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Fünfte Studie
Die »Tragödie der Kultur«

Hegel hat von der Weltgeschichte gesagt, daß sie nicht die Stätte des Glückes sei; die friedlichen und glücklichen Perioden seien leere Blätter im Buche der Geschichte. Seine Grundüberzeugung, daß »alles in der Geschichte vernünftig zugehe«, fand er dadurch keineswegs widerlegt; er sah in diesem Satze vielmehr ihre Bestätigung und Bekräftigung. Aber was bedeutet Sieg der Idee in der Weltgeschichte, wenn er mit dem Verzicht auf alles menschliche Glück erkauft werden muß? Klingt eine solche Theodizee nicht fast wie Hohn, und war nicht Schopenhauer im Recht, wenn er erklärte, daß der Hegelsche »Optimismus« nicht nur eine absurde, sondern auch eine ruchlose Denkweise sei? Fragen dieser Art haben sich, gerade in den reichsten und glänzendsten Kulturepochen, dem Menschengeist immer wieder aufgedrängt. Man empfand die Kultur, statt einer Bereicherung, vielmehr als eine immer weitere Entfremdung vom eigentlichen Ziele des Daseins. Mitten in der Aufklärungszeit erhebt Rousseau seine flammende Anklagerede gegen die »Künste und Wissenschaften«. Sie haben den Menschen in sittlicher Hinsicht entnervt und verweichlicht, und sie haben in physischer Hinsicht seine Bedürfnisse nicht befriedigt, sondern statt dessen tausend unstillbare Triebe in ihm erregt. Alle Kulturwerte sind Phantome, denen wir entsagen müssen, wenn wir nicht ständig dazu verurteilt sein sollen, aus dem Faß der Danaiden zu schöpfen. Mit dieser Anklage hat Rousseau den Rationalismus des 18. Jahrhunderts in seinen Grundfesten erschüttert. Hier liegt die tiefe Wirkung, die er auf Kant geübt hat. Durch Rousseau sieht sich Kant vom bloßen Intellektualismus befreit und auf einen neuen Weg gewiesen. Er glaubt nicht länger, daß eine Steigerung und Verfeinerung der intellektuellen Kultur alle Rätsel des Daseins lösen und alle Schäden der menschlichen Gesellschaft heilen könne. Die bloße Verstandeskultur vermag den höchsten Wert des Menschentums nicht zu begründen; sie muß durch andere Mächte geregelt und im Zaum gehalten werden. Aber selbst wenn das geistig-sittliche Gleichgewicht erreicht, wenn der praktischen Vernunft der Primat vor der theoretischen gesichert wird, bleibt die Hoffnung, daß damit auch das Glücksverlangen des Menschen gestillt werden könne, eitel. Vom »Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee« ist Kant tief überzeugt. So bleibt für ihn keine andere Lösung als jene radikale Ausmerzung des Eudämonismus, die er in der Grundlegung seiner Ethik versucht hat. Wäre die Glückseligkeit das eigentliche Ziel des menschlichen Strebens, so wäre damit die Kultur ein für allemal gerichtet. Ihre Rechtfertigung kann nur darin liegen, daß man einen anderen Wertmaßstab einführt. Der wahre Wert liegt nicht in den Gütern, die der Mensch als ein Geschenk der Natur und der Vorsehung empfängt. Er liegt allein in seinem eigenen Tun und in dem, wozu er sich durch dieses Tun macht. Damit nimmt Kant die Voraussetzung Rousseaus an, ohne aus ihr die gleiche Folgerung zu ziehen. Rousseaus Ruf: »Zurück zur Natur!« könnte dem Menschensein Glück wiedergeben und sichern; aber damit würde der Mensch zugleich seiner eigentlichen Bestimmung entfremdet. Denn diese Bestimmung liegt nicht im Sinnlichen, sondern im Intelligiblen. Nicht die Glückseligkeit, sondern die »Glückwürdigkeit« ist das, was die Kultur dem Menschen verspricht und was sie ihm allein geben kann. Ihr Ziel ist nicht die Verwirklichung des Glückes auf Erden, sondern die Verwirklichung der Freiheit, der echten Autonomie, die nicht die technische Herrschaft des Menschen über die Natur, sondern die moralische Herrschaft über sich selbst bedeutet.

Damit glaubt Kant das Problem der Theodizee aus einem metaphysischen Problem in ein rein ethisches Problem verwandelt und es kraft dieser Umwandlung kritisch gelöst zu haben. Aber nicht alle Zweifel, die man gegen den Wert der Kultur richten kann, sind damit beschwichtigt. Denn ein anderer und ein viel tieferer Widerstreit scheint sich zu ergeben, wenn man das neue Ziel ins Auge faßt, das hier der Kultur gestellt wird. Kann sie dieses Ziel wirklich erreichen? Ist es sicher, daß der Mensch in der Kultur und durch sie die Erfüllung seines eigentlichen »intelligiblen« Wesens finden kann, daß er hier zwar nicht zur Befriedigung all seiner Wünsche, wohl aber zur Entwicklung all seiner geistigen Kräfte und Anlagen gelangen wird? Dies wäre nur dann der Fall, wenn er die Schranke der Individualität überspringen, wenn er sein eigenes Ich zum Ganzen der Menschheit erweitern könnte. Aber eben in diesem Versuch fühlt er seine Grenze um so deutlicher und um so schmerzlicher. Denn es gibt auch hier ein Moment, das die Spontaneität, die reine Selbsttätigkeit des Ich bedroht und unterdrückt, statt sie zu erhöhen und zu steigern. Vertieft man sich in diese Seite des Problems, so gewinnt es damit erst seine volle Schärfe. Georg Simmel hat in einem Aufsatz, dem er den Titel gegeben hat: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, die Frage in voller Bestimmtheit gestellt. Aber er verzweifelt an ihrer Lösung. Die Philosophie kann nach ihm den Konflikt nur aufweisen; sie kann keinen endgültigen Ausweg aus ihm versprechen. Denn die Reflexion zeigt uns, je tiefer sie dringt, um so mehr die dialektische Struktur des Kulturbewußtseins. Der Fortschritt der Kultur beschenkt die Menschheit mit immer neuen Gaben; aber das einzelne Subjekt sieht sich vom Genuß derselben mehr und mehr ausgeschlossen. Und wozu dient ein Reichtum, den das Ich niemals in seinen lebendigen Besitz verwandeln kann? Wird es durch ihn nicht lediglich beschwert, statt durch ihn befreit zu werden? In solchen Erwägungen tritt uns der Kultur=Pessimismus erst in seiner schärfsten und radikalsten Fassung entgegen. Denn nun trifft er auf die verwundbarste Stelle. Er weist auf einen Mangel hin, von dem uns keine geistige Entwicklung befreien kann, weil er im Wesen dieser Entwicklung selbst liegt. Die Güter, die sie schafft, wachsen ständig an Zahl; aber gerade in diesem Wachstum hören sie auf, für uns nutzbar zu werden. Sie werden zu einem Bloß-Objektiven, zu einem Dinglich-Vorhandenen und -Gegebenen, das sich aber vom Ich nicht mehr fassen und umfassen läßt. Unter ihrer Mannigfaltigkeit und unter ihrem ständig zunehmenden Gewicht sieht sich das Ich erdrückt. Es schöpft aus der Kultur nicht mehr das Bewußtsein seiner Macht, sondern nur die Gewißheit seiner geistigen Ohnmacht.

Den eigentlichen Grund für diese »Tragödie der Kultur« sieht Simmel darin, daß die scheinbare Verinnerlichung, die die Kultur uns verspricht, stets mit einer Art von Selbst=Entäußerung einhergeht. Zwischen »Seele« und »Welt« besteht ein stetes Spannungsverhältnis, das zuletzt zu einem schlechthin antithetischen Verhältnis zu werden droht. Der Mensch kann auch die geistige Welt nicht gewinnen, ohne dadurch Schaden an seiner Seele zu nehmen. Das geistige Leben besteht in einem ständigen Fortgang; das seelische in einem immer tieferen Rückgang auf sich selbst. Die Ziele und Wege des »objektiven Geistes« können daher nie die gleichen sein, wie die des subjektiven Lebens. Für die Einzelseele muß alles, was sie nicht mehr mit sich selbst erfüllen kann, zur harten Schale werden. Diese Schale legt sich immer dichter um sie herum und läßt sich immer weniger sprengen. »Dem vibrierenden, rastlosen, ins Grenzenlose hin sich entwickelnden Leben der in irgendeinem Sinne schaffenden Seele steht ihr festes, ideell unverrückbares Produkt gegenüber, mit der unheimlichen Rückwirkung, jene Lebendigkeit festzulegen, ja erstarren zu machen; es ist oft, als ob die zeugende Bewegtheit der Seele an ihrem eigenen Erzeugnis stürbe … Indem die Logik der unpersönlichen Gebilde und Zusammenhänge mit Dynamik geladen ist, entstehen zwischen diesen und den inneren Trieben und Normen der Persönlichkeit harte Reibungen, die in der Form der Kultur als solcher eine einzigartige Zusammendrängung erfahren. Seit der Mensch zu sich Ich sagt, sich zum Objekt, über und gegenüber sich selbst, geworden ist, seit durch solche Form unserer Seele ihre Inhalte in einem Zentrum zusammengehören – seitdem mußte ihr aus dieser Form das Ideal wachsen, daß dies so mit dem Mittelpunkt Verbundene auch eine Einheit sei, die in sich geschlossen und deshalb ein selbstgenugsames Ganzes sei. Allein die Inhalte, an denen das Ich diese Organisierung zu einer eigenen, einheitlichen Welt vollziehen soll, gehören nicht ihm allein an; sie sind ihm gegeben, von irgendeinem räumlichen, zeitlichen, ideellen Außerhalb her, sie sind zugleich die Inhalte irgendwelcher anderer Welten, gesellschaftlicher und metaphysischer, begrifflicher und ethischer, und in diesen besitzen sie Formen und Zusammenhänge unter sich, die mit denen des Ich nicht zusammenfallen wollen … Dies ist die eigentliche Tragödie der Kultur. Denn als ein tragisches Verhängnis – im Unterschied gegen ein trauriges oder von außen her zerstörendes – bezeichnen wir doch wohl dies: daß die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; daß sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat.« Simmel, Philosophische Kultur, Leipzig 1911, S. 251 ff., S. 265 ff.

Das Leiden, an dem alle menschliche Kultur krankt, erscheint in dieser Darstellung noch weit tiefer und hoffnungsloser, als es in der Schilderung Rousseaus erschien. Denn auch jener Rückweg, den Rousseau suchte und forderte, ist hier verschlossen. Simmel ist weit davon entfernt, dem Gang der Kultur an irgendeiner Stelle Einhalt gebieten zu wollen. Er weiß, daß sich das Rad der Geschichte nicht umwälzen läßt. Aber er glaubt zugleich zu sehen, daß sich die Spannung zwischen den beiden gleichnotwendigen und gleichberechtigten Polen damit immer mehr verschärfen wird, und daß durch sie der Mensch zuletzt einem unheilvollen Dualismus preisgegeben werden muß. Die tiefe Fremdheit oder Feindschaft, die zwischen dem Lebens- und Schaffensprozeß der Seele auf der einen Seite, seinen Inhalten und Erzeugnissen auf der anderen Seite besteht, duldet keinen Ausgleich und keine Versöhnung. Sie muß sich um so deutlicher fühlbar machen, je reicher und intensiver dieser Prozeß in sich selbst wird und auf einen je weiteren Kreis von Inhalten er sich erstreckt. Simmel scheint hier die Sprache des Skeptikers zu sprechen; aber er spricht in Wahrheit die Sprache des Mystikers. Denn es ist die geheime Sehnsucht aller Mystik, sich rein und ausschließlich in das Wesen des Ich zu versenken, um in ihm das Wesen Gottes zu finden. Was zwischen dem Ich und Gott liegt, das empfindet sie nur als eine trennende Schranke. Und dies gilt nicht minder von der geistigen Welt, als es von der physischen Welt gilt. Denn auch der Geist besteht nur dadurch, daß er sich ständig entäußert. Er schafft unaufhörlich neue Namen und neue Bilder; aber er begreift nicht, daß er sich in dieser Schöpfung dem Göttlichen nicht nähert, sondern mehr und mehr von ihm entfernt. Die Mystik muß all die Bildwelten der Kultur verneinen, sie muß sich von »Name und Bild« befreien. Sie fordert von uns, daß wir auf alle Symbole verzichten und daß wir sie zerbrechen. Sie tut dies nicht in der Hoffnung, daß wir damit das Wesen des Göttlichen erkennen können. Der Mystiker weiß, und er ist tief davon durchdrungen, daß alles Erkennen sich immer nur im Kreise von Symbolen bewegen kann. Aber er stellt sich ein anderes und höheres Ziel. Er will, daß das Ich, statt den vergeblichen Versuch zu machen, das Göttliche zu begreifen und zu ergreifen, sich mit ihm verschmilzt und mit ihm zu eins wird. Alle Vielheit ist Täuschung – gleichviel ob es sich um die Vielheit der Dinge oder um die der Bilder und Zeichen handelt.

Indem jedoch die Mystik so spricht, indem sie auf jede Substantialität des Einzelich zu verzichten scheint, hat sie damit eben diese Substantialität doch in einem gewissen Sinne beibehalten und bekräftigt. Denn sie nimmt das Ich als ein an sich Bestimmtes, das sich in dieser Bestimmtheit behaupten, das sich nicht an die Welt verlieren soll. Hier aber setzt die erste Frage ein, die wir an sie richten müssen. Wir haben in einer früheren Betrachtung aufzuweisen gesucht, daß das »Ich« nicht als seine ursprünglich gegebene Realität besteht, die sich auf andere Realitäten der gleichen Art bezieht und sich mit ihnen in Verbindung setzt. Wir sahen uns genötigt, das Verhältnis anders zu fassen. Wir fanden, daß die Scheidung zwischen »Ich« und »Du«, und ebenso die Scheidung zwischen »Ich« und »Welt«, den Zielpunkt, nicht den Ausgangspunkt des geistigen Lebens bildet. Halten wir hieran fest, so nimmt unser Problem eine andere Bedeutung an. Denn jene Verfestigung, die das Leben in den verschiedenen Formen der Kultur, in Sprache, Religion und Kunst erfährt, bildet alsdann nicht schlechthin den Gegensatz zu dem, was das Ich kraft seiner eigenen Natur verlangen muß, sondern sie bildet eine Voraussetzung dafür, daß es sich selbst in seiner eigenen Wesenheit findet und versteht. Hier zeigt sich ein höchst komplexer Zusammenhang, der sich durch kein noch so subtiles räumliches Bild zutreffend ausdrücken läßt. Wir dürfen nicht fragen, wie das Ich über seine eigene Sphäre »hinausgelangen« und in eine andere, ihm fremde Sphäre übergreifen kann. Alle diese metaphorischen Ausdrücke müssen wir vermeiden. In der Geschichte des Erkenntnisproblems hat man freilich immer wieder zu derartigen mangelhaften Beschreibungen gegriffen, um durch sie das Verhältnis des Objekts zum Subjekt zu kennzeichnen. Man nahm an, daß das Objekt mit einem Teil seiner selbst in das Ich eingehen müsse, um von ihm erkannt zu werden. Die »Idolentheorie« der antiken Atomistik wurzelt in dieser Auffassung; die »Speziestheorie« des Aristoteles und der Scholastik hat sie beibehalten, um sie nur vom Stofflichen ins Spirituelle zu übersetzen. Aber nehmen wir einmal an, daß das Wunder sich begeben könnte – daß der »Gegenstand« in dieser Weise in das »Bewußtsein« hinüberwandern könnte. Dann bliebe offenbar noch immer die Hauptfrage ungelöst; denn wir wüßten nicht, wie diese Spur des Objekts, indem sie sich dem Ich einprägt, auch als solche gewußt werden könnte. Ihr einfaches Da-Sein und So-Sein würde offenbar keineswegs hinreichen, um diese ihre repräsentative Bedeutung zu erklären. Diese Schwierigkeit verschärft sich noch, wenn die Übertragung nicht vom Gegenstand zum Subjekt, sondern wenn sie sich zwischen verschiedenen Subjekten vollziehen soll. Auch hier würde im günstigsten Fall ein und derselbe Inhalt als ein bloßes Duplikat in »mir« und in einem »anderen« bestehen. Aber wie kraft dieses gleichartigen Bestandes das Ich vom Du, das Du vom Ich wissen könnte – wie das eine sich diesen Bestand als vom andern »herrührend« deuten könnte: das bliebe nach wie vor unverständlich. In noch höherem Grade gilt es hier, daß der bloße passive »Eindruck« nicht genügt, um das Phänomen des »Ausdrucks« zu erklären. Hierin liegt eine der Hauptschwächen jeder rein sensualistischen Theorie, die ein Ideelles begriffen zu haben glaubt, indem sie es zu einer Kopie eines objektiv Vorhandenen macht. Ein Subjekt wird dem anderen nicht dadurch kenntlich oder verständlich, daß es in dasselbe übergeht, sondern daß es sich zu ihm in eine aktive Beziehung setzt. Daß dies der Sinn aller geistigen Mitteilung ist, hat sich uns früher gezeigt: das Sich-Mitteilen verlangt eine Gemeinschaft in bestimmten Prozessen, nicht in der bloßen Gleichheit von Produkten.

Geht man von dieser Betrachtung aus, so rückt damit das von Simmel aufgeworfene Problem in ein neues Licht. Es hört keineswegs auf, als solches zu bestehen; aber seine Lösung muß nunmehr in einer anderen Richtung gesucht werden. Die Zweifel und Einwände, die man gegen die Kultur erheben kann, behalten ihr volles Gewicht. Man muß einsehen und zugestehen, daß sie kein harmonisch sich entfaltendes Ganze, sondern von den stärksten inneren Gegensätzen erfüllt ist. Die Kultur ist »dialektisch«, so wahr sie dramatisch ist. Sie ist kein einfaches Geschehen, kein ruhiger Ablauf, sondern sie ist ein Tun, das stets von neuem einsetzen muß, und das seines Zieles niemals sicher ist. So kann sie sich niemals schlechthin einem naiven Optimismus oder einem dogmatischen Glauben an die »Perfektibilität« des Menschen überlassen. Alles, was sie auf gebaut hat, droht ihr immer wieder unter den Händen zu zerbrechen. Demgemäß behält sie stets etwas Unbefriedigendes und etwas Tief-Fragwürdiges, wenn man sie allein im Lichte ihres Werkes betrachtet. Die wahrhaft produktiven Geister legen alle ihre Leidenschaft in ihr Werk; aber eben diese Leidenschaft wird ihnen zum Quell neuer Leiden. Dieses Drama hat Simmel schildern wollen. Aber er kennt in ihm gewissermaßen nur zwei Rollen. Auf der einen Seite steht das Leben, auf der anderen Seite steht das Reich ideeller, an sich geltender, obektiver Werte. Beide Momente können niemals ineinander aufgehen und sich völlig miteinander durchdringen. Je weiter der Kulturprozeß fortschreitet, um so mehr erweist sich das Geschaffene als der Feind des Schöpfers. Das Subjekt kann sich in seinem Werk nicht nur nicht erfüllen, sondern es droht zuletzt an ihm zu zerbrechen. Denn was das Leben eigentlich und innerlich will, ist nichts anderes als seine eigene Bewegtheit und seine strömende Fülle. Es kann diese innere Fülle nicht herausstellen, nicht in bestimmten Gebilden sichtbar werden lassen, ohne daß diese Gebilde für es selbst zu Schranken werden – zu festen Dämmen, an die seine Bewegung anprallt, und an welchen sie sich bricht. »Der Geist erzeugt unzählige Gebilde, die in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren, unabhängig von der Seele, die sie geschaffen hat, wie von jeder anderen, die sie aufnimmt oder ablehnt. So sieht sich das Subjekt der Kunst wie dem Recht gegenüber, der Religion wie der Wissenschaft, der Technik wie der Sitte … Es ist die Form der Festigkeit, des Geronnenseins, der beharrenden Existenz, mit der der Geist, so zum Objekt geworden, sich der strömenden Lebendigkeit, der inneren Selbstverantwortung, den wechselnden Spannungen der subjektiven Seele entgegenstellt; als Geist dem Geist innerlich verbunden, aber eben darum unzählige Tragödien an diesem tiefen Formgegensatz erlebend: zwischen dem subjektiven Leben, das rastlos, aber zeitlich endlich ist, und seinen Inhalten, die einmal geschaffen, unbeweglich, aber zeitlos gültig sind.«

Es wäre vergeblich, diese Tragödien leugnen oder sich mit irgendeinem oberflächlichen Trostmittel über sie hinwegsetzen zu wollen. Aber sie erhalten ein anderes Gesicht, wenn man den Weg, der hier gezeichnet ist, fortsetzt und bis zum Ende verfolgt. Denn am Ende dieses Weges steht nicht das Werk, in dessen beharrender Existenz der schöpferische Prozeß erstarrt, sondern das »Du«, das andere Subjekt, das dieses Werk empfängt, um es in sein eigenes Leben einzubeziehen und es damit wieder in das Medium zurückzuverwandeln, dem es ursprünglich entstammt. Jetzt erst zeigt sich, welcher Lösung die »Tragödie der Kultur« fähig ist. Solange nicht der »Gegenspieler« zum Ich hervorgetreten ist, kann sich der Kreis nicht schließen. Denn so bedeutsam, so gehaltvoll, so fest in sich selbst und in seinem eigenen Mittelpunkt ruhend ein Werk auch sein mag: es ist und bleibt doch nur ein Durchgangspunkt. Es ist kein »Absolutes«, an welches das Ich anstößt, sondern es ist die Brücke, die von einem Ich-Pol zum andern hinüberführt. Hierin liegt seine eigentliche und wichtigste Funktion. Der Lebensprozeß der Kultur besteht eben darin, daß sie in der Schaffung derartiger Vermittlungen und Übergänge unerschöpflich ist. Wenn wir diesen Prozeß ausschließlich oder vornehmlich vom Standpunkt des Individuums aus sehen, so behält er stets einen eigentümlich zwiespältigen Charakter. Der Künstler, der Forscher, der Religionsstifter: – sie alle können eine wahrhaft große Leistung nur dann vollbringen, wenn sie sich ganz ihrer Aufgabe hingeben, und wenn sie ihr eigenes Sein über ihr vergessen. Aber das fertige Werk ist, sobald es einmal vor ihnen steht, niemals allein Erfüllung, sondern es ist zugleich Enttäuschung. Es bleibt hinter der ursprünglichen Intuition, aus der es stammt, zurück. Die begrenzte Wirklichkeit, in der es dasteht, widerspricht der Fülle der Möglichkeiten, die diese Intuition ideell in sich barg. Nicht nur der Künstler, sondern auch der Denker empfindet immer wieder diesen Mangel. Und gerade die größten Denker scheinen fast immer zu einem Punkt zu gelangen, an dem sie endgültig Verzicht darauf leisten, ihre letzten und tiefsten Gedanken auszusprechen. Das Höchste, was der Gedanke zu erfassen vermag – so erklärt Platon im siebenten Brief –, ist dem Wort nicht mehr erreichbar; es entzieht sich der Mitteilung durch Schrift und Lehre. Solche Urteile sind aus der Psychologie des Genies verständlich und notwendig. Für uns selbst aber wird diese Skepsis um so mehr beschwichtigt, je größer, je umfassender und reicher das künstlerische oder philosophische Werk ist, in das wir uns versenken. Denn wir, die Aufnehmenden, messen nicht mit den gleichen Maßen, mit denen der Schaffende sein Werk mißt. Wo er ein Zuwenig sieht, da bedrängt uns ein Zuviel; wo er ein inneres Ungenügen empfand, da stehen wir vor dem Eindruck einer unerschöpflichen Fülle, die wir uns nie völlig aneignen zu können glauben. Beides ist gleichberechtigt und gleichnotwendig; denn in eben diesem eigentümlichen Wechselverhältnis erfüllt das Werk erst seine eigentliche Aufgabe. Es wird zum Vermittler zwischen Ich und Du, nicht indem es einen fertigen Gehalt von dem einen auf das andere überträgt, sondern indem sich an der Tätigkeit des einen die des anderen entzündet. Und hieraus erkennt man auch, warum die wahrhaft großen Werke der Kultur uns niemals als etwas schlechthin Starres, Verfestigtes gegenüberstehen, das in dieser Starrheit die freie Bewegung des Geistes einengt und hemmt. Ihr Gehalt besteht für uns nur dadurch, daß es ständig von neuem angeeignet und dadurch stets aufs neue geschaffen wird.

Das Wesen dieses Prozesses tritt vielleicht am deutlichsten dort hervor, wo die beiden Subjekte, die an ihm teilhaben, nicht Individuen, sondern ganze Epochen sind. Jede »Renaissance« einer vergangenen Kultur kann uns ein Beispiel hierfür liefern. Eine Renaissance, die diesen Namen verdient, ist niemals eine bloße Rezeption. Sie ist nicht die einfache Fortführung oder Weiterbildung von Motiven, die einer vergangenen Kultur angehören. Oft glaubt sie es zu sein; oft kennt sie keinen höheren Ehrgeiz, als dem Vorbild, dem sie folgt, so nahe als möglich zu kommen. In dieser Weise haben allen klassischen Zeitaltern die großen Kunstwerke der Alten als Muster gegolten, die man wohl nachahmen, aber nie erreichen könne. Aber die eigentlichen und großen Renaissancen der Weltgeschichte sind immer Triumphe der Spontaneität, nicht der bloßen Rezeptivität gewesen. Es gehört zu den anziehendsten Problemen der Geistesgeschichte, zu verfolgen, wie diese beiden Momente ineinander eingreifen und sich wechselseitig bedingen. Man könnte hiervon einer historischen Dialektik sprechen; aber diese Dialektik birgt durchaus keinen Widerspruch in sich, da sie vielmehr durch das Wesen der geistigen Entwicklung gegeben und in ihm tief begründet ist. Immer dann, wenn ein Subjekt – es mag sich nun um einen einzelnen oder um eine ganze Epoche handeln – bereit ist, sich zu vergessen, um in einem anderen aufzugehen und sich diesem ganz hinzugeben: immer dann findet es sich selbst in einem neuen und tieferen Sinn. Solange die eine Kultur der andern nur bestimmte Inhalte entnimmt, ohne den Willen und die Fähigkeit zu besitzen, in ihr eigentliches Zentrum, in ihre eigentümliche Form einzudringen, zeigt sich diese fruchtbare Wechselwirkung noch nicht. Es bleibt im besten Fall bei einer äußeren Übernahme einzelner Bildungs elemente; aber diese werden nicht zu wirklichen bildenden Kräften oder Motiven. Diese begrenzte Art der Einwirkung der Antike können wir schon im Mittelalter überall feststellen. Schon im 9. Jahrhundert hat es in der bildenden Kunst und in der Literatur eine »Karolingische Renaissance« gegeben. Und die Schule von Chartres kann man als eine »mittelalterliche Renaissance« bezeichnen. Aber von jener »Wiedererweckung des klassischen Altertums«, die in den ersten Jahrhunderten der italienischen Renaissance einsetzt, ist dies alles nicht nur dem Grade, sondern auch der Art nach verschieden. Man hat Petrarca oft den »ersten modernen Menschen« genannt. Aber er konnte es, seltsam genug, nur dadurch werden, daß er zu einem neuen und tieferen Verständnis der Antike durchdrang. Er sah, durch das Medium der antiken Sprache und der antiken Kunst und Literatur, wieder die antiken Lebensformen; und in ihrer Anschauung gestaltete sich sein eigenes originales Lebensgefühl. Diese eigentümliche Durchdringung des eigenen und des Fremden gilt für die gesamte italienische Renaissance; Burckhardt hat von ihr gesagt, daß sie »das Altertum nie anders denn als Ausdrucksmittel für ihre eigenen Bauideen behandelt« habe J. Burckhardt, Geschichte der Renaissance in Italien, S. 42..

Dieser Prozeß ist unerschöpflich; er setzt immer von neuem ein. Die Antike ist auch nach Petrarca immer wieder »entdeckt« worden; und jedesmal sind es andere und neue Züge an ihr, die ans Licht gehoben wurden. Die Antike des Erasmus ist nicht mehr die gleiche, wie die des Petrarca. Und an beide reihen sich die Antike von Rabelais und Montaigne, von Corneille und Racine, von Winckelmann, Goethe, Wilhelm von Humboldt an. Von irgendeiner dinglich inhaltlichen Identität zwischen ihnen kann nicht die Rede sein. Was identisch ist, ist dies, daß die italienische, die niederländische, die französische, die deutsche Renaissance die Antike als eine unvergleichliche Kraftquelle empfinden, die sie nutzen, um ihren eigenen Ideen und Idealen zum Durchbruch zu verhelfen. So gleichen die wirklich großen Kulturepochen der Vergangenheit nicht einem erratischen Block, der als Zeuge einer vergangenen Zeit in die Gegenwart hineinragt. Sie sind nicht träge Massen; sondern sie sind die Zusammenballung gewaltiger potentieller Energien, die nur auf den Augenblick harren, in welchem sie wieder hervortreten und sich in neuen Wirkungen bekunden sollen. Das Geschaffene steht also auch hier dem schöpferischen Prozeß nicht einfach gegenüber oder entgegen: in die »geprägte Form« strömt vielmehr immer neues Leben ein, das sie davor schützt, sich »zum Starren zu waffnen«.

Daß diese nie abbrechende Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Kulturen sich niemals ohne innere Reibungen vollziehen kann, ist freilich ersichtlich. Zu einer wirklichen Verschmelzung kann es nicht kommen; denn die Gegenkräfte können nur wirken, indem sie sich widereinander behaupten. Selbst dort, wo eine vollkommene Harmonie erreicht oder erreichbar scheint, fehlt es nicht an starken inneren Spannungen. Betrachten wir die Fortwirkung der antiken Kultur, so stellt sie fast den idealen Grenzfall dar. Alles bloß Negative scheint ausgelöscht; die großen produktiven Kräfte scheinen rein und ungehindert ihre stete und stille Wirksamkeit ausüben zu können. Und doch fehlt es auch in diesem Idealfall nicht an Konflikten, ja unversöhnlichen Gegensätzen. Die Rechtsgeschichte zeigt, welche großartige organisierende Kraft dem römischen Recht innewohnte, und wie es diese Kraft im Lauf der Jahrhunderte immer aufs neue bewiesen hat. Aber das römische Recht konnte nicht scharfen, ohne zugleich eine Fülle vielversprechender Keime zu vernichten. Der Konflikt zwischen dem »natürlichen« Rechtsempfinden und den nationalen Rechtsgebräuchen auf der einen Seite, dem »gelehrten« Recht auf der anderen Seite brach immer wieder auf. Sieht man in derartigen Gegensätzen tragische Konflikte, so behält das Wort von der »Tragödie der Kultur« sein volles Recht. Aber wir dürfen nicht lediglich die Tatsache des Widerstreits, sondern wir müssen auch seine Heilung, wir müssen die eigentümliche »Katharsis« ins Auge fassen, die sich hier wieder und wieder vollzieht. So viele Kräfte auf der einen Seite gebunden werden, so werden doch auf der anderen Seite immer wieder neue und stärkere gelöst. Diese Bindung und Lösung zeigt sich im Kampf der verschiedenen Kulturen, und sie zeigt sich nicht minder in jenem Kampf, den das Individuum mit dem Ganzen, den die große schöpferische Einzelkraft mit den Kräften zu führen hat, die auf die Beharrung und in gewissem Sinne auf die Verewigung des gegebenen Bestandes abzielen. Das Produktive liegt mit dem Traditionellen in stetem Widerstreit. Es wäre auch hier irrig, den Konflikt lediglich in den Farben von Schwarz und Weiß zu malen – allen Wert auf der einen Seite, allen Unwert auf der anderen zu sehen. Die Tendenzen, die auf Erhaltung gerichtet sind, sind nicht minder bedeutungsvoll und unentbehrlich als diejenigen, die auf Erneuerung gerichtet sind, weil Erneuerung sich nur an Beharrendem vollziehen, und weil Beharrendes nur kraft steter Selbsterneuerung bestehen kann.

Am deutlichsten wird dieses Verhältnis dort, wo der Kampf zwischen den beiden Tendenzen sich ganz in der Tiefe abspielt – in einer Tiefe, über die das bewußte Planen und Wollen der Individuen keine Macht mehr hat, weil in ihr Kräfte walten, die dem einzelnen nicht zum Bewußtsein kommen. Ein solcher Fall ist in der Entwicklung und Umbildung der Sprache gegeben. Die traditionelle Bindung ist hier am stärksten, und sie scheint dem Schöpfertum des einzelnen nur einen geringen Spielraum zu verstatten. Die Sprachphilosophie hat immer wieder darüber gestritten, ob die Sprache ein Erzeugnis der »Natur« oder der »Satzung«, ob sie φύσει oder θέσει sei. Aber gleichviel ob man die eine oder die andere These annimmt, ob man in der Sprache ein Objektives oder ein Subjektives, ein Bestehendes oder ein Gesetztes sieht, so muß man auch dieses Letztere, wenn es seinen Zweck erfüllen soll, mit einer Art von Zwang ausstatten, kraft dessen es sich gegen jede Willkür behauptet. Der »Nominalist« Hobbes erklärt, daß die Wahrheit nicht in den Dingen, sondern in den Zeichen liege: »veritas non in re, sed in dicto consistit.« Aber er fügt hinzu, daß das Zeichen, einmal gesetzt, keiner Veränderung mehr zugänglich sei, daß die Konvention als etwas Absolutes anerkannt werden müsse, wenn überhaupt menschliches Sprechen und Verstehen möglich sein solle. Die Sprachgeschichte straft freilich diesen Glauben an eine unabänderliche, ein für allemal festlegbare Bedeutung der Sprachbegriffe Lügen. Sie zeigt, daß jeder lebendige Sprachgebrauch einem steten Bedeutungswandel unterliegt. Der Grund hierfür besteht darin, daß »Sprache« niemals als physisches »Ding« existiert, das mit selbst einerlei bleibt, und das stets dieselben konstanten »Eigenschaften« aufweist. Sie ist nur im Akt des Sprechens, und dieser vollzieht sich niemals unter genau gleichen Bedingungen und in genau derselben Weise. Hermann Paul hat in seinen »Prinzipien der Sprachgeschichte« darauf hingewiesen, welche bedeutsame Rolle dem Umstand zufällt, daß die Sprache nur dadurch besteht, daß sie von einer Generation an die andere weitergegeben wird. Dieses Weitergeben kann niemals in der Art erfolgen, daß dabei die Aktivität und Selbständigkeit des einen Teils ausgeschaltet wird. Der Empfangende nimmt die Gabe nicht gleich einer geprägten Münze. Er kann sie nur aufnehmen, indem er sie gebraucht, und in diesem Gebrauch drückt er ihr eine neue Prägung auf. So spricht der Lehrer und der Lernende, so sprechen Eltern und Kinder niemals streng »dieselbe« Sprache. In dieser notwendigen Bildung und Umbildung sieht Paul einen der wichtigsten Faktoren für alle Sprachgeschichte Vgl. H. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, Kap. 1, S. 21 ff.. Diese Sprachschöpfung, die sich nur in der unbewußten Abweichung von dem gegebenen Vorbild erweist, ist freilich vom eigentlichen Schöpfertum noch weit entfernt. Sie ist Wandel, der sich am Substrat der Sprache vollzieht; aber sie ist keine Tat, die auf dem bewußten Einsatz neuer Kräfte beruht. Aber auch dieser letzte entscheidende Schritt ist unentbehrlich, wenn die Sprache nicht absterben soll. Die Erneuerung von innen her erlangt ihre volle Stärke und Intensität erst dann, wenn die Sprache nicht lediglich der Vermittlung und Weitergabe eines festen Kulturbesitzes dient, sondern statt dessen zum Ausdruck eines neuen individuellen Lebensgefühls wird. Indem dieses Gefühl in die Sprache einströmt, weckt es all die unbekannten Energien, die in ihr schlummern. Was im Kreise des täglichen Ausdrucks bloße Abweichung war, das wird hier zur Neugestaltung, die so weit gehen kann, daß sie schließlich fast den gesamten Sprachkörper, daß sie Wortschatz, Grammatik, Stilistik umzuschaffen scheint. Die großen Epochen der Dichtung haben in dieser Weise auf die Bildung der Sprache gewirkt. Dantes »Divina Commedia« hat nicht nur dem Epos einen neuen Sinn und Gehalt gegeben; sie bildet auch die Geburtsstunde der »lingua volgare«, des modernen Italienisch. Es scheint im Leben der großen Dichter immer wieder Augenblicke gegeben zu haben, in denen sie diesen Drang zur Erneuerung der Sprache so stark empfanden, daß ihnen das Gegebene, das Material, in dem sie arbeiten mußten, fast als eine lästige Fessel erschien. In solchen Augenblicken erwacht in ihnen die Skepsis gegen die Sprache zur vollen Stärke. Auch Goethe ist von dieser Skepsis nicht frei – und er hat ihr bisweilen einen nicht minder charakteristischen Ausdruck gegeben als Platon. In einem bekannten Venezianischen Epigramm erklärt er, daß er, so vieles er auch versucht habe, nur ein Talent der Meisterschaft nahegebracht habe: das Talent deutsch zu schreiben.

»Und so verderb' ich unglücklicher Dichter
In dem schlechtesten Stoff leider nun Leben und Kunst.«

Aber wir wissen, was Goethes Kunst aus diesem »schlechtesten Stoff« gemacht hat. Die deutsche Sprache ist bei Goethes Tode nicht mehr das, was sie bei seiner Geburt gewesen war. Sie ist nicht nur inhaltlich bereichert und über ihre bisherigen Grenzen erweitert, sondern sie ist auch zu einer neuen Form herangereift; sie schließt Möglichkeiten des Ausdrucks in sich, die ein Jahrhundert zuvor noch völlig unbekannt waren.

Auch in anderen Gebieten läßt sich immer wieder der gleiche Gegensatz aufweisen. Der Schaffensprozeß hat stets zwei verschiedenen Bedingungen zu genügen: er muß auf der einen Seite an ein Bleibendes und Bestehendes anknüpfen, und er muß auf der anderen Seite stets zu einem neuen Einsatz und Ansatz bereit sein, der dies Bestehende wandelt. Denn nur auf diese Weise gelingt es, den Anforderungen gerecht zu werden, die von seiten des Objekts und des Subjekts gestellt werden. Auch der bildende Künstler findet seinen Weg ebenso gebahnt und vorbereitet, wie der Dichter ihn vorbereitet findet, wenn er sich der Sprache anvertraut. Denn wie jede Sprache einen bestimmten Wortschatz aufweist, den sie nicht im Augenblick erschafft, sondern über den sie als einen festen Besitz verfügt, so gilt das gleiche auch für alle Arten bildender Tätigkeit. Es gibt einen Formenschatz des Malers, des Plastikers, des Architekten, und es gibt eine eigentümliche »Syntax« dieser Gebiete, wie es eine Syntax der Sprache gibt. Dies alles kann nicht frei »erfunden« werden. Hier behauptet die Tradition immer wieder ihre Rechte, denn nur durch sie kann die Kontinuität des Schaffens hergestellt und sichergestellt werden, auf der alle Verständlichkeit, auch innerhalb der bildnerischen Sprache, beruht. »So wie die Sprachwurzeln ihre Geltung immer behaupten und bei allen späteren Umgestaltungen und Erweiterungen der Begriffe, die sich an sie knüpfen, der Grundform nach wieder hervortreten« – so sagt Gottfried Semper – »wie es unmöglich ist, für einen neuen Begriff zugleich ein ganz neues Wort zu erfinden, ohne den ersten Zweck zu verfehlen, nämlich verstanden zu werden, so wenig darf man die ältesten Typen und Wurzeln der Kunstsymbolik … verwerfen und unberücksichtigt lassen … Denselben Vorteil, den die vergleichende Sprachforschung und das Studium der Urverwandtschaft der Sprache dem heutigen Redekünstler gewähren, hat derjenige Baukünstler in seiner Kunst voraus, der die ältesten Symbole seiner Sprache in ihrer ursprünglichen Bedeutung erkennt und sich von der Weise Rechenschaft ablegt, wie sie, mit der Kunst selbst, sich geschichtlich in Form und Bedeutung umwandeln.« Gottfr. Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, 2. Aufl., München 1878, Bd. I, S. 6.

Die Traditions-Gebundenheit zeigt sich zunächst in alldem, was man die Technik der einzelnen Künste nennt. Sie unterliegt ebenso festen Regeln wie jeder andere Werkzeugsgebrauch, denn sie ist von der Beschaffenheit des Materials, in dem der Künstler arbeitet, abhängig. Kunst und Handwerk, bildnerische Tätigkeit und handwerkliche Fertigkeit haben sich nur langsam getrennt; und gerade in den Höhepunkten künstlerischer Entwicklung pflegt ihr Zusammenhang besonders innig zu sein. Kein Künstler kann seine Sprache wirklich sprechen, wenn er sie nicht zuvor in dem steten Verkehr mit seinem Material erlernt hat. Und dies bezieht sich keineswegs allein auf die stofflich-technische Seite des Problems. Auch im Bereich der Form selbst hat es seine genaue Parallele. Denn auch die künstlerischen Formen werden, einmal geschaffen, zum festen Besitz, der sich von einer Generation zur anderen vererbt. Oft kann sich diese Übertragung und Vererbung über Jahrhunderte erstrecken. Jede Epoche übernimmt von der vorhergehenden bestimmte Formen und gibt sie an die folgende weiter. Die Formsprache gewinnt eine solche Festigkeit, daß bestimmte Themata mit bestimmten Weisen des Ausdrucks fest zu verwachsen scheinen, daß sie uns immer wieder in denselben oder leicht modifizierten Formen begegnen. Dieses »Beharrungsgesetz«, das für die Fortbewegung der Formen gilt, bildet einen der wichtigsten Faktoren der künstlerischen Entwicklung – und für die Kunstgeschichte liegt hier eine der reizvollsten Aufgaben. In neuerer Zeit ist es insbesondere A. Warburg gewesen, der auf diesen Prozeß das stärkste Gewicht gelegt und der ihn, psychologisch wie historisch, nach allen Seiten hin zu erleuchten gesucht hat. Warburg ist ursprünglich von der Kunstgeschichte der italienischen Renaissance ausgegangen. Aber sie bildet für ihn nur ein einzelnes Paradigma, an dem er sich die Eigenart und die Grundrichtung des schöpferischen Prozesses in der bildenden Kunst klarmachen wollte. Beides fand er am deutlichsten ausgedrückt in dem Nachleben der antiken Bildformen. Er zeigte, wie die Antike für gewisse typische, immer wiederkehrende Situationen bestimmte prägnante Ausdrucksformen geschaffen hat. Gewisse innere Erregungen, gewisse Spannungen und Lösungen sind in ihnen nicht nur festgehalten, sondern sie sind gleichsam in sie gebannt. Überall wo ein gleichartiger Affekt anklingt, wird auch das Bild, das die Kunst für ihn geschaffen, wieder lebendig. Es entstehen, nach Warburgs Ausdruck, bestimmte »Pathosformeln«, die sich dem Gedächtnis der Menschheit unauslöschlich einprägen. Den Bestand und den Wandel, die Statik und die Dynamik dieser »Pathosformeln« hat Warburg durch die gesamte Geschichte der bildenden Kunst hindurch verfolgt Vgl. bes. A. Warburg, Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. (Gesammelte Schriften, hg. von Gertrud Bing, Leipzig und Berlin, 1932.). Er hat damit der Kunstgeschichte nicht nur inhaltlich bereichert, sondern ihr auch methodisch ein neues Gepräge gegeben. Denn hier rührte er an ein systematisches Grundproblem aller kulturwissenschaftlichen Betrachtung. Wie die Malerei und Plastik bestimmte feste Haltungen, Stellungen, Gesten des menschlichen Körpers dazu benützt, um seelisches Dasein und seelische Bewegtheit sichtbar werden zu lassen, so besteht auch in allen anderen Gebieten der Kultur die Aufgabe immer wieder darin, in dieser Weise Bewegung und Ruhe, Geschehen und Dauer miteinander zu verknüpfen und das eine als Darstellungsmittel für das andere zu brauchen. Sprachliche und künstlerische Formen müssen, wenn sie »allgemein mitteilbar« sein, wenn sie die Brücke zwischen verschiedenen Subjekten schlagen sollen, eine innere Festigkeit und Konsistenz besitzen. Aber sie müssen zugleich wandlungsfähig sein; denn jeder Gebrauch der Formen schließt, da er in verschiedenen Individuen vor sich geht, schon eine gewisse Modifikation ein und wäre ohne sie nicht möglich.

Man könnte versuchen, die verschiedenen künstlerischen Gattungen nach dem Verhältnis zu unterscheiden, das in ihnen zwischen diesen beiden überall notwendigen Gegenpolen besteht. Hier müßte freilich erst eine prinzipielle Vorfrage beantwortet werden. In welchem Sinne läßt sich überhaupt von solchen »Gattungen« sprechen? Sind sie etwas anderes als bloße Wortmarken? Die antike Poetik und Rhetorik ging darauf aus, die verschiedenen dichterischen Ausdrucksformen streng zu scheiden und jeder von ihnen eine bestimmte unveränderliche »Natur« zuzusprechen. Sie glaubte, daß die einzelnen Dichtarten spezifisch voneinander geschieden seien, daß die Ode und die Elegie, die Idylle und die Fabel ihre eigenen Gegenstände und ihre eigenen Gesetze habe. Der Klassizismus hat diese Auffassung zum Grundprinzip seiner Ästhetik gemacht. Bei Boileau gilt es als unbestrittene Voraussetzung, daß Komödie und Tragödie je ihr eigenes »Wesen« habe, und daß dieses für die Wahl ihrer Motive, ihrer Charaktere, ihrer sprachlichen Mittel bestimmend sein müsse. Auch bei Lessing herrscht diese Grundansicht vor, wenngleich er sie wesentlich freier gestaltet. Er gesteht dem Genie das Recht zu, die Grenzen der einzelnen Gattungen zu erweitern; aber auch er glaubt nicht, daß diese Grenzen prinzipiell aufgehoben werden können. Die moderne Ästhetik hat versucht, alle die hier fixierten Unterschiede als einen bloßen Ballast zu behandeln, den man einfach über Bord werfen müsse. Am weitesten in dieser Hinsicht ist Benedetto Croce gegangen. Er erklärt alle Einteilungen der Künste und alle Unterscheidungen von Kunstgattungen als bloße Nomenklaturen, die einem praktischen Zwecke dienen mögen, die aber jeder theoretischen Bedeutung entbehren. Derartige Klassifikationen haben nach Croce soviel oder sowenig Wert wie die Rubriken, unter denen wir die Bücherschätze einer Bibliothek ordnen. Die Kunst läßt sich, wie er betont, weder in dieser Weise nach Sachen, noch läßt sie sich nach ihren Darstellungsmitteln in einzelne Fächer zerlegen. Die ästhetische Synthesis ist und bleibt eine unteilbare Einheit. »Da jedes Kunstwerk einen Gemütszustand ausdrückt und der Gemütszustand individuell und immer neu ist, so bedeutet die Intuition unendlich viele Intuitionen, die unmöglich in ein Fächerwerk von Gattungen reduziert werden können … Das will besagen, jede beliebige Theorie der Teilung der Künste ist unbegründet. Die Gattung oder die Klasse ist in diesem Falle eine einzige, die Kunst selbst oder die Intuition, während die einzelnen Kunstwerke im übrigen zahllos sind: alle original, keines ins andere übersetzbar … jedes unbezwungen vom Verstand. Zwischen das Universale und das Besondere schiebt sich in philosophischer Betrachtung kein Zwischenelement ein, keine Reihe von Gattungen oder Arten, von › generalia‹. Weder der Künstler, der die Kunst erschafft, noch der Beschauer, der sie betrachtet, haben etwas anderes nötig als das Universale und das Individuelle oder besser das individuell gewordene Universale: die allgemeine künstlerische Aktivität, die sich ganz in die Darstellung eines einzelnen Gemütszustandes zusammengezogen und konzentriert hat Croce, Grundriß der Ästhetik, deutsche Ausgabe, Leipzig 1913, S. 45 f. Vgl. LANG="en-US"> Estetica come scienza dell'espressione, 3a ediz., Bari 1908, S. 129 ff. LANG="en-US">.«

Wäre dies ohne Einschränkung richtig, so würde man damit zu der seltsamen Folgerung geführt, daß, wenn wir Beethoven einen großen Musiker, Rembrandt einen großen Maler, Homer einen großen Epiker, Shakespeare einen großen Dramatiker nennen, damit nur gleichgültige empirische Nebenumstände ausgesprochen wären, die in ästhetischer Beziehung belanglos und für ihre Charakteristik als Künstler entbehrlich sind. Gibt es nur »die« Kunst auf der einen Seite, das Individuum auf der anderen Seite, so ist es relativ zufällig, in welchem Medium der einzelne Künstler sich selbst ausdrücken will. Dies könnte in Farben oder Tönen, im Wort oder in Marmor geschehen, ohne daß hierdurch die künstlerische Intuition betroffen würde; sie bliebe dieselbe und hätte nur eine andere Art der Mitteilung gewählt. Aber eine solche Auffassung würde, wie mir scheint, dem künstlerischen Prozeß nicht gerecht werden. Denn das Kunstwerk würde damit in zwei Hälften zerbrochen, die in keiner notwendigen Beziehung zueinander stünden. In Wahrheit gehört jedoch die besondere Art des Ausdruckes nicht erst zur Technik der Werkgestaltung, sondern schon zur Konzeption des Kunstwerks selbst. Beethovens Intuition ist musikalisch, Phidias' Intuition ist plastisch, Miltons Intuition ist episch, Goethes Intuition ist lyrisch. Dies alles betrifft nicht nur die äußere Schale, sondern den Kern ihres Schaffens. Und damit stoßen wir erst auf den eigentlichen Sinn und das tiefere Recht der Einteilung der Künste in verschiedene »Gattungen«. Das Motiv, das Croce zu seinem heftigen Kampf gegen die Lehre von den Gattungen veranlaßt hat, ist leicht zu erkennen. Er wollte damit einem Irrtum entgegentreten, der sich durch die ganze Geschichte der Ästhetik hindurchzieht, und der in ihr oft zu unfruchtbaren Problemstellungen geführt hat. Immer wieder hat man versucht, die Bestimmungen der einzelnen künstlerischen Gattungen und den Unterschied zwischen ihnen dazu zu benützen, einen »Kanon« des Schönen aufzustellen. Man suchte aus ihnen bestimmte allgemeine Normen für die Bewertung der Kunstwerke zu gewinnen, und man stritt über den Vorrang der einzelnen Künste selbst. Mit welchem Eifer der Wettstreit zwischen Malerei und Poesie noch in der Renaissance geführt wurde, kann man z. B. aus Leonardo da Vincis »Trattato della pittura« ersehen. Dies ist freilich eine falsche Tendenz. Es ist vergebens, eine Bestimmung von dem, was die Ode, was die Idylle, was das Trauerspiel an sich ist, zu geben und zu fragen, ob ein einzelnes Werk den Gattungszweck mehr oder weniger vollkommen erfüllt hat. Und noch fragwürdiger ist es, wenn man die einzelnen Künste in einer aufsteigenden Reihe zu ordnen sucht und fragt, welche Stelle jede von ihnen in dieser Hierarchie der Werte einnimmt. »Ein kleines Gedicht« – so erklärt Croce – »steht ästhetisch einem Epos gleich, oder eine Skizze einem Altargemälde oder einem Fresco; ein Brief ist ein Kunstgegenstand nicht weniger als ein Roman.« Das mag völlig zutreffen – aber folgt daraus, daß, seinem ästhetischen Sinn und Gehalt nach, ein lyrisches Gedicht ein Epos, daß der Brief ein Roman » ist«; daß er es sein kann und sein will? Croce konnte diese Folgerung nur darum ziehen, weil er im Aufbau seiner Ästhetik das Moment des »Ausdrucks« als das eigentliche und einzige Fundament gelten läßt. Er legt den Akzent fast ausschließlich darauf, daß die Kunst Ausdruck des individuellen Gefühls und des individuellen Gemütszustandes sein müsse, und es gilt ihm gleichviel, welche Wege sie hierbei einschlägt, und welcher besonderen Richtung der Darstellung sie folgt. Dadurch wird die »subjektive« Seite vor der »objektiven« nicht nur bevorzugt, sondern die letztere sinkt der ersteren gegenüber fast zu einem gleichgültigen Moment herab. Alle Art künstlerischer Intuition wird »lyrische Intuition« – gleichviel ob sie sich in einem Drama, einem Heldengedicht, in der Skulptur, in der Architektur, in der Schauspielkunst verwirklicht. »Da die Individualität der Intuition die Individualität des Ausdrucks bedeutet, da eine Malerei von der anderen nicht weniger verschieden ist als von einer Dichtung, und Malerei und Dichtung wertvoll sind nicht durch die Töne, die die Luft erschüttern, und die Farben, die sich im Licht brechen, sondern durch das, was sie dem Geist … zu sagen wissen, so hat es keinen Zweck, die abstrakten Mittel des Ausdrucks heranzuziehen, um eine Reihe von Gattungen oder Klassen zu konstruieren.« Croce, Grundriß der Ästhetik, S. 36. Wie man sieht, verwirft Croce die Lehre von den Gattungen nicht nur – was völlig berechtigt wäre – sofern sie Normbegriffe aufstellen, sondern auch sofern sie bestimmte Stilbegriffe fixieren will. Und deshalb müssen für ihn alle Differenzen der Darstellungs form verschwinden oder in bloße Differenzen der »physischen« Darstellungsmittel umgedeutet werden. Aber gerade diese Entgegensetzung des »physischen« und des »psychischen« Faktors wird durch die unbefangene Versenkung in ein großes Kunstwerk widerlegt. Beide Momente sind hier so vollständig ineinander aufgegangen, daß sie sich zwar in der Reflexion scheiden lassen, daß sie aber für die ästhetische Anschauung und das ästhetische Gefühl ein untrennbares Ganze bilden. Kann man wirklich, wie es Croce tut, die konkrete »Intuition« den »abstrakten« Mitteln des Ausdrucks gegenüberstellen und demgemäß alle Differenzen, die sich im Kreise der letzteren finden, als rein begriffliche Differenzen behandeln? Oder ist nicht eben beides im Kunstwerk innerlich zusammengewachsen? Läßt sich, rein phänomenologisch, eine Art gleichförmiger Urschicht der ästhetischen Intuition aufweisen, die immer dieselbe bleibt, und die sich erst bei der Ausführung des Werkes dafür entscheidet, welchen Weg sie gehen und ob sie sich in Worten, in Tönen oder Farben verwirklichen will? Auch Croce hat dies nicht angenommen. »Wenn man einer Dichtung ihr Metrum, ihren Rhythmus oder ihre Worte nimmt« – so erklärt er nachdrücklich – »dann bleibt nicht, wie manche glauben, jenseits von alldem der poetische Gedanke: es bleibt nichts. Die Dichtung ist als diese Worte, dieser Rhythmus, dieses Metrum geboren.« Croce, Grundriß der Ästhetik, S. 36. Aber daraus folgt, daß auch die ästhetische Intuition als musikalische oder plastische, als lyrische oder dramatische geboren wird, daß die hier ausgedrückten Unterschiede also nicht bloße Wortmarken oder Etiketten sind, die wir den einzelnen Kunstwerken anheften, sondern daß ihnen echte Stil-Differenzen, verschiedene Richtungen der künstlerischen Intention entsprechen.

Geht man hiervon aus, so zeigt sich, daß unser allgemeines Problem in allen Arten künstlerischer Gestaltung auftritt, während es doch andrerseits in jeder von ihnen eine spezifische Gestalt annehmen kann. Das Moment der Formkonstanz und das Moment der »Modifizierbarkeit« der Form tritt uns überall entgegen. Der Ausgleich zwischen beiden scheint freilich in den verschiedenen Künsten nicht in der gleichen Weise zu erfolgen. In dem einen Fall scheint das Beständige und Gleichförmige, in dem andern der Wandel und die Bewegung den Vorrang zu behaupten. Man könnte in gewissem Sinne der Bestimmtheit, der Festigkeit und Geschlossenheit der architektonischen Form die Bewegung, die Variabilität und Variation der lyrischen oder musikalischen Form gegenüberstellen. Aber dies sind bloße Akzentverschiebungen; denn auch in der Architektur zeigt sich Dynamik und Rhythmus, wie sich in der Musik eine strenge Statik der Formen zeigt. Was die Lyrik betrifft, so scheint sie von allen Künsten die beweglichste und flüchtigste zu sein. Sie weiß von keinem anderen Sein als dem, das sich im Werden enthüllt – und dieses Werden ist nicht die objektive Veränderung der Dinge, sondern die innere Bewegtheit des Ich. Wenn hier etwas festgehalten werden soll, so ist es der Übergang selbst; das Kommen und Gehen, das Auftauchen und Verschwinden, das Anklingen und Verschweben der feinsten seelischen Regungen und der flüchtigsten seelischen Stimmungen. Wenn irgendwo, so scheint es hier sicher zu sein, daß der Künstler keine fertige Welt von »Formen« nutzen kann; daß jeder neue Augenblick eine neue Form erschaffen muß. Und doch zeigt die Geschichte der Lyrik, daß selbst in ihr der »Bestand« gegenüber der Bewegung nicht gänzlich verschwindet, daß die »Heterogeneität« nicht einzig und nicht einseitig herrscht. Gerade in der Lyrik erscheint alles Neue, was sie erzeugt, immer noch als ein Anklang und Wiederklang. Denn es sind im Grunde nur wenige große Grundthemen, denen sie sich zuwendet. Sie bleiben unerschöpflich und unveränderlich; sie gehören allen Völkern und sie haben im Lauf der Zeiten kaum eine wesentliche Änderung erfahren. In keinem Gebiet scheint die Stoffwahl auf einen so engen Kreis beschränkt wie hier. Der Epiker mag immer neue Begebenheiten, der Dramatiker mag immer neue Charaktere und immer neue Konflikte gestalten. Aber die Lyrik schreitet den Kreis menschlichen Empfindens ab, um sich in ihm stets wieder auf denselben Mittelpunkt zurückverwiesen zu sehen. Für sie gibt es im Grunde nichts Äußeres, sondern Ort für Ort ist sie im Innern. Dieses Innere erscheint in ihr als unendlich, sofern es niemals völlig aussagbar und völlig erschöpfbar ist; aber diese Unendlichkeit betrifft seinen Gehalt, nicht seinen Umfang. Die Zahl der eigentlich lyrischen Motive scheint im Wandel der Zeiten kaum der Erweiterung fähig, und sie scheint ihrer nicht bedürftig zu sein. Denn die Lyrik versenkt sich immer wieder in die »Naturformen der Menschheit«. Noch im Persönlichsten, Individuellen, Einmaligen fühlt sie die ewige Wiederkehr des Gleichen. Ein bestimmter Kreis von Gegenständen ist ihr genug, um aus ihm allen Reichtum der Stimmung und der dichterischen Form hervorzuzaubern. Immer wieder begegnen wir den gleichen Gegenständen und den gleichen vorbildlichen menschlichen Situationen. Die Liebe und der Wein, die Rose und die Nachtigall, der Schmerz der Trennung und das Glück des Wiederfindens, das Erwachen und Sterben der Natur: dies alles kehrt in der lyrischen Dichtung aller Zeiten unablässig wieder. Die Last der Tradition und Konvention ist daher auch in der Geschichte der Lyrik zu spüren – und sie wiegt hier besonders schwer. Aber all dies ist beseitigt und überwunden, sooft, im Laufe der Jahrhunderte, ein neuer großer Lyriker geboren wird. Auch er pflegt den Kreis der lyrischen »Objekte« und der lyrischen Motive kaum zu erweitern. Goethe hat sich nicht gescheut, sowohl in der Wahl der Motive wie in der Formwahl, an die Lyrik aller Völker und aller Jahrhunderte anzuknüpfen. Die römischen Elegien und der West-östliche Divan beweisen, was solche Anklänge und Wiederklänge für ihn bedeutet haben. Dennoch hören wir in jenen so wenig die Sprache von Catull oder Properz, wie wir in diesem die Sprache von Hafis hören. Wir hören nur Goethes Sprache – die Sprache des einmaligen, unvergleichlichen Lebensmoments, den er in diesen Dichtungen festgehalten hat.

So begegnen wir in den verschiedenen Kulturgebieten immer wieder demselben, in seiner Grundbeschaffenheit einheitlichen Prozeß. Der Wettstreit und Widerstreit zwischen den beiden Kräften, von denen die eine auf Erhaltung, die andere auf Erneuerung zielt, hört niemals auf. Das Gleichgewicht, das zwischen ihnen bisweilen erreicht scheint, ist immer nur ein labiles Gleichgewicht, das in jedem Augenblick in neue Bewegung umschlagen kann. Dabei wird mit dem Wachstum und der Entwicklung der Kultur der Ausschlag des Pendels immer weiter: die Amplitude der Schwingung wächst mehr und mehr. Die inneren Spannungen und Gegensätze gewinnen damit eine immer stärkere Intensität. Dennoch wird dieses Drama der Kultur nicht schlechthin zu einer »Tragödie der Kultur«. Denn es gibt in ihm ebensowenig eine endgültige Niederlage, wie es einen endgültigen Sieg gibt. Die beiden Gegenkräfte wachsen miteinander, statt sich wechselseitig zu zerstören. Der schöpferischen Bewegung des Geistes scheint in den eignen Werken, die sie aus sich hervorbringt, ein Gegner zu erwachsen. Denn alles Geschaffene muß seiner Natur nach dem, was neu entstehen und werden will, den Raum streitig machen. Aber wenn sich die Bewegung immer wieder an ihren Gebilden bricht, so zerbricht sie doch nicht an ihnen. Sie sieht sich nur zu einer neuen Anstrengung genötigt und getrieben, in der sie neue, unbekannte Kräfte entdeckt. Nirgends tritt dies in so bedeutsamer und charakteristischer Form hervor als im Verlauf der religiösen Ideenbewegung. Hier zeigt der Kampf seine vielleicht tiefste und erschütterndste Seite. Nicht nur der Gedanke oder die Phantasie, sondern Gefühl und Wille, der ganze Mensch ist an ihm beteiligt. Denn jetzt handelt es sich nicht mehr um endliche einzelne Ziele; es handelt sich um Tod oder Leben, um Sein oder Nichtsein. Es gibt keine relativen Entscheidungen; es geht um die eine absolute Entscheidung. Die Religion ist überzeugt, im Besitz dieser absoluten Entscheidung zu sein. In ihr glaubt der Mensch ein Ewiges gefunden zu haben, einen Bestand, der dem Zeitstrom nicht mehr angehört. Aber die Verheißung dieses höchsten Gutes und dieses höchsten Wertes schließt für das Subjekt zugleich eine bestimmte Forderung in sich. Es muß sie, so wie sie ihm dargeboten wird, hinnehmen; es muß seiner eigenen inneren Unruhe, seinem rastlosen Suchen entsagen. Wenn die Religion, wie alle geistigen Güter, aus dem Lebensstrom entspringt, so will sie ihn doch zugleich überwinden. Sie eröffnet den Ausblick in ein »transzendentes« Gebiet, das unberührt von ihm an sich selbst gilt und in sich selbst verharrt. Um dieses ihres Zieles willen muß sie die stärksten inneren und äußeren Bindungen enthalten. Je weiter wir in der Religionsgeschichte zurückgehen, um so fester werden diese Bindungen. Der Gott, dessen Hilfe erfleht wird, erscheint nur, wenn kein Wort in der Gebetsformel verändert wird; der Ritus verliert jede religiöse Kraft, wenn er sich nicht in ein und derselben unwandelbaren Kette von Einzelhandlungen vollzieht. In den Religionen der »Primitiven« verfällt das Ganze des Lebens dieser Starrheit des religiösen Formalismus. Jede Einzelhandlung ist von religiösen Verboten betroffen und bedroht. Eine Fülle von Tabu-Vorschriften legte sich wie ein eiserner Ring um das Dasein und das Leben des Menschen. Aber die Entwicklung der Religion weist ihr andere und höhere Ziele. Die Bindung hört nicht auf; aber sie wendet sich nicht nach außen, sondern nach innen. Das Gebet wird aus magischem Wortzwang zur Anrufung der Gottheit; das Opfer und die Kulthandlung werden zur Versöhnung mit Gott. Und damit wächst und erstarkt die Macht des Subjektiven und Individuellen. Die Religion ist und bleibt ein Ganzes von festen Glaubenssätzen und festen praktischen Geboten. Diese Sätze sind wahr, diese Gebote sind gültig, weil sie von Gott offenbart und verkündigt worden sind. Aber diese Verkündigung selbst vollzieht sich nirgend anders als in der Seele der einzelnen, der großen Religionsstifter und Propheten. Damit bricht der Gegensatz wieder in seiner vollen Stärke auf, und jetzt wird er in seiner ganzen Tiefe erlebt. Das Ich wächst über alle seine empirischen Grenzen hinaus; es erkennt keine Schranke zwischen sich und der Gottheit an; es fühlt sich unmittelbar gottbeseelt und gottdurchdrungen. Und kraft dieser Unmittelbarkeit verwirft es alles, was den Charakter der objektiven Satzung hat, was nur dem religiösen Herkommen angehört. Der Prophet will einen »neuen Himmel und eine neue Erde« aufbauen. Aber hier verfällt er freilich, in seinem eigenen Sein und in seinem eigenen Werk, wieder der Gewalt, von der er die Menschen befreien will. Er kann bestimmte bestehende Dogmen nur verwerfen, indem er ihnen seine tiefere Gewißheit vom Göttlichen entgegenstellt. Und um diese Gewißheit auszusprechen, muß er selbst wieder zum Schöpfer neuer religiöser Symbole werden. Sie sind für ihn, solange er noch von der inneren Kraft des Schauens beseelt und erfüllt ist, nichts anderes als Sinnbilder. Aber für diejenigen, an die die Verkündigung ergeht, werden diese Sinnbilder wieder zu Dogmen. Das Wirken jedes großen Religionsstifters lehrt uns, wie er immer wieder unerbittlich in diesen Kreis hineingezogen wird. Was für ihn Leben war, wandelt sich zur Satzung und erstarrt in ihr. So finden wir auch hier die gleiche Oszillation, die in den anderen Gestaltungen der Kultur hervortritt. Auch die Religion kann sich, wenngleich sie ein Festes, Ewiges, Absolutes verkündet, diesem Prozeß nicht entziehen: denn indem sie in das Leben einzugreifen und es zu gestalten sucht, unterliegt sie damit dem Auf und Ab, dem steten und unaufhaltsamen Rhythmus des Lebens.

Auf Grund dieser Betrachtungen können wir nunmehr auch den spezifischen Unterschied schärfer bezeichnen, der zwischen dem Werden der »Natur« und dem der »Kultur« besteht. Auch die Natur kennt keinen Stillstand; auch die Organismen besitzen, in aller Bestimmtheit ihrer Form, eine eigentümliche Freiheit. Die Modifikabilität ist ein Grundcharakter alles Organischen. »Bildung und Umbildung organischer Gestalten« ist das große Thema aller Morphologie der Natur. Aber die Beziehung zwischen Bewegung und Ruhe, zwischen Gestalt und Metamorphose, die in der organischen Natur herrscht, unterscheidet sich in doppelter Hinsicht von dem Verhältnis, das uns in den Gebilden der Kultur begegnet. Beweglichkeit und Dauer müssen wir für beide in Anspruch nehmen; aber jedes dieser Momente erscheint uns in einer anderen Beleuchtung, wenn wir von der Welt der Natur auf die des Menschen hinüberblicken. Wenn wir in der Natur einen Aufstieg von »niederen« zu »höheren« Formen nachweisen zu können glauben, so betrifft er den Fortgang von einer zur anderen Gattung. Der genetische Gesichtspunkt ist hier immer und notwendig ein generischer Gesichtspunkt. Was die Individuen betrifft, so fallen sie aus dieser Betrachtungsweise notwendig heraus; wir wissen von ihnen nichts und brauchen von ihnen nichts zu wissen. Denn die Veränderungen, die sich in ihnen vollziehen, wirken auf die Gattung nicht unmittelbar zurück und gehen in ihr Leben nicht ein. Hier besteht jene Schranke, die die Biologie als die Tatsache der Nicht-Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften bezeichnet. Die Variationen, die sich im Kreise der Pflanzen- und Tierwelt in einzelnen Exemplaren vollziehen, bleiben biologisch belanglos; sie tauchen auf, um wieder zu versinken. Wollen wir diesen Sachverhalt in der Sprache der Weismannschen Vererbungstheorie ausdrücken – wobei wir die Frage nach der empirischen Richtigkeit und Beweisbarkeit dieser Theorie hier natürlich dahingestellt sein lassen –, so können wir sagen, daß diese Veränderungen nur das Soma, nicht aber das »Keimplasma« betreffen, daß sie demgemäß an der Oberfläche bleiben und nicht in jene Tiefenschicht hinabwirken, von der die Entwicklung Gattung abhängt. In den Kulturphänomenen aber ist diese biologische Schranke beseitigt. Der Mensch hat in den »symbolischen Formen«, die das Eigentümliche seines Wesens und seines Könnens sind, gewissermaßen die Lösung einer Aufgabe vollzogen, die die organische Natur als solche nicht zu lösen vermochte. Der »Geist« hat geleistet, was dem »Leben« versagt blieb. Hier ist das Werden und Wirken des einzelnen in ganz anderer, tief eingreifender Weise mit dem des Ganzen verknüpft. Was die Individuen fühlen, wollen, denken, bleibt nicht in ihnen selbst verschlössen; es objektiviert sich im Werk. Und diese Werke der Sprache, der Dichtung, der bildenden Kunst, der Religion werden zu den »Monumenten«, zu den Erinnerungs- und Gedächtniszeichen der Menschheit. Sie sind »dauernder als Erz«; denn in ihnen besteht nicht nur ein Stoffliches weiter, sondern sie sind der Ausdruck eines Geistigen, das, wenn es auf verwandte und empfängliche Subjekte trifft, jederzeit wieder aus seiner stofflichen Hülle befreit und zu neuer Wirkung erweckt werden kann.

Freilich gibt es auch im Bereich der Kulturgüter Unzähliges, was zugrunde geht, und was der Menschheit für immer verlorengeht. Denn auch diese Güter haben eine materielle Seite, an der sie verwundbar sind. Der Brand der Bibliothek zu Alexandria hat vieles vernichtet, was für unsere Kenntnis der Antike von unschätzbarem Werte gewesen wäre, und die meisten von Leonardos Gemälden sind für uns verloren, weil die Farben, in denen sie gemalt waren, sich nicht als dauerhaft erwiesen haben. Aber selbst in diesen Fällen bleibt das einzelne Werk mit dem Ganzen wie durch unsichtbare Fäden verknüpft. Wenn es in seiner besonderen Gestalt nicht mehr besteht, so hat es doch Wirkungen geübt, die in irgendeiner Weise in die Entwicklung der Kultur eingegriffen und ihren Gang vielleicht an irgendeinem Punkte entscheidend bestimmt haben. Wir brauchen hierbei nicht nur an das Große und Außergewöhnliche zu denken. Das gleiche bewährt sich auch im engsten und kleinsten Kreise. Man hat mit Recht hervorgehoben, daß es vielleicht keinen einzelnen Akt des Sprechens gibt, der nicht irgendwie »die« Sprache beeinflußte. Aus unzähligen solchen Akten, die in gleicher Richtung wirken, können sich bedeutsame Änderungen des Sprachgebrauchs, können sich lautliche Verschiebungen oder formale Wandlungen ergeben. Das liegt daran, daß die Menschheit sich in ihrer Sprache, ihrer Kunst, in allen ihren Kulturformen gewissermaßen einen neuen Körper geschaffen hat, der allen gemeinsam zugehört. Der Einzelmensch als solcher kann individuelle Fertigkeiten, die er sich im Laufe des Lebens erworben, freilich nicht fortpflanzen. Sie haften am physischen »Soma«, das nicht vererbbar ist. Aber was er in seinem Werk aus sich herausstellt, was sprachlich ausgedrückt, was bildlich oder plastisch dargestellt ist, das ist der Sprache oder der Kunst »einverleibt« und dauert durch sie fort. Dieser Prozeß ist es, der die bloße Umbildung, die sich im Kreise des organischen Werdens vollzieht, von der Bildung der Menschheit unterscheidet. Die erstere vollzieht sich passiv, die zweite aktiv. Daher führt die erste nur zu Veränderungen, während die zweite zu bleiben« den Gestaltungen führt. Das Werk ist im Grunde nichts anderes als eine menschliche Tat, die sich zum Sein verdichtet hat, die aber auch in dieser Verfestigung ihren Ursprung nicht verleugnet. Der schöpferische Wille und die schöpferische Kraft, aus denen es hervorgegangen ist, lebt und wirkt in ihm fort und führt zu immer neuen Schöpfungen weiter.

 


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