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II.

Der Mittler

Es besteht ein unüberwindbarer Gegensatz zwischen Gott und Mensch; ohne Mittler ist keine Beziehung zwischen beiden möglich.

( Pascal)

Im vorigen Kapitel habe ich versucht, begreiflich zu machen, auf welche Weise die Gedankengestalt Gott überhaupt entsteht: an den verschiedensten Orten der Erde, zu den verschiedensten Zeiten ist sie entstanden und wird immer wieder in dem Bewußtsein genialer Einzelmenschen aus der geschilderten Denknotwendigkeit von neuem geboren werden und von dort aus in die Hirne der Minderbegabten gelangen. Es ist dies die rein natürliche, durch keine Phantastik, durch kein Wollen, durch keine geschichtliche Erfahrung getrübte Gedankengestalt Gottes, die als lebendiger Quellpunkt fort und fort in den Tiefen unseres Gemütes durchbricht. In ihrer Reinheit können wir sie selten nachweisen, weil fast sofort das buntere Leben von Bewußtseinsschichten, die der Oberfläche näher liegen, sie überwächst und überwuchert: Furcht und Hoffnung, maßlose Wünsche, durch schreckenvolle Naturereignisse verursachte Seelenerschütterung, namentlich die Erfahrung des Todes, die Wiederkehr der Gestorbenen im Traume und der daraus entstehende Geisterglaube, allerhand phantastischer Zauberspuk – später dann der offenere Blick hinaus auf die Natur und die daraus sich ergebende mythologische Gestaltenfülle, oder bei mehr materialistisch angelegten Völkern die Verklärung ihrer Geschichtserinnerungen zu gottgewollten Fabeln, bei anderen wieder der Hochflug des Denkens und die Inbrunst sittlichen Bestrebens, schließlich – und leider hauptsächlich – der maßlose Ehrgeiz eines notwendig zu Heuchelei und Betrug neigenden berufsmäßigen Priestertums: alle diese dem Menschen angeborenen Triebe, Richtungen, Leidenschaften – weise und törichte, heilbringende und verderbende – bemächtigen sich der Gedankengestalt Gott, um sie in tausendfachen Umbildungen ihren Zielen dienstbar zu machen.

In den mir bekannten Geschichten der Religion findet man über die genannten Verhältnisse kein Wort, wodurch diese Werke für die Frage nach dem Gehalt an Religion bei den verschiedenen Kulten arge Einbuße erleiden; denn für die Erkenntnis des religiösen Wertes eines Glaubenssystems besitzt die Schilderung von Glaubenssätzen, Zeremonien, ewig wechselnden Mythen usw. verhältnismäßig geringe, hingegen die Kraft und Fülle des unsichtbar fließenden inneren Stromes die allerhöchste Bedeutung. Eine sehr bunte »Religion« kann (wie das bei den Iranern der Fall war) einen starken Glauben an den unaussprechlichen Gott bergen, oder aber dieser kann (wie bei den Altägyptern) unter der Fülle der äußerlichen Momente – der materialistischen Vorstellungen, des Überwucherns der Magie, der weltlichen Beweggründe – in den Massen ganz hinschwinden und nur noch in dem Herzen Einzelner eine Kraft bilden. Ebenso können einfacher gestaltete Kulte aus Armut an Gottesempfindung oder aus Reichtum an Gottesempfindung einfach sein. In den Tiefen des Gemütes fließt eben die Religion: nur dort kann sie erforscht werden; es handelt sich, wie wir sahen (S. 27), um »den emporstrebenden Willen des Menschen«: je bedeutender der Mensch, umso mächtiger strebt sein Wille empor, und umso mächtiger erschallt in seinem Herzen die Stimme des unerkennbaren höchsten guten Wesens. Daher Goethe's Wort: »Gott, wenn wir hochstehen, ist Alles; stehen wir niedrig, so ist er ein Supplement unserer Armseligkeit« (Max. u. Refl. 813). Vielleicht wirft man mir ein, gerade Goethe habe Gott nicht im eigenen Innern, sondern draußen in der Natur erblickt, und erinnert an den Spott seines Ephesischen Goldschmiedes:

Als gäb's einen Gott so im Gehirn
Da! hinter des Menschen alberner Stirn,
Der sei viel herrlicher als das Wesen,
An dem wir die Breite der Gottheit lesen.

Doch bringt der brave Goldschmied keineswegs des Dichters Verhältnis zur Gottheit erschöpfend zum Ausdruck; zum Beweise genügen die vorher angeführten Worte, aus denen hervorgeht, daß Goethe den Zusammenhang zwischen den sich gegenseitig bedingenden Gedankengestalten Mensch und Gott kennt, und weiß, daß die eine zur anderen in genauester Wechselwirkung (Korrelation) steht. Freilich redet Goethe verhältnismäßig selten und meist in geheimnisvollen Worten von dieser reinen Gottesvorstellung; das liegt aber in der Natur der Sache; von einem Wesen, das nur durch »neti, neti« bezeichnet werden kann, ist nicht gut reden. Selbst der Gottesmann Martin Luther gesteht: »Ja! wer weiß, was ist, das Gott heißt? Es ist über Leib, über Geist, über alles, was man sagen, hören und denken kann« (Wider die Schwarmgeister). Nichtsdestoweniger würde ich mich anheischig machen, aus fast jedem Lebensjahre Goethe's Äußerungen nachzuweisen, die für das nie versiegende Bewußtsein des im Inneren empfundenen Gottes zeugen. Ein Brief aus dem fünfundzwanzigsten Lebensjahre (15. 4. 75) bringt z.B. die Worte: »das liebe Ding, das sie Gott heißen, oder wie's heißt, sorgt doch sehr für mich« (wobei zu beachten ist, daß Goethe das Wort Gott, wie im Altnordischen, als Neutrum nimmt). Mit fünfundsechzig Jahren unterscheidet er zwischen den »besonderen Religionen«, die es »schwer scheint aus dem Inneren des Menschen zu entwickeln«, und der »natürlichen Religion«, von der »wir annehmen, daß sie früher in dem menschlichen Gemüte entsprungen«; von letzterer sagt er: »zu ihr gehört viel Zartheit der Gesinnung«. Wenn Goethe als der große Seher Gottes in der Natur bezeichnet werden kann, so gewinnt er diese Fähigkeit gerade aus seinem innigen Glauben an den »Gott im Inneren«. Wir lernten von Pascal, daß einzig, wer sich Gottes in der Seele bewußt ist, ihn draußen in der Natur erblicke (S. 22), und eben hörten wir Goethe's: »Gott, wenn wir hochstehen, ist Alles«. Darum ist es nicht paradox, wenn ich behaupte: in diesem gewaltigen Intellekt ist es der Gott im Inneren, der den Gott draußen in der Natur erkennt. Soviel nur zur zusammenfassenden und ergänzenden Wiederholung der im ersten Kapitel gewonnenen Ergebnisse.


Zu den Gedankengestalten Mensch und Gott pflegt sich mit fast gleicher Naturnotwendigkeit eine dritte zu gesellen, die freilich schon auf der Grenze des dichtenden Mythos steht und diese Grenze wohl immer bald überschreitet, die aber eine kurze Betrachtung in ihrer ursprünglichen Reinheit verdient, da sowohl Mythos wie Geschichte aus der klaren Erfassung des einfachen Grundgedankens verständlicher werden: ich rede von der Vorstellung eines Mittlers zwischen Mensch und Gott.

Diese Idee eines Mittlers, oder, wenn nicht eines tatsächlichen Mittlers, dann wenigstens irgendeiner vermittelnden Handlung, ist über die Welt weit verbreitet. Werden wir uns erst unserer Vorstellung Mensch als die eines einzigartigen kosmischen Phänomens bewußt, so wächst die Kraft des »emporstrebenden Willens« mehr und mehr: Gott wird immer dringender benötigt, weicht aber, je stürmischer unser Wille die Hände nach ihm ausstreckt, immer weiter zurück: auch dies muß als eine naturnotwendige Tatsache unseres Gemütes erkannt werden, die uns aus anderen überquer entstehenden Ideen – wie Freiheit und Notwendigkeit – bereits vertraut ist. Da nun gebiert die Sehnsucht die Vorstellung eines zwischen Gott und Mensch vermittelnden Wesens: sei es, daß ein menschengeartetes sich bis zur Gottheit aufschwinge, uns Anderen die Wege dorthin bahnend; sei es, daß das »höchste gute Wesen, der Vater im Himmel« sich in Liebe herabneige und – auf irgend eine, vom Verstande nie auszudenkende Weise – uns von seinem Wesen Etwas mitteilt – uns dadurch zu sich emporhebend. Beiden Vorstellungen – dem gottgewordenen Menschen und dem menschgewordenen Gotte – begegnen wir auf allen Seiten; im Grunde genommen gleichen sie einander vollkommen und bedeuten die zwei möglichen Arten, den selben Gedanken des Mittlers auszugestalten. Inmitten der bunten, unausdenkbaren, phantastischen, oft an Wahnsinn grenzenden Fülle, aus welcher unsere »Religionen« gewoben sind, bildet der Gedanke – besser gesagt die Gedankengestalt – des Mittlers den eigentlich und wahrhaft religiösen Kern, neben welchem alles übrige nur als Beiwerk gelten muß –, als ein mehr oder minder zufälliges Beiwerk, zeitlich bedingt und zum Teil rein willkürlich, oft sogar unmittelbar unreligiös, wenn nicht gar antireligiös.

Wir tun folglich gut daran, drei Gedankengestalten deutlich ins Auge zu fassen: der »gottwärts schauende Mensch« (wie der alte Chaucer sich ausdrückt), d.h. derjenige Mensch, der sich bewußt ist, mit seinem Wesen über die Erscheinungswelt hinauszureichen – der Gott, dessen Gegenwart er ahnt und dessen Beistand er erlebt –, dazu eine zwischen diesen beiden vermittelnde Kraft: diese drei Gedankengestalten bilden den Inhalt aller Religion.

Da ich nicht für Gelehrte zu schreiben beabsichtige, noch dazu befugt bin, sondern nur Leser im Sinne habe, welche für die Förderung ihrer eigenen Seele Klarheit suchen, wie ich sie für die meinige gesucht habe, so will ich nicht aus ethnographischen, anthropologischen und religionsgeschichtlichen Werken umständliches Material zusammentragen, sondern begnüge mich damit, die Ergebnisse meines Suchens, Denkens und Erlebens durch einzelne Beispiele kurz zu verdeutlichen – mehr nicht. Kant's Wort über das Dasein Gottes, es sei »durchaus nötig, daß man sich davon überzeuge, nicht aber ebenso nötig, daß man es demonstriere« ( Einziger Beweggrund), gilt auf diesem ganzen Gebiete: sobald von Dingen die Rede ist, die – zum Teil oder ganz – eine Welt jenseits der Welt der Erscheinung betreffen, kann man niemals beweisen, bestenfalls überzeugen: möchte mir das bei Einigen gelingen!

 

Wie oben schon bemerkt, ist das zwischen Mensch und Gott Vermittelnde nicht immer eine Persönlichkeit, vielmehr scheint diese Auffassung des Vermittlers einer vergleichsmäßig höheren Kulturstufe zu entspringen. Weitaus größere Verbreitung – fast über alle Weltteile und Zeiten – besitzt die Vorstellung einer auf stofflichem Wege zu bewirkenden Vermittelung der erstrebten näheren Gemeinsamkeit des Menschen mit der Gottheit. Keine Leistung der letzten fünfzig Jahre auf religionsgeschichtlichem Gebiete besitzt größere Tragweite und führt tiefer in die Geheimnisse der Menschenseele ein als die Entdeckung des ursprünglichen Wesens des Opfergedankens durch W. Robertson Smith, fußend auf den Arbeiten von Mannhardt und bald weiter verfolgt von Hubert, Mauß, Frazer und anderen, die zwar manches berichtigten und aufklärten, aber jene Entdeckung selbst in allen wesentlichen Punkten bestätigten. Dem Opfer liegt nicht – wie man es uns gelehrt hatte und wie wir es aus der Bibel und aus Homer zu entnehmen glaubten – die Vorstellung einer der Gottheit dargebrachten Gabe oder Abgabe zugrunde, sondern vielmehr der ungleich tiefere Gedanke von der Bedeutung der Blutsgemeinschaft als eines bindenden und verbindenden Mittels zwischen den Lebewesen. Alle noch so urtümlichen Völker achten die Blutsbrüderschaft; durch sie wird eine wahre Verwandtschaft mit ihren Pflichten und Rechten begründet: daher als Ziel die Herbeiführung einer blutsbrüderschaftlichen Verwandtschaft zwischen Mensch und Gott. Schon aber die Tatsache des gemeinsamen Genusses der gleichen Speise stiftet eine zwar zeitlich beschränkte, doch wirkliche Blutsbrüderschaft: woraus sich die uralte Bedeutung gemeinsamer Mahlzeiten herleitet. Um nun dem unnahbaren Gotte auf ähnliche Weise beizukommen, ihm verwandt zu werden oder etwa verkümmerte Beziehungen neu aufzufrischen und ein Recht auf göttlichen Beistand zu gewinnen, wird – sagen wir als Beispiel – ein dem Gott und darum auch dem Menschen heiliges Tier – ein sonst unbedingt unantastbares – unter allerhand Feierlichkeiten erst geweiht, dann geschlachtet, ein Teil durch Verbrennung oder auf andere Weise der Gottheit zum Genusse dargereicht, das übrige von den Opfernden selbst verspeist. Durch diesen gemeinsamen Genuß der gleichen Speise entsteht die rechtsverbindliche verwandtschaftliche Beziehung der Opfernden zu der Gottheit. »Keineswegs handelt es sich um die Zahlung eines Tributs, vielmehr um die Stiftung genossenschaftlicher Beziehungen zwischen der Gottheit und ihren Anbetern«, sagt Robertson Smith ( Religion of the Semites, Vortrag 6). »Das Tieropfer hat in alten Zeiten nie die Bedeutung einer Gabe an die Gottheit getragen, vielmehr handelte es sich um die Schaffung einer Gemeinsamkeit zwischen den Menschen und ihrem Gott durch das zwischen beide verteilte Leben des Geopferten« (daselbst, Vortrag 10). Von dem fehlerlos ausgeführten Opfer bezeugen Hubert und Mauß: Es bewirkt »die absolute Identifizierung des Opferbringenden, des Geopferten und des Gottes« ( Le Sacrifice, enthalten in Mélanges d'histoire des religions, 1909, S. 73).

Ich überspringe die tausendfachen Umwandlungen und die unerschöpflichen Verwickelungen, welche die menschliche Phantasie sowie die Habgier der Berufspriester erfand: es genügt mir, den zugrunde liegenden Gedanken herausgeschält zu haben.

Auf diesem Wege mußte es zum Menschenopfer kommen. Den urtümlichen Menschen, welche sich kaum von den Tieren zu unterscheiden wußten, mit denen sie in nahen verwandtschaftlichen Beziehungen zu stehen glaubten und von denen darum immer einzelne Geschlechter als unantastbar galten, fiel es nicht schwer, Tiere zu finden, genügend heilig für den hohen Zweck; in Indien z. B. griff man für die feierlichsten Opfertaten zum edlen Pferd; auch in Griechenland kam es vor, daß man schneeweiße Pferde zu Opfertieren verwendete. Je mehr der Mensch sich seiner Menschenwürde bewußt wurde, um so fühlbarer mußte sich jedoch das Bedürfnis nach einer höher gearteten Vermittelung aufdrängen: welch andere Wahl blieb denn da übrig als die des gottverwandten Menschen selber? Wo man sich scheute, diesen tatsächlich zu töten, griff man zu Finten und Vermummungen: in gewissen Fällen wurde der betreffende Jüngling im letzten Augenblick durch ein stellvertretendes Tier ersetzt; bei einem griechischen Opferfest wurde das Opferkalb, damit es für einen Menschen gelte, in einen Mantel gehüllt und auf Kothurne gestellt, usw. Hierbei blieb die stets rege aufbauende Erfindungsgabe des Menschen nicht stehen, vielmehr war es bald der Gott selber, der geopfert wurde!

Man muß nämlich folgendes wissen. Bei allen Opfern wurde das zu opfernde Wesen (gleichviel ob Tier oder Pflanze) von Hause aus als besonders heilig und auserwählt betrachtet; außerdem geschah das Erdenkliche, diese Eigenschaft möglichst zu steigern, so daß Robertson Smith den Vergleich mit einem elektrischen Akkumulator heranzieht, um begreiflich zu machen, in welchem Grade das Opfer in dem Augenblick vor seinem Tod von Heiligkeit strotzt und strahlt. Deswegen gilt auch der den tödlichen Streich Führende als Mörder und muß sich besonderen Reinigungen unterwerfen; es gab Fälle, in denen er schnell fliehen mußte, andere, in denen man Verbrecher zu diesem Amte anstellte und sie dann wirklich hinrichtete; in Griechenland beliebte man eine Scheingerichtssitzung, bei der schließlich das Messer verurteilt und ins Wasser geworfen wurde. Wer diese Tatsachen kennt, wird leicht begreifen, daß, sobald der Mensch selber das Opfer war, er hierdurch allein schon fast bis zu der Würde eines Gottes emporwuchs. Ein Schritt weiter, und es war der Gott in eigener Person; selbst die Hellenen, deren große Dichter so scharf zwischen Gott und Mensch zu unterscheiden gewußt hatten, bequemten sich leicht zu der Vorstellung von der Verkörperung (Inkarnation) eines Gottes in einem Menschen (O. Gruppe: Griech. Myth. u. Relig.-Gesch., § 307; und siehe für »die Verspeisung der Gottheit«, § 257). Bekannt ist das Beispiel des alten Mexiko, wo alljährlich ein schöner Jüngling als Verkörperung der Gottheit auf Erden auserwählt und eine Zeitlang mit allen einem Gott zukommenden Ehrungsbezeugungen behandelt wurde, um zuletzt unter großen Feierlichkeiten zum Heil Aller geopfert zu werden; Prescott hat in seinem Conquest of Mexico diesen Vorgang meisterhaft geschildert. Seitdem hat man ähnliches vieler Orten aufgedeckt, so daß Frazer einen ganzen Band dem Sterbenden Gott hat widmen können. »In dieser Auffassung des Geopferten als einer göttlichen Persönlichkeit erreicht die Idee des Opfers ihren höchstmöglichen Ausdruck. Unter dieser Gestalt ist sie in die verbreitetsten Religionen der Menschheit eingedrungen und hat dort Glaubenssätze und Religionsgebräuche hervorgebracht, die noch heute leben« (Hubert und Mauß, S. 103).

Einen weiten Weg hat, wie man sieht, der Opfergedanke zurückgelegt, von Anfängen an, die uns Heutigen fast unbegreiflich, kindisch-phantastisch dünken, bis zu Vorstellungen, denen man eine schauerliche Erhabenheit nicht absprechen kann.

Wer hierbei länger verweilt, wird viel lernen über die angeborenen Eigentümlichkeiten des Menschengemütes, namentlich über das beharrliche Kleben am Stoffe, auch bei kühnem Seelenflug und zartgewobenen Gedanken. Hochstehende Männer – Männer, denen das Bekenntnis gemeinsam war: »Gott ist Geist« ( Joh. 4, 24) – konnten auf die Dauer bei diesen Vorstellungen von dem vermittelnden Opfer kein Genüge finden: der Mittler zwischen Geist und Geist – es war nicht anders möglich – mußte ebenfalls Geist sein, sein Wirken ein Geistiges, und das heißt, ein Wirken, nicht auf den Körper, sondern auf Geist und Gemüt, also durch Wort und Tat.

 

So wären wir wieder bei dem Mittler angelangt, der entweder ein göttlicher Bote ist – vielleicht Gott selber, der sich zu uns Irdischen herabsenkt, und zwar, damit er sich uns verständlich mache, in menschlicher Gestalt – oder ein Mensch, welcher dank hoher und heiliger Gaben bis nahe an das von uns geahnte höhere Wesen heranreicht. Beide Vorstellungen vom Mittler treffen wir in ihrer Reinigkeit bei den arischen Indern an. Nach der Lehre der sogenannten Avataras oder göttlichen Reinkarnationen (von ava-tar, herab-steigen) verkörpert sich der Eingott von Zeit zu Zeit und betritt in Menschengestalt die Welt, um hier der Überhandnahme des Schlechten ein Ziel zu setzen und der unterdrückten Tugend aufzuhelfen. In jener einzigen Dichtung, der Bhagavadgita, spricht der auf Erden unter dem Namen Krishna wandelnde Gott zu dem Helden Arjuna, den er zu Todesverachtung und hohem Sinn anleitet und anfeuert:

Wie Ermatten des Rechts anhebt jedesmal hier, o Bharatas,
Und Erstehen des Unrechtes, so mich erschaff' ich wiederum.
Zu der Schutzwehr der Frommsinnigen, zu der Gottlosen Untergang,
Zu des ewigen Rechts Fest'gung ersteh' ich neu von Zeit zu Zeit Gesang 4, Doppelvers 7,8, nach der Übersetzung von Wilhelm von Humboldt in seiner wundervollen Arbeit über die Bhagavadgita, Werke 5, 208. Da das Verständnis der beiden ersten Verse dem unvorbereiteten Leser vielleicht schwer fällt, füge ich hier Garbe's Prosaübersetzung hinzu: »Denn jedesmal wenn das Recht im Abnehmen ist, o Nachkomme des Bharata, und das Unrecht im Zunehmen, dann erschaffe ich mich selbst (als Menschen). Zum Schutze der Guten und zur Vernichtung der Bösen, um das Recht zu befestigen werde ich in jedem Menschenalter geboren.«.

Eine Anzahl anderer Verkörperungen des Gottes auf Erden sind dem indischen Denken und Dichten geläufig, wobei wohl zu bemerken ist, daß es sich nicht wie in der griechischen Mythologie um Götter handelt, die zur Förderung ihrer gegenseitigen Ränke zeitweilig auf die Erde herabsteigen und sich in die menschlichen Ereignisse einmischen, sondern stets um den Eingott, der, als sittliche Allgewalt gedacht, den Tugendhaften zur Hilfe eilt gegen die Übermacht der Bösen. Die andere Auffassung des Mittlers tritt uns ebenfalls nirgends auf der Welt so unzweideutig klar entgegen wie bei diesen selben Indern: ein Mensch, an dessen historischem Dasein nach den neuesten Forschungen nicht gezweifelt werden kann, ein Fürst in der Blüte der Jugend und des Wohlergehens, verläßt Thron, Gattin und Kinder, um als Bettler die Heimat zu durchwandern und die Menschen von der Welt mit ihren Sorgen und lügnerischen Verheißungen loszulösen und sie gottwärts zu führen: ein scheinbar wahnsinniges Beginnen, das aber für viele hundert Millionen der Ausgangspunkt zu einem höheren Religionsleben wurde. Hier wird man mir einwerfen, Buddha habe überhaupt an keinen Gott geglaubt. Doch liegt die Sache nicht so einfach; sie läßt sich ohne einige Kenntnis der Abgrundtiefe indischen Denkens nicht klarmachen. Man beachte, daß Buddha selber den Glauben an eine personifizierte Macht des Bösen – also an ein höchstes schlechtes Wesen – Mara, den Fürsten des Todes, hegt: wie der Schatten das Dasein des Lichtes unwiderleglich beweist, ebenso zeugt dieser Satan für das Dasein eines höchsten guten Wesens. Das findet weitere Bestätigung durch folgende Tatsache: ein Mönch, der gelehrt hatte, derjenige Mensch, der ohne Sünden sterbe, falle der endgültigen Vernichtung anheim und befinde sich (wie die Inder sich ausdrücken) »weder diesseits noch jenseits des Todes«, wurde als Ketzer zurechtgewiesen. (Oldenberg: Buddha, 2. Aufl., S. 303.) Über das Jenseits läßt sich eben für den tiefer Denkenden mit dem Verstande nichts aussagen; dort herrscht das »neti, neti«, welches wir früher in bezug auf Gott kennen lernten (S. 28); da auch Zeit und Raum dort nicht mehr gelten, so »verlischt« (Nirvana) die gesamte Welt der Erscheinung – womit aber keineswegs gesagt wird, es tue sich nicht eine andere Welt auf. Bei jeder Bewegung kann man zwei entgegengesetzte Punkte unterscheiden: von dem einen entfernt man sich, auf den anderen strebt man zu; bei dem »emporstrebenden Willen des Menschen auf Gott zu«, fesselt der erstere – nämlich der Punkt, von dem man sich entfernt (der Mensch) – fast allein Buddha's Blick, der zweite (Gott) schwebt ihm in nebelhafter Ferne. Die Würde des Menschen steht ihm so hoch – und das ist echt arisch an seiner Auffassung – daß ihm an unserem Erdenleben alles armselig-unzureichend erscheint. Seine ganze Überredungsgewalt widmet er dem einen Ziele, die durch Scheingüter betörten Menschen hiervon zu überzeugen, damit sie allem Irdischen entschlossen und endgültig den Rücken kehren. Sobald die neue Richtung eingeschlagen ist, führt sie unausweichlich den neuen Weg; dies genügt, und Buddha verschmäht es, über die bejahende Seite seines Vorhabens Worte zu machen – Worte, die doch nur bildlich und daher auch sinnlich ausfallen könnten, da jedes Bild an bekannte Erscheinungen anknüpfen muß. Solche Enthaltsamkeit – man denke nur als Gegenbild an das Paradies der Mohammedaner – zeugt von Größe und Reinheit.

In diesen beiden Idealen des Mittlers (Gottmensch und Menschgott) erblicken wir eine bemerkenswerte Verbindung von Tiefsinn und Kindlichkeit. Alle die Überlieferungen, in denen der verkörperte Gott auf Erden auftritt, gehören zu dem Erhabensten, was die menschliche Dichtung besitzt; dagegen wirkt es fast verwirrend, wenn man sieht, wie wenig der Allmächtige mit allen seinen Bemühungen ausrichtet; die Menschen bleiben unverbesserlich, und der Gott muß immer von neuem zur Erde herab. Bei Buddha wiederum wirkt sein Leben – die in die Tat umgesetzte Abwendung von der Welt – unbedingt großartig und bildet fraglos die Quelle seiner ungeheuren Wirkung; dagegen liegt Naivität in der Beschränkung des Denkens auf die eine gerade, folgerichtige Linie, welche mit Notwendigkeit ins Leere mündet. Immerhin bleibt es auch für uns Heutige von entscheidendem Werte, diese beiden in ihrer Einfachheit reinsten Vorstellungen des Mittlers zu besitzen, welche sich so gründlich abheben von denen, die uns Europäer seit Kindheit umgeben.

 

Durch die hellenisch-römische Grundlage unserer gesamten Kultur und dadurch zugleich unserer Bildung und unserer Vorstellungswelt ist uns eine unentwirrbar bunte Menge von Mittelwesen zwischen Mensch und Gott überliefert worden – von olympischen »Göttern« an, die eigentlich bewußt erdichtete Vertreter des im Hintergrund waltenden namenlosen »höchsten Wesens« sind, bis zu vergötterten Volkshelden, zu syrischen Naturdämonen, persischen Engeln, ägyptischen »Todesgöttern«, spätplatonischen Demiurgen, Äonen usw. usw. Es kann nicht zu den Aufgaben des vorliegenden Buches gehören, in diese undurchdringliche Masse hineinzuleuchten; vielmehr begnüge ich mich, einiges Wenige über ein paar Gestalten zu sagen, in denen man deutliche Spuren der Gedankengestalt eines Mittlers wahrnimmt und an deren, während vieler Jahrhunderte nie erlöschender und immer von neuem flammenartig auflodernder Verehrung und Anbetung man das lebendige Bedürfnis des Menschenherzens nach Vermittelung deutlich erkennt.

Es ist nicht so phantastisch, wie es Manchem im ersten Augenblick erscheinen mag, wenn ich in diesem Zusammenhang auf die Gestalt des Herakles hinweise, des volkstümlichsten aller Heroen, die der griechischen Phantasie entsprangen und in der manches Tiefsinnige verborgen liegt. Freilich fällt es nicht leicht, sich in der Überfülle zurechtzufinden; denn von allen Seiten wurde unaufhörlich hinzugetragen, was nur jede Landschaft von übermäßigen Menschenleistungen zu melden wußte, und auch über die Ursprünge haben Dichter und Gelehrte Dutzende von Erklärungen zur Hand, welche von der Deutung als eines reinen Sonnenmythus bis zu der Behauptung reichen, ein bestimmter vorgeschichtlicher Mann habe durch seine überragenden Taten zu allen späteren Erdichtungen den Anstoß gegeben. Ich meine aber, wir gehen nicht fehl, wenn wir in der Weise vereinfachen, daß wir hier vor allem ein Zeugnis erblicken für die unstillbare Sehnsucht des »emporstrebenden Willens« nach gottverwandtem Menschentum – an Körper stark und schön, an Gemüt kindlich und unselbstsüchtig.

Den zweiten zeugt nicht Gäa wieder;
Nicht führt ihn Hebe himmelein;
Vergebens mühen sich die Lieder,
Vergebens quälen sie den Stein.

Und wenn es an der selben Stelle der klassischen Walpurgisnacht heißt:

Da sah ich mir vor Augen stehn,
Was alle Menschen göttlich preisen –

so erinnert das uns daran, daß Herakles auch mit dem »Gott-Sohn« der Phönizier identifiziert wurde, dem weisen, starken Gott, der auf Erden wandelt, überall Heil schaffend (vergl. Daremberg et Saglio: Dict. des Antiq. 3, 79). Sehr bemerkenswert ist auch das Wort Richard Wagner's, der von Herakles sagt: »Hier ward der wahre Mensch erst geboren« (Kunst und Klima); wie wir wissen, wird die Gedankengestalt Gott erst vom wahren Menschen erfaßt: danach hätten wir in dem halb-mythischen Herakles den Vermittler des Gottesgedankens zu verehren. Ähnlich steht es um Asklepios – eine uns Neueren weniger geläufige, zwischen Mensch und Gott schwebende Gestalt, die im Altertum höchstes und allgemeinstes Ansehen genoß als der Inbegriff, nicht so sehr des starken als des überaus weisen, gütigen Helfers in allen Nöten und Schmerzen, von dem es fraglich blieb, ob hier ein Gott vorübergehend auf Erden geweilt habe oder ein Mensch durch seinen »emporsteigenden Willen« bis zur Gottheit erhoben worden sei.

In religiöser Beziehung eine weit größere, durch Jahrtausende hindurch reichende Bedeutung besaß Osiris. Ernste heutige Forscher sind der Überzeugung, die an diesen Namen anknüpfenden Sagen gingen auf eine geschichtliche Persönlichkeit zurück, auf einen Mann, der wirklich gelebt habe, und zwar als Wohltäter ganz Ägyptens, dessen erstaunlich dauerhafte Ordnung er geschaffen, zu dessen Kultur, Reichtum, friedlicher Entwickelung und vielleicht auch Religion er die Grundlagen legte, nämlich auf einen König aus der ersten Dynastie, welcher Jahrtausende vor Christi Geburt unter den Lebenden weilte (Maspéro, Budge u.a.). Dieser große Mann wuchs bald zur mythischen Gestalt aus, zugleich – wenn ich mich so ausdrücken darf –- wuchs er in seine eigene Religion hinein. Er erhielt den uns aus dem ersten Kapitel bekannten Ehrennamen: »das gute Wesen«; er ward zwar nicht dem großen Allgott gleichgesetzt, hieß aber »Herr der Ewigkeit und Herrscher der Toten«; denn Osiris, der als Mensch so unendlich viel Gutes für die Sterblichen getan hatte, erhielt nun im Jenseits das Amt eines strengen, den edelstrebenden Teil der Menschheit treu beschützenden Freundes; als milder Richter waltete er an den Toren des Paradieses. Auf Erden war er – so erzählte die Sage – von seinem eigenen Bruder, dem Geist des Bösen, getötet worden, sein Leichnam zerrissen und die Stücke weit umher gestreut; als es aber nach mühevollen Jahren seiner Gattin Isis gelungen war, alle Stücke aufzufinden und zusammenzutun, belebte ihn der Allgott von neuem – zwar nicht mehr zum irdischen Dasein, doch zur Unsterblichkeit im Jenseits. Hier nun lag der wahre Quellpunkt aller ägyptischen Religiosität, die sonst unter dem gelehrten theologischen Wust der Priesterschulen erstickt wäre. Einer der ersten Forscher unserer Tage schreibt: »Für den Glauben der Ägypter besitzt der grausame Tod und die selige Auferstehung des Osiris die selbe Bedeutung wie der Tod und die Auferstehung Christi für den Glauben der Christen. Wie Osiris starb und von den Toten wieder auferstand, ebenso hoffte ein jeder, durch seine Vermittelung und durch die Berufung auf seinen teuren Namen, aus dem Todesschlaf siegreich zu erwachen, einer seligen Ewigkeit entgegen. In des Lebens Stürmen war dies der Anker, an den die Menschen sich festhielten; diese Hoffnung hat Millionen ägyptischer Männer und Frauen getröstet und aufrecht erhalten, während einer Zeit, die weit mehr Jahrhunderte umspannt, als seit der Gründung des Christentums bis heute verlaufen sind. In der langen Geschichte der Religion gibt es nicht zwei göttliche Gestalten, die in bezug auf die Inbrunst der Hingabe und auf die Überschwenglichkeit der Hoffnungen, die sie entzündet haben, sich so nahe stünden wie Osiris und Christus« (Frazer: Osiris, Kap. 11). Die Gestalten selbst – der große ägyptische Staatsmann, und Jesus von Nazareth, der galiläische Tischlerssohn, dessen »Reich nicht von dieser Welt« – zeigen nicht die geringste Verwandtschaft; auch ihrem gewaltsamen Tode kommt keineswegs eine ähnliche Bedeutung zu. Worin besteht also die von Frazer behauptete »Nähe«? Lediglich in der unermeßlichen religiösen Bedeutung eines Mittlers zwischen Mensch und Gott. Dem bloßen unergänzten Gedanken an Gott wohnt keine entscheidende religiöse Bedeutung bei: er weckt Erkenntnis und Ahnung, ist auch geeignet – wie wir das bei den urtümlichen Menschen sahen – sittliche Regungen zu beleben und zu stärken; doch zu der wahren Erhebung, zu jener Umkehr der Willensrichtung aus irdischer Befangenheit zu neuem, höherem Hoffen und Vollbringen gehört die Mitwirkung einer alles überragenden Kraft: der Kraft des Mittlers.

Als Gegensatz zu der Religion des Osiris, zugleich zur weiteren Klärung der Bedeutung der Vorstellung von einem Mittler, weise ich auf die Religion des Mithras hin, welche in den letzten Jahrhunderten des römischen Kaiserreiches große Verbreitung gewann und eine Zeitlang bestimmt schien, das Christentum aus dem Felde zu schlagen. Hier ist – zunächst – von einem Mittler nicht die Rede. Mithras ist einfach der Allgott, verehrt in der Gestalt des krönenden Werkes seiner Schöpfung: der Sonne. Der Wert dieser Religion – und er ist ein hoher – beruht auf ihrem rein arischen Ursprung, der zwar durch allerhand semitische und völkerchaotische Zutaten getrübt und überdeckt ward, doch zu viel Leben und Kraft besaß, um jemals den Stempel des Arischen zu verlieren. »Vollkommene Reinheit« war das Ziel, dem das Dasein des Gläubigen zustreben sollte: diese vollkommene Reinheit unterscheidet die persischen Mysterien von denen aller anderen orientalischen Götter (Franz Cumont: Die Orientalischen Religionen, deutsch v. Gehrich, S. 184). »Keine Religion der Welt war jemals dem Reinheitsideal so fanatisch ergeben wie diese« – sagt Farnell von der persischen Urreligion, aus der die des Mithras entstammt ( The Evolution of Religion, S. 127). Letztere kennzeichnet nun außer der Reinheit, die, mit ihr verwobene, außerordentlich starke Betonung der Tat; das Erwecken aller Anlagen zur Energie, um aus jedem Menschen die Höchstleistung herauszuholen, bildet ihre Hauptsorge, sie verkörpert gleichsam Goethe's Mahnung »Gedenke zu leben!«: so wurde die Religion des Mithras die Religion der militärischen Legionen und hat hierdurch einen unermeßlichen Einfluß auf den Bestand des römischen Reiches gewonnen, indem, dank diesem segensreichen Einfluß, zu einer Zeit des allgemeinen Sittenverfalles das Heer rein und stark blieb. Es ist gewiß kein Zufall, wenn die meisten Trümmer der Andachtsstätten dieser Gottesvorstellung heute auf deutschem Boden gefunden werden: die Religion des Mithras sagte unseren germanischen Altvordern zu.

Eingehende Beachtung verdient die Tatsache, daß auch dieser Glaube auf die Dauer des Mittlers nicht hat entbehren können. Zwar sind wir, trotz der bewundernswerten Arbeiten des belgischen Gelehrten Cumont, noch wenig über die Einzelheiten der Lehren dieser Mithras-Religion unterrichtet – so gewissenhaft streng wurde das Gebot des Verschweigens gewahrt, doch hat Albrecht Dieterich's Entdeckung von Bruchstücken einer Mithras-Liturgie Einiges ans Tageslicht gebracht, darunter namentlich die Tatsache, daß innerhalb der Gottheit zwischen Vater und Sohn unterschieden wurde: beide bildeten ein einziges Wesen in unio mystica vereint, jedoch unterscheidbar: Mithras, der Vater, Helios, der Sohn. Das Amt des Sohnes ist es, zwischen dem Menschen und seinem Vater im Himmel zu vermitteln (vergl. Eine Mithrasliturgie, 1903, S. 68, 135). Von alten christlichen Apologeten ist behauptet worden, diese Gotteslehre entstamme einer späteren Zeit, als Nachbildung halbverstandener christlicher Glaubenssätze; dem Urteil der Kirchenväter ist jedoch wenig zu trauen; hier brechen wahrscheinlich uralte, sorgfältig geheimgehaltene Lehren durch; so hören wir z. B. von dem Chaldäer Nebukadrezar dem Großen, der keinem der zahlreichen Götter des babylonischen Pantheons die öffentliche Verehrung versagte, daß »wenn nicht in der Theorie, so doch in der Praxis Maruduk (der Hauptgott) sein eigener, einziger Gott war, und er Nabû als dessen Sohn und Offenbarung verehrte« (Tiele, Gesch. d. Religion im Altertum, deutsch v. Gehrich, 1, 202). Uns kann die Entscheidung gleichgültig lassen; denn es genügt uns, es zu wissen, daß auch diese große Religion des Mittlers nicht hat entbehren können. Und zwar stand der Mittler den Glaubenden Tag und Nacht bei: »Er beschützte sie in ihrem ununterbrochenen Kampf gegen die Mächte der Finsternis; er half ihnen, der Wahrhaftigkeit treu zu bleiben, Gerechtigkeit zu üben und die Reinheit sich zu bewahren... und nach dem Tode führte er die Seelen hinüber zu den Gefilden der Seligen« (Cumont in Daremberg 3, 1953).

Noch bleibt eine Religion zu erwähnen, für uns Christen wohl die bedeutungsvollste – die des Dionysos.

In der Schule pflegte man uns zu lehren: die Tatsache, daß Dionysos nur einmal in der Ilias genannt werde (VI, 132 fg.), und zwar flüchtig und nicht sehr ehrenvoll, genüge zum Beweise, es handle sich um eine damals neuauftretende Gestalt, noch kaum unter die Götter aufgenommen und wahrscheinlich von auswärts eingeführt; eine Auffassung, die durch die Belehrung ergänzt wurde, der dionysische Kult bilde im griechischen Leben eine früher unbekannte Erscheinung, die den Verfall einleite. In Wirklichkeit stammt gerade Dionysos – das wird heute von allen Fachgelehrten zugegeben – aus den allerfrühesten Zeiten, von denen wir Kunde besitzen, und ist beträchtlich älter als der ganze homerische und vorhomerische Olymp. Dionysos ist nämlich identisch mit dem Gott Agni-Soma, der schon in den ältesten Teilen des Rigveda verehrt wird. Nicht allein bildet hier wie dort das Verhältnis zu körperlichem und auch zu seelischem Rausch und Überschwang den leitenden Zug der mythischen Gestalt – einen Zug, der bis in Seelentiefen alles Bezeichnende bestimmt; sondern selbst Züge, die zunächst den Eindruck recht willkürlicher Erfindungsphantastik machen, stimmen bei beiden genau überein: ebenso z. B. wie der zur Geburt unfertige Dionysos von Zeus dem toten Mutterleib entnommen und in den eigenen Schenkel zur Ausreifung eingenäht wird, ebenso verfährt Indra mit Soma – weswegen der indische Gott den Beinamen des »Zweimalgeborenen« erhielt, genau entsprechend dem griechischen Beinamen des Dionysos, Dithyrambus. Beide Götter sterben, und beide stehen mächtiger als vorher wieder auf; vor allem: beide gewinnen vielfach die Bedeutung von Mittlern zwischen Mensch und Gott. Diese aus den urältesten Zeiten eines reinen Ariertums stammende Religion des Dionysos durchzieht, wie wir jetzt wissen, alle Stufen der hellenischen Kultur, von den Uranfängen an bis weit ins Christentum hinein; die Namen haben oft gewechselt, doch erkannten die Griechen z. B. im Zagreus der Kretenser und im Sabazius der Thraker – um nur die zwei bedeutendsten zu nennen – sofort ihren vertrauten, zugleich heiter ausgelassenen und tiefsinnig geheimnisvollen Gott wieder, der zu allen Zeiten ihr eigentlicher Religionsgott war und blieb. Man weiß z. B., daß in Delphi Apollo zuerst als Eindringling empfunden wurde und er seine spätere herrschende Stellung lediglich der Verschmelzung mit Dionysos verdankte. Zwar führte die allen Mythologien gemeinsame Lust zu ewig wechselnden Beziehungen, Vertauschungen, Angleichungen auch hier zu mancher Verdunkelung und Irreleitung – so namentlich die Heranziehung der in Syrien und Kleinasien beliebten Vegetations- und Jahreszeitgötter Attis und Adonis, wodurch mancherorten die Dionysosverehrung auf bedenkliche Abwege geriet. Attis und Adonis verschwinden – wie Demeter – alljährlich zu einer bestimmten Zeit, nämlich beim Einschlafen der Vegetation, und kehren im folgenden Frühjahr mit deren Erwachen zurück; auch für Dionysos ist es bezeichnend, daß er manchmal mitten unter seinen von Freudentaumel beseelten Anbetern weilt und dann wieder von der Erdoberfläche verschwindet: bei ihm aber verhält es sich anders. »In diesem Verschwinden und Wiederkehren des Gottes, wie es üblich ist, allegorische Versinnbildlichung der Vernichtung und Wiederherstellung der Vegetation zu sehen, besteht keine Veranlassung«, lehrt uns Rohde und fügt ironisch hinzu, »außer in den ein für allemal feststehenden Axiomen der Lehre von der griechischen Naturreligion« ( Psyche 2, 12 fg.). Dionysos bleibt ja zwei Jahre lang fern, was allein zum Beweise genügt, daß hier tiefere Vorstellungen walten. Dionysos ist »Herr der Seelen und Geister«; er wird verehrt als »König der Toten«, als »Gott der Toten«, und – was noch mehr sagen will – als » Besieger des Todes«, als der Gott, der gerade vermittelst des sonst gefürchteten Todes die Seelen der Gläubigen in die Unsterblichkeit hinüberrettet, weswegen er auch den Namen Dionysos Soter trägt, das heißt »der Erlöser« (siehe Daremberg unter »Bacchus«). Auch hier – sobald die Vorstellung des Mittlers nach letzter Deutlichkeit verlangt – findet die Spaltung des Eingottes in Vater und Sohn statt und führt bisweilen zu dem Begriff der Dreieinheit (Trigonos) hinüber, – wofür wir das Zeugnis Augustin's besitzen. Fügt man hinzu, daß den gebildeten Bekennern dieses Glaubens (nämlich den orphischen Brüderschaften) die Lehre des Sündenfalles sowohl wie diejenige des Logos nicht fremd war und daß sie Keuschheit und Abkehr von dieser Welt mit Inbrunst predigten, so übertreibt man sicher nicht, wenn man sie als Pfadfinder für manche grundlegenden Religionsgedanken der christlichen Kirche einschätzt.

 

Es könnten noch mehr Bekenntnisse aufgezählt werden, doch schreibe ich keine Religionsgeschichte, sondern will nur die Wege aufzeigen, welche die europäische Menschheit in ihrer steigenden Sehnsucht nach Vermittelung geführt wurde. So grundverschieden diese Bekenntnisse auch waren, wir finden nichtsdestoweniger bei ihnen allen eigentümlich naheverwandte Züge, und zwar gerade dort, wo es gilt, die Brücke zwischen Mensch und Gott zu schlagen. Bei aller Sehnsucht nach Gott fanden sich die Bekenner dieser verschiedenen Religionen stets auf sich selber angewiesen, und somit auf sich selber zurückverwiesen, – auf die eigene Phantasie, auf das eigene Ergrübeln, auf den eigenen Wahn; denn ein tatsächlicher Mittler, einer, den man mit Augen gesehen und mit Ohren gehört hätte, war nicht vorhanden: zwar sollte Osiris einstens gelebt haben, doch lediglich als ein tüchtiger Staatsmann, und im Laufe der Jahrtausende war ohnehin seine wahre Gestalt unter den abenteuerlichen Phantasien der Priester verschüttet worden und verschwunden; Dionysos war der letzte Widerhall uralten, längst vergessenen Dichtens; die meisten um ihn herum stellten allegorische, bestenfalls symbolische Gestalten dar und führten somit immer wieder letzten Endes auf die Natur zurück, nicht zum ersehnten Gotte hin. Unter dem Drucke des unstillbaren Sehnens entwickelten sich nun im Menscheninnern drei Triebe, die immer mehr Gewalt in ihm und über ihn gewannen – alle drei als sichere Wege zur Vermittelung zwischen Mensch und Gott: die Mystik, die Magie, der Glaube.

In einer Beziehung bilden Mystik und Magie entgegengesetzte, sich fliehende Endpunkte, in einer anderen fließen sie ineinander über; am besten ist es, man stellt sich diese drei Triebe vor, als stünden sie zusammen in einer Kreislinie, so daß jeder der drei an die beiden anderen angrenzt, nach jeder Seite Einfluß ausübend und von jeder Seite Einfluß empfangend, jeder der drei aber in seinem eigentlichen Wesen von den anderen durchaus verschieden. Die Mystik bedeutet das Bestreben des Menschen, aus eigenen Kräften zu Gott hinzugelangen und sich an ihn anzuklammern; die Magie knüpft bei ältesten Vorstellungen der urtümlichen Menschen an, die wir oben, bei Besprechung des ursprünglichen Sinnes der Opferhandlungen, kennen lernten, und nimmt an, es gebe Mittel und Wege, eine Gemeinschaft mit Gott zu erzwingen; als Glauben bezeichnen wir die kraftvolle Ruhe einer Seele, welche der Überzeugung lebt, Gott erbarme sich ihres Unvermögens und nehme sich ihrer in Liebe an.

Widmen wir jedem dieser drei Triebe eine kurze Betrachtung.

Wir Heutigen pflegen bei dem Worte Mystik an Männer wie Eckehart und Böhme, wie Franziskus und Hafis zu denken – Männer, bei denen die reine Beschaulichkeit oder die unschuldig-tatkräftige Versenkung in eine erträumte Welt vorwiegt; wir pflegen dabei zu übersehen, daß kein derartiges Bestreben ausschließlich geistiger Art sein kann, vielmehr ein jedes als unvermeidlichen Bestandteil die Überwindung der Körperlichkeit umschließt, was leicht zu wunderlichen Überspanntheiten und gefährlichen Ausschreitungen führt: diese Verneinung des Körpers ist für alle Mystik bezeichnend. Die arischen Inder bekämpften den Körper, indem sie ihn mit eiserner Strenge zu Ruhe und Bewegungslosigkeit erzogen; hierher gehören auch ihre Atemübungen, die den Zweck verfolgten, das Atmen womöglich gänzlich zu unterbinden, wodurch zuletzt langanhaltende Bewußtlosigkeit erzeugt wurde, die als Entrückung galt. Später strebten christliche Mystiker dem gleichen Ziele durch Askese und blutige Selbstkasteiung zu. Weiter verbreitet war und ist jedoch über die ganze Erde das umgekehrte Verfahren: des Körpers durch wirbelnde Bewegung Herr zu werden, ihn in völlige Erschöpfung und zugleich in Verzückung versetzend. Selbst dem nüchternen Mohammedanismus hat es nie gelingen wollen, diese Form der Mystik aus seiner Mitte zu verbannen: des Menschen Verlangen, mit Gott zu verschmelzen, ist ein unüberwindliches. Die Eigenart der aus zahlreichen Schilderungen in ihrem äußeren Verlauf allbekannten dionysischen und bacchantischen Feste der Raserei und des Taumels erfaßt man erst, wenn man begriffen hat, daß es sich keineswegs darum handelt, einer wilden Gottheit Verehrung zu bezeigen, vielmehr darum, die Vereinigung mit einem milden, menschenfreundlichen Gotte zu erringen: dies ist Mystik. Auf der berühmten Vase des Museums zu Neapel naht dem Dionysos von der einen Seite der Zug der trunkenen Bacchanten, auf der anderen Seite stehen in feierlich ernster Versunkenheit Gestalten, die auf göttliche Geheimnisse deuten: die Erkenntnis dieser Geheimnisse bildet das Endziel jener Trunkenheit. Um sicher zu gehen, will ich mich wieder auf einen aller Phantastik unverdächtigen Zeugen berufen – auf Erwin Rohde. Dieser schreibt: »Die Teilnehmer an diesen Tanzfeiern versetzten sich selbst in eine Art von Manie, eine ungeheuere Überspannung ihres Wesens; eine Verzückung ergriff sie, in der sie rasend, besessen, sich und anderen erschienen. Diese Überreizung der Empfindung bis zu visionären Zuständen bewirkten, bei hierfür Empfänglichen, der rasende Tanzwirbel, die Musik, das Dunkel, alle die Veranstaltungen dieses Aufregungskultes. Diese äußerste Erregung war der Zweck, den man erreichen wollte. Einen religiösen Sinn hatte die gewaltsam herbeigeführte Steigerung des Gefühls darin, daß nur durch solche Überspannung und Ausweitung seines Wesens der Mensch in Verbindung und Berührung treten zu können schien mit Wesen einer höheren Ordnung, mit dem Gotte und seinen Geisterscharen. Der Gott ist unsichtbar anwesend unter seinen begeisterten Verehrern, oder er ist doch nahe, und das Getöse des Festes dient, den Nahenden ganz heranzuziehen« ( Psyche, 2, 11 fg.). So finden wir denn innerhalb jener zwischen Mensch und Gott zu vermitteln suchenden Bestrebungen, die wir unter dem Namen Mystik zusammenfassen und die tatsächlich eine organische Einheit bilden, eine ausgedehnte Stufenleiter, von trunkenen Orgien an bis zu jener regungslosen Versunkenheit, welche Fénelon in seiner Placitis sanctorum preist als die pura contemplatio absque activitate et sollicitudine und welche den orphischen Brüderschaften, die einen verfeinerten, verklärten Dionysoskult pflegten, schon bekannt war: der Zweck ist immer die Erhebung bis zur Gottheit durch die Steigerung ins Ungeheuere von Kräften, die im Menscheninnern schlummern.

Wenn die Menschen folgerichtig dächten, ließe sich der Grundgedanke aller Mystik mit den Vorstellungen, die der Magie und dem Glauben zugrunde liegen, nie vereinigen; dies tun sie aber nicht, und so trieb denn namentlich die Magie in den Jahrhunderten vor und nach der Geburt Jesu Christi die üppigsten Blüten, und zwar nicht als Gegnerin der Mystik, vielmehr im Bunde mit ihr.

Nennt man – wie das zu geschehen pflegt – die Magie eine Verwendung übernatürlicher Kräfte, so geht man, glaube ich, an dem springenden Punkt vorüber; die eigentliche Voraussetzung bildet hier die Annahme, die Natur enthalte zu jeder noch so kühn erträumten Wirkung ein hinreichendes Mittel: es komme nur darauf an, dieses Mittel zu kennen, zu ergreifen und richtig zu handhaben. Übernatürliches gibt es bei dieser Weltauffassung überhaupt nicht; der vollkommen Weise würde alles können. Magie ist ein Afterbild der Wissenschaft; sie widerspricht allem, was Glaube zu heißen verdient, und neben ihr erweisen sich die Bemühungen der Mystik als überflüssig; nichtsdestoweniger vermochten zu keiner Zeit weder Mystik noch Glaube sich von ihr loszusagen. Einerseits ist das vollkommen Unverständliche dasjenige, was der Menge am besten zusagt: daß ein mit der Hand geworfener Pfeil, wenn er nur in der richtigen Richtung geworfen ist, den hundert Kilometer entfernten Feind verwunden wird – dies scheint jedem urtümlichen Menschen ohne weiteres einleuchtend, und noch heutigen Tages zweifeln viele nicht, daß, wenn sie eine Wachsfigur beschaffen, die ihren Todfeind darstellen soll, und diese Figur dann mit einer glühenden Nadel durchbohren, der Feind elend sterben muß – geschieht es nicht, so ist bei dem Verfahren etwas verfehlt worden. Noch niemals hat das Kartenlegen und sonstiger derartiger Unfug so stark gewuchert wie im England und Frankreich des heutigen Tages. Es kommt aber noch etwas hinzu. Wir sehen auch die feinsten und die kräftigsten Geister einem mehr oder minder übertünchten Magieglauben frönen und schließen daraus auf ein unüberwindliches Bedürfnis des Menschengemütes.

In diesem Buche haben wir es nur mit der einen Vorstellung einer magischen Wirkung zu tun, die wir schon im Anfang des Kapitels bei der Besprechung des ursprünglichen Opfergedankens kennen lernten: durch den Genuß einer geheiligten Speise wird die Verwandtschaft zwischen den Teilnehmern und Gott hergestellt und hierdurch zugleich Gott verpflichtet, den betreffenden Menschen beizustehen in ihren Nöten. Im weiteren Verlauf der Entwickelung scheint dieser ursprüngliche Gedanke in den Hintergrund gedrängt worden zu sein zugunsten rationalistischerer Vorstellungen von Gabe-, Dank-, Buß-, Reueopfern und dergleichen mehr. Im Homer z.B. findet sich meines Wissens keine Spur eines Hinweises auf die magische Bedeutung des Opfers.

Da trat eine gewaltige Gegenwirkung ein, die wir berechtigt sind als aus den religiösen Bedürfnissen des Menschenherzens entsprungen zu betrachten; auf allen Seiten brach die Bewegung zugleich hervor und erfaßte die gesamte hellenische und mehr oder weniger hellenisierte Welt: alles wollte zu Gott hin, wollte mit ihm verschmelzen – wobei zu beachten ist, daß für die Griechen Unsterblichsein so viel bedeutet wie Gottsein, und ein Mensch, dessen Seele Unsterblichkeit gewonnen hat, insofern Gott gleich zu achten ist. »Die Vereinigung des Menschen mit der Gottheit ist das einzige und höchste Ziel aller Mysterien«, bezeugt Albrecht Dieterich ( Eine Mithrasliturgie, S. 209), und Ramsay schreibt: »Die Verheißung an die Einzuweihenden lautete: ›Seliger und Gesegneter, Du sollst Gott werden anstatt Sterblicher zu sein.‹ Einswerden mit der Gottheit wurde das Ziel des Menschenlebens, ein Ziel, das – wie viele Grabsteine zeigen – beim seligen Hinscheiden erreicht gedacht wurde, wenn nicht gar schon bei Lebzeiten als Erfolg der feierlichen Einweihung« (Ramsay: The Teaching of Paul, S. 293). Ebenso wurde der Gedanke Gemeingut, daß Gott bei Gelegenheit Mensch werde. Wie Jane Harrison ausführt, diese zwei Auffassungen rufen einander als Ergänzung hervor, nur daß der eine Kult das Gottwerden des Menschen mehr betont, der andere das Menschwerden des Gottes ( Prolegomena to the Study of Greek Religion, S. 475). »Ein Gott, der stirbt und aufersteht, der niedergefahren ist zum Totenreich und wieder aufgefahren gen Himmel .... steht in fast allen mystischen Kulten des späten Altertums ... im Mittelpunkt des Glaubens«, belehrt uns Dieterich in seiner Mithrasliturgie (S. 173). Der Begriff eines Gottmenschen ( Theios Anthropos) wurde so geläufig, daß man vielerorten ihn zu erblicken glaubte und wundertätigen Heiligen, wie dem Apollonios von Tyana und dem Alexander von Abonoteichos, göttliche Verehrung bezeugte (Reitzenstein: Die hellenistischen Religionen, S. 12). Selbst der stoische Philosoph Epiktet – von dem man eine solche Wendung nicht erwarten würde – schreibt: »Ein jeder von uns darf sich als Sohn Gottes bezeichnen« (vergl. Hatch: Influence of Greek Ideas, S. 155), und der Kirchenvater Athanasius wagt noch die Worte: »Jesus Christus wurde Mensch, damit wir Menschen Götter würden« (angeführt b. Caird: Evolution of Theology, 2, 366), – Worte, die tausend Jahre später bei Eckehart das Echo finden: »Gott liebt den Menschen nicht als Kreatur, sondern als Gott.«

Aus diesen wenigen Hinweisen möge der Leser entnehmen, wie allgemein verbreitet die Sehnsucht nach Vergottung des Menschen damals war.

Dieser große Zweck der Vergottung bildete – wie wir sahen – das Ziel aller Mystik, sowohl der materialistischen wie der idealistischen; doch forderten beide Richtungen eine größere Hingabe, als den meisten Menschen genehm ist: von den Teilnehmern an den bacchantischen Festen wird es nur einer Minderzahl gelungen sein, über den Körperrausch hinaus bis in die begehrte Seelenekstase des Gotteserlebnisses zu gelangen; noch wenigere werden es auf dem Wege der reinen Versenkung ins Innere vermocht haben. Da trat denn die Magie ein, die es jedem leicht macht: die uralte Vorstellung von der Wirkung einer besonderen Speisung lebte wieder auf und fand schnell eine derartige Verbreitung, daß bald dieser eine Zug allen verschiedenen Religionen gemeinsam war: das heilige Mahl, das »Essen des Gottes«. »Daß der Mensch sich mit einem Gotte vereinigen kann dadurch, daß er ihn oder Stücke von ihm ißt, bewährt sich immer wieder als uralter, aus der Tiefe ursprünglichster religiöser Anschauung empordrängender Glaube. Wie der Wilde glaubt, die Kräfte des wilden Tieres zu erlangen, die Klugheit und Zaubermacht des weißen Mannes sich zu eigen zu machen, wenn er von ihm ißt, so gewinnt er göttliche Kraft und Macht, wenn er Göttliches ißt« (Dieterich: Mithrasliturgie, S. 100). Die Gewinnung dieser göttlichen Speisung läßt sich leicht vorstellen: im ersten Teil dieses Kapitels hörten wir, daß es genüge, ein zum Opfer geeignetes Wesen auszuwählen, das dann durch weitere Weihen jeden Grad von Heiligkeit erreichen könne (S. 45); auf diesem Wege mußte es gelingen, das Opfer dem göttlichen Wesen völlig anzugleichen.

Hier ist der Ort, die Aufmerksamkeit auf einen seltsamen Umstand zu lenken. Bekanntlich hat Goethe wiederholt erklärt, sein Gehirn besitze kein Organ für die Aufnahme des Gedankens der Umwandlung (Transsubstantiation); was diesem mächtigsten Verstande unüberwindliche Schwierigkeit bereitete, das hat die überwiegende Mehrzahl der Menschen zu allen Zeiten ohne alle Gedankenqual angenommen, – die geistige Alchymie leuchtete und leuchtet noch heute Vernünftigen und Unvernünftigen ohne weiteres ein. Wir haben in diesem Gedanken eines der ältesten Besitztümer der Menschheit zu erkennen, dessen Alter ihm Ehrwürdigkeit verleiht.

Die Form des Opfers wechselte je nach dem Kult. Bei dem einen z.B. mußte das Blut des Opfertieres über den Einzuweihenden herabfließen; doch blieb derartiger barbarischer Brauch verhältnismäßig vereinzelt, und immer mehr bürgerte sich der Ersatz des Schlachtopfers durch das unblutige Opfer ein; sobald der Gedanke der Umwandlung von neuem geläufig geworden war, stand diesem Verfahren nichts mehr im Wege: Brot und Wein pflegten des Gottes Fleisch und Blut darzustellen. Feierliche Mahle mit sakramentaler Bedeutung (Liebesmahle) waren ein uralter Brauch der arischen Völker und finden sich z.B. in dem vor-etruskischen Latium (Fowler: Roman Ideas of Deity, S. 37); auch reicht die Annahme einer geheimnisvollen Verwandtschaft zwischen Wein und Blut sehr weit zurück (Kircher: Die sakrale Bedeutung des Weines im Altertum). Als interessante Kuriosität sei erwähnt, daß die Hostie schon im alten Mexiko bekannt war. Kurz, alle Elemente standen schon längst bereit; es brauchte nur der letzte Gedankenfunke hinzuzukommen, und die Vermittelung der göttlichen Speisung, des Gotteswerdens und hiermit der Unsterblichkeit war allerorten leicht zu bewirken. Bald gab es in allen Mysterienkulten »ohne Ausnahme« – sagt Ramsay in seinem Religion of Greece – das Brechen und Verteilen des Brotes und das Trinken aus dem gemeinsamen Becher. Erblicken wir also auf bildlichen Darstellungen des Mithras-Gottesdienstes die Gläubigen feierlich um einen Tisch versammelt, auf dem Brot und Weinkelch stehen, und sehen wir zuweilen Mithras und Helios zu ihnen gesellt, so wissen wir genau, was dies zu bedeuten hat.

Hier können wir nun nicht umhin, auf das Christentum und dessen Sakrament des Abendmahls hinzuweisen; denn gerade an diesem Punkte steht die Religionslehre der christlichen Kirche in innigstem Zusammenhang mit vorangegangenen und umgebenden religiösen Vorstellungen und Gebräuchen. Man versteht, was Heitmüller meint, wenn er schreibt: »Diese uralte konkret-sinnliche Vorstellung (der Verspeisung der Gottheit) kommt im urchristlichen Herrnmahl, auf der höchsten Entwickelungsstufe der Religion, wieder zum Durchbruch und gewinnt unter einer neuen Form neues Leben. Gerade dadurch erhielt das christliche Mysterium den Charakter einer viel innigeren, geheimnisvolleren Kommunion als die meisten gleichzeitigen heidnischen und jüdischen Opfermahle und Mysterien. Es ist eine höchst eigentümliche und interessante, keineswegs aber alleinstehende Erscheinung: aus den untersten Tiefen des großen Stromes der Volks- oder Menschheitsreligion steigt, auf eine im einzelnen für uns unerklärbare Weise, ein Stück primitiven, konkreten religiösen Empfindens und Vorstellens an die Oberfläche, dringt bis auf die im Christentum erreichte höchste Stufe der Frömmigkeit und Mystik, der uralte Gedanke der Vereinigung mit der Gottheit durch Essen und Trinken« ( Taufe und Abendmahl bei Paulus, S. 48 fg.).

Zu welchen Höhen der Menschengeist sich von der Grundlage solcher magischer Vorstellungen aus noch aufschwingen sollte, wissen wir; die Umwandlung ward schließlich ein sich im Innern des Geistes vollziehender Vorgang; wie es im anglikanischen Katechismus von dem Sakramente heißt: »ein äußeres und sichtbares Zeichen einer inneren und geistlichen Gnade«, wodurch wohlbetrachtet das Gebiet der Magie verlassen wird für das des Glaubens. Nichtsdestoweniger bleibt es von entscheidender Wichtigkeit, zu wissen, daß die früheste Christenheit diese Stiftung noch ganz naiv materialistisch auffaßte, und zwar in doppelter Form: einerseits in Anlehnung an die verbreiteten Liebesmahle als Erinnerungsmahl, andrerseits, in genauer Anlehnung an die heilige Gottesspeisung der Mysterienreligionen. Für beides finden wir schon beim Apostel Paulus die Belege: den Heiland läßt er bei der Einsetzung sagen: »Das tut zu meinem Gedächtnis«; andrerseits lebt Paulus so ganz in den Gedanken seiner Zeit, daß er ausdrücklich sagt, wer an den Mahlen der Mysterienreligionen teilnehme, »komme in die Gemeinschaft der Dämonen« (1. Kor. 10, 20), – er glaubt also, wie man sieht, an die magische Wirkung mit allen ihren Voraussetzungen und Folgerungen nicht allein beim christlichen Abendmahl, sondern auch bei den schon früher bestehenden Mahlen der dionysischen und anderer Gemeinden! Wiederum führe ich Heitmüller an: »Ihrer Isolierung entnommen, erscheint die paulinische Anschauung vom Abendmahl in ihren Grundzügen nicht als ein schlechthinniges Novum und als eine originale Schöpfung des Christentums, sondern als verflochten mit der vor- und außerchristlichen religiösen Gedankenwelt. Sie ist ein neuer Schößling an einem alten Zweige des religionsgeschichtlichen Baumes der Menschheit« (S. 51) Ich halte es für meine Pflicht, den Leser darauf aufmerksam zu machen, daß es bedeutende Fachgelehrte gibt, die anderer Meinung in bezug auf das Verhältnis des Paulus zum Abendmahl sind, und verweise namentlich auf Carl Clemen's Religionsgeschichtliche Erklärung des Neuen Testamentes.. Den beiden Auffassungen des Paulus begegnen wir auch in den ältesten Gemeinden. Nach der Didache (oder Lehre der zwölf Apostel) – der ältesten bekannten liturgischen Schrift, aus dem Beginn des zweiten Jahrhunderts – spricht die Gemeinde beim Kelch: »Wir danken dir, unser Vater, für den heiligen Weinstock David's, deines Knechtes, welchen du uns kundgetan hast durch deinen Knecht Jesus. Dir sei Ehre in Ewigkeit!« Und beim Brot spricht sie: »Wir danken dir, unser Vater, für das Leben und die Erkenntnis, die du uns kundgetan hast durch Jesus, deinen Knecht. Dir sei Ehre in Ewigkeit!« Daraufhin speisen die Mitglieder der Gemeinde, »bis sie sich gesättigt haben« (vergl. Hennecke: Neutestamentliche Apokryphen, S. 191); wie man sieht, handelt es sich um ein feierliches Mahl ( Agape genannt), bei dem aber von einer Wandlung des Brotes und des Weines in Leib und Blut Christi nicht die Rede ist. Genau zur gleichen Zeit – etwa um das Jahr 110 – schreibt jedoch der Märtyrer Ignatius in seinem Brief an die Epheser (Abschn. 20) von »dem Brot, welches ist ein Zaubermittel der Unsterblichkeit (pharmakon athanasias)«: er vertritt also mit aller Bestimmtheit die magische Auffassung des Sakramentes. Hierfür ließen sich noch viele Belege beibringen. Vor allem aber muß bemerkt werden, daß die frühe Gemeinde ebensowenig wie Paulus einen Widerspruch zwischen den beiden Auffassungen empfand; vielmehr entstand bald die Sitte, Liebesmahl und Opfermahl zu vereinigen, indem der Genuß des göttlichen Fleisches und Blutes der Agape als Krönung hinzugefügt wurde (vergl. z. B. Lightfoot: Ignatius & Polycarp, 2. Aufl., 2, 313). Jedoch, es hat das schöne Liebes- und Erinnerungsmahl nicht lange vermocht, sich neben der Wucht des uralten magischen Vereinigungsgedankens zu behaupten; letzterer blieb allein zurück, und an Stelle des sättigenden Brotes trat die symbolische Oblate. Endlich, nach einem Jahrtausend fast ununterbrochener Kämpfe zwischen idealistischer und materialistischer Deutung des Wesens des Abendmahles stellte die Kirche im Jahre 1215 im Laterankonzil als Dogma fest: »Es gibt nur eine allgemeine Kirche der Gläubigen und außerhalb ihres Bereiches wird durchaus niemand selig; in ihr ist Priester und Opfer zugleich Jesus Christus, dessen Leib und Blut in dem Sakrament des Altars in der Gestalt (sub speciebus) von Brot und Wein wahrhaft enthalten sind, nachdem durch Gottes Allmacht das Brot in den Leib und der Wein in das Blut verwandelt ist (transsubstantiatis pane in corpus ed vino in sanguinem), so daß, um das Geheimnis der Vereinigung zu vollenden, wir von dem Seinigen annehmen, was er von dem Unsrigen angenommen hat« (angef. nach Krüger: Das Dogma von der Dreieinigkeit und Gottmenschheit, S. 258 fg.). Dies kann der dogmatische Mittelpunkt der katholischen Kirche genannt werden, denn hier wurzelt die schrankenlose Macht des Priestertums; für die Erkenntnis des Menschengeistes ist beachtenswert, daß die Begründung – wie man sieht – unmittelbar an älteste Vorstellungen des noch gänzlich unkultivierten Menschen anknüpft. Die Magie – sagen wir auf deutsch die Zauberei – und mit ihr der Zauberer hatten gesiegt!

Vom Glauben zu reden, ist insofern bedenklich, als dieses Wort in allen Sprachen an einer eigentümlichen Zweideutigkeit krankt. Wer hierüber genau unterrichtet sein möchte, dem empfehle ich die Abhandlung des außerordentlichen Gelehrten, Bischofs Lightfoot, enthalten in seinem Kommentar zu der Epistel an die Galater (S. 154 fg.). Überall schillert »Glauben« in die Bedeutung des Zweifelns hinüber, als eine Art Gegensatz zum Wissen. Außerdem müssen wir unterscheiden zwischen einer passiven Bedeutung, bei welcher das Wort nur so viel besagt, daß Einer sich auf Jemand oder auf Etwas verläßt oder verlassen zu können meint, und einer aktiven Bedeutung, nach welcher der Glaube eine Bewegung des Gemütes bedeutet auf einen Gegenstand hin, den es erfaßt und festhält, »die Kraft, welche den Menschen gottwärts treibt« (Ramsay: Paul's Teaching, S. 273). In den zwei Sprachen der früh-christlichen Kirche – der griechischen und der lateinischen – wurde eine neue Verwirrung durch die Tatsache hineingetragen, daß die hebräische Sprache, der als Sprache des Alten Testaments entscheidende Bedeutung zukommt, für den »aktiven« Glauben überhaupt kein Wort besitzt, vielmehr einzig den »passiven« Glauben kennt: ein bedenklicher Umstand für die Verkündigung einer neuen Religion, deren hervorstechendste Eigentümlichkeit gerade in der Betonung des aktiven Glaubens besteht, so daß schon Paulus nicht selten statt »Evangelium verkünden« kurzweg »den Glauben verkünden« schreibt (z. B. Gal. 1, 23), und daß der Christengegner Celsus den Vorwurf erheben kann, die Christen wichen jeder Beweisführung aus und lehrten: »untersuchet nicht, sondern glaubet! der Glaube genügt zur Erlösung!« (siehe Origenes: Contra Celsum 1, 9). Ich bin nun der Meinung, für uns Ungelehrte führe folgende vereinfachende Erwägung zu einem klaren und durchaus hinreichenden Ergebnis.

Glauben, im Sinne von Fürwahrhalten, ist überall vorhanden und fehlt ebenso wenig dem trunkenen Mystiker, der die Verschmelzung mit Dionysos sucht, wie dem Teilnehmer an einem göttlichen Opfermahle – beide müssen gewisse Überzeugungen hegen (müssen also »glauben«), sonst wären ihre Handlungen sinnlos: dies nennen wir den passiven Glauben, denn er bahnt nur den Weg für eine andere Tat des Gläubigen, welche andere Tat erst die Erlösung bewirkt. Der aktive Glaube hingegen – der Glaube, wie ihn Jesus Christus offenbart und wie ihn Paulus, Augustinus und Luther predigen – bedeutet eine Wendung des ganzen Wesens, einen derartig entscheidenden Vorgang, daß er die Kraft besitzt, die Erlösung aus irdischen Banden zu höherem Leben unmittelbar herbeizuführen. So schwer, ja unmöglich, es sich erweist, den Begriff mit Worten zu bestimmen: es gibt doch eine Tatsache, an der man sicher erkennen kann, ob von »aktivem« Glauben gesprochen wird oder nicht: immer begleitet, als ergänzendes Gegenstück, den »aktiven« Glauben die Gnade: wie der Glaube hinaufstrebt, so strebt die Gnade hinab. Glaube in diesem Sinne genommen ist nichts anderes als die Liebe Gottes im Menschenherzen widergespiegelt. »Glaube ist nicht der menschliche Wahn und Traum, den etliche für Glauben halten«, sagt Luther, »Glaube ist ein göttlich Werk in uns, das uns wandelt und neugebiert aus Gott, und tötet den alten Adam, machet uns ganz ander Menschen von Herzen, Mut, Sinn, und allen Kräften, und bringt den heiligen Geist mit sich. O, es ist ein lebendig, schäftig, tätig, mächtig Ding um den Glauben, das unmöglich ist, daß er nicht ohn Unterlaß sollte Guts wirken. Er fraget auch nicht, ob gute Werk zu tun sind, sondern eh man fraget, hat er sie getan, und ist immer im Tun... Glaube ist ein lebendige, erwegene Zuversicht auf Gottes Gnade, so gewiß, daß er tausendmal drüber stürbe,... Und solche Zuversicht und Erkenntnis göttlicher Gnade machet fröhlich, trotzig und lustig gegen Gott und alle Kreaturen, welches der heilige Geist tut im Glauben« (Vorrede auf die Ep. Pauli an die Römer). An der gleichen Stelle betont der Gottesmann die entscheidende und unterscheidende Tatsache, daß der »aktive« Glaube stets als Gabe Gottes aufzufassen ist: »Bitte Gott, daß er den Glauben in dir wirke, sonst bleibest du wohl ewiglich ohn Glauben, du tichtest und tust, was du willt oder kannst.« Hier stehen wir an dem springenden Punkt; hier gilt es verstehen und nicht – was gar leichtiglich geschieht – mißverstehen.

Wir bezeichnen diesen echten wahren Glauben – wie ihn Jesus und Paulus lehrten – als den »aktiven« Glauben, und doch wird gerade er – wie Luther sagt – »durch Gott in uns gewirkt«. Es handelt sich um das Erblicken eines vorher Ungesehenen; unsere altindischen Verwandten nannten es »das Ergreifen der Gotteshand«. Insofern muß man sagen, der Vorgang sei zugleich aktiv und passiv. Entscheidend ist freilich, daß Gott sich zu mir, Menschen, hinabneigt, daß er mir die Hand entgegenstreckt; nicht weniger entscheidend ist es jedoch, daß ich, Mensch, das Auge aufschlage und Gott erblicke, daß ich die ausgestreckte Hand ergreife – und diese »aktive« Tat entscheidet alles. Denn hier bleibt nicht – wie bei der Mystik und der Magie – noch etwas, eigentlich noch alles zu tun, vielmehr ist mit dem Glauben schon alles getan, weil Gott es ist, der dann alles leistet. Gott erlöst nicht nur aus den Banden einer beschränkten Menschlichkeit, sondern, indem er das tut, schenkt er – wie wir es soeben aus Luther's Mund vernahmen – ein höheres, tätigeres, rastloseres Leben, was wir an allen unseren großen Glaubenshelden erfahren. Darum lehrt der Heiland: »Jeder, welcher Gott glaubt, hat Leben« ( Ev. Joh. 6, 47 nach dem ältesten Texte, dem Syrsin).

Jetzt ist es uns klar, warum dieser Glaube – im Gegensatze zu den anderen Bedeutungen des Wortes – der »aktive« heißen muß: es ist der lebenspendende Glaube, ja, der Leben in Gott spendende – »der Glaube, der durch Liebe sich auswirkt« oder, wie Luther übersetzt, »der Glaube, der durch die Liebe tätig ist« ( fides, quae per caritatem operatur, Gal. 5, 6). Dieser Glaube – auch das ist uns aus dem Beispiel der großen Christen bekannt – ist der Liebe so nahe verwandt, daß beide Begriffe ineinander verschmelzen; »Gott ist die Liebe«: wer Gottes Hand ergreift, kann nicht anders als »durch Liebe sich auswirken«. Darum muß, wie die Liebe, so auch der Glaube alle Tage neu geboren werden, andernfalls er abstirbt und nur als Mumie weitergeschleppt wird; es handelt sich um einen immer sprudelnden Lebensquell, der täglich Neues gebiert. Hierauf deutet das sonst schwer zu verstehende Wort: »aus Glauben zu Glauben« ( ex fide in fidem, Römer, 1, 17): der Glaube bleibt allezeit ein und der gleiche, nichtsdestoweniger erfährt, wer sich Gottes Führung hingibt, daß er täglich Unerwartetes erlebt und leistet; er steigt eben die Stufenleiter, die gottwärts führt, aus Glauben zu Glauben.

Soviel nur zur Verständigung über die Bedeutung der dritten Hauptregung, welche das Gemüt der Einwohner des römischen Reiches zu der Zeit um Christi Geburt herum stark bewegte, in dem Streben zwischen Mensch und Gott zu vermitteln. Während aber Mystik und Magie alle Länder mit ihrem Wesen erfüllten, verharrte der Glaube in dem Zustand einer noch schlummernden Spannkraft, die nur hier und dort sich zu regen versucht. Es fällt sehr schwer, solche Regungen nachzuweisen, es zu versuchen, würde uns weit führen und vielleicht doch nicht überzeugend wirken. Ich verweise aber auf das vorzügliche Buch von Hatch Über den Einfluß der griechischen Ideen und Gebräuche auf die werdende christliche Kirche (auch deutsch von Preuschen), wo man im 11. Kapitel manches Entscheidende über die Sehnsucht nach Glauben unter der damaligen Menschheit finden wird; auch Reitzenstein, in seinem Buche über Die hellenistischen Mysterienreligionen, weist auf das Aufkommen einer neuen Glaubensvorstellung hin, einer Auffassung des Glaubens als »einer göttlichen Kraft, die, auf persönliche Erfahrung im Mysterium begründet, ausdrücklich aller philosophischen Überzeugung entgegengestellt wird«, und zeigt, daß dieser Gedanke im Bunde mit der Sehnsucht nach »Erlösung« (Soteria) als ein mächtiges Ferment Geist und Herz zahlreicher Menschen der verschiedensten Anlagen – von den einfachen Seelen duldender Armer bis zu den feinst entwickelten Trägern der philosophischen und literarischen Bildung – in eine gärende Erwartung versetzte (S. 9 fg.).

Und doch gelang es dem Glauben nicht, irgendwo Fuß zu fassen und Wurzel zu schlagen. Man staunt, wenn man erfährt, daß die Leute den verschiedensten Religionen zugleich beitraten: ein Mann ließ sich heute in die Mysterien des Dionysosdienstes einweihen, trat morgen als Myste den Verehrern des Attis bei, was ihn nicht hinderte, der großen Gemeinde des Osiris (der Isis-Anbeter) sich anzuschließen und auch den Mithrasglauben zu bekennen. Die Sehnsucht nach Glauben war groß, die Erkenntnis des Wesens dieser Geistestat aber fehlte noch: daher die Irrung und Verwirrung. Das Überwuchern der Mystik auf der einen Seite und der Magie auf der anderen trug auch viel zum Wirrsal bei. Je echter dieses neu sich regende Geistesbedürfnis, um so weniger konnte es sich bei den ihm dargebotenen Phantastereien beruhigen. Fürwahrhalten kann man alles mögliche; echter Glaube aber bewirkt eine innere Umwandlung; das wußten die Mysterienkulte, alle versprachen sie die »Wiedergeburt« und redeten ihre Neueingeweihten an: renatus es, du bist wiedergeboren; doch was sie verhießen, waren sie unfähig zu leisten, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil Gott allein das zu leisten vermag. Solange nicht der wahre Mittler zwischen Mensch und Gott auf Erden erschienen war – den Augen sichtbar, den Ohren vernehmbar –, so lange hielt der Glaube nichts als leere Bilder in der Hand. Dieses Erscheinen hing aber von Gottes Willensentschluß ab, nicht von dem Sehnen der Menschen.

Und siehe da! Gott erbarmte sich unser; das entscheidende Ereignis aller Menschheitsgeschichte geschah; der Mittler erschien, lebte und lehrte unter uns, starb – weil er ein Mensch war, und erstand wieder zum Leben – weil er Gott war. Was uns Sterblichen dadurch für Möglichkeiten eröffnet wurden, soll in den folgenden Kapiteln dieses Buches zur Sprache kommen. Hier, wo nur von der Notwendigkeit und der Bedeutung des Begriffes der Vermittelung und des Mittlers die Rede ist, begnüge ich mich damit, aufmerksam zu machen, daß derjenige Jünger, der Jesus am nächsten stand, Johannes – anstatt die Bedeutung seines Meisters durch die beengende Vorstellung des Messias zu umzirkeln – ihn einmal mit dem schönen griechischen Namen des Parakleten bezeichnet, indem er von ihm spricht als »unserem Mittler bei dem Vater« ( 1. Ep. Joh. 2, 1), woraus die klare Erkenntnis der alles Menschentum umspannenden Bedeutung des Geschehnisses hervorleuchtet.

Jetzt hatte der Glaube Lebensatem erhalten; sobald die Gnade sich herabsenkte, brauchte er bloß hinaufzustreben und sie zu ergreifen; damit war die Wiedergeburt eine Wirklichkeit geworden, und die Unsterblichkeit erhielt, wenn auch nicht eine faßbare Vorstellbarkeit, wenigstens Sinn und sittliche Bedeutung. Sofort schwang sich der Glaube zu schwindelnden Höhen hinauf: hierfür gibt es keinen ergreifenderen Beleg als den Brief des Ignatius, Bischofs von Antiochien, an die junge christliche Gemeinde in Rom – ein Brief, dem als Zeugnis menschlichen Heldenmutes aus der gesamten Geschichte der Menschheit wohl weniges gleichkommt.

Der fromme Greis, der möglicherweise, wie die Überlieferung es will, als Kind den Heiland mit Augen erblickt hatte und der – wie dem auch sei – jedenfalls Schüler seiner unmittelbaren Jünger war und somit den mit nichts zu vergleichenden Eindruck der göttlichen Persönlichkeit aus nur einmaliger Widerspiegelung in der Seele trug, der fromme Greis war verurteilt worden, den wilden Tieren in der Arena zu Rom ausgesetzt zu werden, und wurde jetzt als Gefangener unter soldatischer Obhut von Syrien in die Hauptstadt abgeführt. Unterwegs überkommt ihn die Sorge, die christliche Gemeinde in Rom – die schon zahlreich war und nicht ohne Einfluß am kaiserlichen Hofe – könnte zu seinen Gunsten eintreten und seine Befreiung oder wenigstens den Erlaß der Todesstrafe bewirken. Höchst wahrscheinlich – so versichern uns die heutigen Kenner der Verhältnisse – wäre ein derartiger Schritt der Gemeinde nicht erfolglos geblieben. Da verfaßt denn Ignatius unterwegs an die Glaubensgenossen in Rom einen Brief, den er durch einen schnell reisenden Boten dorthin voraussendet. Daraus seien einige Stellen mitgeteilt:

»Ich fürchte Eure Liebe, daß sie mir schaden könnte. ... Es sei Euch männiglich bekannt, daß ich aus eigenem freien Willen für Gott sterbe – wenn nur Ihr mich nicht daran hindert. Ich flehe Euch an, erweist mir keine unzeitige Liebe: laßt mich den wilden Tieren ausgesetzt werden, denn durch sie kann ich zu Gott hingelangen. Ich bin Gottes Weizen; zermalmen mich die Zähne der wilden Tiere, so werde ich als reines Brot Christi erfunden werden. Ich bitte Euch, reizt die wilden Tiere gegen mich auf, damit ihre Leiber mein Grabmal werden und kein Tüttelchen meiner Leiche zurückbleibe. ... Wenn auf diese Weise allen Augen meine Leiblichkeit entschwunden sein wird, dann, ja dann bin ich in Wahrheit ein Jünger Jesu Christi. ... Die Wehen einer Neugeburt überkommen mich! Habt Geduld mit mir, liebe Brüder: hindert mich nicht, ins Leben einzugehen; wünscht nicht meinen Tod; gebet nicht Einen der Welt zurück, der sich sehnt, bei Gott zu sein, noch suchet ihn durch weltliche Verheißungen zu bestechen. Gebet es zu, daß ich ins reine Licht eintrete: dort angelangt, werde ich erst ein wahrer Mensch sein« (nach Lightfoot's Übertragung ins Englische).

Vor diesem Glauben schwanden alle die Religionen, die die römische Welt erfüllten, und von denen manche mehr als ein Jahrtausend geblüht hatten, in erstaunlich kurzer Zeit spurlos dahin, als wären sie nie gewesen – sie schwanden wie Träume, wenn wir dem Licht des Tages die Augen öffnen. Versuchen wir heute, uns die Begebenheiten jener fernen Zeit zu vergegenwärtigen, nichts wird uns mehr bemerkenswert erscheinen, und wenige Dinge werden uns mehr lehren über die unbesiegbare Kraft des christlichen Glaubens als das stille, schnelle Hinwelken aller dieser Religionen der bloßen Mystik und Magie, trotzdem der einheitlichst auferbaute, stärkste Staat, den die Welt je gekannt hat, sie beschützte und nach Kräften förderte. Der Mittler hatte den Wendepunkt aller Religion und damit aller Menschenwürde herbeigeführt: »Denn alles, was von Gott geboren ist, überwindet die Welt, und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat« ( 1. Ep. Joh. 5, 4).


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