteren Bearbeiter, durch diese »Leuchte« zu abenteuerlichen Behauptungen verleiten lassen; gewiß tun wir wohl daran, jedesmal, wenn wir einer Berufung auf das Alte Testament begegnen, auf der Hut zu sein – einerseits vor den unbewußt wirkenden Einflüsterungen derartiger »Weissagungen« auf die redlichen Berichterstatter, andrerseits vor den geschäftigen Ergänzern, denen es daran lag, jede Voraussage als eingetroffen darzutun. Denen, die erstaunt sein sollten, einer Kenntnis abgelegener Schriftstellen bei so einfachen Volksleuten zu begegnen, diene zur Erklärung, daß dazumal Sammlungen von sogenannten Zeugnissen in Umlauf waren, durch welche man die Hoffnung auf den Messias im Volke wachzuhalten bezweckte (Milligan, N. T. Documents 207); solche aus allem Zusammenhang losgelöste Bruchstücke waren erst recht geeignet, in den Köpfen Unbewanderter Verwirrung zu stiften und Wesentliches mit Unwesentlichem durcheinander zu werfen.

Man betrachte nur die Geburts- und Kindheitserzählung bei Matthäus; hier waltet die Phantasie frei, weil gar keine wirkliche Erinnerung des Schreibers vorliegt, und da begegnen wir nun Schritt für Schritt der angeblichen Erfüllung angeblicher Weissagungen. In einem genau bekannten geschichtlichen Augenblick hatte z. B. Jesaia, der leidenschaftliche Vaterlandsfreund, dem zaghaften König Ahas – der im Begriffe war, den Assyrer ins Land zu rufen, um mit seiner Hilfe die beiden Nachbarn Judäas zu vernichten – eine Weissagung entgegengeschleudert, durch welche er dessen Entschlüsse umzustimmen hoffte. Die Weissagung beginnt mit den Worten: »Wenn heute junge Weiber schwanger werden und einen Sohn gebären, werden sie ihn zwar Immanuel (Gott-mit-uns) nennen, doch usw. usw.« (7, 14 nach Kautzsch). Durch diese Weissagung gibt der Prophet dem König zu verstehen: zwar werden durch deine Politik deine zwei Nachbarn bald erledigt sein und diejenigen Frauen, die jetzt in der Hoffnung sind, werden ihre Söhne vor Freude Gott-mit-uns benennen; doch ehe diese »Gottfriede« soweit herangereift sind, das Böse von dem Guten unterscheiden zu können (also in wenigen Jahren), wird der dritte Feind, den du jetzt als Freund ins Land rufst, Judäa in eine Wüste verwandelt haben. Es liegt alles so klar faßlich wie möglich vor Augen, und auch das Bildliche, das die orientalische Redeweise mit sich bringt, ist völlig durchsichtig und wirkungsvoll. Nun aber schlage man im Evangelium Matthäi, Kap. 1, die Verse 18 und folgende nach, wo die Geschichte von der Geburt aus der Jungfrau erzählt wird, mit den Worten abschließend: »Das alles aber ist geschehen, damit in Erfüllung gehe, was der Herr durch das Wort des Propheten gesprochen hat – Siehe, die Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären und sie werden ihm den Namen Immanuel geben ...« Was die Berufung auf den Namen Immanuel in diesem Zusammenhange bedeutet, weiß ich nicht, da der Heiland den Namen Jesus erhielt; im übrigen aber sehen wir die Vorstellung von der Jungfrauengeburt durch einen gröblich mißverstandenen Text, der keine entfernteste Beziehung zu den messianischen Hoffnungen aufweist, zugleich eingegeben und als notwendig »bewiesen«.

Auch die folgenden Episoden im ersten und zweiten Kapitel des Evangeliums Matthäi – Bethlehem als Geburtsort, die heiligen drei Könige, die Flucht nach Ägypten, der Kindermord, die Niederlassung in Nazareth – beziehen sich alle ausdrücklich oder stillschweigend auf Weissagungen der Propheten, wobei wieder die wunderlichsten Vergewaltigungen der alten Texte stattfinden. So z. B. legt der Prophet Hosea Jahve folgende Worte in den Mund: »Als Israel jung war, gewann ich es lieb und rief seine Scharen aus Ägypten. Je mehr ich sie rief, desto mehr zogen sie sich von mir zurück: sie schlachteten den Baalen und opferten den Bildern usw.« (11, 1 fg.). Das Ganze bezieht sich unmißverständlich auf die Befreiung aus der ägyptischen Gefangenschaft, was auch die Fortsetzung des Textes bestätigt. Hinzugefügt muß werden, daß gewisse abgeleitete Handschriften statt »seine Scharen« den Ausdruck setzen »meinen Sohn« – ein Ausdruck, der in den Schriften des Alten Testamentes stets soviel bedeutet wie »das Volk Israel«, folglich genau dasselbe besagt wie die beste Handschrift, wenn sie »seine Scharen« schreibt. Wie aber verwendet der Evangelist ein solches Wort? Er erzählt die Flucht nach Ägypten und begründet sie: »auf daß erfüllet würde, was der Herr gesagt durch des Propheten Wort, ›Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen‹!«

Sobald bei Matthäus die persönlichen Erinnerungen an den Heiland die Oberhand gewinnen, weichen die Weissagungen mehr in den Hintergrund, doch ohne jemals dem Geschichtlichen das Feld ganz zu räumen; so z.B. wird die einfache Tatsache, daß Jesus, als seine öffentliche Tätigkeit begann, nach Kapernaum zog, durch eine lange, verwickelt zusammengestellte und recht ungenaue Anführung aus Jesaia begründet »damit erfüllet würde«. Anstatt die Gepflogenheit des Heilandes, in Gleichnissen zu reden, aus der Eigenart seines Wesens und namentlich aus der Eigenart seiner Botschaft abzuleiten, kehrt hier wieder die geisttötende Versicherung: »ohne Gleichnis redete er nichts zu ihnen, auf daß erfüllet werde, was da gesagt ist durch das Wort des Propheten Jesaia – ›Ich will auftun mit Gleichnissen meinen Mund, ich will ausschütten, was verborgen ist von der Schöpfung her‹«; wobei als bezeichnend für den Grad der Schriftkenntnisse des Verfassers (beziehungsweise des Bearbeiters) bemerkt zu werden verdient, daß dieses angeführte Wort im Buche Jesaia nicht vorkommt, vielmehr dem 78. Psalm, Vers 2, entnommen ist, und nach der richtigen Handschrift, in der richtigen Übersetzung lautet: »Ich will meinen Mund zu Sprüchen auftun, will Rätsel aus der Vorzeit verkünden« – worauf eine Zusammenfassung der Geschichte Israels, eine Aufzählung der Wohltaten Jahve's und der beständigen Undankbarkeit »des abtrünnigen und widerspenstigen Geschlechtes« folgt.

Gegen Schluß des Evangeliums Matthäi bricht wieder die Flut der Weissagungen durch; namentlich die Erzählung von der Kreuzigung – der eingestandenermaßen die Jünger nur »aus der Ferne« zugesehen hatten – erweist sich als Punkt für Punkt aus vorausgesetzten Erfüllungen von Prophezeiungen aufgebaut und läßt den Heiland mit einem Ausruf des Psalmisten verscheiden, ohne ein einziges der überlieferten göttlichen Kreuzesworte zu melden.

Hin und wieder sind wir in der Lage, dem nachträglichen Entstehen der Beziehung auf eine Weissagung und dem Einschieben dieses späteren Einfalles in des Evangelisten ursprüngliche Erzählung mit Augen zu folgen. Ein belehrendes Beispiel bietet der Bericht über den Einzug in Jerusalem. In der ältesten bekannten Handschrift lesen wir im Evangelium Johannis (12, 14) einfach: »Jesus aber ritt auf einem Esel« –- was nichts Auffallendes an sich hat, da er aus dem wohlhabenden Hause der Geschwister Maria, Martha und Lazarus den Weg antrat und das Reiten auf Eseln dortzulande von jeher üblich war; so ritten z. B. David und Salomon auf Eseln oder auf Maultieren. In der späteren uns geläufigen Fassung des Johannes heißt es schon: »Jesus aber traf ein Eselein und setzte sich darauf«, wodurch der Übergang in eine besondere göttliche Fügung angedeutet wird. Bei den drei anderen Evangelisten läßt aber der Heiland den Esel ausdrücklich holen, und zwar lesen wir in Matthäus (21, 1 fg.) folgende Weisung: »Gehet in das Dorf euch gegenüber, so werdet ihr sogleich eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr, die bindet los und bringet sie mir, und wenn jemand etwas zu euch sagt, so saget: der Herr bedarf ihrer, so wird er sie alsbald ziehen lassen. Dies geschah aber, damit erfüllet würde, was gesagt ist durch das Wort des Propheten usw.« Die Jünger tun wie befohlen, bringen die Eselin und das Füllen und nun heißt es, unbegreiflicherweise: »sie legten Kleider auf sie, und er setzte sich auf dieselben« – so daß es den Anschein hat, als wäre Jesus – der Prophezeiung Sacharjas zulieb – zugleich auf der Eselin und auf dem Füllen geritten. Die späteren Bearbeiter des Markus und Lukas haben die Ungeschicklichkeit dieser Fassung empfunden und die Eselin-Mutter fortgelassen; sie erzählen nur von einem Füllen und streichen dafür das von Matthäus angeführte Prophetenwort Anmerkungsweise sei noch hinzugefügt, daß gewisse Prophezeiungen, auf deren Erfüllung hingewiesen wird, in keiner Schrift des Alten Testamentes aufzufinden sein sollen! Für die nähere Erörterung dieser Fälle verweise ich auf Cheyne's Bible Problems; einen interessanten Fall bringt Scott's The Kingdom and the Messiah, S. 225..

Die vorangegangene Betrachtung über den Einfluß, den der Wahngedanke der Weissagung auf die evangelischen Berichte ausüben mußte, bildet nur die kurze Skizze eines unerschöpflich verwickelten Gegenstandes; doch glaube ich, der Leser wird eine lebhafte Vorstellung von den unausbleiblichen Folgen dieses so eigenmächtigen »Beweis«-Verfahrens gewonnen haben: allerhand Luftgestalten drängen sich auf, Mißverständnisse nisten sich für immer ein, treue Erinnerungsbilder erleiden Verbiegung, echte Worte des Heilandes erhalten eine ihnen fremde Färbung, die den ursprünglichen Sinn verdeckt.

Der zweite Wahngedanke, der zum Beweise der Messianität Jesu herangezogen wird, weist Züge der Verwandtschaft mit dem ersten auf und fließt an gewissen Punkten in Weissagung über; und doch haben wir allen Grund, zwischen beiden zu unterscheiden. Die Bücher des Alten Testamentes – auch die sogenannten prophetischen und die Psalmen – stehen (außer wo sie dem bloßen Ritual gelten) mitten in der Geschichte, und ihre Absicht geht dahin, dieser zu dienen; dagegen geben sich die apokalyptischen Schriften alle als Offenbarungen über die ersten und die letzten Dinge, über Weltschöpfung und Weltende, über die Hierarchie der Engel und der Erzengel, über den Sturz Satan's und der zugleich mit ihm abgefallenen Himmelsscharen, über Gottesplan, Sündenfall und Jüngstes Gericht, über den Ort der ewigen Strafen und das Paradies der Belohnung. Bezeichnend ist es, daß dieses ganze Schrifttum im geheimen entstand; nie hat man den Namen eines der Verfasser erfahren. Die Zuschreibung an berühmte Männer der Vergangenheit verrät die Absicht, einfache Seelen zu täuschen, und zeugt von einem gewissen geistigen Tiefstand. Fremde Beeinflussung – hauptsächlich persischen Ursprungs, doch mit Einbeziehung gewisser hellenistischer Vorstellungen – gab den Anstoß zu einer Gedankenwelt, die sonst den Juden besonders fern lag, wobei freilich nicht übersehen werden darf, daß zur Zeit, als die Apokalypsen entstanden, zahlreiche, meistens asiatisch gemischte Hellenen, äußerlich dem Judentum angehörten, was allerhand damaligen Abirrungen von dem sonst so geradlinigen Wege dieses schematisch erstarrten Glaubens zur Erklärung dient. Wie schon früher bemerkt, handelt es sich um eine vorübergehende Erscheinung, deren erste Spuren nicht weiter als bis ins zweite Jahrhundert vor Christi Geburt hinaufreichen, und deren letzte gegen Schluß des zweiten Jahrhunderts nach Christo zu verblassen anfangen.

Da der Leser, den ich im Auge habe, gewiß auf diesem Gebiete wenig bewandert ist, nenne ich die Titel der bisher – zum Teil erst seit wenigen Jahren – bekannt gewordenen Hauptschriften der Gattung: die Apokalypse des Baruch, das Buch Enoch (in verschiedenen Fassungen), die Assumptio Mosis, die Psalmen Salomo's, das Vierte Buch Esra, die Himmelfahrt des Jesaia, das Buch der Jubiläen, die Sibyllinischen Orakel; voran geht – wohl als bedeutendstes Erzeugnis dieser Art – das Buch Daniel, das einzige von allen, welches Aufnahme in den alttestamentlichen Kanon fand; und als letztes nenne ich das einzige, welches eine Stelle dauernd im Kanon des Neuen Testamentes behauptete – die sogenannte Offenbarung Johannis. Alle diese Schriften – auch die zuletzt genannte – sind innerhalb des Judentums entstanden, gewannen aber erst innerhalb der frühen christlichen Gemeinde Bedeutung und Einfluß, indem die Wertschätzung, die gerade diese Bücher von seiten der ersten Jünger und des Paulus genossen, sich auch auf die frühesten Kirchenväter fortpflanzte, welche sie geläufig als »Heilige Schrift« anführen; Clemens Alexandrinus gebraucht sogar den Ausdruck »die Geheimschriften des Christentums«! Es dauerte aber nicht lange, bis höhere Bildung und reifere Überlegung ihren geringen Wert aufdeckten und sie streng verbannten. Unter christlichen Händen hatten inzwischen die meisten nach und nach Änderungen erfahren, namentlich zweckdienliche Ergänzungen: unsere Gelehrten sind eifrig daran, die Urfassung wieder herzustellen. In den von E. Kautzsch herausgegebenen zwei Bänden Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testamentes findet der deutsche Leser die meisten der hier genannten Offenbarungsschriften von zuständigen Fachmännern übersetzt und erklärt; wer solche Bemühung scheut – und ich möchte es nicht auf mich nehmen, in diesem Falle zuzureden – dem sei Schürer's schon oben wiederholt herangezogene Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi empfohlen, wo er im dritten Band reichliche und zuverlässige Auskunft finden wird.

Alle diese Erdichtungen gehören ursprünglich der Richtung des streng ausschließlichen Judentums an; bei ihnen gelangt kein Nichtjude in den Himmel; ihr Zweck ist ja gerade, das Volk im jüdisch- nationalen Sinne aufzustacheln und vor den langsam einsickernden Beeinflussungen fremden Geistes zu warnen – wobei freilich die sittliche Besserung und das Vertrauen auf Gott (zugleich mit der Furcht vor ihm) als Hauptmittel zum Zweck eingeschärft werden.

Der Begriff des Messias gewinnt innerhalb dieses Schrifttums, je später desto mehr, an Bedeutung und zwar in einer Gestalt, die der christlichen Messias-Vorstellung immer ähnlicher wird. Nach dem Vierten Buche Esra (13, 1 fg.) wird der aus David's Samen entstammte und vor Zeiten der Erde entrückte, von Jahve in den Himmel emporgehobene Messias, einstens »vom Meere her, auf Wolken des Himmels fliegend, kommen«. Die verschiedenen Schriften bezeichnen ihn verschieden – als Kriegerkönig oder als Friedensfürst, als Verfechter der Gerechtigkeit oder als des Weltalls Monarchen, auch der Titel Hoherpriester kommt vor. Zwei uns aus den Evangelien vertraute Bezeichnungen für Jesus finden sich schon in dem Buche Enoch auf den vom Himmel herabsteigenden Messias angewandt: der Menschensohn und der Christus. In einem allerdings sehr spät anzusetzenden Teil des Buches Enoch tritt der Messias gar als Weltrichter, und insofern als Gottes Stellvertreter auf.

Immer mehr erkennt die wissenschaftliche Theologie den großen – in gewissen Beziehungen entscheidenden – Einfluß dieser apokalyptischen Literatur und der aus ihr geborenen Vorstellungswelt auf die evangelischen Berichte sowie auf alle übrigen Bestandteile des Neuen Testamentes; Paulus z. B. ist geradezu durchtränkt davon – doch darüber mehr im folgenden Kapitel.

Um zuerst ein leicht faßliches Beispiel dieser Beeinflussung zu nennen: die Vorstellung von den »Sieben Himmeln«, welche im Neuen Testament wiederholt vorkommt (so im Hebräerbrief, in der Offenbarung Johannis und mehrfach bei Paulus), ist unmittelbar dem Buche der Geheimnisse des Enoch entnommen – wie der englische Sonderforscher R. H. Charles nachgewiesen hat. Wenn also dieser Gedanke, der bekanntlich einer dem Judentum fernliegenden Weltanschauung entstammt und der in so schreiendem Widerspruch zu allem steht, was wir von des Heilandes Denken und Lehren wissen – namentlich zu seiner Lehre von dem Reiche Gottes –, wenn also dieser Gedanke sich in die heiligen Schriften des jungen Christentums einschleicht, so verdanken wir dies lediglich den sonderbaren Volksbüchern, von denen wir hier reden. Ein solcher Fall betrifft zwar nur eine Äußerlichkeit und es wird kein Zusammenhang mit Jesus behauptet; dennoch ist er geeignet, uns auf den unentrinnbaren Einfluß, dem gerade die frommen gottsuchenden Menschen jener Zeit unterworfen waren, aufmerksam zu machen und lehrt uns dort überall mißtrauen, wo wir begründeterweise diesen Einfluß voraussetzen müssen; und das müssen wir an gar vielen und wichtigen Stellen unserer Evangelien: zunächst überall, wo von einem nahen Weltende, von einem drohenden Letzten Gericht, von einem auf Wolken wiederkehrenden Messias, von Schrecknissen, die über die Welt hereinbrechen sollen, von posaunenden Engeln usw. gesprochen wird; denn alle diese Dinge bilden den Hauptinhalt der apokalyptischen Schriften, und wenn es auch nicht ausgeschlossen erscheint, daß der Heiland – um sich seiner Umgebung verständlich zu machen – sich gelegentlich dieser im Volke geläufigen Vorstellungen bedient haben mag: es ist ein Ding der Unmöglichkeit, daß sie zu seiner Lehre gehört haben können. Hierauf kommen wir gleich zurück; vorher will ich aufmerksam machen, daß nach den Ergebnissen neuerer Forschung dieser Einfluß noch weiter reicht als unsere Beispiele schon zeigen.

Es handelt sich weniger um zusammenhängende wörtliche Anführungen als um den Gebrauch, seitens der Evangelisten, von Vorstellungen, die den Apokalyptikern geläufig waren, und zwar unter Anwendung der gleichen Ausdrücke. Lesen wir z. B. im Taufbericht des Matthäus (3, 16): »da taten sich die Himmel auf«, so wird uns bei einiger Überlegung die Eigenart dieser Wendung gewiß auffallen und auf eine dichterische Veranlagung des Schreibers schließen lassen: der Ausdruck entstammt der Apokalypse Baruch's (22, 1), wo ebenfalls »der Himmel sich auftut« und daraufhin »eine Stimme vom Himmel« vernehmbar wird. Als weiteres Beispiel nenne ich die Stelle Matthäus (25, 41): »Hierauf wird er auch sagen zu denen von der Linken: gehet hinweg von mir, ihr Verfluchten in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln«: alle diese Vorstellungen über das Letzte Gericht – daß die Bösen links von Gottes Thron zu stehen kommen, daß sie in das ewige Feuer geworfen werden, wo sie »dem Teufel und seinen Engeln« zum Opfer fallen, alle finden sich in einem Teil des Buches Enoch genau vorgebildet, das sechzig bis achtzig Jahre vor Christi Geburt geschrieben wurde. Das gleiche gilt von anderen Teilen der Schilderung des Letzten Gerichtes. So z. B. finden sich die Worte ( Matth. 19, 28): »Der Sohn des Menschen sitzt auf dem Throne seiner Herrlichkeit«, buchstäblich bei Enoch (62, 3): »... wie er (der Menschensohn) auf dem Throne seiner Herrlichkeit sitzt ...«; und lesen wir Johannes (5, 22): »Er hat das Gericht ganz an den Sohn übergeben«, so kann es kaum einem Zufall zugeschrieben werden, wenn wir bei Enoch (69, 27) finden: »die Summe des Gerichtes wurde ihm, dem Menschensohn, übergeben ...«. Früher war man der Meinung, der Ausdruck »Menschensohn« sei dem 7. Kapitel des Buches Daniel entnommen, wo er zur bildlichen Bezeichnung des jüdischen Volkes gebraucht wird, im Gegensatz zu verschiedenen anderen Nationen, die – durch je ein Tier versinnbildlicht – auftreten: heute weiß man, daß die Annahme irrig war und daß der wahre Ursprungsort des messianischen Gebrauches dieses Wortes im Buche Enoch zu finden ist.

Da die genannten Bücher, wie schon vorher bemerkt, sich fast ausschließlich mit den »letzten Dingen« befassen, so macht sich ihr Einfluß namentlich dort bemerkbar, wo in den Evangelien von diesen die Rede ist. Obige Beispiele wiesen schon darauf; zur Ergänzung folge eines über das Weltende. Die ganze Stelle, die Lukas (21, 25 fg.) dem Heiland in den Mund legt, ist (nach Charles) fast wörtlich zusammengestellt aus Bruchstücken der Apokalypse Baruch's »Und es werden Zeichen geschehen an Sonne, Mond und Sternen, und auf der Erde werden die Völker sich zusammendrängen in Angst vor dem Tosen des Meeres und seiner Fluten, da die Menschen vergehen vor Furcht und Erwartung dessen, was über die Welt kommt; denn die Gewalten der Himmel werden erzittern. Und hierauf werden sie den Sohn des Menschen kommen sehen in einer Wolke mit großer Macht und Herrlichkeit. Wenn aber das anfängt, dann richtet euch auf, und erhebet eure Häupter, denn es nahet eure Erlösung.« Übrigens wird in einer Schrift des Neuen Testamentes, in dem Briefe des Judas, ausdrücklich und ausführlich das apokalyptische Buch des Enoch angeführt; wir lesen da: »Es hat aber auf sie auch geweissagt der Siebente von Adam, Enoch, mit den Worten: Siehe, der Herr ist gekommen mit seinen heiligen Zehntausenden, Gericht zu halten wider alle, und alle die Gottlosen unter ihnen zu strafen über alle ihre Werke des Frevels, mit denen sie gefrevelt, und aller rohen Worte, welche wider ihn gesprochen sündige Frevler« (Vers l4 fg.). Hierbei verdienen folgende zwei Tatsachen gewiß Beachtung: der Verfasser des genannten Briefes war ein leiblicher Bruder Jesu, und der ursprüngliche Verfasser des Buches Enoch war aller Wahrscheinlichkeit nach ein Galiläer. Erstere Tatsache gibt uns urkundliche Auskunft über die geistige Umwelt des kleinen Kreises, aus welchem das Christentum hervorging; die zweite erklärt die augenscheinliche besondere Vertrautheit der Urevangelisten mit dem Buche Enoch – sie kann zwar nicht als erwiesen gelten, doch hat Burkitt ( Jewish and Christian Apocalypses, 1913, S. 28 fg.) fast zwingende Gründe zu dieser Annahme vorgebracht.

Es ließe sich noch manches hinzufügen, doch würde dies viel Raum beanspruchen, da solche Dinge ohne Ausführlichkeit undeutlich und eindruckslos bleiben; ich glaube auch, die wenigen Beispiele, die ich vorgebracht habe, werden genügen, um nachdenklich zu stimmen. Jetzt will ich nur noch einige Worte der großen Rede widmen, in welcher der Heiland über den Fall Jerusalems und das Weltende geweissagt haben soll ( Matth. 24, Mark. 13, Luk. 21) und welche den eigentlichen Stützpunkt der sogenannten Eschatologie oder Lehre von den letzten Dingen und namentlich von dem unmittelbar bevorstehenden Ende der Welt bildet – eine Lehre, die bekanntlich auf zahlreiche Seelen damals großen Einfluß ausgeübt hat; wir wissen z. B., daß Paulus in den ersten Jahren nach seiner Bekehrung das Weltende mit Bestimmtheit noch vor Abschluß seines eigenen Lebens erwartete. Die Behauptung aber, daß Jesus der Urheber oder auch nur ein Anhänger dieses Glaubens an ein unmittelbar bevorstehendes Weltende gewesen und daß aus diesem Glauben erst seine Sittenpredigt zu verstehen sei, – eine Behauptung, die noch heute von sehr namhaften Gelehrten vertreten wird – dürfen wir mit aller Bestimmtheit als unhaltbar bezeichnen; denn diese Lehre – wird sie ihm auch hier in den Mund gelegt – widerspricht seiner ganzen Denkart, wie wir sie im vorigen Kapitel kennen lernten. Es genügt, auf das eine Wort zurückzuverweisen: »Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden, noch wird man sagen, siehe, hie oder da ist es; denn siehe, das Reich Gottes ist inwendig in euch« ( Luk. 17, 20 fg.). Wie Burkitt bemerkt: »Es bewegt sich diese ganze große eschatologische Rede völlig innerhalb des Gebietes des jüdischen apokalyptischen Denkens« (wie oben, S. 44); und an anderem Orte der selben Schrift (S. 40) schreibt er: »Die Weherufe über die Pharisäer und die Sadduzäer, die große Drangsal, das Gericht, das den Gläubigen bevorsteht, der unaufhaltsame Sieg des Bösen, der ›Greuel der Verwüstung‹, die Flucht der Heiligen in die Wüste – kurz, die ganze Lehre über die letzten Dinge, wie sie die Evangelien enthalten, mit Ausnahme der im Mittelpunkt stehenden Gestalt Jesu Christi, dies alles finden wir in der Assumptio Mosis vorgebildet. Ja, mehr als dies: nicht allein stimmt die ganze Inszenierung überein, vielmehr finden wir eine Analogie auch im heiligen inneren Vorgang. Der freiwillige Tod nämlich des heiligen Taxo (eines sich aufopfernden Leviten) besitzt erlösende Bedeutung, indem er das Ende herbeiführt (sanguis noster vindicabitur coram Domino); dieser Tod wirkt wie der Tod des Sohnes in dem Gleichnis von dem Herrn des Weinberges und den bösen Arbeitern.«

Wir verstehen nach und nach immer klarer, was sich bei den Evangelisten und namentlich bei den Bearbeitern der ursprünglichen Evangelien zugetragen hat: ebenso wie sie geglaubt hatten, dem Andenken des Heilandes zu dienen, indem sie ihn zum Mittelpunkt aller angeblichen messianischen Weissagung des Alten Testamentes machten, ebenso waren sie jetzt bestrebt, ihn in den Mittelpunkt der ganzen phantastischen Offenbarungswelt (Apokalyptik) zu rücken. Diese Umarbeitungen hatten scharfsinnige Gelehrte schon früher vermutet, zu einer Zeit, als die betreffende Literatur noch nicht so genau bekannt war, wie sie es heute ist. So hatte z. B. Adalbert Merx in seinem großen Evangelienwerk nachgewiesen, daß die Rede, die Matthäus, Kapitel 24, bringt, aus lauter fremden Stücken zusammengestellt ist, und hatte dann hinzugefügt: »Daher hat man mit der Möglichkeit zu rechnen, daß Stücke aus jüdischer Apokalyptik als Erweiterung in Worte Jesu eingeflochten sind.« In diesem Zusammenhange wäre auch das noch früher erschienene vorzügliche Werk von Erich Haupt Die eschatologischen Aussagen Jesu in den synoptischen Evangelien (1895) zu nennen, welches schon nachgewiesen hatte, daß an der angeblichen großen Rede Jesu verschiedene Hände mitgearbeitet haben und daß in Wirklichkeit der Heiland bei dieser Gelegenheit zwar den Fall Jerusalems vorausgesagt, aber die Frage der Jünger nach dem Zeitpunkt des Weltendes abgelehnt hat. Auch wies Haupt schon auf das Evangelium Johannis als Beweis gegen jede eschatologische Deutung von Worten Jesu hin; denn bei Johannes ist nie von einem Weltende im materiellen geschichtlichen – und das heißt apokalyptischen – Sinne des Wortes die Rede, vielmehr erscheint bei ihm »das Reich Gottes als durchaus überweltliche Größe – mein Reich ist nicht von dieser Welt (18, 36), der Begriff des ewigen Lebens als die Teilnahme an dem göttlichen Lebensinhalt, der Begriff des Kommens Jesu als eines nicht irdisch-sinnlichen, sondern überweltlichen Ereignisses ..., das alles und noch vieles andere ist nur die Herausstellung der Gesichtspunkte, welche den synoptischen Worten zugrunde liegen, die konsequente Durchführung der Andeutungen, die Jesus gelegentlich in seinen gnomischen (kurzen) Rätselworten in der Synopse gibt ... nicht die Worte Jesu hat Johannes treuer bewahrt, aber ihren tiefsten Sinn erschlossen« (S. 160 fg.).

So hilft uns Johannes, zum echten Heiland und seiner wahren Botschaft zurückzufinden.

Besonders wichtig ist es, die Vorstellung los zu werden, der Heiland hätte sein baldiges Wiederkommen als triumphierender Messias auf Wolken des Himmels vorausgesagt – eine Weissagung, von der man gestehen müßte, sie sei nicht eingetroffen. Die betreffenden Evangelienstellen zeugen deutlich von ursprünglichem Mißverständnis und außerdem von späterer Bearbeitung. So lesen wir z. B. Matthäus 16, 28: »Wahrlich, ich sage euch, es sind einige unter denen, die hier stehen, welche den Tod nicht kosten werden, bis sie den Sohn des Menschen kommen sehen in seinem Reiche«; hiergegen sagt Markus (9, 1): »bis sie das Reich Gottes kommen sehen mit Macht« – eine Wendung, die sich bedeutend unterscheidet; auf die rechte Spur gelangen wir aber erst durch Lukas (9, 27), der einfach sagt: »welche den Tod nicht kosten werden, bis sie das Reich Gottes sehen«: hier ist uns zumute, als könnten wir erraten, was Jesus in Wirklichkeit gesprochen haben mag. Wohl weiß ich, daß alle drei Evangelien, kurz vor den angeführten Stellen, von einem »Kommen des Menschensohns in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln« oder »in seiner und des Vaters und der heiligen Engel Herrlichkeit« reden, doch – wie wir jetzt wissen – sind gerade diese Worte mehr oder weniger buchstäbliche Anführungen aus jüdischen Offenbarungsbüchern und daher höchst verdächtig. Keiner, der aus den unerfindbaren und daher unbezweifelbaren Worten Jesu eine Vorstellung von seinem die ganze Umgebung überragenden, ihr nur äußerlich angegliederten Wesen und von seiner Lehre von Gott als Vater und dem Reiche Gottes gewonnen hat, kein solcher wird ihm zutrauen, daß er auf entscheidende Fragen seiner Jünger mit Sprüchen geantwortet habe, die bloße Abklatsche aus einem sehr untergeordneten, überspannten Volksschrifttum darstellen.

Zum Beschluß dieses Abschnittes über den Einfluß der Apokalyptik auf die evangelischen Berichte mache ich aufmerksam, daß die Verbreitung des abenteuerlich angewachsenen Engel- und Dämonenglaubens, welcher das frühe Christentum trübend überschwemmte, dem selben Born volksmäßiger Wahngebilde entquoll. Schöne altarische Vorstellungen hatten in anders gearteten Gemütern zu einer nicht unbedenklichen Überwucherung geführt und an Stelle des Einen gesuchten Mittlers zwischen Mensch und Gott ein ganzes Heer von Mittelwesen geschaffen, die – einander bekämpfend – den armen Menschen hierher und dorthin – zu lichten Höhen und in nächtige Finsternisse – emporhoben und herniederrissen. Gewiß bringen älteste Teile des Buches Genesis Kunde von Engeln, so z. B. in der Sage vom Garten Eden und derjenigen des Jakobstraumes: im ersteren Fall schließt sich die Vorstellung an altbabylonische, im zweiten Fall an altägyptische Vorbilder an; später jedoch, als die reine Jahve-Religion herrschte, entschwanden diese an Vielgötterei mahnenden Gebilde ganz und gar aus dem Gesichtskreis; die sogenannte »jahvistische« Bearbeitung des Alten Testamentes hatte jede Bezugnahme auf gute und böse Engel sorgfältig ausgemerzt (vgl. Hermann Gunkel: Genesis übersetzt und erklärt). Die nunmehrige Engel- und Dämonenlehre war anderer Abstammung: die Meder und Perser hatten sie nach Westen getragen, wo sie, mit allerhand griechischen und kleinasiatischen Vorstellungen vermengt, ein gar buntes, unübersehbares Gebilde der ausschweifenden Phantasie darbot. Ins Volk drangen diese Vorstellungen hauptsächlich durch das Offenbarungs-Schrifttum (Apokalyptik und Eschatologie) ein.

Wenige heutige Menschen ahnen, welche Herrschaft diese Vorstellung von der Gegenwart guter und böser Geister – die in ungeheuerer Zahl allerorten umherschwirrend gedacht wurden – über die damaligen Gemüter ausübte. Man frage bei dem aufgeklärtesten der frühen Kirchenväter, Origenes, nach; man wird in dem ersten Buche seines De Principiis ganze Kapitel über die Engel und die Dämonen finden, man wird erfahren, daß der Erzengel Raphael die Arzneikunde und alles Heilen von Kranken unter sich habe, Gabriel aller Kriegsführung vorstehe, während Michael beauftragt sei, die Gebete der Menschen zu sammeln und der Erledigung entgegen zu führen; nicht allein besitzt jeder Mensch seinen eigenen, ihm zuerteilten Schutzengel, der ihn von der Geburtsstunde an bis zu seinem letzten Atemzug begleitet, sondern menschlichen Unternehmungen widerfährt es nicht anders, und so beschützt z. B. ein besonderer Engel die Kirche zu Ephesus, ein anderer die Kirche zu Korinth, ein dritter die zu Caesarea, usw. Doch die Dämonen wirken ihrerseits nicht minder unablässig – und wenn z. B. ein heiliger Mann wie der Apostel Petrus der Dienstmagd gegenüber den Heiland verleugnet, so haben wir darin die Stimme seines ihm zuerteilten Dämons zu vernehmen – nicht seine eigene. Ein Schüler des Origenes, Gregorius Thaumaturgos, schildert (in der Lobrede auf seinen Meister) sein eigenes ganzes Leben als Schritt für Schritt von einem heiligen Engel geführt: »jenem Wesen – welches es auch sein mag, – das meine Kindheit wunderbar beschützte, und das mich heute noch unterstützt, belehrt und leitet, jenem Wesen verdanke ich's auch, daß ich mit Origenes zusammentraf ... usw.« Nicht allein die Seelen waren den Engeln anvertraut, auch das ganze Gefüge des Weltalls unterstand ihrer Obhut; so hatte z. B. Athenagoras, etwa ein halbes Jahrhundert vor Origenes, in seiner Schutzschrift für die Christen (Kap. 10) geschrieben: »Wir Christen anerkennen das Dasein einer großen Anzahl Engel und hilfreicher Geister, welche Gott, der Schöpfer und Ordner der Welt, durch Vermittelung seines Logos zu verschiedenen Ämtern berufen hat, wo sie sich mit den Elementen und den Himmeln sowie mit dieser Welt und allen in ihr befindlichen Dingen beschäftigen, indem es zu ihrem Amt gehört, das All schön geordnet zu erhalten.«

Nun ist es gewiß möglich – sogar wahrscheinlich –, daß unser Heiland sich auch in dieser Hinsicht den Vorstellungen seiner einfältigen Zuhörer angepaßt und gelegentlich von Engeln und Dämonen geredet haben mag; doch erscheint es nach allem, was wir über seine Person und seine echten Aussprüche wissen, völlig ausgeschlossen, daß er selber diesen naiv-phantastischen und zugleich materialistischen Glauben geteilt habe, und daher ist Vorsicht am Platze überall, wo unsere evangelischen Berichte mit besonderem Wohlgefallen von »himmlischen Heerscharen« ( Luk. 2, 13) erzählen, oder gar den Heiland selber von »mehr denn zwölf Legionen Engeln, um die er seinen Vater angehen könne« ( Matth. 26, 53), reden lassen.

 

Über das Wunderwirken, im besonderen über die in den Evangelien berichteten Wunder Jesu, ist so viel geschrieben worden, daß wir füglich urteilen dürften, es sei jetzt an der Zeit darüber zu schweigen; der Zweck dieses Buches macht jedoch einige Bemerkungen unerläßlich, – nicht aber beabsichtigen sie, die ganze Frage noch einmal aufzurollen, vielmehr beschränken sie sich auf unser Ziel, und dieses ist: eine möglichst reine und deutliche Vorstellung von Jesus und damit eine möglichst lebendige Anschauung von seiner Bedeutung als Mittler zwischen Mensch und Gott zu gewinnen.

Diese Frage des Wunderwirkens gehört zu jenen, denen vielleicht kein Mensch ohne Voreingenommenheit – und zwar meistens leidenschaftlicher Art – zu nahen pflegt; daher prallen die Urteile hart aufeinander. Während Pascal z. B. erbittert ausruft: L'eglise est sans preuves, si les douteurs de miracles ont raison (Pensées, Nr. 814; was die Kirche lehrt bleibt unbeweisbar, wenn die Zweifler an der Wahrheit der Wunder recht haben sollten), urteilt J. J. Rousseau: Ôtez les miracles de l'Evangile, et toute la terre est aux pieds de Jésus Christ (Lettres de la Montagne, Tl. 1, Bf. 3; streicht die Wunder aus dem Evangelium, und die ganze Erde liegt Jesu Christo zu Füßen). Wobei bemerkenswert ist, daß Pascal die Unbeweisbarkeit der Wunder zugibt und Rousseau ihre Wirklichkeit nicht grundsätzlich leugnet; so stark wirkt in beiden Fällen das Gemütsbedürfnis – des einen nach göttlichen Wundertaten, des anderen nach reiner Innerlichkeit der Gotteswirkung. Äußerst auffallend ist die Tatsache, daß der Apostel Paulus, der in seinen umfangreichen Sendschreiben alles zusammenträgt, was Begeisterung und Beredsamkeit vermögen, um den Glauben an Jesum Christum zu wecken und zu stärken, kein einziges Mal sich auf ein vom Heiland gewirktes Wunder beruft, vielmehr das Wunderwirken nur gelegentlich, als eine der den Christgläubigen verliehenen Gnadengaben (Charismen), flüchtig erwähnt; woraus wir wenigstens das Eine mit Sicherheit schließen dürfen, er habe diese Wunder nicht als Mittel zum Wecken des Glaubens aufgefaßt. Dies entspricht dem, was wir von der frühesten Christenheit wissen: die Gabe, Wunder zu wirken, galt als eine weitverbreitete und erregte insofern kein übermäßiges Aufsehen; auffallendere Wunder aber wurden nur den bösen Geistern, zugeschrieben (Schmiedel in Enc. Bibl). Was sollen wir da sagen, wenn wir Augustinus gestehen hören: »Ich wäre nicht Christ, hätte Christus nicht Wunder gewirkt« (nach Pascal)? Wie man sieht, reicht die verschiedene Wertschätzung der Bedeutung von Jesu Wunderwirken weit zurück bis in die ersten Anfänge. Ja, je genauer wir zusehen, desto mehr entdecken wir Widersprüche in den evangelischen Berichten selber.

Wichtig ist es, den springenden Punkt genau zu erfassen. Nicht darauf kommt es an, was und wie der Einzelne über Wunder überhaupt urteilt, ob er deren Möglichkeit zugesteht oder aber leugnet: bei dieser Fragestellung gerät man bekanntlich in ein unentwirrbares philosophisches Dickicht, aus dem kein Pfad hinausführt, und mancher wird geneigt sein, sich zu Descartes zu gesellen, welcher meint, Gott habe drei so ungeheure Wunder gewirkt – rem ex nihilo, liberum arbitrium, et hominem Deum – daß jedes andere »Wunder« seiner nicht würdig erscheine; doch dem sei wie ihm wolle, diese Frage lassen wir abseits liegen. Es bleibt sich vollkommen gleich, ob wir die betreffenden Taten »Wunder« nennen, oder ob wir bloß zugeben, sie seien damals für Wunder gehalten worden. Die entscheidende Frage lautet vielmehr: hat der Heiland Wunder gewirkt, um die Menschen von seiner göttlichen Sendung zu überzeugen? war ihm das Wunder ein Mittel, um Glauben zu wecken? Man darf behaupten, der Kreis, aus dem die Evangelien hervorgingen, war hiervon nicht minder überzeugt als später Augustinus und Pascal. Im Evangelium Johannis (20, 31) lesen wir: »Diese Wunder sind geschrieben, damit ihr glaubet, daß Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes«; man kann nicht deutlicher bekennen, der Zweck der Wunder sei die Erweckung des Glaubens. Ähnliches ist schon oben (S. 151) aus Markus angeführt worden und findet sich auch bei Matthäus und Lukas als stille Voraussetzung. Ein ganz anderes Bild – ja, ein entgegengesetztes – gewinnen wir, wenn wir die ausführlicher erzählten Wunder des Heilandes genau ins Auge fassen. Das Bezeichnende für dessen Wunderwirken ist, daß er immer den Glauben fordert, ehe er das Wunder wirkt, weswegen es wiederholt heißt: »Geh in Frieden, dein Glaube hat dir geholfen.« Der Glaube ist die Voraussetzung, aus welcher die Wundertat erfolgt, nicht die Wundertat das Überzeugungsmittel zur Erweckung des Glaubens. Einzig die Austreibung von Dämonen könnte als Ausnahme genannt werden; doch in diesem Falle handelt es sich um eine Erkrankung des Gemütes, und auch hier wird wenigstens von den Umstehenden Glauben erfordert: sobald Jesus keinem Glauben begegnet, »kann er keine Wunder tun« (Mark. 6, 5). Welche grundsätzliche Abweichung von dem Standpunkt seiner Zeitgenossen vorliegt, wird noch durch mehrere andere Züge bestätigt, deren Glaubwürdigkeit um so weniger angezweifelt werden kann, als sie den Erwartungen und Wünschen der Berichterstatter Enttäuschung bereiten. Wiederholt klagt Jesus mit Bitterkeit: »Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder sehet, möget ihr nicht glauben!« (Joh. 4, 48) und: »Was fordert dieses Geschlecht ein Zeichen? wahrlich ich sage Euch, nimmermehr wird diesem Geschlecht ein Zeichen gegeben werden« (Mark. 8, 12), oder noch drastischer: »Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht verlangt ein Zeichen!« (Matth. 16, 4). Immer und überall, wenn Jesus aufgefordert wird, Wunder zu tun, namentlich in Fällen, wo sie das größte Aufsehen erregt haben würden – wenn z. B. die versammelten Pharisäer feierlich »ein Zeichen von ihm verlangen« (Matth. 12, 38), oder gar Herodes auf dem Throne ihn darum bittet (Luk. 23, 8), immer und überall verweigert er es; warum aber, wenn die Wunder die Absicht verfolgten, Glauben zu wecken? Ja, hätte nicht das Kreuz zu dem größten aller Wunder Gelegenheit geboten, – zu einem Wunder, das mit einem Schlag das gesamte jüdische Volk zu Bekennern der göttlichen Messianität Jesu bekehrt hätte? Jesus wirkt seine Wunder möglichst im Verborgenen und pflegt den Geheilten streng zu verbieten, das Geschehene weiter zu erzählen: »Sehet zu, daß es niemand erfahre!« (Matth. 9, 30). Auch gelingt ihm offenbar, dies in weitem Maße durchzusetzen; denn stets von neuem begegnen wir Menschen, die von seinen Wundern nichts wissen oder von ihrer Wirklichkeit nicht überzeugt sind; wie unauffällig muß z. B. die Wiedererweckung des Lazarus vor sich gegangen sein, wenn – wie wir erfahren ( Joh. 11, 46) – nur ein Teil der Anwesenden durch dieses Wunder überzeugt wurde. – Man könnte noch mehrere Tatsachen anführen, geeignet, die religiöse Wertschätzung der Wunder herabzusetzen; so z. B. schenkt Jesus wenig Beachtung der Mitteilung, daß ein Mann, der nicht dem Kreise seiner Jünger angehöre, im Lande umherziehe, Dämonen in seinem Namen austreibend, und antwortet ruhig: »Wer nicht wider uns ist, ist für uns« ( Mark. 9,40); ein anderes Mal weissagt der Heiland, falsche Messiasse würden sich erheben und so große Wunder wirken, daß selbst die »Auserwählten« der Täuschung zum Opfer fallen ( Mark. 13, 22); wie will man derartige Sprüche mit der kirchlichen Lehre von der grundlegenden Bedeutung der Wunder für den Glauben in Einklang bringen? Auch Johannes erzählt von »Dämonen« und von »Lügenpropheten«, welche Wunder tun ( Offenb. 16, 14 und 19, 20).

Kurz, es darf mit aller Bestimmtheit behauptet werden, die Wunder besitzen nach der Absicht des Heilandes keine religionszeugende Bedeutung; das Gegenteil vorauszusetzen widerspricht seinem ausdrücklichen Willen und führt – gerade in religiöser Beziehung – zu höchst bedenklichen Verirrungen. In Jesu Wundern offenbart sich seine Barmherzigkeit gegen die leidende Menschheit; zugleich ersehen wir aus ihnen, in welchem Grad der Mensch durch den lebendigen Glauben an Gott über sich selber hinausgehoben wird.

 

Hiermit ist, glaube ich, geleistet, was ich mir in diesem Kapitel zu leisten vorgenommen hatte, indem ich mein Ziel darauf beschränkte, zum richtigen Lesen der Evangelien anzuleiten; und richtig liest man, sobald man die Gestalt des Göttlichen rein erblickt und seine Stimme rein vernimmt. Zwischen dem Mittler und denen, die sich zu ihm wenden, noch weiter »vermitteln« zu wollen, halte ich für höchst bedenklich: kein Mensch ist berufen, das »Leben Jesu« zu schreiben, alle Versuche, dies zu tun, sind als fehlgeschlagen zu beurteilen; die Evangelien sind und bleiben ein unerreichbares, göttliches Wunderwerk. Die gelehrten, sich chaotisch widersprechenden Untersuchungen und Mutmaßungen über Ursprung, Reihenfolge und gegenseitige Beeinflussung der Evangelien bieten zwar fesselnde historische Belehrung, dienen aber zu unserem Zwecke wenig oder gar nicht: aus ihnen erfahren wir, was wir Laien nicht zu wissen brauchen, nichts aber von dem, was zu wissen uns nottut.

Urkunden liegen zugrunde aus strahlend reinen, wahrhaftigen Herzen hervorgegangen; doch unterstanden sowohl die ersten Verfasser wie die auf sie folgenden Abschreiber und Verbreiter, dem unüberwindlich starken Einfluß gewisser Zeitgedanken, wodurch das Bild des außerhalb aller Zeit stehenden Göttlichen in einigen Beziehungen getrübt wurde. Weil die Urheber von vollkommen reinen Absichten geleitet sind und keine gelehrte Bildung besitzen, verfahren sie mit Einfalt, und wir vermögen daher leicht – sobald unsere Aufmerksamkeit geweckt wurde – das ungetrübt Berichtete von denjenigen Zügen zu unterscheiden, bei denen Mißverständnis und die unbewußten Einflüsterungen sich vordrängender Zeitgedanken störend dazwischen treten.

Wenn ich also beim Lesen der Evangelien ein bewußtes, sorgfältiges Sichten und Sondern empfehle, handelt es sich keineswegs um willkürliches Eingreifen in den überlieferten Wortlaut, etwa irgendeiner vorgefaßten Meinung zuliebe, vielmehr liegen – wie mein Leser gesehen hat – handgreifliche Tatsachen vor Augen: sie zu beachten, ist Pflicht und schenkt als Lohn die Aufklärung zahlreicher Widersprüche und Ungereimtheiten, welche alle dazu beitragen, das Bild des Heilandes – das an so vielen Stellen in unverkennbarer Wahrhaftigkeit, nichts anderem vergleichbar hervortritt – wieder schwankend unsicher zu machen und somit unseren Augen zu entrücken. Dieses Bild rein zu erfassen soll uns als höchstes Ziel vorschweben.

V.

Paulus

Mein Leben ist Christus.

(Paulus, der Apostel)

Paulus muß – nach Jesus – als der Schöpfer der Kirchen, die in Christo sind, erkannt werden«: so urteilt um das Jahr 220 der scharfsinnige und gelehrte Origenes { Contra Celsum, Buch I, Kap. 63). Diese Worte – sobald man sie genau und tief zu erfassen weiß – bieten den Kerngedanken zu allem, was in dem Zusammenhang des vorliegenden Buches zu sagen nötig ist. In das Labyrinth der eigentlichen »Theologie« des Heidenapostels uns hineinzuwagen, haben wir keine Veranlassung, vielmehr wollen wir uns davor hüten. Seit bald zwei Jahrtausenden streiten die Gottesgelehrten über diese Theologie, ohne je einen einmütig anerkannten Abschluß zu finden, was ja auch ewig unmöglich bleiben muß, weil Paulus selber es ist, der das sich Widersprechende aufstellt. Bischof Lightfoot – dem wir schon früher öfters als einem der hervorragendsten englischen Forscher auf diesem Gebiet begegnet sind – faßt sein Urteil über Paulus in zwei Worte zusammen: consistently inconsistent ( Gal, S. 355) – ein Ausdruck, der sich etwa durch »folgerecht folgewidrig« oder »konsequent inkonsequent« verdeutschen ließe. Was bei Paulus den Ausfluß schlichter Wahrhaftigkeit darstellt, indem er den verschiedenen Anforderungen seiner Persönlichkeit auf verschiedenen Wegen gerecht wird, das wandelt sich zu Gewaltsamkeit und Unwahrhaftigkeit, sobald kirchliche Machthaber es zu einem einheitlichen Gefüge mit allgemeiner Zwangsgeltung zusammenschweißen: dadurch entsteht aus Harmonie Mißklang, und im Gegensatz zu dem Frieden, der in Gott gefunden war, tobt durch die Jahrhunderte hindurch nie endender Streit.

Zum Glück liegen diese Erörterungen, wie gesagt, außerhalb unseres Gesichtskreises: uns genügt es, wenn wir eine rein menschliche, klare Vorstellung von dem Zusammenhang zwischen Paulus und Jesus Christus gewinnen. Schon bei dieser einfachen Fragestellung finden wir uns so verwickelten Beziehungen gegenüber, daß einzig planmäßige Entwirrung uns zum Ziele führen kann: dies innerhalb sehr bescheiden gezogener Grenzen zu leisten, wäre Zweck unseres fünften Kapitels.

 

Als ich in den Grundlagen des XIX. Jahrhunderts die Vermutung aussprach, Paulus entstamme vielleicht nicht rein jüdischer Rasse, die Annahme läge nahe, seine Mutter sei eine hellenische oder halbhellenische Proselytin, erfuhr ich von seiten unserer Theologen heftigen, fast erbitterten Widerspruch; und doch war ich zu dieser Vermutung durch die triftigsten aller Gründe bewegt worden, nämlich durch die Charakter- und Geisteseigenschaften des Mannes selbst. Damals ahnte ich nicht, daß diese Vermutung seit dem ersten christlichen Jahrhundert häufig ausgesprochen worden ist, und zwar von denen, die das beste Urteil über die Frage haben mußten, nämlich von den Juden und den Judenchristen. Auch was Hieronymus erzählt { De vir. III., 5), verdient Beachtung: er behauptet, Pauli Eltern hätten nicht ursprünglich der Diaspora in Tarsus angehört, sondern sie seien in einem Städtchen des nördlichen Galiläa, Gischala, daheim gewesen und erst nach der Geburt des Paulus ausgewandert: in dem »Heidengau« aber lebten, wie wir wissen (S. 91), sehr wenige echte judäische Juden. Gleichviel nun, ob Paulus in Galiläa oder Cilicien das Licht der Welt erblickte, es gab hier wie dort Gelegenheit genug zu Blutmischung, und wenn innere Gründe für diese sprechen, ist es lächerlich und durchaus unwissenschaftlich, aus bloßem eingetrichterten Vorurteil, diese Möglichkeit kurzerhand abzuweisen. Paulus hätte dennoch nach damaliger Sitte das Recht gehabt, sich als vollblütigen Juden zu betrachten – wofür ich auf Merx ( Evang., 2. Teil, 1, 37) verweise, so daß seine diesbezüglichen Behauptungen ( Apostelgeschichte 23, 3, Röm. 11, 1, Gal. 3, 15) nichts gegen die Blutmischung beweisen.

Dem sei jedoch wie ihm wolle! denn Gewisses werden wir nie darüber erfahren. Der Begriff »Rasse« betrifft überhaupt eine Gesamtheit, wogegen die Entstehung des Einzelnen stets unerforschbare Geheimnisse birgt. Wie Paulus selber bemerkt: »Jude ist nicht, wer es dem Augenschein nach ist, sondern Jude ist, der es im Verborgenen ist« ( Röm. 2, 28). Paulus mag stammen woher er will, sein Wirken liegt uns offen vor Augen, und dessen Grundwesen und Grundergebnis besteht darin, daß er das Christentum als neue Erscheinung aus dem Judentum losriß und ausschied: dadurch ward er »Schöpfer der Kirchen, die in Christo sind«.

Die unüberwindliche Judenliebe unserer Geistlichkeit der verschiedenen Bekenntnisse hat bisher uns Laien diesen Mittelpunkt seines Lebenswerkes verborgen gehalten; ihr bildet es allezeit ein Herzensanliegen, in Jesus und Paulus reine Juden zu erblicken, deren ganzes Denken aus der jüdischen Eigenart zu erklären sei. Und schenkt uns der Himmel einmal einen wahrhaft großen Gelehrten, der mit allen Waffen des Wissens und des Geistes ausgerüstet eine andere Auffassung vertritt, so will's das Unglück, daß gerade er das Wesen des großen Apostels verkennt: Paul de Lagarde stellt in seinen Deutschen Schriften (S. 56 fg.) die unhaltbare Behauptung auf, Paulus sei es, der das Judentum in die Kirche gebracht habe, »an dessen Einfluß das Evangelium, soweit dies möglich, zugrunde gegangen sei« – ein Wort, das seines Verfassers wegen weitreichenden Widerhall gefunden hat. Dagegen urteilen alle neueren Sonderforscher – Theologen, Philologen und Historiker – anders, indem sie einstimmig den Gegensatz des Apostels zum Judentum hervorheben. So weist z.B. Dieterich in seiner Mithrasliturgie das absolut Unjüdische an des Paulus Hauptlehre von der Erlösung durch den Glauben nach (S. 179): es ist dies altarisches Gut, vermittelt durch damals in der Welt des Hellenismus weitverbreitete religiöse Gedanken; auch Reitzenstein (ebenfalls Philologe) zeigt in seinen Hellenistischen Mysterienreligionen an einer Lehre Pauli nach der anderen, daß sie nicht jüdisch seien, und kommt zu dem Schluß, die Lehre des Paulus sei »die Trägerin des stärksten Einflusses, den der Hellenismus je auf das Christentum geübt hat« (siehe namentlich S. 160–204). William Ramsay – der erfrischend zugreifende Geograph und Theolog, der sein ganzes Leben dem Erforschen der einen großen Persönlichkeit widmet – belehrt uns: Paul's deepest thoughts are abhorrent to Hebrew feeling – die tiefsten Gedanken des Paulus sind dem hebräischen Empfinden ein Greuel ( Hist. Comment. on the Gal., S. 342); und der jüdische Gelehrte C. Montefiore macht aufmerksam, daß die paulinische Gegenüberstellung von Glauben und Werken dem Juden ewig »ein Rätsel bleibe«, weil er überhaupt unfähig sei, sich dabei etwas zu denken ( Judaism and St. Paul, S. 77). Gardner – ebenfalls ein verdienter Sonderforscher auf diesem Gebiete – urteilt: »Paulus war es, der das werdende Christentum aus dem schmalen Randgebiet des Judaismus in die weiten Felder der hellenistischen Kultur umpflanzte« ( St. Paul, S. 231). Man ziehe auch die außerordentlich lehrreiche Schrift von Hans Böhlig zu Rate, Die Geisteskultur von Tarsos im augustäischen Zeitalter mit Berücksichtigung der paulinischen Schriften (1913). Böhlig setzt z.B. sehr klar gewisse elementare Unterschiede auseinander, die überall das Weltbild der Arier von dem der semitischen Völker unterscheiden, und weist nach, daß die arischen Vorstellungen »dem Apostel« – wohl infolge der hellenistischen Umgebung seiner Jugend – »so in Fleisch und Blut übergegangen sind, daß er sie bewußt und unbewußt ununterbrochen anwendet. ... Ein Weltbild, das solche Folgerungen mit sich brachte, hat Paulus nicht dem Judentum entnommen«. Und in der Tat: »das Weltbild des Paulus ist weder semitisch noch spezifisch jüdisch«; vielmehr entstammt es dem Ideenkreis der naturphilosophischen Schule, die in Tarsos unter der Leitung des berühmten Stoikers Athenodoros damals blühte. Durch diese Stadt fluteten nämlich seit Urzeiten Arier sowohl ostwärts wie westwärts, wodurch es sich erklären mag, daß »altarische Gedanken lebendig bleiben konnten, ohne von der Umklammerung des Semitismus erstickt zu werden« (S. 84–88). Als im weiteren Verlauf seiner Arbeit Böhlig dann auf den religiösen Grundgedanken der Gegenüberstellung von Gesetz und Glauben zu sprechen kommt, bemerkt er: »Was ist an dieser Anschauung jüdisch? Die Terminologie, die Beweisführung, aber niemals die Gesamtanschauung. Eine solche negative Beurteilung des Gesetzes mußte jedem echten Juden ein Greuel sein. Bisweilen macht es sogar den Eindruck, als ob Paulus, so unglaublich das klingt, das Judentum, wie es von den Rabbinern vertreten wurde, außerordentlich verkannt, oder wenigstens recht einseitig beurteilt habe« (S. 164). Der vorhin genannte Montefiore behauptet denn auch mit aller Bestimmtheit, Paulus sei jedenfalls kein rabbinischer Jude gewesen; wohl sei anzunehmen, er habe einmal eine Zeitlang bei einem Rabbiner Unterricht, doch keinesfalls eine regelrechte und abgeschlossene Ausbildung genossen (siehe namentlich S. 58 fg., 66, 84, 103 fg., 227). Hierbei macht er aufmerksam, daß die immer wiederholte Behauptung, Paulus sei Schüler des berühmten Gamaliel gewesen, dem Apostel nur von Lukas in den Mund gelegt wird ( Apostelgeschichte 22, 3), wogegen er selber in seinen Briefen den Namen niemals nennt, was allerdings bedenklich stimmen muß.

Keinem der genannten Gelehrten kommt es bei, das Jüdische in Pauli Wesen und Denken in Abrede zu stellen, liegt dieses doch selbst dem oberflächlichsten Blick offen zutage, und bringen seine Briefe Beispiele genug echt rabbinischer Spitzfindigkeit. In bezug auf letztere macht der englische Theologe Milligan – dieses sei nebenbei bemerkt – auf eine köstliche Stelle aufmerksam ( Gal. 3, 16), wo aus der Verheißung »an Abraham und seinen Samen« geschlossen wird, weil das Wort Samen in der Einzahl, nicht in der Mehrzahl stehe, so deute dieser Ausdruck nicht auf die gesamte Nachkommenschaft und somit auch nicht auf das ganze jüdische Volk, vielmehr auf den einzigen Christus allein, – auf welchem Wege Paulus zu dem gewünschten Schlusse kommt (3, 29): »Seid ihr aber des Christus, so seid ihr folglich Abrahams Same, Erben nach der Verheißung«: hiermit ist gewiß ein Höhepunkt in der rabbinischen Kunst, die Worte zu verkehren und zur Zeugenschaft für eine abseits liegende Behauptung zu zwingen, erreicht! Das sind aber die Dinge, die jeder einsehen kann, wogegen nur Sondergelehrte ein Urteil über Sprache, Sprachstil und auch Gedankenstil zu fällen befugt sind. Früher nahm man z.B. allgemein an, Paulus schreibe ein fehlerhaftes, fremdartiges Griechisch und hielt das für ein Ergebnis seiner angeblichen jerusalemitischen Erziehung; man dachte an die Klassiker und kannte nicht die Schriftsprache der hellenistischen Epoche; jetzt liegen die Dinge anders, und anerkannt maßgebende Forscher, wie van Manen und Deißmann, bezeugen, Pauli Sprache sei echt griechisch. Sein Stil erweist sich ebenfalls bei genauerer Kenntnis des damaligen Schrifttums – sowohl in bezug auf die allgemeine Gestaltgebung wie auch auf die Wahl der Ausdrücke – weit weniger von der rabbinischen Dialektik beeinflußt als von der stoischen und kynischen »Diatribe« (Heinrici, nach Bible Dictionary III, 699) – ein Urteil, dem Böhlig zustimmt, indem er ausführt: »Paulus beherrscht die kynisch-stoische Diatribe in dem Maße in allen seinen Schriften, daß man an eine allmähliche Beeinflussung durch sie auf seinen Missionswanderungen nicht denken kann. Eine solche Behandlung religiöser und ethischer Fragen hat er in Tarsos und nicht in Jerusalem gelernt. ... Rudolf Bultmann hat den Nachweis geführt (in seiner Schrift Der Stil der Paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe, 1910), daß fast alle Merkmale der kynisch-stoischen Diatribe, wie sie seit Bion von Borysthenes üblich waren, auch von Paulus verwendet worden sind.« Einzig die Schriftauslegung – und selbst diese mehr äußerlich als innerlich – entstammt der Rabbinerschule (S. 154 fg.). Auch hier ist, wie man sieht, das Jüdische eine Oberflächenerscheinung, während hellenistische Bildung und Denkart zugrunde liegen. Adolf Deißmann urteilt gleichfalls in seinem Buche Licht vom Osten (S. 290), Paulus sei als Theologe rabbinistisch beeinflußt, dies sei aber das wenigst Bedeutende an ihm, als Theolog reiche er an die großen Rabbiner nicht heran; als weltbewegendes Genie gehöre er der Geschichte der Religion an, und seine Religion sei »ganz unrabbinisch und ganz prädogmatisch«. Dementsprechend wird heute Pauli Bildungsgang wesentlich anders als früher beurteilt. So z.B. behauptet Reitzenstein: »Die hellenistische Literatur muß Paulus gelesen haben; ihre Sprache redet er, in ihre Gedanken hat er sich hineinversetzt« ( Hell. Myst. Rel., S. 59); Ramsay bringt viele Beispiele seiner Bekanntschaft mit hellenischer Philosophie, und Merx nennt Paulus »einen griechisch beeinflußten universalen Geist« (3, 203 fg.).

Diese Ausführungen würden bedeutend lebendiger wirken, wenn es mir möglich wäre, ins einzelne einzugehen; dazu fehlt mir die Gelehrsamkeit und auch der Raum; immerhin will ich aus Böhlig noch zwei Beispiele andeuten: der genügend ausgerüstete Leser möge an Ort und Stelle die eingehenden Darlegungen nachschlagen (S. 115–128 und 18 fg.).

Die hebräische Sprache besitzt kein Wort für »Gewissen«; dem Juden ist demnach dieser Begriff unbekannt. Paulus dagegen gebraucht nicht nur das Wort Gewissen (Syneidesis) besonders häufig, sondern faßt den Begriff so tief auf, daß er zu den Grundsäulen seiner Sittenlehre gehört. Das Gewissen »ist ihm der inwendige Richter über des Menschen Tun.... Wir können an wenigen Begriffen in der paulinischen Terminologie so überraschend wahrnehmen, wie Paulus gewisse Ausdrücke dem Wort und der Anschauung nach zunächst übernimmt, sie aber zugleich, kraft seines religiösen Genies, umgestaltet, vertieft und religiös wertvoll macht«. Böhlig verweist hier auf eine Sonderabhandlung von Steinmann aus dem Jahre 1911, Das Gewissen bei Paulus, in welcher nachgewiesen wird: »Der Apostel muß dies Wort aus dem Schatze seiner griechischen Bildung übernommen haben, denn im Alten Testament findet sich dafür kein entsprechender Ausdruck.« Es ist nun das Verdienst Böhlig's, aus Bruchstücken des oben genannten tarsischen Philosophen Athenodoros gezeigt zu haben, daß dieser das Gewissen (Syneidesis) mit größtem Nachdruck als »letztes sittliches Axiom« hervorzuheben pflegte, und daß – wohl von da aus – Begriff und Wort auch in die Volkssprache eingedrungen waren. Hier greift man mit Händen den Ursprung einer Vorstellung, die, durch Paulus vertieft und gleichsam vergöttlicht, gewaltige Bedeutung gewinnen sollte.

Nicht weniger Bedeutung kommt dem zweiten Beispiel zu. Böhlig zeigt, daß von jeher in Anatolien die Neigung bestanden habe, die Gottheit gleichsam in zwei zu spalten: nämlich in einen erhabenen, unsichtbaren, unerreichbaren Gott und in einen sichtbaren, bei Gelegenheit auf Erden wandelnden Gott, – den ersten nannte man den »ruhenden«, den zweiten den »arbeitenden« Gott. Bei der bekannten Episode in Lystra ( Apostelgeschichte 14, 11 fg.) liegt diese Vorstellung zugrunde, indem das Volk Barnabas für den erhabenen und Paulus für den arbeitenden Gott hielt. Böhlig schreibt: »Die Obergottheit wird so überweltlich als möglich vorgestellt. Für sich allein wird sie deshalb der Welt auch nicht sichtbar. Sie bedarf eines Mittlers, der für sie spricht und handelt. ... Vielleicht liegt in der Beziehung dieser beiden Gottheiten zueinander die Wurzel des religiösen Verhältnisses von Vater und Sohn im Gottesglauben, wie es auch im Neuen Testament vorliegt. Überall ist der Vater als die erhabene, jenseits der Welt thronende Gottheit gedacht, während der Sohn ihr tätiges Prinzip darstellt. Nicht nur das Erlösungswerk auf Erden ist seine Tat, als Erhöhter bleibt er die tätige Gottheit, er weckt die Toten auf, er hält Gericht, er vermittelt allen Verkehr zwischen Gott und der Welt, solange es Menschen und eine Erde gibt. Selbst der Präexistente hat schon diesen Charakter: durch ihn ist die Welt geschaffen.«

Somit ersieht man, daß Paulus es nicht bildlich, sondern buchstäblich meint, wenn er, auf seinen Lebensgang zurückblickend, bekennt: »Griechen und Barbaren, Weisen und Unverständigen bin ich Schuldner geworden« ( Röm. 1, 14).

 

Bei obigen Ausführungen war mir zumute wie etwa einem Wanderer, der sich durch einen unübersehbaren Urwald einen schmalen Steg, so gut es gehen will, durchbricht, indem er einmal rechts, einmal links, wie es der Zufall mit sich bringt, die Hindernisse aus dem Wege räumt: ein solcher darf sich nicht brüsten, er habe den Wald durchforscht, wohl aber darf er behaupten, er habe eine lebhafte und richtige Vorstellung von manchem gewonnen, was das Wesen des Waldes ausmacht. Das Ziel stand mir klar vor Augen, doch die Wahl der Mittel unterlag einem gewissen Zufall, indem das Gedächtnis mir dieses und jenes in den Sinn zurückrief, manches noch Treffendere mir aber gewiß entfiel oder nicht nachgeschlagen werden konnte. Immerhin hoffe ich, den Zweck erreicht zu haben: der Leser wird fortan sich etwas dabei vorstellen, wenn er die Behauptung vernimmt, Paulus habe das Christentum aus dem Judentum losgelöst. Von keinem mir bekannten Gelehrten ist diese Wahrheit schärfer herausgearbeitet worden als von Renan: »Entre les mains de Paul le Christianisme est arrive à une rupture compléte avec le Judaisme« ( S. Paul, S. 470), unter den Händen Pauli ist es zu einem vollständigen Bruch des Christentums mit dem Judentum gekommen.

Was wurde nun durch diesen Bruch bewirkt? Die Antwort wird die Meisten überraschen: durch diese Tat des großen Apostels wurde das Urevangelium vor dem unvermeidlichen Untergang gerettet!

Der Vorgang ist ein so merkwürdiger, daß man die Hand der Vorsehung am Werke zu erblicken meint. Es wirken bei Paulus von Anfang an in rätselhafter Vereinigung ein Höchstmaß an bewußtem Wollen und ein ebensolches an unbewußtem Vollbringen. Dieser wunderbare Mann hat – das darf man mit hoher Wahrscheinlichkeit behaupten – kein Evangelium gekannt; seine Briefe sind früher entstanden und nehmen an keiner einzigen Stelle Bezug auf irgendeinen als entscheidend anerkannten Bericht über das Leben Jesu. Zwar ist die Vermutung statthaft, er habe eine kleine Sammlung echter Worte des Heilandes besessen – ob schriftlich oder durch mündliche Überlieferung, gleichviel (vgl. Souter: Text and Canon of the N. T., S. 151); sonst aber ist das Schweigen über die Persönlichkeit und das Leben Jesu für ihn bezeichnend, wie er denn auch bekennt: »Mit keinem andern Wissen wollte ich unter euch treten, als dem von Jesus als dem Messias (Christus), und zwar als einem gekreuzigten« ( 1. Kor. 2, 2). Nichtsdestoweniger war gerade er dazu berufen, durch den Erfolg seines Lebenswerkes die evangelischen Urberichte ans Licht zu ziehen, so daß daraus der kostbarste Besitz der ganzen Menschheit wurde.

Inzwischen hatte sich – zuerst in Jerusalem und vom Jahre 68 ab in dem Städtchen Pella, jenseits des Jordan – der kleine Kreis der persönlichen Jesujünger, sowie ihre Anhänger zusammengefunden, und was sie allein von ihrem Meister bezeugen konnten, gewann nach und nach unter ihnen dauernde Gestalt. Namhafte Forscher – z.B. Flinters Petrie in seinem Growth of the Gospels (1911) – sind der Ansicht, daß gewisse Dinge – ich nenne nur die Bergpredigt – schon zu Lebzeiten des Heilandes schriftlich festgehalten wurden, und daß die weiteren Züge sich nach und nach um diese Kernteile ansetzten, alles ohne jede bewußte Absicht, ein Werk zu schaffen. Später erst wurde dieser Stoff zu »Evangelien« bearbeitet. Diese unbewußten Schöpfer verharrten aber – wenn auch der Rasse nach keine judäischen Juden – doch als fromme Mitglieder der jüdischen Gemeinde und strenge Anhänger des mosaischen Gesetzes (S. 148); infolgedessen blieben auch ihre Gedanken durch den jüdischen Horizont eingeengt – wofür, trotz aller späteren ausgleichenden Bearbeitungen, noch genug Stellen in den Evangelien Zeugnis ablegen, so z.B. Matthäus (10, 5 fg.), wo der Heiland seinen Aposteln angeblich befiehlt: »Ziehet auf keiner Heidenstraße, und betretet keine Samariterstadt, gehet aber vielmehr zu den verlorenen Schafen vom Hause Israel.« Eine solche Richtung war von vornherein zur Unfruchtbarkeit verdammt und mußte bald aussterben: niemals konnte es gelingen, die wirklichen Juden zu überzeugen, Jesus sei der von ihnen erwartete Messias – das hat inzwischen die Geschichte von zweitausend Jahren unwidersprechlich dargetan; nur eine kleine Anzahl Juden gemischter Rasse aus der Diaspora mag sich denen in Pella angeschlossen haben, dazu etliche hellenistische Proselyten; diese äußerst geringfügige Wirkung verlief sich so bald in den Wüstensand, daß die Historiker wenig darüber zu berichten wissen.

Mittlerweile hatte der Feuergeist aus Tarsos – der im Laufe seines Lebens mit dem genannten Kreise nur zwei-, höchstens dreimal in flüchtige Berührung geriet, mittlerweile hatte er ganz allein, aus ureigener Kraft – mit Hinzuziehung eines Stabes von dienenden Freunden, die er sich selber zu diesem Zwecke heranbildete – im ganzen Gebiete des östlichen Mittelmeerbeckens eine große Anzahl »Kirchen, die in Christo waren«, gegründet, und zwar nicht an abgelegenen Flecken, sondern in den wichtigsten Hafen- und Verkehrsstädten. Wie der genaueste Kenner bezeugt: »Paulus predigte ausschließlich in den Mittelpunkten des Handels und des römischen Lebens; ... wo römische Organisation und griechisches Denken zu Hause sind, da läßt sich Paulus mit Vorliebe nieder« (Ramsay, Church in Roman Empire, S. 57). Jener Kreis guter Galiläer in Pella bestand aus Landbewohnern und Fischern, nichts wußten sie von der Welt, nichts hatten sie erfahren, weder von deren Lastern noch von den Seelenerhebungen, welche Bildung, Philosophie und Kunst großzogen; Paulus dagegen war von Kind auf Städter, und zwar Größstädter, und als solcher mit allen Schlechtigkeiten vertraut, in die die Menschen stets schnell verfallen, sobald sie – aus natürlichen Bedingungen ausgeschieden – übereinandergehäuft leben:

In dieser Wildnis frechen Städtelebens,
In diesem Wust verfeinerter Verbrechen,
In diesem Pfuhl der Selbstigkeit!

Doch war seine Vaterstadt zugleich ein Herd hohen Geistesstrebens; Strabon stellt Tarsos als Bildungsstätte neben Athen und Alexandrien (vgl. Böhlig, S. 110); man genoß dort die Gelegenheit, alle edelsten Gedanken, welche Griechen gedacht hatten, kennen zu lernen, und selbst dem ungelehrten Volk waren philosophische Begriffe und hohe religiöse Vorstellungen wenigstens dem Namen nach geläufig.

Was die uranfängliche Voraussetzung seines Christentums betrifft, so teilt Paulus mit den persönlichen Jüngern des Heilandes genau die gleiche Überzeugung: Jesus ist der von den Juden erwartete, von den Propheten geweissagte, in den Offenbarungsschriften verherrlichte Messias (Christus); die gleiche Übereinstimmung findet auch in bezug auf die meisten anderen grundlegenden Annahmen statt. Indem jedoch Paulus lehrt: »Christus ist des Gesetzes Ende« und hinzufügt, »er bringt Jeden, der glaubt, zur Gerechtigkeit« ( Röm. 10, 4), vernichtet er das Judentum, dessen ganzes Eigenwesen auf der Annahme eines besonderen, nur ihm geoffenbarten Gesetzes beruht und welches – wie Moses Mendelssohn bemerkt hat (S. 112) – ohne dieses Gesetz gar keine Religion besitzt. So stark auch Paulus sein Judentum gelegentlich betonen mag: sobald das Gesetz aufgehoben ist, wird der Jahve der Juden zum kosmologischen Gott der Welt und aller Menschen – »ein Gott und Vater Aller, der da ist über Allen und durch Alle und in Allen« ( Eph. 4,6 fg.) –; das Judesein verliert allen Wert, – »die kein Gesetz haben, sind sich selbst Gesetz, sie zeigen ja, wie des Gesetzes Werk ihnen ins Herz geschrieben ist, indem ihr Gewissen sein Zeugnis dazu gibt« ( Röm. 2, 14); die Nichtjuden stehen also sittlich höher ohne das Gesetz als die Juden mit ihm; und vor allem, der angebliche Messias der Juden bringt diesen die erwartete Weltherrschaft nicht mehr, vielmehr bringt er sämtlichen Menschen, »in deren Herzen er durch den Glauben wohnet« ( Eph. 3, 17), Erlösung aus Sündenlast und Leidensqual und schenkt ihnen allen ewiges Leben: »In Christus Jesus vermag weder die Beschneidung noch das Gegenteil etwas, sondern der Glaube, der durch Liebe sich auswirkt« ( Gal. 5, 6). Hiermit war im Gegensatz zum Judenchristentum eine Weltreligion begründet.

Entfernte sich Paulus in dieser Weise von den frühesten Christen, so entfernte er sich noch mehr von ihnen durch die Aufnahme von allerhand Gedanken und Vorstellungen, die nicht dem Judentum entstammten, sondern vielmehr in der Welt des Heidentums – damals von religiöser Sehnsucht erfüllt – verbreitet waren: ich nenne nur Erlösung, Wiedergeburt, Gnade – Grundsäulen seines Religionsgebäudes; ich könnte auch Glauben hinzufügen, insofern Paulus – im Gegensatz zu der geschichtlich-materialistischen Auffassung der Juden – dieses Wort rein mystisch-idealistisch versteht, was auch die damaligen Mysterienreligionen allgemein erstrebten. Um nicht mißverstanden zu werden, muß ich jedoch sofort hinzufügen, daß in diesem Falle die Vorstellungen seiner Umwelt für den Apostel nur die Bedeutung einer Vorschule besaßen, einer Vorschule, der das Verdienst zukommt, Paulus reif zum Verständnis der Lehre Jesu Christi vom Glauben gemacht zu haben. Auch seine ganze Psychologie – seine Unterscheidung von Körper, Seele und Geist, von irdischem Leib und geistigem Leib usw., alles Vorstellungen, die dazumal für Paulus und seine Hörer große Bedeutung besaßen, entstammen samt und sonders seiner hellenistischen Schulung; uns muten sie fremd an, für seine Zeitgenossen bildeten gerade diese Tüfteleien eine willkommene Brücke zum Erfassen des vielen Neuen, was er ihnen brachte. Ihm war, wie jedem echten Genie, zugleich mit dem »Begehren nach dem Unmöglichen« der feinste Instinkt für das Mögliche gegeben, für das, was die Gegenwart gerade will und kann, für das, wonach sie sich sehnt und was sie zu erreichen befähigt ist. Solche Männer bauen für die Jahrhunderte; nichtsdestoweniger trägt ihr Werk immer an einzelnen Stellen den Stempel der Zeit seines Entstehens – ich brauche nur an Plato zu erinnern; daher weist aber ein solches Werk auch immer Bestandteile auf, welche, je nach unserem augenblicklichen Standpunkt, den Eindruck von Kompromissen oder von Gewaltsamkeiten machen. Eine einzige Ausnahme kennt die Geschichte: Jesus von Nazareth steht außerhalb aller Zeitschranken, nichts an ihm veraltet, er ist immer von heute: dadurch erweist sich sein Wesen als ein übermenschliches und außerweltliches. Man kann sehr gut verstehen, daß es denen, welche die Gegenwart des Heilandes erlebt hatten, sowie dem von ihnen belehrten Kreise unmöglich ward, sich mit Paulus und seiner Lehrart zu befreunden. Als der Heidenapostel schon auf der Höhe seines Wirkens stand, zwangen ihn Jakobus und die Ältesten, sich als rechtgläubigen Juden zu bekennen, indem er im Tempel zu Jerusalem ein strenges Gelübde auf sich nimmt und sich einer besonderen rituellen Reinigung unterwirft (Apostelgeschichte, Kap. 21). Offenbar besteht von Anfang an ein Riß: derjenige Mann, der vor allen anderen »als der Schöpfer der Kirchen, die in Christo sind, erkannt werden muß«, gehört nicht zu den Jüngern Jesu und wird von diesen nur widerwillig – wenn überhaupt – anerkannt. Nach dem Tode des großen Kirchenbegründers erläßt noch der Gemeindeälteste einen Hirtenbrief zur Widerlegung der Hauptlehre Pauli und schreibt mit absichtlicher Anlehnung an dessen eigenste Worte: »So sehet ihr, daß ein Mensch aus Werken gerechtfertigt wird, und nicht aus Glauben allein« ( Jakobus 2, 24 u. vgl. Röm. 3, 28). Der Bruch war ein vollkommener geworden; die Judenchristen scheuten sich nicht, Paulus kurzweg »Satan« zu nennen.

So standen denn zwei Schulen – oder wie man sie sonst bezeichnen will – einander gegenüber wie feindliche Geschwister und waren doch, wie die Folge bald zeigen sollte, aufeinander angewiesen: aus der Vereinigung beider entsprang die mit nichts zu vergleichende Eigenart sowie der an religiösen Werten unerschöpfliche Reichtum des Christentums. Indem Paulus seine Botschaft von der Ankunft auf Erden des vielersehnten Mittlers zwischen Mensch und Gott, von dessen erlösendem Tode und Wiederauferstehen wie ein Lauffeuer durch das römische Reich verbreitete, weckte er in Tausenden von Herzen die Sehnsucht, von diesem heilbringenden Himmelsmann mehr zu erfahren, als gerade Paulus imstande war ihnen mitzuteilen; ihn erfüllte das einzige Streben, den am Kreuze Hängenden in so flammenden Farben »vor aller Augen hinzumalen« ( Gal. 3,1), daß keiner es je wieder vergessen konnte; vor dem Erlöser entschwand ihm der auf Erden wandelnde Menschensohn, – von diesem ist bei Paulus kein einziges Mal die Rede, außer in der kurzen Schilderung des letzten Abendmahles und bei der Aufzählung der Erscheinungen des Auferstandenen; über den Menschen selbst aber nie ein Wort, auch keine unmittelbare Bezugnahme auf einen seiner göttlichen Aussprüche. Man kann es als einen Beweis seiner Genialität auffassen, daß Paulus, der den Herrn auf Erden nicht erlebt hatte, seine Unfähigkeit, ihn zu schildern, erkannte und darum schwieg. Somit fanden sich diejenigen, in deren Herzen der Same des Glaubens aufgegangen war, für die nähere Kenntnis der Persönlichkeit des Heilandes auf die kleine stille Schar jenseits des Jordans angewiesen, unter denen das Leben, das Leiden und das Lehren Jesu inzwischen die Gestalt einer bestimmten Überlieferung gewonnen hatte. Unmittelbar aus dieser Überlieferung heraus entstanden zunächst die drei ersten Evangelien – ein jedes von den beiden anderen in Farbe und Ton ein wenig verschieden, je nach der Eigenart des zusammenstellenden Verfassers und namentlich je nach den Bevölkerungsschichten, die dieser als Leser im Auge trug; der gleichen Quelle entspringt ebenfalls das ganze Gerüst des vierten Evangeliums, nur steht ein weit eigenartigerer Mann vor uns, der außerdem dem umwälzenden Einfluß der Lehren des Heidenapostels unterworfen gewesen ist, so daß seine Schrift in gewissen Beziehungen eine Brücke zwischen beiden Welten bildet Das Evangelium Johannes ist nicht durchaus »paulinisch«, doch ausgesprochen »nach-paulinisch« (vgl. Gardner: Cambridge Bibl. Essays, S. 383). Wir kommen noch am Schluß des Kapitels darauf zurück..

Mit Recht betrachteten die frühen Christen diesen vierfachen Bericht als einheitliches Werk und pflegten in der Einzahl von »dem Evangelium« zu reden. Keine Frage, das Evangelium bildet die Krone des Neuen Testamentes, bildet es doch das kostbarste Kleinod alles Schrifttums; man mag die Briefe Pauli noch so hoch schätzen, neben dem Evangelium können sie nicht genannt werden. Der Wert des Evangeliums übersteigt jede Schätzung, denn dieses Werk birgt die einzige wahre Kunde von dem Wesen des Göttlichen – nicht Spekulationen darüber, sondern es lebt Gott darin, wie er in der Welt lebt, nur für uns Menschen in greifbare Nähe gerückt. Und dieses kostbarste aller Besitztümer würde uns nicht zu eigen geworden sein, wenn nicht Paulus die Sehnsucht danach in Herzen wachgerufen hätte, reif genug zu verstehen oder wenigstens zu ahnen, was diese Überlieferung enthalte. Von Paulus darf man in den Worten des Dichters behaupten:

Dem Heiltum
baute er das Heiligtum.

Daß er dies tat, ohne das Heiltum unserer Evangelien zu kennen, schmälert keineswegs sein Verdienst; geschah doch alles, was er tat, aus inbrünstiger Liebe zu Jesu Christo und im unerschütterlichen Glauben an dessen erlösende Gewalt. Immerhin gehört es zu den wunderbarsten Zügen in dem Schicksal des merkwürdigen Mannes, daß seines Wirkens kostbarster Erfolg ohne sein Wissen und Wollen errungen wurde.

 

Wenden wir jetzt den Blick zu dem Christus des Apostels, indem wir uns fragen, was er mit dem Jesus gemeinsam hat, wie ihn das Evangelium uns offenbarte (siehe Kap. 3), und was ihn dagegen von diesem unterscheidet. Wiederum kann es sich nur um allgemeine Züge handeln, die jedem sichtbar werden, der mit Ernst hinschaut; wogegen das gerade hier überwuchernde Theologische von unserer Betrachtung ausgeschlossen bleibt. Religion ist eine Angelegenheit, die jeden Menschen betrifft, und jeder wird früher oder später entdecken, daß er in letzter Reihe auf sich selber angewiesen ist, wenn er ein seine Lebenskräfte förderndes Verhältnis zu dem Göttlichen in sich gewinnen will.

Eine Bemerkung muß vorangeschickt werden. Wer – den Vernünftlern folgend – an der Wirklichkeit des Gesichtes bei Damaskus zweifelt, verbaut sich hierdurch den Weg zum Verständnis. Ganz abgesehen davon, daß ein grundsätzlicher Lügner ungeeignet und gewiß unfähig zu dem Werke gewesen wäre, das Paulus auf Erden vollbracht hat, zeugt eine derartige Annahme von einer gänzlichen Unkenntnis der Seelenverfassung der damaligen Menschen; Gesichte-haben gehörte zu den allgemeinen Erscheinungen des religiösen Lebens überhaupt: uns Laien sollte das wenigstens aus dem Goldenen Esel des Apulejus vertraut sein, in welchem Roman Isis dem vielgeprüften Helden im Traume erscheint und ihm den Weg der Erlösung angibt, ein Vorgang, der sich an jedem weiteren Brennpunkt seines Lebens wiederholt. Freilich hat Apulejus bedeutend später als Paulus gelebt; doch gehörte er dem gleichen geistigen Zeitalter an. Den damaligen Menschen erschien jede Art von Gesichten so durchaus glaubhaft, daß die meisten unter ihnen sie aus eigener Erfahrung kannten, denn hier zeugt die Erwartung die Erscheinung; allerdings handelte es sich meistens um Traumgesichte, doch begreift man leicht, inwiefern diese Anlage bei besonders feurigen Menschen auch bis zu Tagesgesichten sich steigern mußte: das geschah bei Paulus. Die psychologische und physiologische Erklärung ficht uns nicht an. Worauf wir mit Sicherheit schließen können, ist, daß in der Brust des seltenen Mannes seelenzerreißender innerer Widerstreit vorangegangen war, teilweise unter der Schwelle des Bewußtseins, teilweise in der Gestalt marternder Gedankenkämpfe: diese führten zur entscheidenden Krisis, welche man sich in diesem Falle als einen Todeskrampf vorstellen muß, aus dem – durch Gottes Gnade, so empfand es Paulus – neues Leben, ein Leben der Wiedergeburt hervorging.

 

In dem selben Zusammenhang verdient das Folgende besondere Beachtung. Ebenso wie der Mensch – nach Goethe – nur dasjenige sieht, was er weiß, ebenso erhalten unsere Erfahrungen ihre besondere Bedeutung aus den Gedanken und Vorstellungen, die uns von allen Seiten umgeben und daher geläufig sind. Nun galt in den hellenistischen Mysterienreligionen allgemein der Satz, wer Gott mit Augen geschaut habe, erlebe an sich eine Verklärung, die ihn über alle gewöhnlichen Menschen erhebe; fortan sei er imstande, alles zu beurteilen, während er selber von niemanden beurteilt werden könne. »Wenn ein Paulus solche Vision erlebt, setzt das voraus, daß er schon vorher ganz in diesen Anschauungen gelebt hat, und die Art der Erzählung zeigt, daß auch seine Gemeinde diese Anschauungen kennt. Und auf diese Vision kann er seinen Anspruch, nicht unter, sondern eher über den Uraposteln zu stehen, nur gründen, wenn er selbst ebenso wie seine Gemeinde von der hellenistischen Wertung dieses unmittelbaren Schauens Gottes durchdrungen ist ... Für ihn und seine Gemeinden muß sich mit dem einmaligen Schauen Gottes eine dauernde Befähigung, aus sich selbst alles zu erkennen, also der Besitz des Pneuma im höchsten Sinne, verbinden. Hier waltet ein fester sakraler Begriff des Pneumatikos, den wenigstens ich nur aus der Mysterienreligion herleiten kann«: so schreibt Reitzenstein in seinem vortrefflichen Werk Die hellenistischen Mysterienreligionen, ihre Grundgedanken und Wirkungen, 1910 (S. 47 fg., 58, 200 fg.) Dem Begriff des Pneuma entspricht bei uns annähernd »Geist«. Paulus z. B. unterscheidet Pneuma (Geist) von Psyche (Seele) und von Sarx; (Fleisch). Der »pneumatische Körper« erbt die Unsterblichkeit, nicht der »sarkische Körper«..

Man sieht, welche entscheidende Bedeutung dem Ereignis vor Damaskus zukommt und wie töricht es wäre, darüber mit überlegenem Achselzucken hinweggehen zu wollen. Nicht bloß der unerschütterliche Glaube an seine Berufung wurzelt für Paulus in dieser Erfahrung, vielmehr schenkt sie uns volle Aufklärung über sein sonst so befremdendes Verhalten den Jüngern Jesu gegenüber, die er von dem Augenblick seiner Belehrung ab, nach Möglichkeit meidet. Gewiß liegt hier eine unbewußte Abneigung zugrunde: sein Bildungsgang, sein Temperament und seine Begabung schieden ihn von jenen Männern; noch mehr schied ihn das Bewußtsein der zu leistenden Aufgabe; doch die Rechtfertigung vor sich selber fand er einzig in dem ihm zuteilgewordenen Gesicht, »welch ungeheueres Erlebnis seine religiös schöpferische Natur aus ihrer bisherigen Gebundenheit riß und sie im wesentlichen auf sich selbst stellte« (Reitzenstein, S. 50). Hierüber besitzen wir des Apostels eigenes Zeugnis (2. Kor. 5, 16 fg.): »So kenne ich von jetzt an niemand mehr nach dem Fleisch. Angenommen selbst ich habe den Christus in der Zeit seines Menschseins gekannt, davon weiß ich jetzt nichts mehr. Darum, wo einer in Christus ist, das ist neue Schöpfung: das Alte ist vergangen, siehe es ist neu geworden.« Nach seiner eigenen Überzeugung, wie man sieht, hätte jede nähere Mitteilung über des Heilandes Wesen und Erdenlauf nur irreführen können.

Man mag nun diese Wendung beklagen oder nicht, man kann unmöglich die Tatsache des Gesichtes leugnen oder geringschätzen; denn sie bildet fraglos das Sprungbrett zu jenem gewaltigen Wirken, aus dem »die Kirchen, die in Christo sind«, hervorgingen. Hätte Paulus Jesus auf Erden gekannt, hätte er nähere Kunde über seine Persönlichkeit besessen, so würde er höchst wahrscheinlich zu diesem Werke nicht mehr getaugt haben: der Heiland stand jeglicher Kirchengründung gar fern! und außerdem, wie sollte, wer seinen Worten gelauscht hatte, den Mut finden, etwas anderes zu tun, als sie zu wiederholen? Jetzt aber stand Jesus Christus dem Paulus zugleich ganz nahe und ganz fern; er hatte ihn erlebt und doch nicht erlebt; er hatte sozusagen den Hauch seines Atems gefühlt und doch nicht ihm ins Auge geblickt: hieraus entstand jene dem Paulus eigene Lehrart, die nicht zum wenigsten deswegen so stark und reich wirkt, weil sie voller unmittelbar sich widersprechender Elemente ist, die vom Mittelpunkt aus nach entgegengesetzten Enden gewaltsam hinstreben, dadurch den Hörer von allen Seiten zugleich aufrüttelnd und anregend. So läßt er z. B. Jesum als uns Menschen menschlich nahe empfinden als »den Erstgeborenen unter vielen Brüdern« ( Röm. 8, 29) und dann wieder rückt er ihn in unermeßliche metaphysische Welten- und Zeitenfernen »als Erstgeborenen aller Schöpfung, in dem Alles im Himmel und auf der Erde geschaffen ward, das Sichtbare und das Unsichtbare ... der vor Allem ist und in dem Alles besteht« ( Kol. 1, 15 fg.). Oder wiederum er läßt die Gesamtheit der Gläubigen mit Christo zu »Einem Leibe« verschmelzen (1. Kor. 12, 12 fg.); nichtsdestoweniger soll Christus kommen, »Gericht zu halten über Lebende und Tote« (2. Tim. 4, 1) ...

 

Heutzutage – und es spricht nicht für große Tiefe des religiösen Empfindens – wird fast Jeder mir mit der Frage dazwischenfahren: Hat Paulus Christum für Gott gehalten oder nicht? Über diese Frage ist unendlich viel hin und her gestritten worden, aber wohl nur, weil eine vorgefaßte Überzeugung um jeden Preis gestützt werden sollte. Meiner Meinung nach muß für jeden geradedenkenden Menschen schon die eine Tatsache genügen, daß Paulus wiederholt den Ausdruck gebraucht, Jesus Christus säße »zur Rechten Gottes« (siehe z.B. Röm. 8, 34, Eph. 1, 20, Kol. 3, 1): in diesen Worten liegt eine unmißverständliche und nie abzuleugnende Unterscheidung; man beachte, daß nicht etwa der trinitarische Gedanke (der dem Paulus fremd blieb) ihm untergeschoben werden darf, denn es heißt nicht zur Rechten des Vaters, sondern zur Rechten Gottes, und der Ausdruck wird in unverkennbarer Anlehnung an die Offenbarungsbücher (Apokalyptik) gebraucht, welche niemals den Messias mit Gott gleichstellen.

Einen einzigen Ausspruch gibt es, welcher so gedeutet werden kann, als behaupte Paulus kurzweg: Christus ist Gott. Es handelt sich um den fünften Vers des neunten Kapitels des Briefes an die Römer. Der Apostel redet an dieser Stelle von den vielen Vorzügen der Israeliten, »denen die Sohnschaft gehört, die Herrlichkeit, die Bündnisse, die Gesetzgebung, der Gottesdienst und die Verheißungen« – jetzt folgt der fünfte Vers, den Luther verdeutscht: »welcher auch sind die Väter, aus welchen Christus herkommt nach dem Fleische, der da ist Gott über alles, gelobet in Ewigkeit, Amen.« Luther hat sich hier, wie häufig, einfach nach der lateinischen Vulgata gerichtet, welche die grundfalsche Übersetzung bot: qui est super omnia Deus benedictus in saecula. Amen. In Wirklichkeit sagt der griechische Urtext nicht »der da ist Gott über alles«, vielmehr »der Gott, der über allem ist, sei gelobet usw.« Hiermit ist aber die genaue Bedeutung des Satzteiles – der Gott usw. – noch nicht grammatikalisch eindeutig festbestimmt; er kann als Apposition (Beisatz) zu dem Namen Christus aufgefaßt werden und sich demgemäß auf diesen beziehen, wonach zu verstehen wäre: »aus den Israeliten stammt dem Fleische nach der Messias (Christus) – der Gott, der über allem ist, hochgelobt in Ewigkeit!« Wie gezwungen sich diese Deutung auch anhört, Augustinus und viele Kirchenväter, sowie die meisten Kirchenmänner selbst noch heutigen Tages nehmen sie als fraglos richtig an und opfern lieber den offenbaren Zusammenhang der ganzen Stelle, sowie die Übereinstimmung dieser Stelle mit allen anderen Aussprüchen Pauli, als daß sie die alleinzige Gelegenheit versäumen sollten, Paulus für ein Hauptkirchendogma zu gewinnen. Daß nun die besten unter den ältesten Handschriften diese Deutung durch ihre Interpunktion unmöglich machen, darauf wollen wir kein allzu großes Gewicht legen, da Willkür oder Mißverstand der Schreiber angenommen werden könnte; der Haupteinwurf besteht aber darin, daß der natürliche Sinn der ganzen Stelle jedem unvoreingenommenen Leser klar vor Augen liegt: den Israeliten wird vorgezählt, welcher Vorzüge sie von oben teilhaftig geworden sind, von der Annahme als Gottessöhne an bis zu der Gabe des aus ihrer Mitte geborenen Messias; zum Schluß folgt, wie bei den Juden üblich, die Lobpreisung Gottes für so viele Gnadenbezeugungen: dies der ganz einfache Sachverhalt. Einer der anerkanntermaßen zuverlässigsten Fachgelehrten unserer Zeit, Adolf Jülicher, urteilt: »Die Hinzunahme von Vers 5 b als Apposition zu ›der Messias‹ ist zwar sprachlich unanfechtbar und durch alte Autoritäten vertreten; aber Paulus hat niemals Christus ›Gott‹ genannt, noch weniger ›den über alles erhabenen Gott‹, was ganz zweifellos den allmächtigen Weltschöpfer bezeichnet« (siehe Die Schriften des N. T. neu übersetzt und für die Gegenwart erklärt, herausgegeben von Joh. Weiß).

Das mindeste, was man erwarten könnte, wäre die Beherzigung der Warnung, die Erasmus vor vier Jahrhunderten aussprach: es dürfe kein redlicher Mann sich auf einen so vieldeutigen Satz berufen und daraus gar entscheidende Lehren ableiten. Dem leidenschaftlichen Apostel, der seine Sendschreiben aus übervollem Herzen vulkanisch hinauszusprühen pflegte – »Meine Kinder, um die ich abermals Geburtsschmerzen leide, bis Christus möge in euch Gestalt gewinnen« ( Gal. 4, 19) – dem leidenschaftlichen Manne geschieht es öfters, daß er, von Ungeduld getrieben, der Sprache Gewalt antut, woraus Dunkelheit entsteht, die niemals – außer durch Willkür – aufgeklärt werden kann; dafür gelingen ihm, wie kaum je einem anderen, Sätze und ganze Abschnitte, unvergleichlich an plastischer Kraft und an Wucht des Ausdruckes, zugleich unmißverständlich eindeutig: es liegt auf der Hand, daß diese Stellen es sind, in denen man die Anschauungen des Apostels zu suchen hat – nicht jene; außerhalb der Theologie würde es keinem Menschen einfallen, anders vorzugehen.

Und so mache ich denn den Leser auf eine Stelle aufmerksam, welche volle Aufklärung über das bringt, was Römer 9, 5 im Ungewissen läßt. In dem Ersten Brief an die Korinther, Kap. 8, V. 6, heißt es: »So gibt es doch für uns nur Einen Gott, den Vater, den Schöpfer aller Dinge, der unser Ziel ist, und Einen Herrn Jesus Christus, den Mittler aller Dinge, der auch unser Mittler ist« Ich gebe die Stelle in Weizsäckers Übertragung und bemerke sofort, daß die letzten Worte von »dem Mittler« an den Charakter einer Verdeutlichung für heutige Leser an sich tragen, wogegen der griechische Urtext wortwörtlich übersetzt lautet: »Einen Herrn Jesum Christum, durch welchen alle Dinge sind und wir durch ihn« (Text und Übertragung nach Tischendorf) – Worte, die dem unvorbereiteten Leser ihren Sinn nicht sofort enthüllen, deren Bedeutung aber für den Kenner nicht zweifelhaft ist. Bousset verdeutscht: »Einen Herrn Jesus Christus, durch dessen Vermittelung alle Dinge geworden sind, und dem wir verdanken, was wir sind.« – Nur aus Gewissenhaftigkeit füge ich diese Anmerkung hinzu; denn der Hauptteil des Satzes – die klare Unterscheidung zwischen Gott und Christus – bietet weder Undeutlichkeit im Urtext noch Schwierigkeit in der Übertragung.. Der Leser darf nicht etwa die Worte »Einen Gott, den Vater«, so deuten, als stünde Gott-Vater im Gegensatz gedacht zu Gott-Sohn: dieser johanneische Gedanke kommt bei Paulus niemals vor und ist auch hier durch Wortlaut und Zusammenhang ausgeschlossen; hat doch Paulus soeben in dem unmittelbar vorangehenden Satz zwischen den Begriffen »Gott« und »Herr« unterschieden, indem er den »Herrn« dem »Gott« unterordnet. Hierbei schwebt ihm offenbar der damalige Gebrauch der hellenistischen Mysterienreligionen vor, in denen es üblich war, gewisse übermenschliche, nahe an die Gottheit heranragende Gestalten mit Kyrios, d. h. »Herr« anzureden; so z. B. pflegte man die Mittler, die wir im zweiten Kapitel kennen lernten – Osiris, Herakles, Dionysos usw. – durch die Bezeichnung Kyrios zu ehren: von dieser Sitte macht der Apostel an der angeführten Stelle Gebrauch und zwar im ausdrucksvollen Sinne, da er gerade die Eigenschaft Christi als eines Mittlers hervorheben will. Desgleichen dient der Zusatz »der Vater« zum Wort Gott, den Charakter als erhabenstes einziges Wesen (siehe Kap. 1) zu betonen, wobei sich Paulus zugleich an Jesu eigene Gepflogenheit anschließt, der, wie wir wissen, Gott stets »den Vater« nennt. – Eine letzte Verdeutlichung: Paulus hatte soeben von den Heiden gesagt, sie nähmen viele Götter und viele Herren an; im Gegensatz hierzu – so hebt er jetzt hervor – glauben die Christen nur an Einen Gott und an Einen Mittler.

Nach diesen verschiedenen Aufklärungen setze ich die Worte Pauli noch einmal her, sicher, daß sie von Jedem in ihrer entscheidenden Tragweite deutlich aufgefaßt werden: »So gibt es doch für uns nur Einen Gott, den Vater, den Schöpfer aller Dinge, der unser Ziel ist, und Einen Herrn, Jesus Christus, den Mittler aller Dinge, der auch unser Mittler ist.«

Nunmehr sind wir befähigt, den springenden Punkt bei der Frage nach der Gottheit Christi aufzudecken: denn durch die vorangehenden Erörterungen haben wir uns in den Stand gesetzt, ihre Elemente vom Augenpunkt des Paulus aus zu überblicken. So starke Einflüsse seine geistige Umwelt mittelbar und unmittelbar aus der hellenistisch-römischen Umgebung auch aufgenommen haben mochte, das Eine konnte dem als Juden Geborenen und Erzogenen nicht geraubt werden: sein Eingottglaube (Monotheismus). Nicht das geringste Anzeichen, daß er in dieser Beziehung jemals um Haaresbreite gewankt habe, kann vorgezeigt werden. Aus einer seiner letzten Kundgebungen hörten wir schon sein Bekenntnis des Glaubens an »Einen Gott und Vater Aller, der da ist über Allen und durch Alle in Allen« ( Eph. 4, 6), und jetzt eben vernahmen wir das gleiche in ähnlichen feierlichen Worten. Hier nun liegt die Lösung so mancher Widersprüche, welche auf den ersten Blick unlösbar scheinende Verwirrung anstiften: gerade in diesem und aus diesem unerschütterlichen Eingottglauben, der jeden Schein einer Vervielfältigung der Gottheit als Rückfall ins nackte Heidentum mit Empörung zurückgewiesen hätte, gerade aus diesem massiven, keinen Augenblick schwankenden Glauben schöpft Paulus die Befähigung, den Mittler Jesum Christum nach und nach immer näher an Gott heranzurücken, ohne befürchten zu müssen, es könnte jemals die Grenzlinie ausgelöscht werden. Bald darauf fanden sich die Gläubigen vor ein hartes Entweder-Oder gedrängt; für Paulus kam ein solches nie in Frage, ja wir können mit Bestimmtheit behaupten, die Möglichkeit einer derartigen Fragestellung trat ihm niemals ins Bewußtsein.

Es könnte scheinen, als habe diese Annäherung des Messias an Gott seitens des Apostels eine allmähliche Zunahme erfahren, doch hängt bei einem so beweglichen Geist viel von der Tagesstimmung ab und noch mehr von dem gerade vorliegenden Gedankengang. In einem verhältnismäßig frühen Brief ( 1. Kor. 15, 47) bezeichnet Paulus Jesum Christum als »Mann vom Himmel« oder »Mensch vom Himmel«, und noch in dem bedeutend später entstandenen Brief an die Römer heißt es: »kraft seiner Auferstehung von den Toten ist er eingesetzt zum Sohne Gottes« (1, 4); die Bezeichnung »Sohn Gottes« ist uns schon als alter jüdischer Ehrentitel bekannt (siehe S. 148), außerdem aus dem täglichen Sprachgebrauch des Heilandes vertraut; hier kommt es uns auf das Wort »eingesetzt« (horisthentos) an, was ebensogut mit »ernannt«, »befördert«, »bestallt« übersetzt werden kann (vgl. den Kommentar von Sanday und Headlam). Der genaue Sinn des ganzen Satzes läßt sich schwer enträtseln; doch welche Deutung ihm auch gegeben werden mag, das Eine kann nicht bestritten werden: es ist von einem zeitlichen Vorgang die Rede, Christus wird in einem gegebenen Augenblick zum »Sohne Gottes« erhoben, was unweigerlich voraussetzt, dieser »himmlische Mensch« habe früher diese Würde nicht – jedenfalls nicht im buchstäblichen Sinne – besessen. Dann aber wieder treffen wir auf Stellen wie die vorhin schon teilweise herangezogene aus dem Kolosserbrief (1, 15 fg.), die ich hier ausführlicher wiederhole. Von Christo ist die Rede, und da heißt es »der da ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, Erstgeborener aller Schöpfung, denn in ihm ward Alles geschaffen im Himmel und auf der Erde, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne, Hoheiten, Herrschaften, Mächte, Alles ist durch ihn und auf ihn geschaffen, und er ist vor Allen, und Alles besteht in ihm«. Auch bei dieser berühmten Stelle, um welche jahrhundertelang der Kampf getobt hat, wollen wir uns möglichst hüten ins Theologische hineinzugeraten. Überzeugt, daß der Apostel, als ein Mann von hervorragender Begabung, der nicht zu Gelehrten sprach, sondern sich an einfache Leute wandte mit der Absicht, von ihnen verstanden zu werden, es jedenfalls nicht auf Spitzfindigkeiten abgesehen haben wird, vielmehr daß diese alle erst später von den Theologen hineingelesen wurden, – überzeugt hiervon, werden wir mit Vertrauen voraussetzen, daß einfacher Menschenverstand genügen muß, das zu verstehen, was ein solcher Mann zu solchen Männern redet. Ich berufe mich auf Paulus selber, der da spricht: »Es ist nichts damit, daß in meinen Briefen etwas anderes stecke als was ihr leset und was ihr auch verstehet« ( 2. Kor. 1, 13). Für den heutigen unvorbereiteten Leser sei vorausgeschickt, daß die Ausdrücke Throne, Hoheiten, Herrschaften, Mächte allbekannte Bezeichnungen für verschiedene Ordnungen von Engeln waren und daß den Hauptzweck des ganzen Satzes die Herabsetzung des Unfuges des damals grassierenden Engelglaubens und der Engelanbetung bildete, unter welchen die Vorstellung von der Religionsbedeutung Jesu Christi immer mehr an Lebhaftigkeit verlor; diese drohende Gefahr abzuwenden, das war überhaupt des Briefes Ziel. Wie man sieht, bestreitet der Apostel den Engelglauben keineswegs, doch ihm gegenüber hebt er so überschwenglich wie nur möglich die überragende Bedeutung des Messias hervor, neben welchem die Engel geringfügig erscheinen.

Von entscheidender Wichtigkeit ist es, folgende Tatsache zu beachten: bei dieser Schilderung des Christus als vor aller Schöpfung entstanden und als Vermittlers der ganzen Schöpfung – gleichsam als Demiurgos – schleicht sich kein einziger eigener neuer Gedanke Pauli ein; bis herab zu der Wahl der Ausdrücke, alles eignet er sich einfach aus den Vorstellungen an, die damals – durch die Offenbarungsschriften (Apokalyptik) verbreitet – in weitesten Schichten des Volkes kreisten. Die Steigerung des Messias ins Übermenschliche bis dicht an Gott heran, seine Präexistenz, seine Beteiligung an der Schöpfung, sein Amt als Weltrichter, seine bald zu erwartende Wiederkunft auf Erden – das alles findet sich buchstäblich in den genannten Büchern. Dazu kommt noch bei Paulus einiges aus der ebenfalls zu jener Zeit vorherrschenden stoischen Philosophie. Des Apostels eigene Originalität als Religionsgründer liegt an anderem Orte: hier hat er einfach die eine volkstümliche Vorstellung gegen die andere ausgespielt: die höherstehende, vereinfachende gegen die buntzerstreuende, zu tollem Aberglauben hinableitende.

Doch wir sind mit der betreffenden Stelle aus dem Briefe an die Kolosser noch nicht fertig!

Aller jener Ausführungen, welche Christus der Gottheit anzugleichen scheinen, bemächtigen sich mit Freuden unsere Theologen, so auch dieser aus dem Kolosserbrief; wenn nur diese nicht einen Haken böte! Gleich anfangs stehen nämlich jene fatalen drei Worte: »Erstgeborener aller Schöpfung!« Hiermit wäre also Jesus Christus doch einmal – und wenn auch als Erster – »geboren«, und demgemäß auch zur »Schöpfung« gehörig, von Gott geschaffen! Und so hören denn seit ältesten Zeiten – namentlich aber seitdem die Arianer aus diesen drei Worten ihre Hauptwaffe gegen die Gotteslehre der Kirche geschmiedet hatten – die Versuche nicht auf, die Welt zu überzeugen, »Erstgeborener« bedeute nicht – oder wenigstens an dieser Stelle nicht – Erstgeborener, und »aller Schöpfung« bedeute nicht aller Schöpfung. An anderen Stellen – so z.B. »Erstgeborener unter vielen Brüdern« ( Röm. 8, 29) – wird dem gleichen Wort »Erstgeborener« (Prototokos) sein offenbarer Sinn nicht bestritten, hier aber darf er um keinen Preis zugelassen werden. Ebenso ergeht es dem zweiten und dritten Wort. Die Sprachkenner versichern, pases ktiseos heiße nichts anderes als »aller Schöpfung« oder alles Gemachten, Erschaffenen, allenfalls (wie Luther und Tischendorf verdeutschen) aller Kreaturen; doch auch hier erheben die Theologen Einspruch: pases ktiseos darf einfach nicht »aller Schöpfung« heißen, denn damit wäre ausdrücklich zugestanden, der noch so erhöhte Christus sei ein Geschöpf Gottes, nicht selber Schöpfergott. Alles Nähere möge der kühn veranlagte Leser in den Fachbüchern nachschlagen, er wird jahrelang daran studieren können. Nur ein Beispiel will ich noch nennen, um die »theologische Gemütsart« dem Laien fühlbar zu machen. Der grundgelehrte und grundehrliche Bischof Lightfoot, der in seinem sonst unübertrefflichen Kommentar zu dem Briefe an die Kolosser Beweise über Beweise aufhäuft gegen die Deutung jener drei Worte nach ihrem einfachen Sinne als »Erstgeborener aller Schöpfung«, meint, den höchsten Trumpf durch die Bemerkung auszuspielen: »It contradicts the fundamental idea of the Christian consciousness« – die Annahme, der Apostel habe »Erstgeborener aller Schöpfung« geschrieben, widerspricht der grundlegenden Vorstellung des christlichen Bewußtseins. Gewiß ein klassisches Beispiel für die Macht eingewurzelter Zwangsglaubenssätze: um zu erfahren, was Paulus gesagt hat, wird erst gefragt, was das später entstandene »christliche Bewußtsein« fordert, und darnach wird dann der paulinische Text so lange »interpretiert«, bis er mit den Entscheidungen der Bischofsversammlungen zu Nizäa (325) und zu Konstantinopel (381) übereinstimmt!

Wir Laien aber wollen uns aller Vergewaltigung enthalten und aus diesem Ausspruch sowie auch aus anderen mit Gewißheit den Schluß ziehen, Paulus habe Jesum Christum sehr nahe an Gott herangerückt, ohne ihn aber jemals mit Gott verschmelzen zu lassen – spricht er doch in diesem selben Briefe an die Kolosser, einige Verse später als die beregte Stelle, von Christo als »sitzend zur Rechten Gottes« (3, 1), also als von Gott deutlich unterschieden. Wir sind aber berechtigt, noch weiterzugehen, ja, wir treffen erst dann auf den religiösen Kern des paulinischen Denkens – auf einen Kern, unerschöpflich an Fruchtbarkeit und an Segensfülle. Den wahren Mittelpunkt der Religion Pauli bildet die klare Vorstellung und die kraftvolle Darlegung der Bedeutung und der Würde Jesu Christi als des Mittlers zwischen Gott und Mensch: dieser Gedanke ist lebendig, er entspringt der gewaltigsten Lebenserfahrung und öffnet Millionen den Weg zu gleicher Erfahrung; durch ihn wurde Paulus zum Schöpfer »der Kirchen, die in Christo sind«, und neben diesem Gedanken sinken manche andere Vorstellungen unseres Apostels zu bloßen überkommenen Schemen herab.

Die Stelle, wo dieser Gedanke klipp und klar zum Ausdruck gelangt, befindet sich – das muß ich vorausschicken – in einem Brief, der von vielen Gelehrten dem Paulus abgesprochen, neuerdings jedoch von hervorragendsten Sonderforschern ihm wieder mit Bestimmtheit zugeschrieben wird. Wir lesen da: »Denn es ist Ein Gott, ebenso Ein Mittler Gottes und der Menschen, der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat zum Lösegeld für alle« ( 1. Tim. 2, 5 fg.). Wenn der Brief wirklich einen Anderen zum Verfasser haben sollte, so war dieser Andere jedenfalls ein Vertrauter Pauli – das wird allgemein zugestanden – der mit Gewissenhaftigkeit die Lehren seines Meisters weitergab Damit der Leser von dem heutigen Stand der strittigen Frage sich ein Bild mache, nenne ich einige Namen: die Verfasserschaft Pauli bestreiten Harnack, Holtzmann, Jülicher, Moffat, und mit besonderer Leidenschaftlichkeit Renan; dagegen verfechten die Echtheit Zahn, B. Weiß, Lightfoot, Ramsay, Findlay.. Außerdem liegt im Grunde nicht gar viel an dieser einen Stelle, so willkommen sie auch als knappe Zusammenfassung wäre; denn – ich wiederhole es – die Vorstellung von der Bedeutung und der Würde Jesu Christi als eines Mittlers durchdringt das ganze Denken des Apostels, liegt allen seinen Hauptlehren zugrunde und begleitet sie bis in ihre letzten Verzweigungen.


An diese Betrachtung über die schwebende Stellung Jesu Christi zwischen Mensch und Gott – auf die wir übrigens noch zurückkommen – schließt sich ungezwungen eine weitere an, deren Verwandtschaft bald empfunden werden wird.

Bezeichnend für die Denkart und für die ganze Persönlichkeit unseres Apostels ist es, daß er allerorten sich scharf entgegenstehende Gegensätze erblickt, erfaßt und ergründet: sein weiteres Denken besteht in der Ausgleichung zwischen diesen Gegensätzen oder in der Überwindung des einen durch den anderen – und überall findet diese Ausgleichung oder Überwindung durch Jesum Christum und in Jesu Christo statt. Man könnte eine große Anzahl derartiger Entgegenstellungen bei Paulus nachweisen; die Wissenschaft nennt sie Antinomien, was – wenn wir das Wort in seine zwei Bestandteile auflösen – vorzüglich verdeutscht wird durch Gegen-Sätze. Als Beispiele nenne ich: Mensch und Gott, Tod und Unsterblichkeit, Fleisch (Sarx) und Geist (Pneuma), Gesetz und Freiheit, Sünde und Rechtfertigung, Werke und Gnade .... doch der aufmerksame Leser wird die gleiche Art der Zergliederung noch weiter verfolgen können, denn überall bestimmt sie des Apostels Denken und Darstellen; findet er z.B. Veranlassung, die Armut zu erwähnen, so stellt er ihr gleich den Reichtum gegenüber ( 2. Kor. 8, 9), ist von Schwäche die Rede, sofort zieht er die Kraft herbei ( 2. Kor. 13, 4 fg.) – und Christus ist es, der die Armut in Reichtum wandelt und aus dem Schwachen einen Riesen macht.

Wir hörten Paulus die gesamte sichtbare und unsichtbare Welt des Daseins durch die Vermittelung Jesu Christi entstehen lassen, wodurch Christus als Mittler zwischen den beiden großen Gegensätzen der Gottesruhe und der Fülle der Schöpfung erscheint. Nicht allein vermittelt er die Schöpfung, sondern »in ihm« – also wieder durch seine Vermittelung – »gewinnt das Geschaffene Bestand« ( Kol. 1, 17), und nicht weniger zielt sie auf ihn hin – denn an anderer Stelle ( Eph. 1, 10) heißt es, Gott habe beschlossen, »in der Fülle der Zeiten unter ein Haupt zu fassen das All im Christus, was im Himmel sowohl als was auf Erden ist«.

Nebenbei möchte ich meinen Leser gleich bitten, sich nicht über den logisch-historischen Sinn einer solchen Aussage den Kopf zu quälen: handelt es sich doch um einen Mythos, und das heißt um ein Gebilde der Phantasie, ersonnen, um undenkbaren und daher unaussprechlichen Wahrheiten ahnungsvolle Annäherung an unser Gemüt Bahn zu brechen. Auf diese Frage des Mythischen bei Paulus kommen wir bald zurück; vorderhand müssen wir noch ein wenig bei seinen Gegen-Sätzen verweilen.

Der Hauptgegensatz – derjenige, der alles umfaßt, was zu Pauli eigentlicher Religion gehört und unter den die meisten anderen Gegen-Sätze sich als Teilerscheinungen eingliedern lassen – ist der zwischen Mensch und Gott: einer derjenigen, der nicht durch Überwindung des einen Teiles auf Kosten des anderen seine Schlichtung findet, vielmehr durch kräftigste Bejahung beider Teile: indem der Mensch – durch Jesum Christum dazu belehrt und befähigt – sein geläutertes Wesen gottwärts erhebt, während die Gottheit – der Vater – durch die Fürbitte Jesu Christi dazu bestimmt – sich gnadenvoll bis zum Menschen herabsenkt.

Um die Bedeutung dieses Gedankens richtig zu erfassen, muß man wissen und bedenken, daß der Mensch, indem er sich an Christum anschließt, Fähigkeiten gewinnt, durch welche er ein neues Wesen wird und neue Würde erhält: »Wo einer in Christo ist, das ist neue Schöpfung – das Alte ist vergangen, siehe es ist neu geworden« ( 2. Kor. 5, 17). Hieraus entsteht ein neues Verhältnis des Menschen zu Gott; »er wird Gottes Tempel, und der Geist Gottes wohnt in ihm«; darum nannten sich die frühesten Christen die Gemeinde der Heiligen: »denn der Tempel Gottes ist heilig, das seid ihr« ( 1. Kor. 3, 17). Es handelt sich nicht allein um Gefühlswerte und um sittliche Erhöhung, sondern – wie Paulus dartut – auch um eine Steigerung der Verstandesfähigkeiten, indem wir »an dem Verstande Christi« teilnehmen: bleibt auch »das Innere Gottes unergründet«, wir empfangen durch Christum »Geist, der aus Gott ist, um damit zu verstehen, was uns von Gott geschenkt ist« ( 1. Kor. 2, 12–16).

Die Vorstellung von der Steigerung des ganzen Menschenwesens als dem Hauptwerk Jesu Christi, liefert bei diesem Gedankengang den entscheidenden Zug. Das bisherige Ideal oder Prototyp (Urbild) desjenigen Wesens, das Mensch geheißen werden kann, war der Adam der Schöpfungserzählung; mit Christo tritt eine neue Gedankengestalt »Mensch« in die Erscheinung; weswegen Paulus ihn den »zweiten Adam« nennt: der erste Idealmensch war »lebendige Seele«, der zweite ist »lebendigmachender Geist«: »Der Erste Mensch ist von der Erde und irdisch, der Zweite Mensch ist vom Himmel. Welcherlei der irdische ist, solcherlei sind auch die irdischen, und welcherlei der himmlische ist, solcherlei sind auch die himmlischen. Und wie wir (Menschen) getragen haben das Bild des irdischen, also werden wir auch tragen das Bild des himmlischen« ( 1. Kor. 15, 45–49). Aus dieser Darstellung treten zwei Dinge unmißverständlich hervor: erstens die auch uns erreichbare Steigerung unseres Menschenwesens in die Richtung, die der Heiland gewiesen hat, und zweitens die Tatsache, daß er dies als Mensch bewirkte. Es fällt nämlich auf, daß an derartig entscheidenden Stellen Jesus Christus von dem Apostel stets ausdrücklich als »Mensch« bezeichnet, d.h. also sein Menschtum betont wird. So z.B. lesen wir in den allbekannten Ausführungen des Briefes an die Römer (5, 12–21), in denen wiederum Christus als zweiter Adam dem ersten entgegengestellt wird (beide als »Urbilder« ausdrücklich bezeichnet): ».... wenn dort durch den Fall des Einen die Unzähligen dem Tode erlegen sind, so hat sich um Vieles gewisser die Gnade Gottes und das Gnadengeschenk des Einen Menschen Jesus Christus für Unzählige verschwenderisch reich erwiesen.« Hier habe ich die Verdeutschung Adolf Jülichers benutzt, weil sie mir den faßlichsten Sinn im Deutschen zu geben schien. Dieser in der Urschrift äußerst verwickelte Satz wird von jedem Gelehrten anders übersetzt; doch besteht über den allgemeinen Sinn kein Zweifel, namentlich nicht über die Worte »des Einen Menschen Jesus Christus«. Auch verweise ich noch einmal auf den Satz in dem Brief an Timotheus (S. 201): »Denn es ist Ein Gott, ebenso Ein Mittler Gottes und der Menschen, der Mensch Christus Jesus.« Die Vorstellung von der Möglichkeit der Steigerung des Menschen aus einem zwar »seelenbegabten« doch tierischen Wesen zu einem »geistbegabten« gottverwandten Wesen fordert durchaus, daß Jesus Christus Mensch gewesen sei, sonst büßt sein Beispiel jegliche Bedeutung für uns ein. Dem Apostel liegt nun alles daran, von dieser Steigerungsfähigkeit zu überzeugen; denn dieser Glaube bildet seine ganze Religion – wie er gleichfalls das Geheimnis der ungeheuren Kraftwirkung ausmacht, die er auf die Menschheit ausgeübt hat; blieb auch gerade diese Hauptlehre meist – als solche – unerkannt, sie wirkte trotzdem mit unwiderstehlicher Gewalt.

Manche Schwierigkeit entsteht aus dem halbverborgen bleibenden Gegensatz zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen gegenwärtiger Erlösung und zukünftiger Erlösung.

Weit gefehlt wäre die Annahme, Paulus habe einzig ein künftiges Leben im Sinne; freilich faßt er das irdische Dasein nur als Vorhof zu dem jenseitigen auf: »Wissen wir doch, daß wir, wenn unsere irdische Zeltwohnung aufgelöst wird, einen Bau von Gott haben, ein Haus nicht mit Händen gemacht, ewig im Himmel« ( 2. Kor. 5, 1); jedoch der Anfang muß hier auf Erden gemacht werden, hier und heute: das ist Gebot – sonst erben wir die Unsterblichkeit nicht. Möglich ist es, dank dem Leben, dem Lehren und dem Sterben und dem Auferstehen unseres Heilandes: »einen anderen Grund kann keiner legen als der da liegt, nämlich Jesus Christus« ( 1. Kor. 3, 11). Paulus ist dermaßen von der Gewißheit durchdrungen, der Mittler, der unter uns »in der Gestalt des sündigen Fleisches« geweilt hat ( Röm. 8, 3), sei – sobald wir nur an ihn glauben, und d.h. ihm diese Macht zutrauen – fähig, eine vollkommene innere Umwandlung auch in uns zu bewirken, daß er kühn schreibt: »da wir noch im Fleische waren« ( Röm. 7, 5) – womit er deutlich erklärt, der christusgläubige Mensch habe schon jetzt die »Fleischesgestalt« gegen die »Geistesgestalt«, welche der neuen Menschheit eignet, umgetauscht. Dergleichen Versicherungen begegnen wir bei Paulus nicht selten. Ich erinnere z.B. an folgende: »Wir, die wir der Sünde gestorben sind, wie sollen wir noch in der Sünde leben?« »Durch die Taufe auf den Tod Christi sind wir mit ihm begraben worden.« »Ihr wurdet von der Sünde befreit und zu Knechten der Gerechtigkeit gemacht« ( Röm. 6, 2, 4, 18). »Ihr seid gestorben und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott« ( Kol. 3, 3) .... Schließlich rufe ich das entscheidende Wort ins Gedächtnis: » Ihr seid alle Söhne Gottes durch euren Glauben an Christum Jesum« ( Gal. 3, 26). Man wähne nicht, der Apostel gebe sich der Täuschung hin, die Mitglieder seiner Kirchen hätten als eine Folge ihrer Bekehrung und Taufe zu sündigen aufgehört. Dutzende von Stellen könnte man zum Beweise des Gegenteils anführen; immer wieder mahnt er: »Bietet nicht eure Glieder der Sünde als Waffen der Ungerechtigkeit!« ( Röm. 6, 13) – und ähnlich. Nichtsdestoweniger hält Paulus daran fest, daß wir – sobald wir zu Jesu Christo gehören – bereits hier auf Erden »im neuen Stande des Lebens wandeln«. Religion ist eben für ihn – wie sie es für Jesum war – unmittelbare, pulsierende, flammende Gegenwart. Nichts ist irriger als die Behauptung einiger Theologen, die Religion Pauli sei – im Gegensatz zu derjenigen des Heilandes – eine Religion der Zukunft, auf Hoffnungen aufgebaut; vielmehr gibt es nach Paulus gar keine Zukunft für diejenigen Menschen, die sich nicht hier und heute zu Christo bekennen. Glauben ist für ihn die tätigste aller Taten; durch Glauben beginnt der Mensch Schöpfer zu werden, und zwar zunächst an sich selber – weil nämlich Glauben nichts anderes heißt als unsere Seele der Gottheit öffnen und ihr dadurch Einlaß geben.

Über den scheinbaren Widerspruch, den wir soeben beim Apostel aufgedeckt haben – insofern er noch sündige Menschen als heilige Tempel Gottes rühmte –, über diesen scheinbaren Widerspruch klärt uns unser herrlicher Schiller auf, indem er uns belehrt: »Der reine moralische Trieb ist aufs Unbedingte gerichtet, für ihn gibt es keine Zeit, und die Zukunft wird ihm zur Gegenwart, sobald sie sich aus der Gegenwart notwendig entwickeln muß. Vor einer Vernunft ohne Schranken ist die Richtung zugleich die Vollendung, und der Weg ist zurückgelegt, sobald er eingeschlagen ist« ( Aesth. Erz., Bf. 9). Dieses unsterbliche Wort Schiller's ist wie auf Paulus gemünzt, dessen Leben aus lauter verzehrender Gegenwart bestand – einer rastlos Zukunft schaffenden Gegenwart: »Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht, daß ich's ergriffen habe; Eines aber sage ich: ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich nach dem, was da vorne ist und jage nach dem vorgesteckten Ziel!« ( Phil. 3, 13).

 

Das alles sind nur knappe Andeutungen; der Gegenstand ist unerschöpflich; mir muß es genügen, wenn es mir gelingt, zu richtigen Gedanken anzuregen; ich setze Leser voraus, denen es Bedürfnis ist, weiter zu forschen und weiter zu denken. Anknüpfend an die vorhin gestellte Frage: hat Paulus Christum für Gott gehalten oder nicht? (S. 194) will ich jetzt besagte Leser auf einen Umstand aufmerksam machen, geeignet, nach verschiedenen Richtungen hin aufklärend zu wirken.

Daß Jesus unter uns Menschen als Mensch gelebt hatte, das stand nicht in Frage. Man beachte nun, daß es zweierlei Arten gibt, einem Menschen Wesensgleichheit mit der Gottheit zuzuschreiben: die eine versetzt jenen Menschen nachträglich in den Himmel und erklärt, »er ist Gott geworden«, die andere behauptet, »Gott hatte in ihm Menschengestalt genommen und war unter uns gewandelt«: im ersten Fall handelt es sich um einen Mythos, im zweiten um eine mystische Erkenntnis. Man tut gut daran, diese Unterscheidung zu beachten und im Sinne zu behalten, weil beides – Mythos und Mystik – Fühler sind, die wir Menschen aus unserer Beschränktheit in die uns umgebende Welt des Geistigen tastend ausstrecken, jeder aber von dem anderen sehr verschieden. Der Mythos versetzt das Nahe in die Ferne, das Bekannte ins Unbekannte, in der Hoffnung, auf diesem Wege für das Nichtbegreifliche eine anschauliche Vorstellung zu gewinnen; dagegen zieht die Mystik das unsichtbare Ferne ins innerste Gemüt hinein, damit es dort unmittelbar wirke. Uns Europäern ist die mythische Weltanschauung hauptsächlich aus der klassischen Welt Hellas' und Roms vertraut; für die Mystik des auf Erden wandelnden Gottes bietet uns das arische Indien die bekanntesten Beispiele. Der Vorzug des Mythos liegt in der allgemeinen Verständlichkeit eines sichtbar Gestalteten, der Nachteil besteht in der Gefahr, daß das Bild das Geheimnis verdränge und zur Sache selbst werde; der Mystik eignet eine unvergleichliche Kraft der Unmittelbarkeit, dagegen bleibt es schwer, die durch sie geweckten Erlebnisse Anderen mitzuteilen, und daher pflegt sie – bei weiterer Verbreitung – zu sinnlosem Wortkram und zu Heuchelei zu führen: dort droht also Materialismus, hier Formalismus.

Paulus nun, als Sendling der neuen Frohbotschaft, hat von diesen beiden Mitteln, Andere an seinem religiösen Erlebnis teilnehmen zu lassen, reichlichen Gebrauch gemacht: eine Probe seiner mythischen Lehre haben wir oben (S. 200 fg.) ausführlich in Betracht gezogen und gesehen, daß er Jesus von Nazareth als Mittler der gesamten Weltschöpfung – in ihrem Anfang, ihrem Bestand und ihrem Ziele – erblickt. Solche Aussprüche fallen in die Augen, und dennoch liegt dem Apostel ungleich mehr an der mystischen Erkenntnis, daß dem Menschen Jesu »all die Fülle der Gottheit innewohnte«, daß er »das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« war, dessen »Herrlichkeit auf seinem Antlitz strahlte« – kurz, daß in der Person dieses Menschen ein Göttliches unter uns gewandelt ist.

Einführend sei auf eine Eigentümlichkeit Pauli hingewiesen, die für ihn allein bezeichnend ist: niemals geht er – weder bei seinem Mythos noch bei seiner Mystik – bis an das logisch geforderte Ende, immer hält er kurz vorher inne. Damals z. B. entsetzten sich einzig die Juden über die Behauptung, ein Mensch sei Gott, Griechen und Römern war diese Vorstellung geläufig – wurde doch jeder Kaiser sofort nach seiner Thronbesteigung als Gottheit verehrt; dennoch hat Paulus niemals – wir erfuhren es oben – rundweg erklärt: Jesus Christus ist Gott; ebensowenig hat er jemals – wie bald nach ihm Johannes es tat – das Wort gesprochen: Gott ist in Christus Fleisch (d. h. Mensch) geworden. Daraus entnehmen wir, in welcher Reinheit dieser wunderbare Mann die Vorstellung des Mittlers als Grundlage aller Religion erfaßte. Darum ist bei ihm auch alles so unvergleichlich reich an Leben und an lebendiger Wirkungskraft, weil nämlich – wie das bei jeder Lebensgestalt der Fall ist – der ganze Organismus seines Denkens genau auf der Messerschneide schwebt, woraus größte Beweglichkeit bei stets sich neu einstellenden Gleichgewichtsverhältnissen erfolgt, und alles sonst überall bald auftretende Erstarren und Sichfestrennen ausgeschlossen bleibt. Weilen des Apostels Gedanken unter der sündebelasteten Menschheit und blicken von dort aufwärts, so erschaut er den Heiland auf Gottes Thron; versucht er dagegen Gottes Weltenpläne zu enträtseln, so wird ihm Christus zum Typus des neuen Menschen, zum »zweiten Adam«.

Niemals sollte man an Paulus den Maßstab eines Systematikers und Dogmatikers anlegen: bei ihm ist – subjektiv betrachtet – alles unmittelbares, mystisches Erlebnis, und – objektiv gesehen – leidenschaftliches Überzeugenwollen, welches sich in der Wahl der Mittel zur Überredung stets nach den Anschauungen und Denkgewohnheiten der zu Bekehrenden richtet.

Die große Bedeutung letzterer Bemerkung für die Beurteilung der einzelnen Briefe Pauli liegt auf der Hand. So richtet er z. B. jenen Brief mit dem Schöpfungsmythos an die Kolosser, Kleinasiaten, in deren Köpfen derartige Wahngedanken seit jeher kreisten; ihm genügt es, wenn er vorläufig deren tollen Engel- und Dämonen- Aberglauben in Schranken zurückweisen und Jesu Christo die erste Stelle erkämpfen kann. Ein zweites Beispiel: schreibt er an die Korinther – in Polytheismus großgezogene Griechen – so gibt er diesen ohne weiteres zu: »es sind ja der Götter viele« und fordert von ihnen nur außerdem den Glauben an den Einen Gott, der über allen ist, den Vater, und an dessen Mittler Jesum Christum ( 1. Kor. 8, 5 fg.). Er selbst bekennt es: »Obwohl ich frei dastand gegenüber von Allen, habe ich mich Allen zum Knecht gemacht, um recht Viele zu gewinnen. Ich bin den Juden wie ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen ...; denen ohne Gesetz (bin ich geworden) wie einer ohne Gesetz, der ich doch nicht ohne Gottes Gesetz bin, vielmehr im Gesetz Christi stehe – um die ohne Gesetz zu gewinnen. Den Schwachen bin ich schwach geworden. Ich bin Allen Alles geworden, um allerwege Etliche zu retten. Solches aber tue ich um der Verkündigung des Evangeliums willen, auf daß ich sein teilhaftig werde« ( 1. Kor. 9, 19–23).

Wie töricht, bei einem Manne, der ein solches Bekenntnis freimütig ablegt, aus einzelnen Aussprüchen bindende Glaubenssätze (Dogmen) zu schmieden und jedes Wort auf die Goldwage zu legen! Vielmehr haben wir zu erkennen, daß in ihren mythischen Bestandteilen den Lehren Pauli durchaus nur der Wert von Allegorien, Bildern, Annäherungen, Andeutungen zukommt, wobei noch der Apostel die Vorstellungen seiner jeweiligen Zuhörer gern berücksichtigt, um von der ihnen vertrauten Seite aus die Annäherung an verborgene Wahrheiten zu unternehmen.

Dem gleichen Leitfaden folgend können wir noch weitere Anregungen gewinnen, geeignet, unser Verständnis der Briefe Pauli zu vertiefen und zu verschärfen. So werden wir z.B. bei den meisten der grundlegenden Gegen-Sätze, die wir für des Apostels Denken bezeichnend fanden, bei genauerer Betrachtung entdecken, daß die eine Seite der Gleichung – d.h. der eine »Satz« – mehr seinem mythischen, die andere – also der andere »Satz« – mehr seinem mystischen Denken angehört; die mythischen Sätze besitzen offenbar eher bildliche Bedeutung und sollen nicht allzu wörtlich verstanden werden, wogegen bei den mystischen Sätzen die Worte darnach ringen, die innersten Herzensgedanken des Schreibers zum Ausdruck zu bringen.

Man betrachte den für die Religion Pauli entscheidenden Gegensatz »Werke: Glauben«. Die Lehre von der Erlösung durch gottgebotene Werke wird erstens immer geschichtlich dargestellt und das heißt – wie Kant uns belehrt – unreligiös, zweitens, wer kann den Brief an die Römer lesen, ohne zu bemerken, daß der Apostel in bezug auf die Rechtfertigung durch gebotene Werke einen verwickelten Mythos aufzubauen bestrebt ist, in welchem er manchmal weder ein noch aus weiß, bis er sich durch eine neue gewaltsame Wendung Luft macht? Das hier eingehend darzulegen, würde zu weit führen; ich empfehle aber ein aufmerksames Sichversenken in die Kapitel 5–8. Und dann betrachte man die Reihe der verwandten Gegen-Sätze – ich nenne Verdienst und Gnade, Gesetz und Freiheit, Sünde und Rechtfertigung, Gericht und Erlösung! Überall wird man finden, daß das erste Glied dieser Entgegenstellungen als Mythos behandelt wird, das zweite dagegen als mystisches Geheimnis. Vom Gesetz gilt genau das gleiche, was von den Werken gesagt wurde; die Sünde wird geradezu zu einem mythischen Wesen personifiziert:

»Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so bin ich es nicht mehr, der es vollbringt, sondern die Sünde tut es, die in mir wohnt« ( Röm. 7, 20); die juristische Vorstellung des Gerichtes ist ohne weiteres dem ägyptischen Mythos entlehnt und gelangt durch die Vermittelung der jüdischen Apokalyptik in Pauli Hände, – sie bildet einen unmittelbaren Widerspruch zu der Lehre von der Erlösung durch Jesum Christum, man gedenke nur der an einen Verbrecher gerichteten Worte: »heute wirst du mit mir im Paradiese sein«. In welch einer anderen Welt bewegen wir uns, sobald der Apostel von Glaube, Gnade, Freiheit, Erlösung redet. Man wähnt, einen anderen Mann sprechen zu hören.

Für die Bedeutung des Begriffes Glaube – ich würde lieber sagen, für die Bedeutung der Tatsache des Glaubens – bei Paulus ist es nicht möglich, auf einen einzelnen Ausspruch zu verweisen, der irgend erschöpfend Inhalt und Sinn darlegte: der Glaube bildet die Triebfeder seines ganzen Lebens; dies bricht allerorten hervor und übersteigt als überirdisches Erlebnis alle Fähigkeit der menschlichen Sprache. »Ich bin mit Christo gekreuzigt, ich lebe jetzt nicht als ich selbst, es lebt in mir Christus; sofern ich aber noch im Fleische lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat, und sich selbst für mich hingegeben hat« ( Gal. 2, 20). Man überhöre ja nicht die Worte »der mich geliebt hat«; denn bei Paulus hängen Glaube und Liebe eng zusammen. Wir vernahmen es ja vorhin: nur derjenige Glaube ist echt und »vermag etwas«, der »durch Liebe sich auswirkt«, denn – wie es bald darauf heißt – »es gilt neue Schöpfung«, und schöpferisch ist einzig die Liebe ( Gal. 5, 6; 6, 15). Hierzu bemerkt der große Forscher Bengel: »auf diesen Worten beruht das ganze Wesen des Christentums« (nach Lightfoot). »Mit dem Herzen wird Jesus geglaubt« ( Röm. 10, 10), heißt es an anderer Stelle: es handelt sich also um kein Fürwahrhalten, ebensowenig um ein Überzeugtsein durchs Vernunftgründe, sondern um ein das ganze Wesen des Menschen erfassendes Erlebnis im innersten Gemüte Hierdurch findet sich von vornherein die katholische Lehre widerlegt: »ex toto ecclesiae dogmate quod intellectu capi potest, capiant, quod non potest, credant« (Vincentius Lerinensis, nach Loofs: Dogm. Gesch., 437). Diese nüchterne Lehre hat nicht das geringste zu schaffen mit Pauli Lehre vom Glauben.. Man höre noch folgende Worte:

»Ich beuge meine Knie vor dem Vater ...., daß er euch verleihen möge nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, mit Macht stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen, auf daß Christus wohne durch den Glauben in euren Herzen, und ihr in Liebe eingewurzelt und gegründet seid, damit ihr in vollen Stand kommt .... zu erkennen die alle Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus« ( Eph. 3, 16 fg.). Nur wer »in Liebe eingewurzelt und gegründet« ist, nur der allein weiß, was das heißt, im Sinne des Apostels Paulus: an Christum glauben. »Wenn ich den ganzen Glauben habe zum Bergeversetzen und habe keine Liebe, so bin ich nichts!«

Bei diesen letzten Worten frage ich mich, ob jeder Leser weiß, was es für eine Bewandtnis hat mit jenem Höhepunkt paulinischer Eingebung, der unter dem Namen dreizehntes Kapitel des ersten Briefes an die Korinther jedermann vertraut ist? Hier wird von dem Apostel vor unseren Augen das Wesen des Glaubens entfaltet, vielleicht sage ich besser, auseinander gefaltet: dabei erscheinen Hoffnung und Liebe als Bestandteile des Glaubens. Von der Liebe als des Glaubens innerstem Herzen haben wir eben gehört. Die Hoffnung bildet gleichsam sein äußeres Gewand, den Waffenschmuck, und gehört zu jenen »Waffen des Lichtes«, die der Apostel uns anzulegen empfiehlt ( Röm. 13, 12); innerhalb des mystischen Glaubenslebens vertritt die Hoffnung ein mythisches Element und treibt zum Handeln an; wir sollen »ohne Hoffnung auf Hoffnung glauben« ( Röm. 4, 18), »denn durch Hoffnung sind wir gerettet« ( Röm. 8, 24). So wirken diese verschiedenen Elemente ineinander und bilden zusammen das, was Paulus unter Glauben versteht.

Noch fehlt uns aber die unentbehrliche Ergänzung, ohne welche der Glaube nicht Glaube wäre.

Zum Glauben gehört untrennbar die Gnade: das eine kann ohne das andere nicht bestehen. Zunächst empfinden wir die Gnade als eine Folge des Glaubens, doch Paulus belehrt uns: »Denn durch Gnade seid ihr errettet mittelst des Glaubens, und dieses nicht aus euch, Gottes Geschenk ist es ....« ( Eph. 2, 8). Hier liegt unstreitig das größte Geheimnis – das eigentliche Mysterium – der paulinischen und mit ihr aller echten Religion. Zwar urteilt Kant: »Wenn alles ... auf einen unbedingten Ratschluß Gottes hinausläuft – ›er erbarmet sich, welches er will, und verstocket, welchen er will‹ ( Röm. 9, 18) –, dann bedeutet dies, nach dem Buchstaben genommen, den salto mortale der menschlichen Vernunft« ( Religion, S. 178); worauf zu erwidern ist, daß vom »Buchstaben« hier die Rede nicht sein kann, da es sich um Dinge handelt, die alle Menschenvernunft weit übersteigen, so überzeugend sie auch erlebt werden. Beth weist nach, daß die Vorstellung eines sich freiwillig helfend zum Menschen herabneigenden höchsten Gottes – unserer Vorstellung von Gnade wesensverwandt – auch den urtümlichsten Völkern nicht unbekannt ist ( Religion und Magie bei den Naturvölkern, S. 209); wie dem auch sei, in der Welt der Griechen und der griechisch Gemischten waren zu Lebzeiten Pauli Vorstellung und Wort »Gnade« (Charis) allverbreitet und beschäftigten die Gedanken der religiös Gerichteten; die Fragen der Vorherbestimmung und die der Berufung oder der Gnadenwahl wurden in den damaligen Mysterienreligionen viel erörtert (Reitzenstein, Myst. relig., S. 37 fg.). Ramsay schreibt: »Der Inbegriff jenes zarten Erzeugnisses, das wir Hellenismus heißen, liegt in der Vorstellung Charis eingeschlossen. Der Geist des Hellenismus weht uns aus diesem Worte an. Ohne Charis, kein Hellenismus« ( Teaching of Paul, S. 404 fg.). Sehr bezeichnend für Paulus als Bekehrergenie finde ich es, daß er gerade dieses Wort – welches ohnehin in den Ohren seiner Zuhörer voll geheimen Zaubers erklang – für die Mitteilung seiner tiefsten mystischen Ahnung erwählte.

Da ich »seiner Ahnung« sage, muß ich sofort hinzufügen, daß er diese Ahnung dem Heiland selber verdankte: hier findet unmittelbare Berührung statt – erkläre man sich diese durch die dem Paulus zuteil gewordene Offenbarung, oder einfach durch seine vielfach bezeugte genaue Kenntnis der wichtigsten Aussprüche Jesu Christi; und hierdurch ward er befähigt, dem vertrauten Worte »Gnade« neues Leben einzuhauchen. Was Jesus in dieser Beziehung gelehrt hat, steht außer Zweifel, berichten doch die früheren Evangelisten das Wort: »Verkauft man nicht zwei Sperlinge um ein Aß? und doch fällt nicht einer von ihnen zur Erde ohne euren Vater. Bei euch aber sind auch die Haare auf dem Kopfe alle gezählt« ( Matth. 10, 29 fg.) – und bringt Johannes Worte wie folgende: »Niemand kann zu mir kommen, außer wenn ihn der Vater, der mich gesandt hat, zieht. ... Niemand kann zu mir kommen, es sei ihm denn vom Vater verliehen« (6, 44, 65). Uns Menschen fällt es meistens schwer, dieser Auffassung der unbedingten Allmacht Gottes zuzustimmen, immer wollen wir wenigstens einige Einschränkungen annehmen, ohne welche uns die Freiheit und mit ihr die Sittlichkeit gefährdet erscheint. Jesus und Paulus wußten es anders. Paulus gibt als entscheidendes Beispiel den Fall Jakob's und seines Bruders Esau, – Kinder des gleichen Elternpaares – deren beider Schicksal vorherverkündigt wurde, »ehe sie noch geboren waren, noch etwas Gutes oder Schlimmes getan hatten, – damit es bleibe bei Gottes freier Wahl, unabhängig von Werken, ganz nach seiner Berufung«, wozu der Apostel hinzufügt: »So kommt es also nicht an auf jemandes Wollen oder Laufen, sondern auf Gottes Erbarmen« ( Röm. 9, 11, 16).

Unsere Menschenvernunft ist eben hier durchaus unzureichend ausgestattet; damit haben wir uns abzufinden. Hat doch Kant gezeigt, daß auch innerhalb dieser Vernunft der Widerstreit zwischen Freiheit und Notwendigkeit einzig durch einen Machtspruch geschlichtet werden kann, der beiden Behauptungen gleichmäßiges und gleichzeitiges Recht aufs Dasein zuspricht, indem, je nach dem Standpunkt der Betrachtung, das eine Mal alle Handlungen der Menschen als lückenlos bedingt, und das heißt als notwendig angenommen werden müssen, das andere Mal die gleichen Handlungen als aus freiem Entschluß hervorgehend erkannt werden. Wir müssen, denke ich, uns für das Gebiet außerhalb der Vernunft ähnlich behelfen, indem wir zwei sich anscheinend widersprechenden Behauptungen gleichen Wahrheitsgehalt zugestehen: der Allmacht Gottes und der freien Wahl des Menschen. Paulus sagt, die Christen seien »zur Freiheit berufen«, ja sogar: »für die Freiheit hat uns Christus befreit« ( Gal. 5, 1 u. 13), womit er wiederum buchstäblich genau mit Jesus übereinstimmt, welcher sprach: »Die Wahrheit wird euch frei machen« ( Joh. 8, 32). Zugrunde liegt der Gedanke, daß erst derjenige Mensch, der Gottes unbedingte Allmacht anerkennt und sich als das Geschöpf seiner Gnade weiß, wirkliche Freiheit besitzt: »Wenn euch der Sohn freimacht, dann werdet ihr wirklich frei sein«, wogegen »wer die Sünde tut, ist der Sünde Knecht« ( Joh. 8, 34 fg.). Wie man sieht, verstehen Jesus und Paulus unter Freiheit nicht einen logisch bestimmbaren Begriff, sondern ein mystisches Erlebnis.


Auch die Vorstellungen der Rechtfertigung und der Erlösung sind einzig mystisch zu verstehen. Ich werde mich hüten, den Theologen in ihren weitläufigen Erörterungen über diese beiden Begriffe zu folgen; je mehr sie sagen, desto weniger versteht man sie; ich meinerseits bescheide mich gern mit Paulus. Dort wo er von der Rechtfertigung spricht, gesteht er: »Sind wir von Sinnen gekommen, so ist es für Gott; sind wir bei Sinnen, so sind wir's für euch, denn unser Wahn ist die Liebe Christi« ... ( 2. Kor. 5, 13). Und, redet er wiederholt vom Letzten Gericht, sogar von »Gottes Zorngericht« ( Röm. 3, 5), – alles im Anschluß an die altägyptischen Vorstellungen eines juristischen Verfahrens, wodurch des Heilandes Verheißung der Erlösung an alle Sünder (vgl. Kap. 3) aufgehoben wäre – so nennt er doch an anderem Ort Jesum »denjenigen, der selbst den Gottlosen rechtfertigt« ( Röm. 4, 5), und sagt von Gott: »Gott ist da zum Rechtfertigen; wer ist da zum Verdammen?« ( Röm. 8, 34). Nicht weniger bleibt die Vorstellung der Erlösung eine rein mystische, von der bloßen Vernunft niemals klar zu erfassende; sobald die Vernunft sie in einen Brennpunkt zu bringen sucht, löst sie sich auf. Auch die Behauptung, der Kreuzestod habe uns die Erlösung gebracht, drückt nur eine bildliche Teilwahrheit aus, denn, wie Paulus sagt, »das Sein in Christus Jesus« ist es, wodurch »uns geworden ist Weisheit von Gott, Gerechtigkeit und Heiligung und Erlösung« ( 1. Kor. 1, 30): nicht sein Tod allein – diese Auffassung führt zu krassem Materialismus – vielmehr sein Erscheinen auf Erden überhaupt ist es, was uns Menschen aus Banden der Tierheit »erlöst«.

Bei einem englischen Theologen finde ich eine Liste von neun verschiedenen Aussagen Pauli über die Bedeutung und den Wert von Christi Tod; je nach Stimmung und Absicht wechselt die Vorstellung. Wohl als die umfassendste und tiefste dürfen wir diejenige bezeichnen, nach welcher dieser Tod in Stellvertretung aller Menschen den Tod überwunden und dem Leben erst Leben verliehen habe: »Einer ist für Alle gestorben, also sind sie Alle gestorben; für Alle gestorben ist er, auf daß die Lebenden nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferweckt ist« ( 2. Kor. 5, 14 fg.).

Wichtig ist es zu wissen, daß die – an alttestamentarische Denkweise anschließende – weitverbreitete Vorstellung eines von Gott zur Sühne geforderten Opfertodes bei Paulus keine Stütze findet. Da hierüber so viel Irrtum herrscht und von unseren Kirchen großgezogen wird, rufe ich einige unserer anerkannt besten Sonderforscher zu Zeugen herbei. Ramsay lehrt: »Die Idee, daß die paulinische Lehre dem Wirken Christi die Bedeutung eines Gott dargebrachten Opfers zuschreibe, nimmt Bilder und Symbole wortwörtlich und muß als tiefer Irrtum bezeichnet werden« ( Teaching of Paul, S. 198). Kaftan, in seinem bekannten Buche Jesus und Paulus (S. 38), bezeugt: »Paulus hat nirgends den Gedanken ausgesprochen, daß der Tod des Christus eine dem göttlichen Zorn oder der göttlichen Gerechtigkeit geleistete Genugtuung sei. Was er wirklich sagt, schließt diesen Gedanken direkt aus. Er kennt nur die Liebe als das Motiv, aus dem Gott seinen Sohn dahingegeben hat. Von einer Bedingung, die vorher erfüllt sein müßte, ehe er vergeben konnte, weiß er (Paulus) nichts. Die ganze Theorie (der Genugtuung) ist seinem Bewußtsein fremd«. Noch berufe ich mich auf Otto Pfleiderer, welcher schreibt: »Die kirchlich statuierte Lehre von der Rechtfertigung des Sünders um des ihm zugerechneten Verdienstes, oder um der fremden Gerechtigkeit Christi willen, muß sonach als eine Entstellung und Verflachung, ebensowohl der reformatorischen wie der paulinischen Lehre bezeichnet werden. ... Nur unter Wahrung der vollen mystisch-ethischen Tiefe des paulinischen Glaubensbegriffs wird auch die paulinische Rechtfertigungslehre richtig verstanden ...« ( Der Paulinismus, 2. Aufl., S. 185).

Paulus selber pflegt, wo er diese letzten Fragen berührt, nicht selten den Ausführungen, in denen er mystische Wahrheiten an das Gemüt mitzuteilen sucht, warnende Worte hinzuzufügen; z. B.: »ich drücke mich nach menschlicher Weise aus wegen der Schwachheit eures Fleisches« ( Röm. 6, 19) oder: »Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk unser Weissagen«, und: »Jetzt sehen wir im Spiegel nur dunkle Umrisse, dereinst aber geht es von Angesicht zu Angesicht« ( 1. Kor. 13, 9 u. 12).

Nichts verdient mehr Bewunderung als die großartige Unbefangenheit, mit welcher Paulus die oft – wie wir gesehen haben – unmittelbar sich widersprechenden Sätze seines Mythos und seiner Mystik nebeneinander aufstellt: dadurch bewährt er sich (um Goethe's Wort über Aristoteles zu entlehnen) als »baumeisterlicher Mann«. Denn er bedurfte beider: des Mythos, um »Schöpfer der Kirchen, die in Christo sind«, zu werden, und der Mystik, um diesen Kirchen einen – freilich oft genug unter dem Mythos verborgen bleibenden – religiösen Gehalt einzuflößen.

 

Hier ziehe ich den Strich und gehe zu dem letzten Abschnitt des Kapitels über, trotzdem ich noch auf ein Allerwichtigstes in bezug auf Mythos und Mystik bei Paulus hinzuweisen habe; ich glaube aber die betreffende Erörterung wird von dem neuen Standpunkt aus eindrucksvoller wirken. Die Hauptfrage nämlich, welche dieses Buches Zweck und Ziel uns in diesem Kapitel zu stellen veranlassen, lautet: Inwiefern können wir Paulus als echten Dolmetscher der ausgesprochenen und der unausgesprochenen Gedanken Jesu Christi betrachten? Inwiefern können wir uns darauf verlassen, daß er uns wirklich zu Jesus hinführt und nicht etwa uns von ihm entfernt?

Nach unseren bis jetzt gewonnenen Ergebnissen wäre es verlockend, den einfachen Satz aufzustellen: in seiner Mystik bewährt sich Paulus als echter Jünger Jesu; dagegen stehen die verschiedenen mythischen Bestandteile seines Gedankengebäudes gänzlich außerhalb dessen, was wir von des Heilandes Religionslehre und Weltanschauung kennen.

Nach den evangelischen Berichten (einschließlich des johanneischen) hat der Heiland zwar viele Gleichnisse gebraucht, doch jeden Mythos vermieden; das sehr wenige, was man allenfalls dahin rechnen könnte, ist teils in bezug auf seine Echtheit verdächtig, teils handelt es sich offenbar um Allegorien, die des leichteren Verständnisses wegen an volksmäßige Vorstellungen anknüpfen. Man könnte allerdings die zwei immer wiederkehrenden Vorstellungen des »Vaters« und seines »Reiches« als einen denkbar vereinfachten, auf rein menschliche Elemente zurückgeführten Mythos auffassen; denn die Häufigkeit und die Eindringlichkeit der Wiederholung dieser beiden Vorstellungen verleiht ihnen einen gewissen Grad von Wirklichkeit, der ihnen, buchstäblich genommen, nicht zukommt. Schon im dritten Kapitel machte ich aufmerksam, was dieses Bild des »Vaters« vermitteln soll (S. 117 fg.); doch muß man sich hüten, die Tragfähigkeit eines derartigen Bildes zu überlasten: wenn z. B. ein wirklicher Vater seinen Kindern Liebe, Fürsorge, Nachsicht angedeihen läßt, so tut er damit nur seine Pflicht – wogegen Gott, indem er uns Menschen das gleiche erweist, damit Gnade übt. Der Unterschied ist ein gewaltiger, und wer hier den zum Herzen sprechenden Vergleich zu einem symbolischen Mythos mit Wirklichkeitsgehalt erheben wollte, würde gerade die Hauptlehre Jesu vernichten. Nein! Jesus, der Mittler, der zweite Adam, der »himmlische Mensch« lebt und webt so ganz schon in der anderen Welt, daß diese unsere Welt ihm nichts mehr bietet, was zu seinem Zweck der Mitteilung genügen würde, und wäre es noch so gewaltig poetisch bearbeitet; alles Derartige könnte ablenken und zerstreuen; darum erwählt er nur einige allgemeinste Naturverhältnisse und stellt sie in ihrer nackten Einfachheit als Bilder für das Unsagbare hin. Dies ist es, was seiner Rede eine Unmittelbarkeit ohnegleichen verleiht: mit fast jedem Satz tritt er aus dem Diesseits in das Jenseits hinüber – und zwar mühelos, als könnte es nicht anders sein. So hat niemals ein Mensch gesprochen, und wenn wir ihm gelauscht haben, empfinden wir schmerzlich bei jedem Anderen die Mühseligkeit und zugleich das Unzureichende.

Zum Erdichten von Mythen, soll ihnen Schönheit und leicht sich fügende Angemessenheit eigen sein, gehört eine besondere und seltene Begabung: die Völker aus vorwiegend arischem Stamme besaßen sie in hohem Grade; den Semiten – vor allem den Juden – war von dieser Gabe wenig zuteil geworden. Das jüdische apokalyptische Schrifttum besitzt nach jeder Richtung hin äußerst geringen Wert: literarisch steht es sehr tief, künstlerisch ist es nichtig, sittlich nicht unbedenklich. Und – wie wir bereits gesehen haben – dieses Schrifttum bildet, nebst einigen anderen kaum minder trüben Quellen, die Hauptquelle für des Apostels mythisches Denken! Wir dürfen mit aller Bestimmtheit behaupten: mag man auch denken, was man will über diesen – von unseren Kirchen über alle Maßen geschätzten – Teil des apostolischen Gebäudes, jedenfalls besteht in dieser Hinsicht kein Zusammenhang, ja nicht einmal eine Berührung zwischen dem Heiland und seinem Apostel.

Hier aber ist der Ort, zu jener vorhin genannten allerwichtigsten Erwägung aufzufordern.

Jesus stand allein auf einsamer Höhe, außerhalb aller Zeit, aller Geschichte, alles Weltentstehens und -vergehens; er brauchte nichts zu begründen und zu beweisen; die Wahrheit, die er verkündete, stand und steht von je auf je. Paulus dagegen überkam das Amt, Jesum selber – den Mittler – zu vermitteln; er hatte die Menschen von Jesu einziger Bedeutung als Mittler zwischen Mensch und Gott zu überzeugen; so dies ihm nur gelang, waren ihm – wie wir ihn vorhin bekennen hörten – alle Mittel willkommen, – mußte doch sicher jeder Weg, der zu Jesu führte, ein gesegneter sein.

Haben wir Jesus selber als außerhalb aller Geschichte zu betrachten, und war nichts für seine Lehren bezeichnender als ihre Außerachtlassung des Zeitbegriffes (S. 102), so bildet nichtsdestoweniger sein Erdendasein das wichtigste aller Ereignisse für die Sittengeschichte der Menschheit: das sehen wir heute leicht ein; zu Pauli Zeiten aber wußte noch kein Mensch etwas davon, und es wäre rein unmöglich gewesen, die Aufmerksamkeit weiter Volksschichten durch die schlichte Darstellung des gleichsam außerhalb aller Zeit sich vollziehenden Erdenwandels und des in hohem Maße aus menschlichen Bedingnissen losgelösten Lehrens Jesu zu wecken und zu fesseln; das Unvergleichliche wäre unerkannt geblieben. Daher war es unerläßlich, die göttliche Gestalt in die Weltgeschichte einzureihen. Die Jünger selbst hatten zu der Vorstellung des von den Juden erwarteten Messias greifen müssen, um sich den unmittelbar erlebten Eindruck zu erklären und ihn zu rechtfertigen. Paulus fand sich als Jude, der sich auch vor Juden zu rechtfertigen hatte, auf die gleiche Überzeugung angewiesen; nur baute er sie weiter aus, indem er die apokalyptische Deutung des Messias weit stärker als die Evangelisten betonte und über diese noch hinausging. Der alleinige Begriff eines Messias der Juden hätte aber auf Hellenen, Römer und orientalische Mischvölker wenig Eindruck gemacht – waren doch die Juden allgemein verachtet; so wandte denn Paulus alle Kraft auf die Erhebung dieser Messiasvorstellung zu einer nicht mehr nationalen, sondern kosmischen an. Hierbei bot ihm die ihm vertraute griechische Gnosis (geheime Weltwissenschaft) die Vorstellung einer ganzen Stufenleiter von Zwischenwesen, zwischen Gott und der Welt – Zwischenwesen, deren er häufig Erwähnung tut als von Herren, Herrschaften, Mächten, Geisterwesen usw. – und an deren Spitze er jetzt Jesum Christum stellte. Gerade mit solchen Zügen, die einen heutigen unbefangenen Menschen ungeheuerlich anmuten, traf er auf Vorstellungen, die seinen Zuhörern vertraut und insofern willkommen waren; nicht etwa als hätte kluge Berechnung ihn bestimmt, vielmehr leitete ihn mit unfehlbarer Sicherheit sein genialer Instinkt im Bunde mit dem zwingenden Willen, die Menschen zu Christo hinzuleiten.

Den Nichtjuden ging jedoch Paulus noch weiter entgegen; denn er entlehnte ihnen nicht allein so viele wesentliche Züge seines Mythos, sondern außerdem noch das äußere Gerüst für seine innere Religion – das, was man den Mythos seiner Mystik nennen könnte. Es darf jetzt als endgültig erwiesen betrachtet werden, daß Paulus mit den seit früher Jugend ihn umgebenden hellenistischen Mysterienreligionen vertraut war: zum Beweise würde schon allein die große Zahl eigenartiger Wörter genügen, welche in seinen Briefen vorkommen und welche früher Sprachforschern und Theologen Mühe machten, von welchen aber jetzt feststeht, daß sie samt und sonders wohlbekannte technische Ausdrücke aus dem gemeinsamen Sprachschatz der verschiedenen Mysterienreligionen waren. Ohne mich auf Einzelheiten einzulassen und indem ich für diese auf die oben schon oft angeführten Arbeiten von Reitzenstein und anderen verweise, begnüge ich mich damit, die vier Grundsäulen der inneren Religion Pauli zu nennen – Glauben, Gnade, Wiedergeburt, Erlösung: alle vier sind als Begriffe und als Wörter jenen Religionen entnommen. Man versteht jetzt, was den Abbé Loisy zu der in ihrer Kürze überkühnen Behauptung veranlaßt: »Wenn es Paulus gelingt, sich bei den Heiden Gehör zu verschaffen, so verdankt er's dem Umstand, daß er das Heil, das er ihnen predigt, nach Art der Heiden darstellt« ( Revue d'histoire et de littérature religieuse, Bd. 3, 1912, S. 573). In diesen Worten liegt Wahrheit, wenn nur nicht übersehen wird, daß der Heidenapostel diesen schon vorhandenen urarischen Begriffen neues Leben einhauchte und damit aus dem Alten doch ein Neues schuf. Dieses Neue verdankte er Jesu Christo allein: denn nun auf einmal stand an Stelle blasser Ahnungen und Hoffnungen die Tatsache des Erdenlebens, des Todes und des Wiederauferstehens Jesu von Nazareth, des Mittlers zwischen Mensch und Gott.

Mit nie ermüdender Spannkraft schreit Paulus diese Tatsache in die Welt hinaus und überzeugt die Menschen dadurch, daß er diese neue Tatsache in Vorstellungen einzufügen weiß, die ihnen bereits vertraut sind. Diesem genialen Wirken verdanken wir nicht allein »die Kirchen, die in Christo sind«, sondern – was mehr zu bedeuten hat – ihm verdanken wir letzten Endes den Himmelsschatz: die Evangelien! Das wird der Leser jetzt besser als in dem früheren Abschnitt dieses Kapitels verstehen. Wäre Paulus selber des Heilandes Jünger gewesen, er hätte zu dem Amt des Heidenapostels nicht getaugt; die Vorsehung hat diese Gefahr abgewendet und ihm dadurch die nötige äußere Ferne, im Bunde mit der unstillbaren inneren Sehnsucht, verliehen. Die unmittelbare Nähe Jesu von Nazareth hätte bei einem Manne von so leidenschaftlicher Aufnahmefähigkeit jeden Gedanken an Apokalyptik und an Mysterienmythen für immer unmöglich gemacht; so dagegen ward ihm Jesus Christus gleichsam zu einer platonischen Idee, zu einer Gedankengestalt, was den großen Vorzug bot, die Augen der Menschen in erster Reihe hinauf in die Höhe zu richten und ihre Herzen von der Einzigkeit und von der Weltbedeutung der Erscheinung zu überzeugen: »Ja so ist es – Gott war es, der in Christus die Welt mit sich selber versöhnte« ( 2. Kor. 5, 19). Auf diese Weise weckte Paulus, wie schon oben bemerkt, die Sehnsucht nach dem geheimnisvoll entstandenen, verborgen liegenden Meisterwerke, das dann durch verschiedene Hände vor dem Untergang gerettet wurde; und bald konnte Lukas berichten: »Schon haben manche versucht, eine Erzählung von den bei uns beglaubigten Begebenheiten zu verfassen, so wie es uns die ursprünglichen Augenzeugen und Diener des Wortes überliefert haben« (1, 1 fg.). Das Gesagte gilt von den drei ersten Evangelien; mit dem vierten Evangelium jedoch steht Paulus in noch engerer Beziehung: alle Theologen stimmen in dem Urteil überein, das Evangelium des Johannes sei ohne Paulus undenkbar. Ebenso wie manches darin sich auf die drei vorangegangenen Evangelien bezieht, sei es um sie zu ergänzen oder sie zu berichtigen, ebenso steht das ganze Gedankengewebe des einzigen Werkes überall in Beziehung zu Pauli Wirken und Lehren, indem dieser – um sein eigenes Wort anzuwenden – dem Johannes als »Schrittmacher« gedient hat. E.F. Scott, ein Sonderforscher auf diesem Gebiet, urteilt: »Das vierte Evangelium ist auf den Grundlagen auferbaut, die Paulus gelegt hatte« ( Fourth Gospel, S. 51). Nichtsdestoweniger weicht Johannes in wesentlichen Punkten so stark ab von Paulus, daß seine Ausführungen den Wert grundsätzlicher Berichtigungen gewinnen – kostbare Berichtigungen, die auf der genauen Kenntnis von des Heilandes eigenen Lehren beruhen. Ich will nur zwei nennen: die Auffassung der Sünde und diejenige des Todes. In dem Kapitel über den Heiland wurden wir auf die geringe Betonung der Sünde von seiten Jesu aufmerksam; im Gegensatz hierzu darf man behaupten, in der Religion Pauli – sowie, ihm nachfolgend, in der Religion aller unserer Kirchen – bilde die Sünde den Angelpunkt der ganzen Lehre. Johannes dagegen kehrt zu der reinen Lehre Jesu zurück, wonach es auf die Umwandelung des Menschen aus einem niedrigen in ein höherstehendes Wesen ankommt, bei welcher Umwandelung alles, was wir Menschen »Sünde« nennen, von unseren Schultern herabgleitet. Desgleichen kommt bei Paulus dem Tode eine besondere Bedeutung zu – bei dem Menschen als der Sünde Lohn, bei Jesu als Versöhnungstat, wohingegen Johannes, von seinem Meister belehrt, den Leibestod einfach als eine Erscheinung des Leibeslebens betrachtet und stets unter den Worten »Leben« und »Tod« das Sein-mit-Gott und das Sein-ohne-Gott versteht: »Wahrlich ich sage euch, wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist vom Tode ins Leben gelangt« ( Joh. 5, 24). Kurz, Religion ist für Johannes wie für Jesus nicht Geschichte, sondern Gegenwart.

Das Große an Paulus, das Entscheidende, das Weltbewegende bildet die Art, wie er aus sämtlichen Geistesgebieten aufrafft, was nur geeignet ist, das Menschengemüt zu beeindrucken, und jedes in Beziehung zu der Person Jesu Christi bringt, gleichsam alles Licht der Welt in ihm, wie in einem Brennpunkt zusammenfassend. »Für Christus also werben wir, als ob Gott bäte durch uns« ( 2. Kor. 5, 20): in diesem Werben liegt das Verdienst und zugleich die Kraft des einzigen Mannes. Sein Mythos mag als Dauergebäude manche Bedenklichkeit erregen – namentlich wo Zwangsglaubenssätze daraus geschmiedet werden; seine Mystik mag in mancher Beziehung andere Bahnen – mehr grüblerische, dunkel-philosophische – als die kindlich-helle, lächelnd-selbstgewisse Mystik des Heilandes einschlagen: dem allen kommt in diesem Falle untergeordneter Wert zu; denn Paulus erkennt »das Einzige, was nottut«, nämlich, die Menschen zu Jesu hinzuführen: »auf daß Christus wohne durch den Glauben in euren Herzen, und daß ihr seid in Liebe gewurzelt und gegründet, damit ihr in vollen Stand kommt, zu fassen mit allen Heiligen (d.h. mit allen Christen), welches da sei die Breite, die Länge, die Tiefe, die Höhe, und zu erkennen die alle Erkenntnis übersteigende Liebe Christi, damit ihr erfüllet werdet zur ganzen Gottesfülle« ( Eph. 3, 17 fg.).

 


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