Conrad Ferdinand Meyer
Die Richterin
Conrad Ferdinand Meyer

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Eben wurde vom Winde ein Bruchstück der Seelenmesse aus Ara Cöli hergetragen. Zornig und drohend sangen sie dort: »Dies irae, dies illa, dies magna et amara valde!«

»Schöne Bässe«, lobte Wulfrin. »Um wieder auf den Becher zu kommen, so glaube ich nicht an seine Kraft. Sicherlich hat die Mutter nicht unterlassen, seinen Spruch herzubeten, vorwärts und rückwärts. Es hat nichts gefruchtet. Sie welkte, und der Vater verstieß sie.« Er tat einen Seufzer.

»Und das Horn?« fragte Schelm Graciosus.

Der Höfling wog es in den Händen und lächelte. Graciosus lächelte gleichfalls.

»Übrigens ist es das beste Hifthorn im Heere. Das ruft! Höre nur!« und er setzte es an den Mund.

»Um aller Heiligen willen, Wulfrin, laß ab!« schrie Graciosus ängstlich. »Willst du die Stadt Rom in Aufruhr bringen?«

»Du hast recht, ich dachte nicht daran.« Wulfrin ließ das Horn in die tragende Kette zurückfallen.

»Dieses Hifthorn«, sagte jetzt Graciosus bedächtig, »wurde mir beschrieben. Auch hat es der Knecht Arbogast in Stein gemeißelt auf dem Grabmal im Hofe von Malmort, wo er den Comes, deinen Vater, abbildete und die Wittib daneben.«

»So?« grollte Wulfrin. »Konnte der Vater nicht allein liegen?«

Graciosus ließ sich nicht einschüchtern. »An den Herrn des Hifthorns habe ich einen Auftrag«, sagte er.

»Du bist voller Aufträge. Von wem hast du diesen?«

»Von der Richterin.«

»Welche Richterin?« Entweder war Wulfrin von harten Begriffen oder seine Laune verschlechterte sich zusehends.

»Nun, die Judicatrix Stemma, deine Stiefmutter.«

»Was hab ich mit der Alten zu schaffen! Warum lächelst du, Männchen?«

»Weil du so mit ihr umgehst, die noch schön und jung ist.«

»Ein altes Weib, sage ich dir.«

»Ich bitte dich, Wulfrin! Dein Vater freite sie als eine Sechzehnjährige. Dein Geschwister ist nicht älter. Zähle zusammen! Doch jung oder alt, sie gab mir den Auftrag, und ich darf ihn nicht unausgerichtet heimbringen.«

Der Höfling verschluckte einen Fluch. »Du verdirbst mir den Krätzer, er schmeckt wie Galle.« Erbost stieß er den Becher von der Bank und setzte den Fuß darauf. »So sprich!«

»Frau Stemma«, begann Gnadenreich in bildlicher Rede, »will sich vor dir die Hände in ihrer Unschuld waschen.«

»Ein Becken her!« spottete Wulfrin, als riefe er in die Gasse hinaus nach einem Bader.

»Wulfrin, stünde sie vor dir, du straftest deine Lippen! Keine in Rätien hat edlere Sitte. Was sie verlangt, ist gebührlich. Auf der Schwelle ihres Kastells, vor ihrem Angesichte, jählings ist dein Vater erblichen. Das ist schrecklich und fragwürdig. Frau Stemma läßt dir sagen, sie wundere sich, daß sie dich rufen müsse, sie habe dich längst, täglich, stündlich erwartet, seit du zu deinen mündigen Jahren gekommen bist. Nur ein Sorgloser, ein Fahrlässiger, ein Pflichtvergessener – nicht meine Worte, die ihrigen – verschiebe und versäume es, sie zur Rechenschaft zu ziehen.«

Wulfrin blickte finster. »Das Weib tritt mir zu nahe«, sagte er. »Ich wußte, was man einem Vater schuldig ist. Er hat an meiner Mutter gefrevelt, und sein Gedächtnis – die Kriegstaten ausgenommen – ist mir unlieb: dennoch habe ich mir seine Todesgebärde vergegenwärtigt, den Augenzeugen Arbogast, der das Lügen nicht kannte, habe ich scharf ins Verhör genommen. Jetzt will ich noch ein übriges tun und dir die gemeine Sache herbeten, vom Kredo bis zum Amen. Du bist aus dem Lande und kennst die Geschichte. Mangelt etwas daran oder ist etwas zuviel, so widersprich!

Der Vater kam aus Italien und nächtigte bei dem Judex auf Malmort. Bei Wein und Würfeln wurden sie Freunde, und der Vater, der, meiner Treu, kein Jüngling mehr war – ich habe aus der Wiege seinen weißen Bart gezupft –, warb um das Kind des Richters und erhielt es. Beim Bischof in Chur wurde Beilager gehalten. Am dritten Tage setzte es Händel. Der Räzünser, dessen Werbung der Judex abgewiesen haben mochte, wurde zu spät oder ungebührlich geladen oder an einen unrechten Platz gesetzt oder nachlässig bedient oder schlecht beherbergt, oder es wurde sonst etwas versehen. Kurz, es gab Streit, und der Räzünser streckt den Judex. Der Vater hat den Schwieger zu rächen, berennt Räzüns eine Woche lang und bricht es. Inzwischen bestattet das Weib den Judex und reitet nach Hause. Dort sucht sie der Vater, mit Beute beladen. Er stößt ins Horn, der Sitte gemäß. Sie tritt ins Tor, sagt den Spruch und kredenzt den Wulfenbecher, den ihr der Vater in Chur nach wölfischer Sitte als Morgengabe gereicht hatte. Kredenzt ihn mit drei Schlücken. Der Arbogast, der durstig daneben stand, hat sie gezählt: drei herzhafte Schlücke. Der Vater nimmt den Becher, leert ihn auf einen Zug und haucht die Seele aus. War es so oder war es anders, Bischofsneffe?«

»Wörtlich und zum Beschwören so«, bestätigte Graciosus. »Von hundert Zeugen, die den Burghof füllten, zu beschwören! Soviel ihrer noch am Leben sind. Und solches ist geschehen nicht im Zwielichte, nicht bei flackernden Spänen, sondern im Angesicht der Sonne zu klarer Mittagszeit. Der Comes, dein Vater, war rasend geritten, hatte im Bügel manchen Trunk getan« –

»Und mit fliegender Lunge ins Horn gestoßen, vergiß nicht!« höhnte Wulfrin.

»Er triefte und keuchte« –

»Er lechzte wie eine Bracke!« überbot ihn Wulfrin.

»Er sehnte sich nach seinem Weibe«, dämpfte Graciosus.

»Trunken und brünstig! unter gebleichten Haaren! pfui! Ist das zum Abmalen und an die Wand heften? Was will die Judicatrix? Mich schwören lassen, daß wir Wölfe gemeinhin am Schlage sterben? Was freilich auf die Wahrheit herausliefe.«

»Es ist ihr Wille so, und man gehorcht ihr in Rätien.«

»Seht einmal da! ihr Wille!« hohnlachte Wulfrin. »Mein Wille ist es nicht, und meine Heimat ist nicht ein Bergwinkel, sondern die weite Welt, wo der Kaiser seine Pfalz bezieht oder sein Zelt aufschlägt. Sage du deiner Richterin, Wulfrin sei kein Laurer noch Argwöhner! Sie rühre nicht an die Sache! Sie zerre den Vater nicht aus dem Grabe! Ich lasse sie in Ruhe, kann sie mich nicht ruhig lassen?« Er drohte mit der Hand, als stünde die Stiefmutter vor ihm. Dann spottete er: »Hat das Weib den Narren gefressen an Spruch und Urteil? Hat es eine kranke Lust an Schwur und Zeugnis? Kann es sich nicht ersättigen an Recht und Gericht?«

»Es ist etwas Wahres daran«, sagte Graciosus lächelnd. »Frau Stemma liebt das Richtschwert und befaßt sich gerne mit seltenen und verwickelten Fällen. Sie hat einen großen und stets beschäftigten Scharfsinn. Aus wenigen Punkten errät sie den Umriß einer Tat, und ihre feinen Finger enthüllen das Verborgene. Nicht daß auf ihrem Gebiete kein Verbrechen begangen würde, aber geleugnet wird keines, denn der Schuldige glaubt sie allwissend und fühlt sich von ihr durchschaut. Ihr Blick dringt durch Schutt und Mauern, und das Vergrabene ist nicht sicher vor ihr. Sie hat sich einen Ruhm erworben, daß fernher durch Briefe und Boten ihr Weistum gesucht wird.«

»Das Weib gefällt mir immer weniger«, grollte Wulfrin. »Der Richter walte seines Amtes schlecht und recht, er lausche nicht unter die Erde und schnüffle nicht nach verrauchtem Blute.«

Graciosus begütigte. »Sie redet davon, ihr Haus zu bestellen, obwohl sie noch in Blüte und Kraft steht. Vielleicht sorgt sie, wenn sie nicht mehr da wäre, könntest du deine Schwester in Unglück stürzen« –

»In Unglück?«

»Ich meine, sie berauben und verjagen unter dem Vorwande einer unaufgeklärten und ungeschlichteten Sache. Darum, vermute ich, will sie dich nach Malmort haben und sich mit dir vertragen.«

Wulfrin lachte. »Wirklich?« sagte er. »Sie hat einen schönen Begriff von mir. Meine Schwester plündern? Das arme Ding! Im Grunde kann es nicht dafür, daß es auf die Welt gekommen ist. Doch auch von ihr will ich nichts wissen.« Während er redete, zählte sein Blick die Jahresringe der jungen Palme. »Fünfzehn Ringe?« sagt er.

»Fünfzehn Jahre«, berichtigte Graciosus.

»Und wie schaut sie?«

»Stark und warm«, antwortete Gnadenreich mit einem unterdrückten Seufzer. »Sie ist gut, aber wild.«

»So ist es recht. Und dennoch will ich nichts von ihr wissen.«

»Sie aber weiß von nichts anderm als von dem fremden, reisigen, fabelhaften Bruder, der sich mit den Sachsen balgt und mit den Sarazenen rauft. ›Wann der Bruder kommt‹ – ›Das gehört dem Bruder‹ – ›Das muß man den Bruder fragen‹ – davon werden ihr die Lippen nicht trocken. Jedes Hifthorn jagt sie auf, sie springt nach deinem Becher und damit an den Brunnen. Sie wäscht ihn, sie reibt ihn, sie spült ihn.«

»Warum, Narr?«

»Weil sie dir ihn kredenzen will und dein Vater sich daraus den Tod getrunken hat.«

»Dummes Ding! Du also wirbst um sie?«

Der ertappte Graciosus errötete wie ein Mädchen. »Die Mutter begünstigt mich, aber an ihr selbst werde ich irre«, gestand er. »Kämest du heim, ich bäte dich, ein Wort mit ihr zu reden.«

Wieder musterte Wulfrin den netten Jüngling und wieder klopfte er ihn auf die Schulter. »Sie hält dich zum besten?« sagte er.

»Sie redet Rätsel. Da ich neulich auf mein Herz anspielte« –

»Schlug sie die Augen nieder?«

»Nein, die schweiften. Dann zeigte sie mit dem Finger einen Punkt im Himmel. Ich blinzte. Ein Geier, der ein Lamm davontrug. Unverständlich.«

»Klar wie der Morgen. ›Raube mich.‹ Das Mädchen gefällt mir.«

»Du willst sie sehen?«

»Niemals.«

Jetzt trat ein Palastschüler mit suchenden Blicken in den Hofraum und dann rasch auf Wulfrin zu. »Du«, sagte er, »die Messe ist aus, der König verläßt die Kirche.« Der »Kaiser« wollte ihm noch nicht über die Zunge.

Wulfrin sprang auf. »Nimm mich mit!« bat Graciosus, »damit ich dem Herrn der Erde nahe trete und ihn reden höre.«

»Komm«, willfahrte Wulfrin gutmütig, und bald standen sie neben dem Kaiser, vor welchem ein ehrwürdiger, aber etwas verwilderter Graubart das Knie bog. Gnadenreich erkannte Rudio, den Kastellan auf Malmort, und wunderte sich, welche Botschaft der Räter bringe, denn Karl hielt ein Schreiben in der Hand. Er reichte es dem Abte, und Alcuin las vor:

»Erhabener, da ich höre, Du werdest von Rom nach dem Rheine ziehen, flehe ich Dich an, daß Du Deinen Weg durch Rätia nehmest. Seit Jahren haben sich in unsern verwickelten Tälern versprengte Lombarden eingenistet unter einem Witigis, der sich Herzog nennt. Wir, die Herrschenden im Lande, unter uns selbst uneins und ohne Haupt, werden nicht mit ihnen fertig, ja einige von uns zahlen ihnen Tribut. Ein unerträglicher Zustand. Du bist der Kaiser. Wenn du kommst und Ordnung schaffst, so tust Du, was Deines Amtes ist. Stemma, Judicatrix.«

»Keine Schwätzerin«, sagte der Kaiser. »Meine Sendboten haben mir von der Frau erzählt.« Alcuin betrachtete die Handschrift. »Feste Züge«, lobte er.

»Alcuin, du Abgrund des Wissens«, lächelte Karl, »was ist Rätien? Welche Pässe führen dahin?«

Der kleine Abt fühlte sich durch Lob und Frage geschmeichelt, wendete sich aber nicht an den Gebieter, sondern, als der Höfling und der Schulmeister, welcher er war, an die Palastschule, die schon zu einem guten Drittel, den Blondbart inbegriffen, um den Kaiser versammelt stand.

»Jünglinge«, lehrte er und zog die Brauen in die Höhe, »wer seinen Weg durch das rätische Gebirge nimmt, hat, ohne den harten, aber in Stücke zerrissenen Damm einer Römerstraße zu zählen, die Wahl zwischen mehreren Steigen, die sich alle jenseits des Schnees am jungen Rheine zusammenfinden. Diese Wege und Stapfen führen im Geisterlicht der Firne durch ein beirrendes Netz verstrickter Täler, das die Fabel mit ihren zweifelhaften Gestalten und luftigen Schrecken bevölkert. Hier ringelt sich die Schlangenkönigin, wie verlockt von einer Schale Milch, einem blanken Wasser zu, gegenüber, aus einem finstern Borne, taucht die Fei und wehklagt.«

»Lehrer, was hat sie für Gründe dazu?« fragte der Rotbart wißbegierig.

»Sie ahnt das ewige Gut und kann nicht selig werden. Dahinter, zwischen Schnee und Eis, in einem grünen Winkel, weidet eine glockenlose Herde, und ein kolossaler Hirte, halb Firn halb Wolke, neigt sich über sie. Tiefer unten, bei den ersten Stapfen, verliert die harmlose Fabel ihre Kraft, und menschliche Schuld findet ihre Höhlen und Schlupfwinkel. Hier raucht und schwelt eine gebrochene Burg, dort starrt, von Raben umflattert, ein Mörder in den zerschmetternden Abgrund.«

»Wen hat er hinuntergeworfen?« fragte der Rotbart spöttisch.

»Eheu!« jammerte der Abt, »bist du es, Liebling meiner Seele, Peregrin, mein bester Schüler, dessen Knochen in der rätischen Schlucht bleichen?« Er trocknete sich eine Träne. Dann schloß er: »Gegen beides, Fabel und Sünde, hält Bischof Felix in Chur beschwörend seinen Krummstab empor.«

»In schwachen Händen«, scherzte der Kaiser.

»Er ist sehr schön gearbeitet«, rief Graciosus mit der schallenden Stimme eines Chorknaben, »und in seiner Krümmung neigt sich der Verkündigungsengel mit der Inschrift: Friede auf Erden und an den Menschen ein Wohlgefallen.«

Karl gönnte dem Bischofsneffen einen heitern Blick und wendete sich gegen die Schule: »Stammt einer von euch aus Rätien?«

Wulfrin trat vor. »Ich, Herr. Jung bin ich ausgewandert, doch kenne ich Sprache und Steige.«

»So reite und berichte.«

»Dir zu Dienste, Herr«, verabschiedete sich Wulfrin, wurde aber von dem hartnäckigen Gnadenreich gehalten, der sich seiner bemächtigte und ihn vor den Kaiser zurückbrachte. »Durchlauchtigster«, verklagte er ihn, »er soll auf Malmort bei der Richterin, seiner Stiefmutter, erscheinen, keiner andern als die dir den Brief geschrieben hat, und er will nicht. Sie besteht darauf, sich vor ihm zu rechtfertigen über das jähe Sterben ihres Gemahles des Comes Wulf.«

»Jener?« besann sich der Kaiser. »Er hat mir und schon meinem Vater gedient und verunglückte im rätischen Gebirge.«

»Vor dem Kastell und zu den Füßen seines Weibes Stemma, die ihm den Willkomm kredenzt hatte«, erinnerte Gnadenreich.

Karl verfiel in ein Nachdenken. »Eben habe ich für die Seele meines Vaters gebetet«, sagte er. »Kindliche Bande reichen in das Grab. Mich dünkt, Wulfrin, du darfst bei der Richterin nicht ausbleiben. Du bist es deinem Vater schuldig.«

Wulfrin schwieg trotzig. Jetzt griff der Kaiser rechts nach dem Hifthorn, um die ganze Schule zusammenzurufen und ihr seine Befehle zu geben. Es mangelte. Er hatte es im Palaste vergessen oder absichtlich zurückgelassen, um der Messe als ein Friedfertiger beizuwohnen. »Deines, Trotzkopf!« gebot er, und Wulfrin hob sich sein Hifthorn über das Haupt. Karl betrachtete es eine Weile. »Es ist von einem Elk«, sagte er, hob es an den Mund und stieß darein. Da gab das Horn einen so gewaltigen und grauenhaften Ton, daß nicht nur die Höflinge aus allen Ecken und Enden des Kapitols hervorstürzten, sondern auch, was sich ringsum von römischem Volke gehäuft hatte, erstaunt und erschreckt die Köpfe reckte, als nahe ein plötzliches Gericht. Karl aber stand wie ein Cherub.

Im Gedränge des Aufbruchs machte sich der Bischofsneffe noch einmal an den Höfling. »Auf Wiedersehen in Malmort: du gehorchst?«

»Nein«, antwortete Wulfrin.


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