Anton Tschechow
Geschichten in Grau
Anton Tschechow

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Jonytsch

Übersetzt von Alexander Eliasberg

I

Wenn sich die Fremden in der Gouvernementsstadt S. über die Langweile und Eintönigkeit des Lebens beklagten, so rechtfertigten sich die Ortsbewohner, daß es in S. im Gegenteil sogar sehr schön sei, daß man hier eine Bibliothek, ein Theater und einen Klub hätte, daß manchmal Bälle veranstaltet werden und daß es schließlich auch intelligente, interessante, angenehme Familien gäbe, mit denen man verkehren könne. Und sie wiesen gewöhnlich auf die Familie Turkin hin, als auf die intelligenteste und talentierteste.

Diese Familie bewohnte ein eigenes Haus in der Hauptstraße neben dem Hause des Gouverneurs. Iwan Petrowitsch Turkin selbst, ein korpulenter, hübscher Herr mit schwarzem Backenbart, organisierte Liebhabervorstellungen mit wohltätigem Zweck, in denen er selbst die Rollen alter Generäle spielte und dabei sehr komisch hustete. Er kannte zahllose Witze, Wortspiele, Scherzfragen, komische Redensarten, liebte zu witzeln und geistreich zu tun und hatte immer einen solchen Gesichtsausdruck, daß man unmöglich erraten konnte, ob er Scherz oder Ernst mache. Seine Frau, Wjera Jossifowna, eine schmächtige Dame von angenehmem Aeußeren, mit einem Zwicker auf der Nase, schrieb Romane und Novellen und las sie gerne ihren Gästen vor. Die Tochter, Jekaterina Iwanowna, ein achtzehnjähriges junges Mädchen, spielte Klavier. Mit einem Worte, jedes Mitglied dieser Familie hatte irgendein Talent. Die Turkins übten große Gastfreundschaft und zeigten ihren Gästen ihre Talente mit Vergnügen und Herzenseinfalt. In ihrem großen, aus Stein erbauten Hause war es geräumig und im Sommer angenehm kühl, und die Hälfte der Fenster ging nach dem alten schattigen Garten hinaus, wo im Frühjahr die Nachtigallen sangen; wenn im Hause Besuch war, so klopften in der Küche die Messer, im Hofe roch es nach gerösteten Zwiebeln, und das verhieß jedesmal ein reichliches und schmackhaftes Abendessen.

Auch dem Doktor Dmitrij Jonytsch Starzew, der soeben den Posten eines Landarztes bekommen und sich in Djalisch, neun Werst von S. niedergelassen hatte, erklärte man, daß er als gebildeter Mann unbedingt die Familie Turkin kennen lernen müsse. Einmal im Winter machte ihn jemand auf der Straße mit Iwan Petrowitsch bekannt; sie wechselten einige Worte über das Wetter, über das Theater, über die Cholera, und gleich darauf kam auch die Einladung. An einem Feiertage im Frühjahr – es war Himmelfahrt – begab sich Starzew nach der Sprechstunde in die Stadt, um sich etwas zu zerstreuen und auch einige Einkäufe zu machen. Er ging zu Fuß (eigene Pferde hatte er damals noch nicht), und sang vor sich hin:

»Als ich noch keine Tränen trank aus dieses Daseins Kelch . . .«

In der Stadt aß er zu Mittag, ging dann im Stadtgarten spazieren; plötzlich kam ihm die Einladung Iwan Petrowitschs in den Sinn, und er beschloß, die Turkins zu besuchen, um zu sehen, was das für Menschen seien.

»Ich grütze Sie!« empfing ihn Iwan Petrowitsch im Vorzimmer. »Ich bin glücklich, einen so angenehmen Gast bei uns zu sehen. Kommen Sie mit, ich will Sie meinem Ehegespenst vorstellen. Ich sage ihm Wjerotschka,« fuhr er fort, nachdem er den Doktor seiner Frau vorgestellt hatte: »ich sage ihm, daß er nicht das geringste römische Recht hat, immer in seinem Spital zu hocken, und seine freie Zeit der Gesellschaft widmen muß. Nicht wahr, Herzchen?«

»Setzen Sie sich, bitte,« sagte Wjera Jossifowna, ihm einen Platz an ihrer Seite zeigend. »Sie dürfen mir den Hof machen. Mein Mann ist zwar eifersüchtig wie ein Othello, aber wir wollen uns so benehmen, daß er nichts merkt.«

»Ach, du Küken . . .« sagte Iwan Petrowitsch zärtlich und küßte sie auf die Stirn. »Sie kommen gerade recht,« wandte er sich wieder an den Gast: »mein Ehegespenst hat einen mordsgroßen Roman vollendet und wird ihn heute vorlesen.«

»Jeanchen,« wandte sich Wjera Jossifowna an ihren Mann, »dites que l'on nous donne du thé.«

Starzew lernte auch die Tochter Jekaterina Iwanowna kennen, die der Mutter sehr ähnlich sah und ebenso schmächtig wie diese war. Der Ausdruck ihres hübschen Gesichts war noch kindlich, und ihre Figur schlank und graziös; auch der jungfräuliche, schon erblühte, schöne Busen atmete Frühling, echten Frühling. Sie tranken Tee mit Marmelade, Honig, Konfekt und außerordentlich schmackhaftem Gebäck, das im Munde schmolz. Als der Abend anbrach, versammelten sich auch die anderen Gäste, und Iwan Petrowitsch sah einen jeden von ihnen mit seinen lachenden Augen an und sagte:

»Ich grütze Sie!«

Später saßen alle mit sehr ernsten Gesichtern im Salon, während Wjera Jossifowna ihren Roman vorlas. Er begann mit den Worten: »Der Frost nahm zu . . .« Die Fenster standen weit offen, man hörte die Messer in der Küche klopfen und roch die gerösteten Zwiebeln . . . In den weichen, tiefen Sesseln saß es sich so bequem, das Lampenlicht flackerte so freundlich im Dämmer des Salons; und wie man so an diesem Sommerabend saß, die Stimmen und das Lachen von der Straße her hörte und den Fliederduft, der vom Garten kam, einatmete, konnte man sich schwer vorstellen, wie der Frost zunahm und die untergehende Sonne mit ihren kalten Strahlen die schneeverwehte Steppe und den einsamen Wanderer beleuchtete; Wjera Jossifowna las von einer jungen hübschen Gräfin, wie sie in ihrem Dorfe Schulen, Krankenhäuser und Bibliotheken errichtete und wie sie sich in einen wandernden Künstler verliebte; sie las von Dingen, die im Leben niemals vorkommen, und doch war es so angenehm und gemütlich, ihr zuzuhören: allerlei schöne, beruhigende Gedanken kamen einem in den Sinn, und man hatte gar nicht Lust, aufzustehen.

»Nicht übelhaft . . .« sagte leise Iwan Petrowitsch.

Und einer von den Gästen, der mit seinen Gedanken irgendwo sehr weit weg war, sagte kaum hörbar:

»Ja . . . in der Tat . . .«

So vergingen an die zwei Stunden. Im nahen Stadtgarten spielte ein Orchester und sang ein Bauernchor. Als Wjera Jossifowna ihr Manuskript zuklappte, herrschte an die fünf Minuten lang Schweigen, und alle lauschten dem Volksliede, das der Chor sang und das von Dingen erzählte, die es im Roman nicht gab, die aber im Leben wohl vorkommen.

»Lassen Sie Ihre Werke in den Zeitschriften erscheinen?« fragte Starzew Wjera Jossifowna.

»Nein,« antwortete sie, »ich lasse sie nirgends erscheinen. Wenn ich etwas fertig habe, so tue ich es in meinen Schrank. Wozu soll ich es auch drucken? Wir haben ja Mittel.«

Alle seufzten aus irgendeinem Grunde leise auf.

»Und jetzt spiel du etwas vor, Kätzchen,« wandte sich Iwan Petrowitsch an die Tochter.

Man hob den Deckel des Klaviers und schlug das Notenheft auf, das schon bereit lag. Jekaterina Iwanowna setzte sich hin und schlug mit beiden Händen in die Tasten; gleich darauf schlug sie noch einmal mit aller Kraft hin, und dann noch einmal, und noch einmal; ihre Schultern und Brust bebten, sie schlug hartnäckig immer auf die gleiche Stelle los, und man hatte den Eindruck, daß sie nicht eher aufhören wollte, als bis sie die Tasten tief ins Klavier hineingejagt haben würde. Der Salon füllte sich mit Donner; alles dröhnte: der Fußboden, die Decke, die Möbel . . . Jekaterina Iwanowna spielte ein schwieriges Stück, das sehr lang und eintönig, aber gerade durch seine Schwierigkeiten interessant war. Starzew hörte zu und stellte sich vor, daß von einem hohen Berge Steine herabrollen, unaufhörlich herabrollen, und er hatte den Wunsch, daß sie nicht mehr herabrollen; aber Jekaterina Iwanowna, die vor Anspannung ganz rosig war, und so stark und energisch dreinschlug, während ihr eine Locke auf die Stirne gefallen war, gefiel ihm sehr gut. Es war ihm so angenehm, so neu, nach dem Winter, den er in Djalisch unter den Bauern und Kranken verbracht hatte, hier im Salon zu sitzen, dieses junge, hübsche und wahrscheinlich keusche Wesen anzublicken und diesen lauten, ennuyanten, aber immerhin von Kultur zeugenden Tönen zu lauschen . . .

»Kätzchen, du hast heute so gespielt, wie noch nie,« sagte Iwan Petrowitsch mit Tränen in den Augen, als die Tochter fertig war und sich von ihrem Platze erhob. »Nun kannst du ruhig sterben: besser spielst du deinen Lebtag nicht.«

Alle drängten sich um sie, beglückwünschten und bewunderten sie und behaupteten, daß sie schon lange keine solche Musik gehört hätten, sie aber hörte schweigend, leise lächelnd zu, und ihr ganzes Wesen drückte Triumph aus.

»Wunderbar! Herrlich!«

»Wunderschön!« sagte auch Starzew, sich von der allgemeinen Begeisterung hinreißen lassend. »Wo haben Sie Musik studiert?« fragte er Jekaterina Iwanowna: »Am Konservatorium?«

»Nein, aufs Konservatorium will ich erst kommen, vorläufig habe ich hier Stunden genommen, bei der Madame Zawlowska.«

»Haben Sie auch das hiesige Mädchengymnasium besucht?«

»Oh nein!« antwortete Wjera Jossifowna für ihre Tochter. »Wir haben stets Privatlehrer im Haus, Sie werden doch zugeben, daß im Gymnasium oder einem Institut schädliche Einflüsse möglich sind; ein junges Mädchen soll aber nur unter dem Einflusse ihrer Mutter stehen.«

»Und doch gehe ich aufs Konservatorium!« erklärte Jekaterina Iwanowna.

»Nein, Kätzchen liebt die Mama. Kätzchen wird Papa und Mama keinen Kummer machen wollen.«

»Nein, ich gehe doch hin! Ganz bestimmt!« sagte Jekaterina Iwanowna halb im Scherz und stampfte trotzig mit dem Füßchen.

Während des Abendessens zeigte auch Iwan Petrowitsch seine Künste. Nur mit den Augen allein lachend, erzählte er Witze, stellte Scherzfragen, die er sofort selbst beantwortete, und sprach die ganze Zeit seine eigentümliche Sprache, die er sich offenbar durch langjährige Uebungen im Witzemachen angeeignet hatte und die ihm wohl zur Gewohnheit geworden war: nicht übelhaft; leben Sie sowohl, als auch; ich grütze Sie; ich danke vergebens und dergleichen.

Das war aber noch nicht alles. Als die Gäste, satt und zufrieden, sich im Vorzimmer drängten und ihre Mäntel und Stöcke suchten, half ihnen dabei der Lakai Pawluscha, oder Pawa, wie man ihn nannte, ein vierzehnjähriger Junge mit kurzgeschorenem Kopf und Pausbacken.

»Nun, Pawa, produziere dich!« sagte ihm Iwan Petrowitsch.

Pawa stellte sich in Positur, hob einen Arm in die Höhe und sprach in tragischem Ton:

»Stirb, Unselige!«

Und alle lachten.

– Nicht uninteressant, – sagte sich Starzew, als er draußen war.

Er ging noch in ein Restaurant, trank ein Glas Bier und begab sich dann zu Fuß nach Djalisch. Im Gehen sang er ununterbrochen das Rubinsteinsche Lied:

»Die Stimme dein, so zärtlich und so freundlich . . .«

Als er die neun Werst gegangen war und sich später zu Bett legte, spürte er nicht die geringste Müdigkeit; im Gegenteil, er hatte den Eindruck, daß er mit dem größten Vergnügen noch weitere zwanzig Werst gehen könnte.

– Nicht übelhaft . . . – fiel es ihm im Einschlafen ein, und er mußte lachen.

II

Starzew wollte die Turkins bald wieder besuchen, aber im Krankenhause gab es so viel zu tun, daß er unmöglich eine freie Stunde finden konnte. So verbrachte er mehr als ein Jahr in seiner Arbeit, in voller Weltabgeschiedenbeit; plötzlich kam aber aus der Stadt ein Brief in einem blauen Kuvert.

Wjera Jossifowna litt schon seit längerer Zeit an Migräne, in der letzten Zeit aber, als das Kätzchen sie jeden Tag mit der Drohung erschreckte, aufs Konservatorium zu gehen, wiederholten sich ihre Anfälle immer öfter. Sie hatte schon sämtliche Aerzte der Stadt konsultiert, und nun kam die Reihe an den Landarzt. Wjera Jossifowna schrieb ihm einen rührenden Brief, in dem sie ihn bat, zu ihr zu kommen, um ihre Qualen zu lindern. Starzew fuhr hin und besuchte von nun an die Turkins fast jeden Tag . . . Er hatte Wjera Jossifowna tatsächlich ein wenig geholfen, und sie erzählte allen ihren Gästen, daß er ein ganz ungewöhnlicher, wunderbarer Arzt sei. Er besuchte die Turkins aber nicht mehr ihrer Migräne wegen . . .

Ein Feiertag. Jekaterina Iwanowna war mit ihren ermüdenden Fingerübungen fertig. Dann saßen alle lange im Eßzimmer und tranken Tee, und Iwan Petrowitsch erzählte etwas Komisches. Da läutete es an der Türe; der Hausherr mußte ins Vorzimmer, um einen Gast zu begrüßen, und Starzew benutzte den Augenblick und flüsterte Jekaterina Iwanowna in höchster Aufregung zu:

»Um Gottes willen, ich flehe Sie an, quälen Sie mich nicht, kommen Sie mit in den Garten!«

Sie zuckte die Achseln, als verstünde sie nicht, was er von ihr wolle, stand aber auf und ging.

»Sie spielen drei und vier Stunden Klavier,« sagte er, ihr folgend, »dann sitzen Sie mit Ihrer Mama, und ich habe gar keine Möglichkeit, mit Ihnen zu sprechen. Schenken Sie mir doch wenigstens eine Viertelstunde, ich flehe Sie an . . .«

Der Herbst war nicht mehr fern, im alten Garten war es still, und in den Alleen lag braunes Laub. Es dämmerte früh.

»Ich habe Sie schon eine ganze Woche nicht gesehen,« fuhr Starzew fort, »wenn Sie wüßten, wie ich darunter leide! . . . Setzen wir uns hin. Hören Sie mich an.«

Sie hatten einen Lieblingsplatz im Garten: eine Bank unter einem alten schattigen Ahorn. Und sie setzten sich auf diese Bank.

»Was wünschen Sie von mir?« fragte Jekaterina Iwanowna trocken und geschäftsmäßig.

»Ich habe Sie eine ganze Woche nicht gesehen und so lange Ihre Stimme nicht gehört. Ich lechze nach Ihrer Stimme. Sagen Sie doch etwas.«

Sie entzückte ihn durch ihre Frische, durch den naiven Ausdruck der Augen und der Wangen. Selbst darin, wie ihr Kleid saß, sah er etwas ungewöhnlich Liebes und in seiner Einfachheit und naiven Grazie Rührendes. Zugleich erschien sie ihm trotz dieser Naivität sehr klug und viel intelligenter, als es die jungen Mädchen in ihrem Alter sonst sind. Mit ihr konnte er über Literatur, Kunst und alles Mögliche sprechen, obwohl es auch vorkam, daß sie mitten in einem ernsten Gespräch zu lachen anfing, oder aufsprang und davonlief. Sie hatte wie fast alle jungen Mädchen von S. viel gelesen (im allgemeinen las man in S. sehr wenig, und die Angestellten der Stadtbibliothek sagten, daß, wenn es nicht die jungen Mädchen und die jungen Juden gäbe, man die Bibliothek ruhig schließen könnte); dies gefiel Starzew außerordentlich, und er fragte sie jedesmal, aufs tiefste erregt, was sie in den letzten Tagen gelesen habe, und hörte ihr immer begeistert zu.

»Was haben Sie in dieser Woche gelesen, seit wir uns zuletzt gesehen haben?« fragte er auch jetzt. »Sagen Sie es, ich bitte Sie.«

»Ich habe Pissemskij gelesen.«

»Was denn?«

»›Tausend Seelen‹,« antwortete das Kätzchen. »Was für einen komischen Namen hatte dieser Pissemskij: Alexej Feofilaktowitsch!«

»Wo wollen Sie denn hin?« rief Starzew entsetzt, als sie plötzlich aufsprang und fortlief. »Ich habe mit Ihnen zu reden, ich muß mich aussprechen . . . Bleiben Sie wenigstens fünf Minuten mit mir! Ich beschwöre Sie!«

Sie blieb stehen, als wollte sie ihm etwas sagen, drückte ihm ungeschickt einen Zettel in die Hand, lief ins Haus und setzte sich sofort ans Klavier.

»Kommen Sie heute um elf Uhr abends,« las Starzew, »auf den Friedhof zum Grabmal Demetti.«

– Das ist aber gar nicht klug, – sagte er sich, als er sich von seinem Erstaunen erholt hatte. – Warum auf den Friedhof? –

Es war ja klar: das Kätzchen verulkte ihn einfach. Wer wird einen zu einem Stelldichein in der Nacht, weit draußen vor der Stadt, auf dem Friedhofe laden, wenn man es so leicht auf der Straße oder im Stadtgarten machen kann? Und paßt es überhaupt für ihn, den Landarzt, den klugen und soliden Mann, so ein Mädel anzuschmachten, solche Zettelchen zu bekommen, sich auf Friedhöfen herumzutreiben und Dummheiten zu machen, über die heutzutage selbst die Gymnasiasten lachen? Wohin soll dieser Roman führen? Was werden die Kollegen sagen, wenn sie es erfahren? Das alles dachte sich Starzew, als er im Klub zwischen den Kartentischen herumirrte; um halb elf faßte er aber plötzlich den Entschluß und fuhr zum Friedhof.

Jetzt hatte er schon ein eigenes Paar Pferde und den Kutscher Pantelejmon, der eine Samtweste trug. Der Mond schien hell. Alles war still, die Luft war warm, doch von einer eigentümlichen herbstlichen Wärme. In der Vorstadt, in der Nähe des Schlachthauses heulten die Hunde. Starzew ließ seinen Wagen in einer der Gassen an der Stadtgrenze stehen und ging zu Fuß zum Friedhof. – Jeder Mensch hat seine Eigenheiten, – sagte er sich. – Auch das Kätzchen ist so sonderbar, wer weiß, vielleicht ist es ihr Ernst, und sie wird kommen. – Er gab sich dieser schwachen, eitlen Hoffnung hin, und sie berauschte ihn.

Als er eine halbe Werst durch das Feld gegangen war, sah er den Friedhof in der Ferne wie einen dunklen Streifen, wie einen Wald oder einen groben Garten liegen. Bald unterschied er auch schon die weiße Mauer und das Tor . . . Beim Mondscheine konnte man die Inschrift über dem Eingang lesen: »Es kommt die Stunde, und . . .« Starzew trat durch die Nebenpforte ein, und das erste, was er sah, waren die weißen Kreuze und Grabsteine zu beiden Seiten einer breiten Allee und die schwarzen Schatten, die sie und die Pappeln warfen; so weit das Auge reichte, war nur Weißes und Schwarzes zu sehen, und die schlafenden Bäume ließen ihre Zweige über das Weiße herabhängen. Hier schien es heller als draußen im Felde. Die Ahornblätter, die an Tatzen erinnerten, hoben sich scharf vom gelben Sande und den Grabplatten ab, und die Inschriften auf den Grabmälern waren deutlich zu lesen. Im ersten Augenblick war Starzew ganz bestürzt vom Anblick, der sich ihm jetzt zum erstenmal bot und den er wohl nie wieder erleben würde: eine Welt, die keiner anderen glich, eine Welt, wo das Mondlicht so schön und mild war, als ob hier seine Wiege stünde, eine Welt, wo es kein Leben gab, wo aber in jeder dunklen Pappel, in jedem Grabstein ein Geheimnis wohnte, das ein stilles, schönes, ewiges Leben verhieß. Die Grabsteine und die welken Blumen atmeten zugleich mit dem Geruch des Herbstlaubes eine Stimmung von Allverzeihung, Trauer und Ruhe.

Stille ringsum; in tiefer Demut blickten die Sterne vom Himmel herab, und die Schritte Starzews hallten unpassend laut. Und erst als die Kirchenuhr zu schlagen anfing und er sich vorstellte, wie er hier tot, für alle Ewigkeit eingescharrt liegt, kam es ihm vor, als ob ihn jemand anstarrte, und er dachte eine Weile, daß es nicht die Ruhe und nicht die Stille sei, sondern die dumpfe Trauer des Nichtseins, eine unterdrückte Verzweiflung . . .

Das Grabmal Demetti war eine von einem Engel gekrönte Kapelle; in S. hatte sich einmal auf der Durchreise eine italienische Operntruppe aufgehalten; eine der Sängerinnen war hier gestorben und ruhte unter dieser Kapelle. In der ganzen Stadt erinnerte sich ihrer kaum ein Mensch, aber das Lämpchen über dem Eingang glitzerte im Mondlichte und schien zu brennen.

Niemand war da. Wer wird auch zur Mitternachtsstunde herkommen? Aber Starzew wartete. Das Mondlicht erhitzte gleichsam seine Leidenschaft, und er wartete mit Sehnsucht und träumte von Umarmungen und Küssen. So saß er etwa eine halbe Stunde am Grabmal, ging dann, den Hut in der Hand, einmal durch die Seitenalleen und dachte an die vielen Frauen und Mädchen, die hier in diesen Gräbern ruhen, die schön und bezaubernd waren, die liebten und in Liebesnächten vor Leidenschaften verbrannten. Wie grausam macht sich doch Mutter Natur über den Menschen lustig, und wie kränkend ist es, dies zu fühlen! So dachte sich Starzew und zugleich wollte er aufschreien, daß er es nicht wolle, daß er die Liebe um jeden Preis erwarte; was vor ihm schimmerte, war kein Marmor mehr, es waren schöne Körper, er sah die Formen, die sich verschämt im Schatten der Bäume versteckten, er fühlte ihre Wärme, und dieses Gefühl wurde zu einer unerträglichen Qual . . .

Plötzlich fiel der Vorhang: der Mond verschwand hinter den Wolken, und alles war auf einmal dunkel. Starzew fand mit Mühe den Ausgang, – es war schon so dunkel wie in einer richtigen Herbstnacht, – und suchte dann eine halbe Stunde die Gasse, wo er seinen Wagen stehen gelassen hatte.

»Ich bin so müde, daß ich mich kaum auf den Füßen halte,« sagte er zu Pantelejmon.

Und als er sich mit einem Wohlgefühl in den Wagen setzte, dachte er sich:

– Ach, es ist wirklich nicht gut, wenn ich noch mehr zunehme! –

III

Am nächsten Abend fuhr er zu den Turkins, um einen offiziellen Antrag zu machen. Er kam aber ungelegen: Jekaterina Iwanowna war mit dem Friseur in ihrem Zimmer, sie wollte in den Klub zu einem Tanzabend.

Er mußte lange im Eßzimmer sitzen und Tee trinken. Als Iwan Petrowitsch merkte, daß der Gast nachdenklich war und sich langweilte, holte er aus der Westentasche einen Zettel und las einen sehr drolligen Bericht eines deutschen, der russischen Sprache nicht mächtigen, Gutsverwalters vor.

– Sie werden wohl eine recht anständige Mitgift geben, – dachte sich Starzew, kaum zuhörend.

Nach der schlaflosen Nacht fühlte er sich so, als ob er etwas Süßes und Einschläferndes getrunken hätte. Alle seine Empfindungen waren unklar und verworren, aber es war ihm doch freudig und warm ums Herz, obwohl ein kaltes, schweres Stückchen seines Gehirns ihm zuredete:

– Halt ein, solange es nicht zu spät ist! Ist sie denn die richtige Frau für dich? Sie ist launisch, verzogen, ist gewohnt, bis zwei Uhr zu schlafen, du aber bist der Sohn eines Küsters und ein Landarzt . . .

– Was macht denn das? – entgegnete er darauf. – Von mir aus! –

– Außerdem, wenn du sie heiratest, – fuhr das Stückchen Gehirn fort, – werden ihre Eltern dich zwingen, deine Stellung auf dem Lande aufzugeben und in die Stadt zu ziehen. –

– Was macht das? – sagte er sich. – Warum soll ich auch nicht in der Stadt wohnen? Sie werden mir eine Mitgift geben, und wir werden uns schön einrichten . . . –

Endlich erschien Jekaterina Iwanowna in einem ausgeschnittenen Ballkleid mit einem Dekolleté, hübsch, frisch, blühend, und Starzew geriet in solches Entzücken, daß er kein Wort hervorbringen konnte und sie nur anstarrte und lachte.

Sie begann sich zu verabschieden. Da er hier sonst nichts zu suchen hatte, erhob er sich auch und erklärte, daß er heim müsse: seine Patienten erwarteten ihn.

»Nichts zu machen,« sagte darauf Iwan Petrowitsch, »fahren Sie nur heim; Katja kann übrigens mit Ihnen bis zum Klub mitfahren.«

Draußen ging ein feiner Sprühregen nieder, und es war so finster, daß man nur am heiseren Husten Pantelejmons erkennen konnte, wo der Wagen stand. Man hob das Verdeck.

»Essigsaure Tonerde, ißt du saure Tonerde,« deklamierte Iwan Petrowitsch, seiner Tochter in den Wagen helfend, »ißt er saure Tonerde . . . Los! Leben Sie sowohl, als auch!«

Sie fuhren ab.

»Ich war gestern auf dem Friedhofe,« begann Starzew. »Wie wenig großmütig war es von Ihnen und wie grausam!«

»Sie waren auf dem Friedhofe?«

»Ja, ich war da und habe auf Sie fast bis zwei Uhr gewartet. Habe so furchtbar gelitten . . .«

»Leiden Sie nur, wenn Sie keinen Spaß verstehen.«

Jekaterina Iwanowna war höchst zufrieden, daß sie den Verliebten so schön angeführt hatte und daß er sie so leidenschaftlich liebte; sie fing zu lachen an und schrie plötzlich erschrocken auf, da der Wagen in diesem Augenblick in den Hof des Klubs einfuhr und sich stark auf die Seite neigte. Starzew faßte sie um die Taille; sie schmiegte sich erschrocken an ihn, er konnte sich nicht mehr beherrschen und küßte sie leidenschaftlich auf den Mund und auf das Kinn und umarmte sie noch fester.

»Genug!« sagte sie trocken.

Nach einem Augenblick war sie nicht mehr im Wagen, und der Schutzmann vor der hellerleuchteten Klubeinfahrt schrie den Kutscher Pantelejmon mit widerlicher Stimme an:

»Was stehst du da, du Maulaffe? Weiterfahren!«

Starzew fuhr nach Hause, kam aber bald wieder zurück. In einem fremden Frack, mit einer steifen weißen Binde, die immer nach oben rutschen wollte, saß er um Mitternacht im Gesellschaftszimmer des Klubs und sprach begeistert zu Jekaterina Iwanowna:

»Wie wenig wissen die, die niemals geliebt haben! Mir scheint, daß noch kein Dichter die Liebe richtig beschrieben hat, daß man dieses zarte, freudige und qualvolle Gefühl kaum beschreiben kann, und daß ein Mensch, der es auch nur einmal erfahren, es niemals mit Worten wiedergeben wird. Wozu alle die Vorworte und Schilderungen? Wozu die unnötigen Phrasen? Meine Liebe ist grenzenlos . . . Ich bitte, ich flehe Sie an,« entfuhr es ihm plötzlich, »werden Sie die Meine!«

»Dmitrij Jonytsch,« sagte Jekaterina Iwanowna nach kurzer Ueberlegung mit sehr ernstem Gesichtsausdruck, Dmitrij Jonytsch, ich danke Ihnen für die Ehre, ich achte Sie sehr, aber . . .« Sie erhob sich und fuhr stehend fort: »Aber entschuldigen Sie, ich kann nicht die Ihre werden. Wollen wir uns ernst aussprechen. Dmitrij Jonytsch, Sie wissen, daß ich mehr als alles im Leben die Kunst liebe, daß ich die Musik vergöttere und ihr mein ganzes Leben geweiht habe. Ich will Künstlerin werden, ich dürste nach Ruhm, nach Erfolgen, nach Freiheit, Sie aber wollen, daß ich auch weiterhin in dieser Stadt lebe und dieses leere, unnütze Leben, das mir unerträglich ist, fortführe. Ich soll heiraten? Oh, nein, entschuldigen Sie! Der Mensch muß nach höheren, glänzenderen Zielen streben, das Familienleben würde mich aber für immer fesseln. Dmitrij Jonytsch (sie lächelte leise, da sein Name sie plötzlich an ›Alexej Feofilaktowitsch‹ erinnerte), Dmitrij Jonytsch, Sie sind ein guter, edler, kluger Mensch, Sie sind besser als alle . . .« Tränen traten ihr in die Augen. »Ich fühle mit ganzem Herzen mit Ihnen, aber . . . aber Sie müssen mich verstehen . . .«

Um nicht in Tränen auszubrechen, wandte sie sich ab und verließ das Zimmer.

Starzews unruhiges Herzklopfen hörte auf einmal auf. Als er wieder auf der Straße war, riß er sich vor allen Dingen die steife Binde herunter und holte tief Atem. Er schämte sich ein wenig, sein Ehrgeiz war verletzt, – er hatte den Korb nicht erwartet, – und er konnte noch nicht glauben, daß alle seine Träume, Gedanken und Hoffnungen ein so dummes Ende genommen haben wie irgendeine alberne Posse in einer Liebhaberaufführung. Sein Gefühl, seine Liebe taten ihm so sehr leid, daß er imstande gewesen wäre, zu weinen oder den Kutscher Pantelejmon aus aller Kraft mit dem Regenschirm auf den breiten Rücken zu hauen.

An die drei Tage konnte er weder arbeiten, noch essen und schlafen; als er aber hörte, daß Jekaterina Iwanowna nach Moskau verreist war, um ins Konservatorium einzutreten, beruhigte er sich und lebte wieder so wie vorher.

Als er sich später manchmal daran erinnerte, wie er auf dem Friedhofe herumgeirrt oder wie er in der ganzen Stadt auf der Suche nach einem Frack herumgelaufen war, reckte er träge seine Glieder und sagte:

»So viele Scherereien . . .«

IV

Vier Jahre waren vergangen. Starzew hatte schon in der Stadt eine große Praxis. Jeden Morgen empfing er in großer Hast seine Djalischer Patienten und begab sich dann in die Stadt, von wo er erst spät in der Nacht zurückkehrte. Jetzt fuhr er nicht mehr mit einem Paar Pferde, sondern mit einer Troika mit Schellengeläute. Er war dick und behäbig geworden und ging ungern zu Fuß, da er an Atemnot litt. Auch Pantelejmon war dick geworden, und je mehr er in die Breite ging, um so trauriger seufzte und beklagte er sich über sein bitteres Los: das viele Fahren bringe ihn um! Starzew kam in verschiedene Häuser und lernte viele Menschen kennen, wurde aber mit niemand intim. Alle Stadtbewohner ärgerten ihn mit ihren Gesprächen, Lebensanschauungen und selbst mit ihrem Aussehen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß so ein Bürger, solange man mit ihm Karten spielt oder trinkt, ein friedlicher, gutmütiger und sogar gar nicht dummer Mensch ist; kaum versucht man aber mit ihm über etwas, was sich nicht auf das Essen bezieht, über Politik oder Wissenschaft zu sprechen, so ist er auf einmal ganz blöd, oder äußert so stumpfsinnige und gehässige Ansichten, daß nichts anderes übrigbleibt, als ihn stehen zu lassen und wegzugehen. Wenn Starzew mit irgendeinem, sogar liberalen Bürger z. B. darüber zu sprechen versuchte, daß die Menschheit, Gott sei Dank, vorwärts schreite und sich mit der Zeit auch ohne Pässe und Todesstrafe behelfen werde, so schielte ihn der Bürger mißtrauisch an und fragte: »Dann darf also jedermann jeden Menschen auf offener Straße abschlachten?« Und wenn Starzew in Gesellschaft bei einem Abendessen oder Tee sagte, daß alle Menschen arbeiten müssen und daß man ohne Arbeit nicht leben dürfe, so faßte es ein jeder als einen Vorwurf auf und begann zu widersprechen oder wurde böse. Dabei lebten die Bürger absolut müßig und interessierten sich für nichts, so daß man sich unmöglich ausdenken konnte, worüber mit ihnen zu sprechen. Und Starzew mied auch alle Gespräche und beschränkte seinen Verkehr darauf, daß er mit den Leuten trank oder Whist spielte; wenn er irgendwo zu einer Familienfeier geladen war, so aß er schweigend und blickte von seinem Teller nicht auf; alles, was um ihn her gesprochen wurde, war uninteressant, ungerecht und dumm, er spürte Aerger, regte sich auf, aber schwieg. Und weil er immer schwieg und in den Teller blickte, nannten ihn die Leute »aufgeblasener Pollake«, obwohl er mit Polen gar nichts zu tun hatte.

Theater und Konzerte besuchte er nicht, spielte aber dafür jeden Abend mit Hochgenuß drei Stunden Whist. Er hatte noch eine Zerstreuung, die ihm ganz allmählich zu einer Leidenschaft geworden war: allabendlich die durch die Praxis verdienten Banknoten aus den Taschen zusammenzukramen; es kam vor, daß die gelben Einrubelscheine und die grünen Dreirubelscheine, die nach Parfüm, Essig, Weihrauch und Tran rochen, zusammen ganze siebzig Rubel ausmachten. Und wenn er einige Hunderte beisammen hatte, brachte er sie auf die Gesellschaft für gegenseitigen Kredit und ließ sie sich auf sein Konto gutschreiben.

In den vier Jahren seit der Abreise Jekaterina Iwanownas hatte er die Turkins nur zweimal besucht, beide Male auf Einladung Wjera Jossifownas, die noch immer an Migräne litt. Jekaterina Iwanowna kam jeden Sommer zu ihren Eltern auf Besuch, aber es traf sich immer so, daß er sie nicht sah.

Nun waren die vier Jahre um. An einem stillen, warmen Morgen brachte man ihm ins Krankenhaus einen Brief. Wjera Jossifowna schrieb, daß sie sich nach Dmitrij Jonytsch sehne und bat ihn unbedingt zu kommen, um ihre Qualen zu lindern; übrigens habe sie heute Geburtstag. Unten stand die Nachschrift: »Auch ich schließe mich der Bitte Mamas an. K.«

Starzew überlegte sich die Sache und fuhr am Abend zu den Turkins.

»Ich grütze Sie!« empfing ihn Iwan Petrowitsch mit den Augen allein lächelnd. »Bon jour!«

Wjera Jossifowna, die stark gealtert war und graues Haar hatte, drückte Starzew die Hand, seufzte manieriert und sagte:

»Sie wollen mir wohl nicht mehr den Hof machen, denn Sie kommen nicht mehr zu uns. Ich bin wohl zu alt für Sie. Nun ist aber die Junge gekommen, vielleicht wird sie mehr Glück haben.«

Und das Kätzchen? Sie war magerer, bleicher, hübscher und schlanker geworden; aber sie war Jekaterina Iwanowna und kein Kätzchen mehr; die frühere Frische und der kindlich naive Ausdruck waren verschwunden. In den Blicken und den Manieren lag etwas Neues, Aengstliches und Schuldbewußtes, als fühlte sie sich hier bei den Turkins nicht mehr zu Hause.

»Gott, wie lange haben wir uns nicht gesehen!« sagte sie, Starzew die Hand reichend, und er konnte sehen, wie erregt ihr Herz klopfte; sie blickte ihm gespannt und neugierig ins Gesicht und fuhr fort: »Wie voll Sie geworden sind! Sie sind braun und etwas älter geworden, haben sich aber sonst wenig verändert.«

Auch jetzt gefiel sie ihm, gefiel ihm gut, doch etwas fehlte an ihr, oder etwas war an ihr zu viel, – er wußte selbst nicht zu sagen, was es war; aber etwas ließ in ihm nicht mehr die früheren Gefühle aufkommen. Ihm mißfiel ihre Blässe, ihr neuer Ausdruck, das matte Lächeln, die Stimme, und etwas später mißfiel ihm auch schon ihr Kleid, der Sessel, in dem sie saß; auch in der Vergangenheit, als er sie beinahe geheiratet hätte, mißfiel ihm etwas. Er gedachte seiner Liebe, seiner Träume und Hoffnungen, die ihn vor vier Jahren erfüllt hatten, und wurde auf einmal verlegen.

Man trank Tee mit Kuchen. Dann las Wjera Jossifowna einen Roman vor, las von Dingen, die im Leben niemals vorkommen, und Starzew hörte zu, sah ihren grauen schönen Kopf an und wartete, daß sie aufhöre.

– Talentlos – dachte er sich – ist nicht der, der keine Novellen zu schreiben versteht, sondern der, der sie schreibt und es nicht verheimlichen kann.

»Nicht übelhaft,« sagte Iwan Petrowitsch.

Nach der Vorlesung spielte Jekaterina Iwanowna sehr lange und sehr laut Klavier, und als sie fertig war, dankte man ihr und war entzückt über ihr Spiel.

– Es ist doch gut, daß ich sie nicht geheiratet habe, – dachte sich Starzew.

Sie sah ihn an und erwartete offenbar, daß er ihr vorschlagen werde, in den Garten zu gehen, er aber schwieg.

»Nun, wollen wir ein wenig sprechen,« sagte sie, auf ihn zugehend. »Wie leben Sie? Wie geht es Ihnen? Ich habe alle diese Tage an Sie gedacht,« fuhr sie nervös fort, »ich wollte Ihnen schreiben, wollte selbst zu Ihnen nach Djalisch kommen, und wäre auch gekommen, wenn ich es mir nicht überlegt hätte: Gott allein weiß, was Sie von mir jetzt halten. Mit solcher Aufregung habe ich Sie heute erwartet. Um Gottes willen, gehen wir doch in den Garten.«

Sie gingen in den Garten und setzten sich auf die gleiche Bank unter dem alten Ahorn wie vor vier Jahren. Es war finster.

»Nun, wie geht es Ihnen?« fragte Jekaterina Iwanowna.

»Danke, es geht,« antwortete Starzew.

Und er wußte nichts mehr zu sagen. Beide schwiegen.

»Ich bin so aufgeregt,« sagte Jekaterina Iwanowna nach einer Weile und bedeckte das Gesicht mit den Händen: »aber achten Sie darauf nicht. Ich fühle mich so wohl zu Hause, ich bin so froh, alle wiederzusehen und kann mich gar nicht gewöhnen. So viele Erinnerungen! Ich glaubte, daß wir bis morgen früh sprechen würden.«

Jetzt sah er ihr Gesicht und ihre glänzenden Augen in der Nähe, und sie erschien ihm hier im Dunkeln jünger als im Zimmer, und selbst ihr kindlicher Ausdruck von einst war zurückgekehrt. Sie blickte ihn tatsächlich mit naiver Neugier an, als wollte sie sich den Menschen, der sie einst so heiß, so zärtlich und so unglücklich geliebt hatte, näher ansehen und begreifen. Und er erinnerte sich des Vergangenen mit allen Einzelheiten, wie er auf dem Friedhofe herumgeirrt war und wie er dann beim Morgengrauen todmüde nach Hause zurückkehrte, und es wurde ihm plötzlich traurig zumute, und das Vergangene tat ihm leid. In seiner Seele glimmte wieder ein Feuer.

»Erinnern Sie sich noch, wie ich Sie zum Tanzabend im Klub begleitete?« sagte er. »Es regnete und war stockfinster.«

Das Flämmchen lohte immer stärker, und er hatte Lust, zu sprechen und sich über das Leben zu beklagen . . .

»Ach ja!« sagte er mit einem Seufzer. »Sie fragten soeben, wie es mir geht. Wie geht es uns hier allen? Wir werden alt, fett und sinken immer tiefer. Ein Tag ist wie der andere, das Leben vergeht farblos, ohne Eindrücke, ohne Gedanken . . . Bei Tage verdiene ich Geld, und abends sitze ich im Klub in Gesellschaft von Spielern und Alkoholikern, die ich nicht leiden kann. Es ist gar nicht schön.«

»Aber Sie haben Ihre Arbeit, ein edles Lebensziel. Sie sprachen einst mit solcher Liebe von Ihrem Krankenhaus. Ich war damals so eigen, bildete mir ein, eine hervorragende Pianistin zu sein. Alle jungen Mädchen spielen heute Klavier, und ich spielte ebenso wie die anderen, durchaus nicht hervorragend; ich bin als Pianistin dasselbe, was meine Mama als Dichterin ist. Natürlich hatte ich Sie damals nicht verstanden, aber später, in Moskau dachte ich oft an Sie. Ich dachte überhaupt nur an Sie. Was für ein Glück ist es, Landarzt zu sein und dem leidenden Volke zu dienen! Was für ein Glück!« wiederholte Jekaterina Iwanowna mit Begeisterung. »Als ich an Sie in Moskau dachte, erschienen Sie mir als ein idealer, erhabener Mensch . . .«

Starzew mußte an die Banknoten denken, die er jeden Abend mit solchem Genuß aus seinen Taschen zusammenkramte, und das Flämmchen in seiner Seele erlosch.

Er stand auf, um ins Haus zu gehen. Sie nahm seinen Arm.

»Sie sind der Beste von allen Menschen, die mir im Leben begegnet sind,« fuhr sie fort. »Wir werden uns jetzt öfter sehen und sprechen, nicht wahr? Versprechen Sie es mir. Ich bin keine Pianistin, ich bilde mir nichts mehr ein, und werde in Ihrer Anwesenheit weder spielen noch von Musik sprechen.«

Als sie ins Haus kamen und Starzew bei Abendbeleuchtung ihr Gesicht und ihre traurigen, dankbaren, fragenden Augen, die sie auf ihn gerichtet hielt, sah, empfand er eine gewisse Unruhe und sagte sich wieder:

– Es ist doch gut, daß ich sie damals nicht geheiratet habe. –

Er begann Abschied zu nehmen.

»Sie haben gar kein römisches Recht, vor dem Abendessen wegzugehen,« sagte Iwan Petrowitsch, ihn hinausbegleitend. »Das ist von Ihrer Seite höchst unpopulär. Nun, produziere dich!« wandte er sich im Vorzimmer an Pawa.

Pawa, der kein Junge mehr, sondern ein junger Mann mit einem Schnurrbart war, stellte sich in Positur, hob eine Hand und sprach mit tragischer Stimme:

»Stirb, Unselige!«

All das ärgerte Starzew. Als er sich in den Wagen setzte und auf das dunkle Haus und den Garten zurückblickte, die ihm einst so lieb gewesen, kam ihm wieder alles in den Sinn: die Romane Wjera Jossifownas, das laute Klavierspiel des Kätzchens, die Witze Iwan Petrowitschs, die tragische Positur Pawas, und er sagte sich, was das doch für eine traurige Stadt sein müsse, wo die talentiertesten Menschen so furchtbar talentlos seien.

Nach drei Tagen brachte ihm Pawa einen Brief von Jekaterina Iwanowna.

»Sie kommen nicht mehr zu uns. Warum?« schrieb sie ihm: »Ich fürchte, daß Ihr Verhältnis zu uns sich geändert hat, ich fürchte es, und vor diesem Gedanken ist es mir ganz bange zumute. Beruhigen Sie mich, kommen Sie zu uns und sagen Sie mir, daß alles gut ist.

Ich muß Sie sprechen.

Ihre J. T.«

Er las den Brief, überlegte sich eine Weile und sagte zu Pawa:

»Sag ihr, mein Bester, daß ich heute beschäftigt bin und nicht kommen kann. Sag, daß ich so in drei Tagen kommen werde.«

Es vergingen aber drei Tage, und acht Tage, und er ließ sich nicht blicken. Als er einmal am Hause der Turkins vorbeifuhr, fiel ihm ein, daß er doch eigentlich für ein paar Minuten hineinschauen sollte, – das dachte er sich und ging doch nicht hin.

Und er kam nie wieder zu den Turkins.

Es sind noch einige Jahre vergangen. Starzew ist noch dicker und fetter geworden, atmet schwer und wirft im Gehen den Kopf in den Nacken zurück. Wenn er aufgedunsen und rot in seiner Troika mit dem Schellengeläute fährt und Pantelejmon, der ebenso dick und rot geworden ist und einen fleischigen Nacken hat, auf dem Bocke sitzt, die Arme so gerade, wie wenn sie aus Holz wären, vor sich ausgestreckt, und die Leute auf der Straße anschreit: »Rechts!«, – so ist das Bild so imposant, als ob kein Mensch, sondern ein Götze im Wagen säße. Er hat in der Stadt eine riesengroße Praxis, die ihm keinen Augenblick freie Zeit läßt, besitzt ein Gut und zwei Häuser in der Stadt und ist eben im Begriff, ein drittes Haus möglichst vorteilhaft zu kaufen. Wenn er in der »Gesellschaft für gegenseitigen Kredit« von einem Hause hört, das zum Verkaufe steht, so begibt er sich in dieses Haus, geht ungeniert durch alle Zimmer, ohne auf die nicht angekleideten Frauen und Kinder, die ihn mit Erstaunen und Angst angaffen, zu achten, tippt mit dem Spazierstock an alle Türen und fragt:

»Ist hier das Kabinett? Hier das Schlafzimmer? Und was ist hier?«

Dabei atmet er schwer und wischt sich den Schweiß aus der Stirn.

Er hat furchtbar viel zu tun, und doch gibt er die Landarztstelle nicht auf; so gierig ist er und will ja keinen Pfennig verlieren. In Djalisch und in der Stadt nennt man ihn jetzt ganz kurz »Jonytsch«. – »Wo fährt der Jonytsch hin?« oder: »Soll man nicht den Jonytsch zum Konsilium rufen?«

Seine Stimme hat sich verändert und ist hoch und schneidend geworden, wohl weil seine Kehle verfettet ist. Auch sein Charakter hat sich verändert: er ist unverträglich und reizbar. Wenn er seine Kranken empfängt, klopft er ungeduldig mit dem Stock gegen den Boden und schreit mit böser widerlicher Stimme:

»Wollen Sie nur meine Fragen beantworten! Keine überflüssigen Gespräche!«

Er ist einsam. Sein Leben ist langweilig, und er hat für nichts Interesse.

Wahrend der ganzen Zeit, seit er in Djalisch wohnt, war seine Liebe zum Kätzchen seine einzige und wohl auch seine letzte Freude gewesen. Abends spielt er im Klub Whist und ißt dann allein am großen Tisch zu Abend. Ihn bedient der älteste und geachtetste Kellner Iwan; er trinkt den Lafitte Nr. 17; die Vorsteher des Klubs, der Koch und der Kellner, alle wissen genau, was er liebt, und was er nicht liebt, und bemühen sich, ihn nach Möglichkeit zufriedenzustellen, damit er nicht auffährt und mit dem Stock gegen den Boden klopft.

Beim Abendessen wendet er sich manchmal um und mischt sich in ein fremdes Gespräch ein:

»Von wem sprachen Sie eben? Wie?«

Und wenn mal an einem der Nebentische die Rede auf die Turkins kommt, so fragt er:

»Was für Turkins meinen Sie? Die, wo die Tochter Klavier spielt?«

Das ist alles, was man über ihn berichten kann.

Und die Turkins? Iwan Petrowitsch ist gar nicht gealtert, hat sich nicht verändert und macht noch immer seine Witze; Wjera Jossifowna liest den Gästen nach wie vor in aller Herzenseinfalt ihre Romane vor. Und das Kätzchen spielt täglich an die vier Stunden Klavier. Sie ist sichtlich älter geworden, kränkelt und geht jeden Herbst mit der Mutter nach der Krim. Iwan Petrowitsch gibt ihnen das Geleite, und wenn der Zug sich in Bewegung setzt, wischt er sich die Tränen aus den Augen und ruft:

»Leben Sie sowohl, als auch!«

Und winkt mit dem Taschentuch.


 << zurück