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Zweite Studie
Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung

Die innere Krise, in der sich die Philosophie und die Wissenschaft in den letzten hundert Jahren, in der Zeit seit Goethes und Hegels Tod, befunden hat, tritt vielleicht in keinem anderen Zug so deutlich hervor wie in dem Verhältnis, das hier zwischen Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft bestand. In beiden Gebieten bedeutete der Fortgang der Forschung einen einzigen ununterbrochenen Siegeszug. Nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in methodischer Hinsicht, nicht nur in bezug auf die ständige Ausdehnung des Stoffes, sondern auch in bezug auf seine geistige Formung und Durchdringung steht diese Epoche fast einzig da. Die exakte Naturwissenschaft hat nicht nur ihr Gebiet fortschreitend erweitert, sondern sie hat sich auch ganz neue Instrumente der Erkenntnis geschaffen. Die Biologie hat den Zustand der bloßen Deskription und Klassifikation der Naturformen überschritten und ist zu einer echten Theorie der organischen Formen geworden. Was die Kulturwissenschaften betrifft, so standen sie vor einer fast noch größeren Aufgabe. Denn hier galt es erst jenen »sicheren Weg der Wissenschaft« zu finden, von dem noch Kant geglaubt hatte, daß er nur der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaft vorbehalten sei. Seit den Tagen der Romantik hat die Geschichtswissenschaft, die klassische Philologie und Altertumskunde, die Sprachwissenschaft, die Literatur- und Kunstwissenschaft, die vergleichende Mythologie und Religionswissenschaft immer neue Ansätze hierzu gemacht. Sie hat ihre Aufgabe immer schärfer erfaßt und ihre spezifischen Denk- und Forschungsmittel immer feiner ausgebildet. Aber allen diesen Triumphen, die das Wissen im Laufe eines einzigen Jahrhunderts zu erreichen vermochte, stand ein schwerer Mangel und ein innerer Schaden gegenüber. Wenn die Forschung in jedem Teilgebiet unaufhaltsam fortschreiten konnte, so wurde doch ihre innere Einheit immer fragwürdiger. Die Philosophie konnte diese Einheit nicht behaupten, und sie vermochte der wachsenden Zersplitterung nicht Einhalt zu tun. Hegels System ist der letzte große Versuch, das Ganze des Wissens zu umfassen und kraft eines beherrschenden Gedankens zu organisieren. Aber Hegel konnte dieses Ziel nicht erreichen. Denn das Gleichgewicht der Kräfte, das er herstellen wollte, besteht bei ihm nur zum Schein. Hegels Streben und sein philosophischer Ehrgeiz ging dahin, die »Natur« mit der »Idee« zu versöhnen. Aber statt dieser Versöhnung kommt es bei ihm nur zu einer Unterwerfung der Natur unter die absolute Idee. Die Natur behält kein Eigenrecht; sie besitzt nur eine scheinbare Selbständigkeit. Sie trägt all ihr Sein von der Idee zu Lehen; denn sie ist nichts als die Idee selbst, sofern diese letztere nicht in ihrem absoluten Sein und in ihrer absoluten Wahrheit, sondern in der Entfremdung von sich selbst, in ihrem »Anderssein« betrachtet wird. Hier lag die eigentliche Achillesferse des Hegelschen Systems. Den Angriffen, die sich mit wachsender Wucht gegen diese Stelle richteten, konnte es auf die Dauer nicht widerstehen.

Die Naturwissenschaft und die Geisteswissenschaft als solche schienen freilich durch dieses Schicksal der Hegelschen Lehre nicht unmittelbar berührt zu werden. Beide konnten ihren Besitz aus dem Schiffbruch des Hegelschen Systems retten, und sie glaubten ihn um so eher behaupten und sichern zu können, je mehr sie fortan ihren eigenen Weg, ohne jegliche philosophische Bevormundung, gingen. Aber immer weiter führte sie dieser Weg auseinander; die Trennung schien jetzt ein für allemal besiegelt zu sein. Die Entwicklung der Philosophie im 19. Jahrhundert hat diese Kluft zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft nicht beseitigt, sondern mehr und mehr erweitert. Denn immer mehr trat jetzt die Philosophie selbst in die beiden feindlichen Lager des Naturalismus und Historismus auseinander. Der Kampf zwischen beiden hat sich ständig verschärft. Zwischen Naturalismus und Historismus ließ sich nicht nur keine Vermittlung oder Versöhnung finden; es schien nicht einmal ein gegenseitiges Verständnis zwischen ihnen möglich zu sein. In der ausgezeichneten Darstellung, die Ernst Troeltsch von der Entwicklung des Historismus gegeben hat, kann man den Kampf in all seinen einzelnen Phasen verfolgen Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie. Tübingen 1922.. Und es schien sich hierbei weniger um ein Problem der Erkenntniskritik und Methodenlehre als um einen Gegensatz der »Weltanschauungen« zu handeln, der rein wissenschaftlichen Argumenten kaum zugänglich war. Nach einem kurzen Versuch, die Sachlage logisch zu klären, ziehen sich die Gegner auf gewisse metaphysische Grundpositionen zurück, aus denen sie nicht vertrieben werden können, in denen aber freilich jeder nur sich selbst behaupten kann, ohne den anderen überzeugen oder widerlegen zu können. Die Entscheidung zwischen Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft, zwischen Naturalismus und Historismus scheint damit fast dem Gefühl und dem subjektiven Geschmack des einzelnen Forschers anheimgegeben zu sein; die Polemik gewinnt mehr und mehr das Übergewicht über die objektive Beweisführung.

Die kritische Philosophie ist in diesem Streit der allgemeinen Aufgabe treu geblieben, die ihr von Kant gestellt worden war. Sie hat vor allem versucht, das Problem auf seinen eigentlichen Boden zurückzuversetzen; sie wollte es der Gerichtsbarkeit der Metaphysik entziehen und es lediglich sub specie der Erkenntniskritik betrachten. Hier liegt die wichtige Leistung, die Windelband in seiner Rede »Geschichte und Naturwissenschaft« (1894) vollbracht hat. Windelbands Theorie sieht in dem Gegensatz zwischen Naturwissenschaft und Geschichte keinen Gegensatz der Weltanschauung, sondern eine solche der Methoden. Sie kann sich daher nicht einseitig dem Naturalismus oder Historismus verschreiben; sie muß Naturerkenntnis und Geschichtserkenntnis als gleichnotwendige und gleichberechtigte Momente des Wissens ansehen, die in ihrem wechselseitigen Verhältnis zu bestimmen sind. Windelbands Unterscheidung zwischen den »nomothetischen« Begriffen der Naturwissenschaft und den »idiographischen« der Geschichte versucht dieses Verhältnis zu fixieren. Aber so einfach und einleuchtend sie auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so wird sie doch gerade in dieser Einfachheit dem höchst komplexen Tatbestand, den sie beschreiben will, nicht gerecht. Platon hat vom Dialektiker verlangt, daß er sich nicht bei beliebigen begrifflichen Einteilungen beruhige. Wenn er ein Ganzes nach Arten und Gattungen sondere, so dürfe er hierbei seine Struktur nicht verletzen: er dürfe nicht zerschneiden, sondern müsse gemäß den »natürlichen Gelenken« (κατ' ἄρθρα ᾗ πέφυκεν) teilen. Daß Windelbands Unterscheidung diese Forderung nicht wirklich erfüllt hat, tritt besonders an der Ausführung und Durchführung seines Gedankens bei Rickert hervor. Auch Rickert trennt durch einen scharfen Schnitt das Naturwissenschaftlich-Allgemeine vom Historisch-Individuellen ab. Aber er sieht sich sofort genötigt, zuzugeben, daß die Wissenschaft selbst, in ihrer konkreten Arbeit, dem Gebot des Logikers keineswegs folgt, sondern daß sie es ständig durchkreuzt. Die Grenzen, die die Theorie zu ziehen genötigt ist, werden in dieser Arbeit immer wieder verwischt; statt der beiden klar gesonderten Extreme finden wir zumeist nur irgendwelche Misch- und Übergangsformen. Mitten in der Naturwissenschaft tauchen Probleme auf, die sich nur mit historischen Begriffsmethoden behandeln lassen, und andererseits hindert nichts, auf historische Gegenstände naturwissenschaftliche Betrachtungsweisen anzuwenden. Jeder wissenschaftliche Begriff ist in der Tat Allgemeines und Besonderes in einem; seine Aufgabe besteht eben darin, die Synthesis zwischen beiden herzustellen. Auch nach Rickerts Theorie schließt jede Erkenntnis des Historisch-Individuellen seine Beziehung auf ein Allgemeines ein. Aber an Stelle des Allgemeinen der naturwissenschaftlichen Gattungsbegriffe und Gesetzesbegriffe tritt in der historischen Erkenntnis nach ihm ein anderes Bezugssystem: das System der Wertbegriffe. Eine Tatsache historisch verstehen und historisch einordnen, heißt sie auf allgemeine Werte beziehen. Nur durch eine solche Beziehung gelingt es der geschichtlichen Erkenntnis, die unabsehbare Fülle des einzelnen, die als solche niemals erfaßbar ist, nach bestimmten Richtlinien zu durchschreiten und sie kraft dieses Prozesses innerlich zu gliedern. Damit aber steht die Theorie vor einem neuen Problem, das um so schwerer wiegt, je mehr man sich ihren eigentlichen Ausgangspunkt vergegenwärtigt. Windelband und Rickert sprachen als Schüler Kants. Was dieser für die mathematische Naturwissenschaft geleistet hatte, das wollten sie für die Geschichte und für die Kulturwissenschaften leisten. Sie wollten beide der Herrschaft der Metaphysik entziehen und sie, im Sinne der »transzendentalen« Fragestellung Kants, als ein Faktum behandeln, das auf die Bedingungen seiner Möglichkeit untersucht werden sollte. Wenn sich jetzt, als eine dieser Bedingungen, der Besitz eines allgemeinen Wertsystems ergibt, so fragt sich, wie der Historiker zu einem solchen gelangen und wie er seine objektive Geltung begründen soll. Sucht er diese Begründung der Geschichte selbst zu entnehmen, so droht ihm die Gefahr, sich in einen logischen Zirkel zu verwickeln; will er das System, wie Rickert selbst es in seiner Wertphilosophie getan hat, a priori konstruieren, so zeigt sich immer wieder, daß eine solche Konstruktion ohne irgendwelche metaphysische Annahmen nicht durchführbar ist, und daß somit die Frage im Grunde wieder an eben dem Punkte endet, von dem sie ausgegangen war.

Einen anderen Weg als Windelband und Rickert ist Hermann Paul gegangen, um zu einer Lösung der Frage nach den Prinzipien der Kulturwissenschaft zu gelangen. Er hat vor beiden den Vorzug, daß er nicht bei allgemeinen begrifflichen Distinktionen stehenblieb, sondern unmittelbar an seine konkrete Forschungsarbeit anknüpfen und aus ihrer Fülle schöpfen konnte. Diese Arbeit galt der Sprachwissenschaft, und die Probleme der Sprachgeschichte bildeten für Paul das Paradigma, an dem er seine Grundanschauung entwickelte. Er geht davon aus, daß keine historische Disziplin bloß-historisch verfahren könne; daß ihr vielmehr immer eine Prinzipien-Wissenschaft zur Seite stehen müsse. Als solche wird von Paul die Psychologie in Anspruch genommen Vgl. Paul, Prinzipien der Sprachwissenschaft, S. 1 ff.. Der Bann des bloßen Historismus scheint damit gebrochen. Aber auf der anderen Seite steht die Sprachwissenschaft und die Kulturwissenschaft überhaupt damit unmittelbar in Gefahr, dem Psychologismus zu verfallen. Pauls eigene Theorie ist dieser Gefahr nicht entgangen. Sie stützte sich in der Hauptsache auf Herbart und baute auf dessen psychologischen Grundanschauungen auf. Aber damit drangen unvermerkt auch bestimmte Elemente der Herbartschen Metaphysik in sie ein, die ihren rein empirischen Charakter gefährdeten. »Man kann sich nicht« – so urteilt Karl Vossler – »an Herbart anlehnen, ohne die Metaphysik dieses Philosophen in Kauf zu bekommen. Was echte Metaphysik ist, läßt sich nicht an der Schwelle der Erfahrungswissenschaften verabschieden. In der Tat ist von Herbarts agnostischem Mystizismus mit seinen unerkennbaren Dingen an sich ein dunkler Schatten in Pauls gesamte Sprachwissenschaft herübergefallen; und gerade die Grundfrage, die Frage nach dem Wesen der Sprache, kann nirgends bei ihm ins Licht treten.« Vossler, Geist und Kultur in der Sprache, Heidelberg 1925, S. 5 f.

Aber was bedeutet die Frage nach dem »Wesen« der Sprache oder nach dem irgendeines anderen Objekts der Kulturwissenschaft, wenn sie weder in rein historischem, noch in rein psychologischem, noch in metaphysischem Sinne gestellt werden soll? Bleibt außerhalb dieser Gebiete überhaupt noch irgend etwas übrig, wonach mit Recht und Fug gefragt werden kann? Teilen sie nicht alles »Geistige« vollständig unter sich auf? Hegel unterscheidet die drei Sphären des subjektiven, des objektiven und des absoluten Geistes. Die Phänomene des subjektiven Geistes studiert die Psychologie; der objektive Geist ist uns nirgends anders als in seiner Geschichte gegeben; das Wesen des absoluten Geistes enthüllt sich uns in der Metaphysik. Diese Trias also scheint den gesamten Inbegriff der Kultur und alle ihre Einzelformen und Einzelgegenstände zu umfassen. Der Begriff, als logischer und metaphysischer Begriff, scheint uns nicht weiterzuführen als bis zu dieser Einteilung und Dreiteilung. Aber der Unterschied, um den es sich hier handelt, hat noch eine andere Seite, die durch die Analyse der Begriffe nicht vollständig sichtbar gemacht werden kann. Hier müssen wir vielmehr einen Schritt weiter zurückgehen. Schon in der Wahrnehmung selbst läßt sich ein Moment aufweisen, das in seiner konsequenten Weiterentwicklung auf eben diesen Unterschied hinführt. Man muß in diese Grund- und Urschicht aller Bewußtseinsphänomene vorstoßen, um in ihr den gesuchten Archimedischen Punkt, das δός μοι ποῦ στῶ, zu finden. Hier werden wir daher in gewissem Sinne über die Grenzen der bloßen Logik hinausgewiesen. Die Analyse der Begriffsform als solcher kann die spezifische Differenz, die zwischen Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft besteht, nicht vollständig aufhellen. Wir müssen uns vielmehr entschließen, den Hebel noch tiefer anzusetzen. Wir müssen uns der Phänomenologie der Wahrnehmung anvertrauen und fragen, was sie uns für unser Problem zu geben hat.

Wenn wir die Wahrnehmung in ihrem einfachen phänomenalen Bestand zu beschreiben suchen, so zeigt sie uns gewissermaßen ein doppeltes Antlitz. Sie enthält zwei Momente, die in ihr innig verschmolzen sind, deren keines sich aber auf das andere reduzieren läßt. Sie bleiben in ihrer Bedeutung voneinander geschieden, wenngleich es nicht gelingt, sie faktisch zu sondern. Es gibt keine Wahrnehmung, die nicht einen bestimmten »Gegenstand« meint und auf ihn gerichtet ist. Aber dieser notwendige objektive Bezug stellt sich uns in einer zweifachen Richtung dar, die wir, kurz und schematisch, als die Richtung auf das »Es« und als die Richtung auf das »Du« bezeichnen können. Immer besteht in der Wahrnehmung eine Auseinanderhaltung des Ich-Poles vom Gegenstands-Pol. Aber die Welt, die dem Ich gegenübertritt, ist in dem einen Falle eine Ding-Welt, in dem anderen Falle eine Welt von Personen. Wir betrachten sie das eine Mal als ein Ganzes räumlicher Objekte und als den Inbegriff zeitlicher Veränderungen, die sich an diesen Objekten vollziehen, während wir sie das andere Mal als etwas »Unseresgleichen« betrachten. Die Andersheit bleibt in beiden Fällen bestehen; aber in ihr selbst zeigt sich ein charakteristischer Unterschied. Das »Es« ist ein anderes schlechthin, ein aliud; das »Du« ist ein alter ego. Es ist unverkennbar, daß, je nachdem wir uns in der einen oder der anderen Richtung bewegen, die Wahrnehmung für uns einen anderen Sinn und gewissermaßen eine besondere Färbung und Tönung gewinnt.

Daß der Mensch die Wirklichkeit in dieser doppelten Weise erlebt, ist unverkennbar und unbestritten. Hier handelt es sich um ein einfaches Faktum, an dem keine Theorie rütteln und das sie nicht aus der Welt schaffen kann. Warum fällt es der Theorie so schwer, dieses Faktum zuzugeben? Warum hat sie immer wieder den Versuch gemacht, nicht nur von ihm zu abstrahieren – was methodisch durchaus erlaubt ist –, sondern es auch geradezu zu leugnen und zu verleugnen? Den Grund für diese Anomalie finden wir, wenn wir uns die Tendenz vergegenwärtigen, der alle Theorie ihren Ursprung verdankt, und die in ihr um so mehr erstarkt, je weiter sie fortschreitet. Diese Tendenz besteht eben darin, den einen Wahrnehmungsfaktor zwar nicht gänzlich zu unterdrücken, aber ihn zu beschränken – ihm mehr und mehr Raum abzugewinnen. Alle theoretische Welterklärung findet sich bei ihrem ersten Auftreten einer anderen geistigen Macht: der Macht des Mythos gegenüber. Um sich gegen dieselbe zu behaupten, müssen Philosophie und Wissenschaft nicht nur im einzelnen die mythischen Erklärungen durch andere ersetzen, sondern sie müssen die mythische Auffassung des Seins und Geschehens als Ganzes bestreiten und verwerfen. Sie müssen den Mythos nicht nur in seinen Gebilden und Gestalten, sondern in seiner Wurzel angreifen. Diese Wurzel aber ist keine andere als die Ausdruckswahrnehmung. Der Primat der Ausdruckswahrnehmung vor der Dingwahrnehmung ist das, was die mythische Weltansicht charakterisiert. Für sie gibt es noch keine streng bestimmte und gesonderte »Sachwelt«. Denn es fehlt noch an jenen konstanten Einheiten, deren Gewinnung das erste Ziel aller theoretischen Erkenntnis ist. Jedes Gebilde kann sich in das andere wandeln; alles kann aus allem werden. Die Gestalt der Dinge droht in jedem Augenblick zu verfließen; denn sie baut sich nicht aus festen Eigenschaften auf. »Eigenschaften« und »Beschaffenheiten« sind Momente, die uns nur die empirische Beobachtung kennen lehrt, sofern sie, in immer erneuten und über lange Zeiträume erstreckten Ansätzen, die gleichen Bestimmungen oder dieselben Verhältnisse wiederfindet. Eine solche Gleichartigkeit und Gleichförmigkeit kennt der Mythos nicht. Für ihn kann die Welt in jedem Augenblick ein anderes Gesicht gewinnen, weil der Affekt es ist, der dieses Gesicht bestimmt. In Liebe und Haß, in Hoffnung und Furcht, in Freude und Schreck verwandeln sich die Züge der Wirklichkeit. Jede dieser Erregungen kann eine neue mythische Gestalt, einen »Augenblicksgott« aus sich hervorgehen lassen Vgl. hierzu meine Schrift: Sprache und Mythos, Leipzig 1925, S. 29 ff.. Indem Philosophie und Wissenschaft dieser mythischen Reaktion eine eigene Form der Aktion gegenüberstellen, indem sie eine selbständige Weise der Betrachtung, der »Theorie«, ausbilden, sehen sie sich allmählich mehr und mehr zu dem entgegengesetzten Extrem gedrängt. Sie müssen die Quelle zu verstopfen suchen, aus der der Mythos sich ständig nährt, indem sie der Ausdruckswahrnehmung jegliches Eigenrecht bestreiten. Die Wissenschaft baut eine Welt auf, in der zunächst an die Stelle der Ausdrucksqualitäten, der »Charaktere« des Vertrauten oder Furchtbaren, des Freundlichen oder Schrecklichen, die reinen Sinnesqualitäten der Farbe, des Tones usf. getreten sind. Und auch diese letzteren müssen immer weiter reduziert werden. Sie sind nur »sekundäre« Eigenschaften, denen die primären, die rein-quantitativen Bestimmungen zugrunde liegen. Diese letzteren bilden all das, was für die Erkenntnis als objektive Wirklichkeit zurückbleibt. Die Physik zieht diese Konsequenz. Und die Philosophie muß, sofern sie kein anderes Zeugnis als das der Physik gelten läßt, noch weitergehen. Der strenge »Physikalismus« erklärt nicht nur alle Beweise, die man für die Existenz des »Fremdpsychischen« zu geben versucht hat, für unzulänglich oder ungültig, sondern er leugnet auch, daß man nach einem solchen Fremdpsychischen, nach einer Welt, nicht des »Es«, sondern des »Du«, mit Sinn fragen kann. Nicht nur die Antwort, sondern schon die Frage ist mythisch, nicht philosophisch, und sie muß daher radikal ausgemerzt werden Vgl. hierzu Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit. Berlin 1928..

Wenn die Philosophie nichts anderes als Erkenntniskritik wäre, und wenn sie den Begriff der Erkenntnis so einschränken dürfte, daß er lediglich die »exakte« Wissenschaft umfaßt, so könnte man sich mit dieser Entscheidung begnügen. Die physikalische Sprache wird dann die einzige »intersubjektive Sprache«, und alles, was ihr nicht angehört, fällt als bloße Täuschung aus unserem Weltbild heraus. »Von der Wissenschaft« – so erklärt Carnap – »verlangt man.., daß sie nicht nur subjektive Bedeutung hat, sondern für die verschiedenen Subjekte, die an ihr teilhaben, sinnvoll und gültig ist. Die Wissenschaft ist das System der intersubjektiv gültigen Sätze. Besteht unsere Auffassung zu Recht, daß die physikalische Sprache die einzige intersubjektive Sprache ist, so folgt daraus, daß die physikalische Sprache die Sprache der Wissenschaft ist.« Vgl. Carnap, Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft, Erkenntnis, Bd. II (1932), S 441 ff. Diese Sprache ist nicht nur »intersubjektiv«, sie ist auch universal, d. h. jeder Satz läßt sich in sie übersetzen; und was als unübersetzbarer Rest stehenzubleiben scheint, ist überhaupt kein Sachverhalt.

Nimmt man diesen Standpunkt an, so würde es z. B. eine Sprach- Wissenschaft nur geben, sofern sich an dem Phänomen »Sprache« gewisse physische Bestimmungen zeigen, wie sie in der Lautphysiologie oder der Phonetik beschrieben werden. Daß dagegen die Sprache »Ausdruck« ist, daß sich in ihr »Seelisches« offenbart, daß z. B. Wunschsätze, Befehlssätze, Fragesätze verschiedenen seelischen Haltungen entsprechen: dies alles wäre so wenig konstatierbar, wie es schon die Existenz des »Fremdpsychischen« als solche ist. Das gleiche würde a fortiori von der Kunstwissenschaft, der Religionswissenschaft und allen anderen »Kulturwissenschaften« gelten – sofern sie etwas anderes sein wollen als die Darstellung physischer Dinge und der Veränderungen, die sich an ihnen abspielen. Die Religionsgeschichte hätte es etwa mit jenen Verhaltungsweisen zu tun, die wir mit dem Namen Ritus und Kultus, Gebet und Opfer bezeichnen. Art und Verlauf dieser Verhaltungsweisen könnte sie aufs genaueste beschreiben, aber sie müßte sich jedes Urteils über ihren »Sinn« enthalten: sie besäße kein Kriterium, durch welches sie diese »heiligen Handlungen« von anderen, die in das Gebiet des »Profanen« fallen, unterscheiden könnte. Auch der Umstand, daß es sich in ihnen um soziales Verhalten, nicht um individuelles Verhalten handelt, hülfe nicht weiter, denn die Erkenntnis des Sozialen wäre an die gleiche Bedingung gebunden. Sie gälte nur im Sinne rein behavioristischer Darstellung; sie würde uns zeigen, was unter bestimmten Bedingungen an gewissen Menschengruppen geschieht; aber wir müßten uns, wenn wir nicht bloßen Illusionen verfallen wollen, sorgfältig jedes Urteils darüber enthalten, was dieses Geschehen »bedeutet«, d. h. welche Vorstellungen, Gedanken, Gefühle in ihm ihren Niederschlag finden.

Diese negative Konsequenz aber schließt für uns zugleich eine positive Einsicht in sich. Man kann dem »Physikalismus« die Anerkennung nicht versagen, daß er eine wichtige Klärung des Problems herbeigeführt, daß er das Moment, auf welches wir in der Unterscheidung der Kulturwissenschaft von der Naturwissenschaft den Nachdruck legen müssen, als solches gesehen hat. Aber er hat den gordischen Knoten zerhauen, statt ihn zu lösen. Die Lösung kann nur einer phänomenologischen Analyse gelingen, die die Frage in ihrer wirklichen Allgemeinheit faßt. Wir müssen, ohne Vorbehalt und ohne erkenntnistheoretisches Dogma, jede Art von Sprache, die wissenschaftliche Sprache, die Sprache der Kunst, der Religion usf., in ihrer Eigenart zu verstehen suchen; wir müssen bestimmen, wieviel sie zum Aufbau einer »gemeinsamen Welt« beiträgt. Daß die Erkenntnis vom »Physischen« die Grundlage und das Substrat für jeden derartigen Aufbau ist, steht fest. Es gibt kein rein »Ideelles«, das diese Stütze entbehren könnte. Das Ideelle besteht nur, insoweit es sich in irgendeiner Weise sinnlich-stofflich darstellt und sich in dieser Darstellung verkörpert. Die Religion, die Sprache, die Kunst: das alles ist für uns nicht anders faßbar als in den Monumenten, die sie sich geschaffen haben. Sie sind die Wahrzeichen, die Denk- und Erinnerungsmale, in denen wir allein einen religiösen, einen sprachlichen, einen künstlerischen Sinn erfassen können. Und eben dieses Ineinander macht dasjenige aus, woran wir ein Kulturobjekt erkennen. Ein Kulturobjekt hat, wie jedes andere Objekt, seine Stelle in Raum und Zeit. Es hat sein Hier und Jetzt, es entsteht und vergeht. Und soweit wir dieses Hier und Jetzt, dieses Entstehen und Vergehen beschreiben, brauchen wir über den Kreis physischer Feststellungen nicht hinauszugehen. Auf der andern Seite aber erscheint in ihm eben das Physische selbst in einer neuen Funktion. Es »ist« und »wird« nicht nur, sondern in diesem Sein und Werden erscheint ein anderes. Dieses Erscheinen eines »Sinnes«, der nicht vom Physischen abgelöst ist, sondern an ihm und in ihm verkörpert ist, ist das gemeinsame Moment aller jener Inhalte, die wir mit dem Namen »Kultur« bezeichnen. Sicherlich kann uns nichts daran hindern, von diesem Moment abzusehen und uns in dieser Art der Abstraktion, des Absehens und Wegsehens, gegen ihren »Symbolwert« blind zu machen. Wir können den David Michelangelos auf die Beschaffenheit des Marmors untersuchen; wir können an Raffaels »Schule von Athen« nichts anderes sehen als eine Leinwand, die mit Farbflecken von bestimmter Qualität und in bestimmter räumlicher Anordnung bedeckt ist. In diesem Augenblick ist das Kunstwerk zu einem Ding unter Dingen geworden, und seine Erkenntnis steht unter denselben Bedingungen, die für jedes andere raum-zeitliche Dasein gelten. Aber sobald wir uns in die Darstellung versenken und uns rein ihr selbst hingeben, stellt sich der Unterschied wieder her. Immer unterscheiden wir an ihr zwei Grundmomente, die nur in ihrer Vereinigung und Durchdringung das Ganze des künstlerischen Gegenstandes konstituieren. Die Farben auf dem Gemälde Raffaels haben »Darstellungsfunktion«, sofern sie auf ein Objektives hinweisen. Wir verlieren uns nicht in ihrer Betrachtung, wir sehen sie nicht als Farben; sondern wir sehen durch sie ein Gegenständliches, eine bestimmte Szene, ein Gespräch zwischen zwei Philosophen. Aber auch dieses Objektive ist nicht der einzige und wahrhafte Gegenstand des Gemäldes. Das Gemälde ist nicht einfach die Darstellung einer historischen Szene, eines Gesprächs zwischen Platon und Aristoteles. Denn nicht Platon und Aristoteles, sondern Raffael ist es, der hier in Wahrheit zu uns spricht. Diese drei Dimensionen: die Dimension des physischen Daseins, des Gegenständlich-Dargestellten, des Persönlich-Ausgedrückten sind bestimmend und notwendig für alles, was nicht bloß »Wirkung«, sondern »Werk« ist, und was in diesem Sinne nicht nur der »Natur«, sondern auch der »Kultur« angehört. Die Ausschaltung einer dieser Dimensionen, die Einschließung in eine einzelne Ebene der Betrachtungen, ergibt immer nur ein Flächenbild der Kultur, verrät uns aber nichts von ihrer eigentlichen Tiefe.

Der strikte Positivismus freilich pflegt diese Tiefe zu leugnen, weil er fürchtet, sich in ihrer Dunkelheit zu verlieren. Und man muß ihm zugestehen, daß der Ausdruckswahrnehmung, wenn man sie mit der Dingwahrnehmung vergleicht, eine besondere Schwierigkeit und »Unbegreiflichkeit« innezuwohnen scheint. Diese Unbegreiflichkeit besteht nicht für die naive Weltansicht. Sie vertraut sich der Ausdrucksuntersuchung unbefangen an und fühlt sich in ihr völlig heimisch. Keinerlei theoretische Argumente können sie in ihrer Sicherheit erschüttern. Aber dies ändert sich, sobald die Reflexion sich des Problems bemächtigt. Alle logischen »Beweise« für die Existenz des Fremdpsychischen, die man in der Geschichte der Philosophie versucht hat, haben ihr Ziel verfehlt, und alle psychologischen Erklärungen, die man gegeben hat, sind unsicher und fragwürdig. Es ist nicht schwer, die Mängel dieser Beweise und dieser Erklärungen zu durchschauen Vgl. hierzu Philosophie der symbolischen Formen, III. S. 95 ff.. Die Skepsis konnte hier stets den schwachen Punkt finden, an welchem sie mit ihren Angriffen eingesetzt hat. Kant hat der zweiten Auflage der Vernunftkritik eine besondere Widerlegung des »psychologischen Idealismus« eingefügt. Er wollte durch diese Widerlegung, wie er sagt, den »Skandal der Philosophie und der allgemeinen Menschenvernunft« beseitigen, daß beide gezwungen sein sollten, das Dasein der Dinge außer uns bloß auf Glauben anzunehmen Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., S. XXXVIII.. Dieser Skandal verschärft sich noch, wenn es sich nicht um das Dasein der »Außenwelt«, sondern um das Dasein fremder Subjekte handelt. Und doch haben selbst überzeugte metaphysische Dogmatiker sich außerstande erklärt, den skeptischen Argumenten an dieser Stelle etwas Entscheidendes entgegenzustellen. Sie haben den Zweifel als unwiderleglich, aber freilich auch als unerheblich betrachtet. Schopenhauer sagt, daß der theoretische Egoismus, der alle Erscheinungen, außer seinem eigenen Individuum, für bloße Phantome hält, durch Beweise nimmermehr zu widerlegen sei. Dennoch könne er als ernstliche Überzeugung lediglich im Tollhause gefunden werden, in welchem Fall es dann gegen ihn nicht sowohl eines Beweises, als vielmehr einer Kur bedürfte. Man könne daher den Solipsismus als eine kleine Grenzfestung ansehen, die zwar auf immer unbezwinglich sei, deren Besatzung aber durchaus nicht aus ihr herauskönne, daher man an ihr vorbeigehen und ohne Gefahr sie im Rücken liegen lassen darf Welt als Wille und Vorstellung, 2. Buch, § 19.. Es ist freilich für die Philosophie ein unbefriedigender Zustand, wenn sie hier an den »gesunden Menschenverstand« appellieren muß, den zu kritisieren und im Zaume zu halten sie sonst als eine ihrer Hauptaufgaben ansieht. Daß der Prozeß der Begründung nicht ins Endlose weitergehen kann, daß wir schließlich auf etwas stoßen müssen, das nur noch »aufweisbar«, nicht aber beweisbar ist, ist ersichtlich. Dies gilt sowohl vom Wissen um das eigene Ich, wie es vom Wissen von der Außenwelt gilt. Auch das »Cogito ergo sum« ist, wie Descartes immer wieder betont hat, kein logischer Schluß, kein argumentum in forma, sondern eine rein intuitive Erkenntnis. Im Gebiet der eigentlichen Grundprobleme können wir die Reflexion nicht allein walten lassen; wir müssen auf Erkenntnisquellen von anderer und ursprünglicherer Art zurückgehen. Was wir dagegen fordern müssen, ist dies, daß die Phänomene, sobald wir sie ins helle Licht der Reflexion rücken, keine inneren Widersprüche aufweisen, sondern miteinander im Einklang stehen. Diese Bedingung wäre nicht erfüllt, wenn die »natürliche« Weltansicht uns unwiderstehlich zu einer These drängen würde, die die Theorie als schlechthin unbegründbar oder als sinnlos bezeichnen müßte.

Es gilt oft als eine fast selbstverständliche, keiner näheren Begründung bedürftige Annahme, daß alles, was der Erkenntnis unmittelbar zugänglich ist, bestimmte physische Daten sind. Die sinnlichen Gegebenheiten: Farbe und Ton, Tast- und Temperaturempfindungen, Geruch und Geschmack, sind das einzige, was unmittelbar erfahrbar ist. Anderes, insbesondere seelisches Sein, mag zwar aus diesen primären Gegebenheiten gefolgert werden, bleibt aber eben deshalb unsicher. Aber die phänomenologische Analyse bestätigt diese Voraussetzung keineswegs. Weder die inhaltliche noch die genetische Betrachtung berechtigt uns dazu, der Sinneswahrnehmung vor der Ausdruckswahrnehmung den Vorrang zu geben. In rein genetischer Hinsicht zeigt uns sowohl die Ontogenese wie die Phylogenese, die Entwicklung des individuellen Bewußtseins wie die des Gattungsbewußtseins, daß eben jene Data, die zumeist als der Anfang aller Wirklichkeitserkenntnis angesehen werden, erst ein relativ spätes Produkt sind, und daß es eines mühsamen und langwierigen Abstraktionsprozesses bedarf, um sie aus dem Ganzen der menschlichen Erfahrung zu gewinnen. Daß die ersten Erlebnisse des Kindes Ausdruckserlebnisse sind, dafür spricht alle unbefangene psychologische Beobachtung Vgl. hierzu Philosophie der symbolischen Formen, III, 74 ff.. Die Wahrnehmung von »Dingen« und »Dingqualitäten« tritt erst weit später in ihre Rechte. Es ist insbesondere die Sprache, die hier den Ausschlag gibt. In dem Maße, als wir die Welt nicht nur in bloßen Eindrücken erleben, sondern als wir diesem Erleben sprachlichen Ausdruck geben, wächst auch die Kraft des gegenständlichen Vorstellens Näheres in meinem Aufsatz: Le langage et la construction du monde des objets, Journal de Psychologie, 1933.. Aber daß sie im Gebiet der Sprache selbst niemals alleinherrschend werden kann: das bezeugt uns schon die Tatsache, daß aller sprachlicher Ausdruck »metaphorischer« Ausdruck ist und bleibt. Im Organismus der Sprache bildet die Metapher ein unentbehrliches Element; ohne sie würde die Sprache ihr Leben verlieren und zu einem konventionellen Zeichensystem erstarren. Aber auch die eigentlich theoretische Weltansicht, die Weltansicht der Philosophie und Wissenschaft, beginnt keineswegs damit, das Universum als einen Inbegriff bloß-»physischer« Dinge zu betrachten. Die Auffassung des Kosmos als ein System von Körpern und die Auffassung des Geschehens als eine Wirkung rein physikalischer Kräfte ist erst spät hervorgetreten; wir können sie kaum weiter als bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Platon beginnt einen der Beweise, die er für die Unsterblichkeit der Seele gegeben hat, mit der Betrachtung, daß die Seele der »Anfang aller Bewegung« ist; denken wir sie ausgelöscht, so müßte das Universum zum Stillstand kommen. Bei Aristoteles wird dieser Gedanke zum Grundpfeiler der Kosmologie. Wenn die Himmelskörper sich in ewiger Bewegung erhalten, so kann dies nur darin seinen Grund haben, daß es ein seelisches Prinzip ist, dem diese Bewegung entstammt. Noch Giordano Bruno, der Herold und Verkünder des neuen kopernikanischen Weltbildes, erklärt die Lehre von der Beseelung der Himmelskörper als eine Überzeugung, in der alle Philosophen übereinstimmen. Bei Descartes begegnen wir zum erstenmal dem Gedanken eines streng mathematischen und mechanischen Universums; und seither greift er unaufhaltsam weiter. Aber man sieht, daß dieser Gedanke ein Letztes, nicht ein Erstes ist. Er ist ein Abstraktionsprodukt, zu dem sich die Wissenschaft in ihrem Bestreben, die Naturphänomene zu berechnen und zu beherrschen, gezwungen sieht. Durch ihn versucht der Mensch, wie Descartes selbst erklärt, sich zum »Herrscher und Besitzer der Natur« (maître et possesseur de la nature) zu machen. Die physische »Natur« der Dinge ist dasjenige in den Erscheinungen, was immer in der gleichen Weise wiederkehrt, und was sich in dieser Wiederkehr auf strenge, unverbrüchliche Gesetze bringen läßt. Sie ist das, was wir, als ein Konstantes und Gleichbleibendes, aus dem Inbegriff der uns gegebenen Phänomene ausscheiden können. Aber das auf diese Weise Abgelöste und Herausgelöste ist erst das Produkt der theoretischen Reflexion. Es ist ein »terminus ad quem«, nicht ein »terminus a quo«; ein Ende, aber kein Anfang. Die Naturwissenschaft als solche soll und muß freilich ihren Weg entschlossen bis zu diesem Ende verfolgen. Sie sucht alles »Personale« nicht nur mehr und mehr zu verdrängen, sondern sie strebt nach einem Weltbild, aus dem es prinzipiell ausgeschaltet ist Daß diese Ausschaltung des »Personalen«, auch im Weltbild der Physik, niemals absolut gelingen kann, sondern daß sie nur als ein Grenzbegriff der naturwissenschaftlichen Methode anzusehen ist, hat Schroedinger in einem interessanten Aufsatz dargelegt: Quelques remarques au sujet des bases de la connaissance scientifique, Scientia, Mars 1935.. Erst mit dem Absehen von der Welt des Ich und des Du erreicht sie ihre wahre Absicht. Der astronomische Kosmos war der erste, an dem diese Betrachtungsweise ihren höchsten Triumph und ihren endgültigen Sieg zu erringen schien. Bei Kepler wird die Vorstellung der »Planetenseelen«, die ihn anfangs noch ganz beherrscht, um so mehr zurückgedrängt, je mehr er zu einer eigentlichen mathematischen Theorie der Planetenbewegung vordringt; bei Galilei wird diese Vorstellung bereits als eine reine Fiktion erklärt. Die Philosophie der neueren Zeit ging auf diesem Wege noch weiter. Sie forderte die Ausschaltung der »okkulten« psychischen Qualitäten nicht nur für die Astronomie und Physik, sondern für alles Naturgeschehen. Auch die Biologie durfte hier nicht zurückbleiben; auch für sie schien die Herrschaft des »Vitalismus« zu Ende zu sein. Das Leben wird jetzt nicht nur aus der anorganischen, sondern auch aus der organischen Natur verwiesen. Auch der Organismus untersteht den Gesetzen des Mechanismus, den Gesetzen von Druck und Stoß, und geht vollständig in ihnen auf.

Alle Versuche, dieser radikalen »Entseelung« der Natur mit metaphysischen Argumenten entgegenzutreten, sind nicht nur gescheitert, sondern sie haben die Sache, der sie dienen wollten, kompromittiert. Im 19. Jahrhundert hat noch Gustav Theodor Fechner einen solchen Versuch gewagt. Er war selbst Physiker, und er wollte im Gebiet der Seelenlehre der Psychophysik den Weg bahnen. Aber sein philosophisches Bestreben ging vor allem dahin, die mechanische Weltauffassung an ihrer Wurzel anzugreifen. Der »Nachtansicht« der Naturwissenschaft wollte er die »Tagesansicht« gegenüberstellen. Es ist für unser Problem äußerst lehrreich, die Methode zu verfolgen, deren Fechner sich hierbei bediente. Sie bestand in nichts anderem als darin, daß er von der Ausdruckswahrnehmung ausging und diese wieder in ihre vollen Rechte einsetzen wollte. Diese Art der Wahrnehmung kann nach Fechner nicht nur nicht trügen, sondern sie ist im Grunde das einzige Mittel, durch das wir uns aus dem Bannkreis des abstrakten Denkens befreien und uns der Wirklichkeit nähern können. Den kühnsten und merkwürdigsten Vorstoß in dieser Richtung hat Fechner in seiner Schrift: »Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen« unternommen. Hier werden schlechthin alle Phänomene der Pflanzenwelt als Ausdrucksphänomene gefaßt und in diesem Sinne gedeutet. Die Pflanzen sind für Fechner »Seelen« – »Seelen, die still blühen, duften, im Schlürfen des Taues ihren Durst, im Knospentrieb ihren Drang, im Wenden gegen das Licht noch eine höhere Sehnsucht befriedigen« Fechner, Nanna, 4. Aufl., Hamburg und Leipzig 1908, S. 10.. Aber die mechanische Theorie hat keine Mühe, all die Erscheinungen, in denen Fechner den Beweis für ein Seelenleben der Pflanzen finden wollte, auf »Tropismen« zurückzuführen, die sich durch bekannte physikalische und chemische Kräfte erklären lassen. Nach ihr reichen Heliotropismus, Geotropismus, Phototropismus vollständig aus, um von den Vorgängen des pflanzlichen Lebens Rechenschaft zu geben. Die modernen Begründer der Tropismen-Theorie haben nicht gezögert, dieselbe auch auf das tierische Leben zu erstrecken, und sie haben geglaubt, hier den strengen empirischen Nachweis für Descartes' These vom Automatismus der Tiere gefunden zu haben Vgl. Jacques Loeb, Vorles. über die Dynamik der Lebenserscheinungen, Leipzig 1906.. Und schließlich zeigte sich, daß selbst die Psychologie, die Lehre von den Bewußtseinserscheinungen, dieser Tendenz der fortschreitenden Objektivierung und Mechanisierung keinen Einhalt gebieten kann. Auch das »Cogito« Descartes' bildet keine sichere und unübersteigliche Scheidewand mehr. Für Descartes selbst bedeutete es die scharfe Grenzlinie zwischen »Natur« und »Geist«, weil es der Ausdruck des »reinen Denkens« war. Aber gibt es ein solches reines Denken, oder ist das, was man dafür ausgegeben hat, nicht vielleicht lediglich eine rationalistische Konstruktion. Der Versuch, die These des Empirismus in radikaler Schärfe durchzuführen, muß notwendig auf diese Frage führen. Einer der scharfsinnigsten modernen Analytiker der Psychologie hat sie sich ausdrücklich gestellt. In seinen »Essays in Radical Empiricism« wirft William James die Frage auf, ob es irgendeinen Erfahrungsbeweis für dasjenige gebe, was wir gemeinhin mit dem Namen »Bewußtsein« bezeichnen. Und er gelangt zu einer negativen Entscheidung. Die Psychologie muß nach ihm auf den Begriff des Bewußtseins verzichten, wie sie gelernt hat, auf den Begriff der Seelen-Substanz Verzicht zu leisten. Denn in Wahrheit handelt es sich hier nur um zwei verschiedene Bezeichnungen für ein und dieselbe Sache. Die Behauptung, daß es ein »reines Denken«, ein »reines Selbstbewußtsein«, eine »transzendentale Einheit der Apperzeption« gebe, schwebt nach James im Leeren. Kein nachweisbares psychologisches Datum kann für sie angeführt werden. Sie ist ein bloßes Echo, ein schwacher Nachhall, den die metaphysische Seelensubstanz bei ihrem Verschwinden hinterlassen hat. Denn es gibt kein Ichbewußtsein und kein Ichgefühl ohne bestimmte Körpergefühle. »Ich bin fest überzeugt davon«, so erklärt James, »daß der Strom des Denkens, den ich als Phänomen ausdrücklich und nachdrücklich anerkenne, nur ein ungenauer Ausdruck für etwas ist, das sich bei schärferer Analyse in der Hauptsache als der Strom meines Atmens (the stream of my breathing) herausstellt. Das ›Ich denke‹, von dem Kant sagt, daß es alle meine Vorstellungen muß begleiten können, ist das ›Ich atme‹, das sie tatsächlich begleitet.« William James, Does Consciousness exist? LANG="en-US"> (Essays in radical Empiricism, 1912, p. 36); vgl. auch Bertrand Russell, The Analysis of Mind, 1921.

Vom Standpunkt eines strikten Empirismus, der es lediglich mit der Feststellung der Tatsachen des Bewußtseins zu tun hat, scheint also zuletzt selbst der Begriff des Selbstbewußtseins, wenn man ihn im Sinne der klassisch-idealistischen Tradition versteht, fragwürdig zu werden. James selbst fügt freilich sofort hinzu, daß die Fragwürdigkeit nicht das Phänomen als solches betrifft, sondern nur einer bestimmten Deutung desselben anhaftet. Wenn er die Tatsache des »reinen Selbstbewußtseins« bestreitet, so geschieht dies nur, sofern mit diesem Namen ein für sich bestehendes Ding bezeichnet werden soll. LANG="en-US">Was er leugnet, ist nur die substantielle Natur des Ich, nicht aber seine rein LANG="en-US"> funktionelle LANG="en-US"> Bedeutung. »Let me then immediately explain« – so sagt er ausdrücklich – »that I mean only to deny that the word stands for an entity, but to insist most emphatically that it stands for a function.« Hält man diese Fragestellung fest, so rückt auch das Problem des Verhältnisses von Ich und Du alsbald in ein neues Licht. Beide können jetzt nicht mehr als selbständige Dinge oder Wesenheiten beschrieben werden, als für sich daseiende Objekte, die gewissermaßen durch eine räumliche Kluft getrennt sind und zwischen denen es nichtsdestoweniger, unbeschadet dieser Distanz zu einer Art von Fernwirkung, zu einer actio in distans, kommt. Das Ich wie das Du bestehen vielmehr nur insoweit, als sie »füreinander« sind, als sie in einem funktionalen Verhältnis der Wechselbedingtheit stehen. Und das Faktum der Kultur ist eben der deutlichste Ausdruck und der unwidersprechlichste Beweis dieser wechselseitigen Bedingtheit. Die Kultur fällt freilich aus dem Kreise der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise, die es mit Dingen und Dingverhältnissen zu tun hat, keineswegs prinzipiell heraus. Sie selbst und die Wissenschaft von ihr bilden keinen »Staat im Staate«. Die Werke der Kultur sind physisch-materialer Art; die Individuen, die diese Werke schaffen, haben ihr psychisches Dasein und Eigenleben. Dies alles kann und muß unter physikalischen, psychologischen und soziologischen Kategorien untersucht und studiert werden. Aber wenn wir uns von den einzelnen Werken und von den einzelnen Individuen den Formen der Kultur zuwenden und uns in ihre Betrachtung versenken, so stehen wir an der Schwelle eines neuen Problems. Der strikte Naturalismus leugnet dieses Problem nicht; aber er glaubt es dadurch bewältigen zu können, daß er diese Formen, daß er die Sprache, die Kunst, die Religion, den Staat als eine einfache Summe von Einzelwirkungen zu erklären sucht. Die Sprache wird aus einer Konvention, aus einer »Verabredung«, die die Individuen treffen, erklärt; das staatliche und gesellschaftliche Leben wird auf einen »Gesellschaftsvertrag« zurückgeführt. Der Zirkel, der dabei begangen wird, ist freilich leicht zu entdecken. Denn Verabredung ist nur im Medium der Sprache und Rede möglich, ebenso wie ein Vertrag nur im Medium des Rechtes und des Staates Sinn und Geltung hat. Die erste Frage, die es zu lösen gibt, besteht somit darin, worin dieses Medium besteht und welches seine Bedingungen sind. Die metaphysischen Theorien vom Ursprung der Sprache, der Religion, der Gesellschaft beantworten diese Frage damit, daß sie auf überpersonale Kräfte, auf das Wirken des »Volksgeistes« oder der »Kulturseele« zurückgehen. Aber dies ist nichts anderes als ein Verzicht auf wissenschaftliche Erklärung und ein Rückfall in den Mythos. Die Welt der Kultur wird hierbei als eine Art von Überwelt erklärt, die in die physische Welt und in das Dasein des Menschen hineinwirkt. Eine kritische Kulturphilosophie kann sich keiner der beiden Erklärungsarten gefangengeben. Sie muß ebensowohl die Scylla des Naturalismus wie die Charybdis der Metaphysik vermeiden. Und der Weg hierzu eröffnet sich ihr, wenn sie sich klarmacht, daß »Ich« und »Du« nicht fertige Gegebenheiten sind, die durch die Wirkung, die sie aufeinander ausüben, die Formen der Kultur erschaffen. Es zeigt sich vielmehr, daß in diesen Formen und kraft ihrer die beiden Sphären, die Welt des »Ich«, wie die des »Du«, sich erst konstituieren. Es gibt nicht ein festes, in sich geschlossenes Ich, das sich mit einem ebensolchen Du in Verbindung setzt und gleichsam von außen in seine Sphäre einzudringen sucht. Geht man von einer derartigen Vorstellung aus, so zeigt sich am Ende immer wieder, daß die in ihr gestellte Forderung unerfüllbar ist. Wie in der Welt der Materie, so bleibt auch im Geistigen jedes Sein gewissermaßen an seinen Ort gebannt und für das andere undurchdringlich. Aber sobald wir nicht vom Ich und Du als zwei substantiell getrennten Wesenheiten ausgehen, sondern uns statt dessen in den Mittelpunkt jenes Wechsel verkehrs versetzen, der sich zwischen ihnen in der Sprache oder in irgendeiner anderen Kulturform vollzieht, so schwindet dieser Zweifel. Im Anfang ist die Tat: im Gebrauch der Sprache, im künstlerischen Bilden, im Prozeß des Denkens und Forschens drückt sich je eine eigene Aktivität aus, und erst in ihr finden sich Ich und Du, um sich gleichzeitig voneinander zu scheiden. Sie sind in- und miteinander, indem sie sich in dieser Weise im Sprechen, im Denken, in allen Arten des künstlerischen Ausdrucks Einheit bleiben.

Es wird hieraus verständlich, ja es erscheint fast notwendig, daß die Psychologie des strikten »Behaviorismus« die Zweifel, die sie gegen die Wirklichkeit des »Du«, gegen die Existenz des »Fremdseelischen« erhebt, zuletzt auch gegen die Wirklichkeit des Ich, des »Cogito« im eigentlichen Sinne, kehren muß. Denn mit dem einen Moment muß in der Tat das andere fallen. So paradox James' Frage: »Does Consciousness exist?« lauten mag, so ist sie im Grunde doch nur konsequent. Aber eben diese Konsequenz kann uns den Ausweg aus dem Dilemma weisen, indem sie uns zeigt, in welche Sackgasse sich hier der »radikale Empirismus« und der Psychologismus verirrt hat. Die Berufung auf die überzeugende Kraft der Ausdruckswahrnehmung reicht für sich allerdings nicht hin, um die Zweifel zu zerstreuen. Wir müssen vielmehr ein anderes Argument hinzunehmen; wir müssen an dem, was wir Ausdruck nennen, zwei verschiedene Momente unterscheiden. Einen »Ausdruck der Gemütsbewegungen« gibt es auch in der tierischen Welt. Charles Darwin hat ihn in einem eigenen Werk eingehend studiert und beschrieben. Aber alles, was wir hier feststellen können, ist und bleibt passiver Ausdruck. Im Bereich des menschlichen Daseins und der menschlichen Kultur aber begegnet uns plötzlich ein Neues. Denn alle Kulturformen, so verschieden sie voneinander auch sein mögen, sind aktive Ausdrucks formen. Sie sind nicht, wie die Röte der Scham, das Runzeln der Stirn, das Ballen der Faust, bloße unwillkürliche Reaktionen, sondern Aktionen. Sie sind nicht einfache Geschehnisse, die sich in uns und an uns abspielen, sondern sie sind sozusagen spezifische Energien, und durch den Einsatz dieser Energien baut sich für uns die Welt der Kultur, die Welt der Sprache, der Kunst, der Religion auf.

Der Behaviorismus glaubt freilich, auch gegen diesen Einwand gewappnet zu sein. Er steht fest auf dem Boden des Gegebenen, und er erklärt, daß uns dies Gegebene in jedem Fall nichts anderes als eine bestimmte Verbindung sinnlicher Qualitäten, eine Mannigfaltigkeit von Farben, eine Folge von Lauten zeigt. Wenn wir behaupten, daß all diese Inhalte nicht nur »sind«, sondern daß in ihnen irgend etwas anderes »erscheint«, daß ihnen außer ihrem rein physischen Dasein ein »Symbolwert« zukommt, so greifen wir damit über das, was die Erfahrung uns allein kennen lehrt, hinaus. Der Lautkomplex, den wir »Sprache« nennen, kann daher nicht als Beweis dafür angeführt werden, daß hinter ihm jenes andere steht, was wir mit dem Ausdruck des »Denkens« zu bezeichnen pflegen. »Der Behaviorist« – so sagt Russell – »versichert uns, daß die Reden, die die Menschen führen, erklärt werden können ohne die Voraussetzung, daß Menschen denken. Dort, wo man ein Kapitel über Denkprozesse erwarten könnte, steht bei ihm ein Kapitel über Sprachgewohnheiten. Es ist demütigend zu finden, wie außerordentlich zutreffend sich diese Hypothese bei näherer Prüfung erweist.« Russell, The Analysis of Mind, p. 26 f. Daß ein großer Teil dessen, was im täglichen Leben gesprochen wird, unter diese vernichtende Kritik fällt, kann kaum bestritten werden. Aber haben wir ein Recht, dieses Urteil auf das Ganze der menschlichen Rede zu erstrecken? Folgt sie nur dem Gesetz der Nachahmung und ist sie leerer »Psittacismus«? Besteht kein Unterschied zwischen dem Sprechen des Papageis und der menschlichen Sprache? Russell selbst führt zur Stütze der behavioristischen These ein bestimmtes Beispiel an. Man nehme an, daß ein Lehrer in einer Prüfung seinen Schülern eine gewisse Rechenaufgabe, etwa eine Aufgabe aus dem Einmaleins vorlege. Er wird von dem einen Schüler eine »richtige«, von dem andern eine »falsche« Antwort erhalten. Aber beweist auch diese »richtige« Antwort etwas anderes, als daß eine bloße Wortformel sich dem Gedächtnis des Schülers eingeprägt hat, und daß er sie zu wiederholen vermag? Dies ist zweifellos richtig; aber kein Lehrer, kein wirklicher Pädagoge wird bei einer Prüfung so vorgehen, daß er lediglich nach Resultaten fragt. Er wird einen Weg finden, die Selbsttätigkeit des Schülers ins Spiel zu setzen. Er wird ihm ein Problem stellen, das dem Schüler vielleicht als solches vorher nie begegnet ist, und er wird an der Art seiner Lösung erkennen, nicht nur welche Art von eingelerntem Wissen der Prüfling besitzt, sondern auch wie er dieses Wissen zu gebrauchen versteht. Und hier schwindet der Zweifel, den auch der vielfältigste, rein passive Ausdruck nicht prinzipiell zu überwinden vermag. Es gibt sicherlich passive Rede, wie es passiven Ausdruck gibt. Sie geht über den Kreis der bloßen Sprachgewohnheit ( Language Habit) nicht hinaus. Aber die echte Rede, der sinnerfüllte »Logos«, ist von anderer Art. Sie ist niemals rein imitativ, sondern sie ist produktiv; und erst in dieser Funktion, in dieser ihr innewohnenden Energie bewährt und beweist sie jene andere Energie, die wir mit dem Namen des »Denkens« bezeichnen.

In der Teilhabe an einer gemeinsamen Sprachwelt besteht der wahre Zusammenhang zwischen »Ich« und »Du«, und in dem ständigen tätigen Eingreifen in sie stellt sich die Beziehung zwischen beiden her. Freilich kann dieser Umstand ebensowohl in negativem wie in positivem Sinne verstanden und gewertet werden. Die Klage, daß die Sprache nicht nur verbindet, sondern auch trennt, ist uralt. Die Philosophie, die Mystik und die Dichtung haben diese Klage wiederholt.

Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen?
Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr!

Dennoch beruht die Sehnsucht nach einer unmittelbaren Gedanken- und Gefühlsübertragung, die aller Symbolik, aller Vermittlung durch Wort und Bild, entraten könnte, auf einer Selbsttäuschung. Sie wäre nur dann berechtigt, wenn die Welt des »Ich« als eine gegebene und fertige bestünde, und Wort und Bild keine andere Aufgabe hätten, als dieses Gegebene auf ein anderes Subjekt zu übertragen. Aber eben diese Auffassung wird dem wirklichen Sinn und der wirklichen Tiefe des Prozesses des Sprechens und Bildens nicht gerecht. Hätte dieser Prozeß, hätten Sprache und Kunst lediglich die Funktion, zwischen der Innenwelt der verschiedenen Subjekte eine Brücke zu schlagen, so wäre der Einwurf berechtigt, daß die Hoffnung auf einen solchen Brückenschlag utopisch ist. Der Abgrund läßt sich nicht füllen; jede Welt gehört letzten Endes nur sich selbst an und weiß nur von sich selbst. Aber das wahre Verhältnis ist ein anderes. Im Sprechen und Bilden teilen die einzelnen Subjekte nicht nur das mit, was sie schon besitzen, sondern sie gelangen damit erst zu diesem Besitz. An jedem lebendigen und sinnerfüllten Gespräch kann man sich diesen Zug deutlich machen. Hier handelt es sich niemals um bloße Mitteilung, sondern um Rede und Gegenrede. Und in diesem Doppelprozeß baut sich erst der Gedanke selbst auf. Platon hat gesagt, daß es zur Welt der »Idee« keinen anderen Zugang gebe, als daß wir »einander Rede stehen in Frage und Antwort«. In Frage und Antwort müssen »Ich« und »Du« sich teilen, um damit nicht nur einander, sondern auch sich selbst zu verstehen. Beides greift hier ständig ineinander ein. Das Denken des einen Partners entzündet sich an dem des andern, und kraft dieser Wechselwirkung bauen sie beide, im Medium der Sprache, eine »gemeinsame Welt« des Sinnes für sich auf. Wo uns dieses Medium fehlt, da wird auch unser eigener Besitz unsicher und fragwürdig. Alles Denken muß die Probe der Sprache bestehen; und selbst die Kraft und Tiefe des Gefühls beweist und bewährt sich erst im Ausdruck des Gefühls. Jeder von uns hat die Erfahrung gemacht, daß er in jenem »unformulierten« Denken, das dem Traum eigentümlich ist, oft der erstaunlichsten Leistungen fähig ist. Spielend gelingt uns die Lösung eines schwierigen Problems. Aber im Augenblick des Erwachens ist dies zerronnen; die Notwendigkeit, das Errungene in Worte zu fassen, läßt seine Schattenhaftigkeit und Nichtigkeit erkennen. Die Sprache ist also keineswegs lediglich Entfernung von uns selbst; sie ist vielmehr, gleich der Kunst und gleich jeder anderen »symbolischen Form«, ein Weg zu uns selbst; sie ist produktiv in dem Sinne, daß sich durch sie unser Ichbewußtsein und Selbstbewußtsein erst konstituiert.

Hierzu bedarf es stets des zwiefachen Weges der Synthesis und Analysis, der Trennung und Wiedervereinigung. Dieses »dialektische« Verhältnis läßt sich nicht nur am eigentlichen Dialog, sondern es läßt sich schon am Monolog aufweisen. Denn auch das einsame Denken ist, wie Platon sagt, ein »Gespräch der Seele mit sich selbst«. So paradox es klingen mag, so läßt sich sagen, daß im Monolog die Funktion der Entzweiung, im Dialog die Funktion der Wiedervereinigung überwiegt. Denn das »Gespräch der Seele mit sich selbst« ist nicht möglich, ohne daß die Seele sich hierbei gewissermaßen spaltet. Sie muß die Aufgabe des Sprechenden und Hörenden, des Fragenden und Antwortenden übernehmen. Insofern hört die Seele im Selbstgespräch auf, ein bloß-einzelnes, ein »Individuum« zu sein. Sie wird zur »Person« – in der etymologischen Grundbedeutung dieses Wortes, das an die Maske und an die Rolle des Schauspielers erinnert. »Im Begriff des Individuums« – so sagt Karl Vossler – »ist diese Möglichkeit überhaupt nicht vorgesehen, denn zu seinem Wesen gehört, daß es innerlich unteilbar bleibe. Wenn die Menschen durchaus nur Individuen und nicht Personen wären, so ließe sich nicht einsehen, wie sie zur Führung eines Gesprächs, welches doch Mitteilung, also geistige Teilung und Vereinigung ist, gelangen könnten … Der wahre Träger und Schöpfer des Gesprächs ist sonach im letzten Grunde, d. h. wenn man die Dinge philosophisch betrachtet, immer nur eine einzige Person, die sich in zwei, in mehrere und schließlich beliebig viele Rollen oder Unter-Personen auseinanderlegt.« Karl Vossler, Sprechen, Gespräch und Sprache (Geist und Kultur in der Sprache, S. 12 f.).

Noch klarer und überzeugender tritt diese doppelte Funktion alles Symbolischen, die Funktion der Spaltung und Wiedervereinigung, in der Kunst hervor. »Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.« Dieses Wort Goethes drückt ein Grundgefühl aus, das in jedem großen Künstler wirksam ist. Der Künstler besitzt den stärksten Willen und das stärkste Vermögen zur Mitteilung. Er kann nicht rasten und ruhen, bis er den Weg gefunden hat, all das, was in ihm lebt, in anderen zum Leben zu erwecken. Und dennoch fühlt er sich gerade in diesem ständig sich erneuernden Strom der Mitteilung zuletzt vereinsamt und auf die Grenzen seines eigenen Ich zurückgeworfen. Denn kein einzelnes Werk, das er schafft, kann die Fülle der Gesichte, die er in sich trägt, festhalten. Immer bleibt hier ein schmerzlich empfundener Gegensatz zurück; das »Außen« und das »Innen« lassen sich niemals vollständig zur Deckung bringen. Aber diese Grenze, die er anerkennen muß, wird für den Künstler nicht zur Schranke. Er fährt fort zu schaffen, weil er weiß, daß er nur im Schaffen sich selbst finden und sich selbst besitzen kann. Er hat seine Welt und sein eigenes Ich erst in der Gestalt, die er ihnen gibt.

Auch das religiöse Gefühl zeigt die gleiche Doppelheit. Je tiefer und inniger es ist, um so mehr scheint es sich von der Welt abzuwenden und um so mehr scheint es alle Fesseln abzustreifen, die den Menschen an den Menschen, an seine soziale Wirklichkeit, binden. Der Gläubige kennt nur sich selbst und Gott; er will nichts anderes kennen. »Deum animamque scire cupio«, sagt Augustin, »nihilne plus? Nihil omnino.« Und doch bewährt sich bei Augustin selbst, wie bei allen anderen religiösen Genies, die Kraft des Glaubens erst in der Verkündung des Glaubens. Er muß seinen Glauben anderen mitteilen, er muß sie mit seiner religiösen Leidenschaft und Inbrunst erfüllen, um des Glaubens wahrhaft gewiß zu werden. Diese Verkündung ist nicht anders möglich als in religiösen Bildern – in Bildern, die als Symbole beginnen, um als Dogmen zu enden. Auch hier ist also jede beginnende Äußerung schon der Anfang der Entäußerung. Es ist das Schicksal, und es ist in gewissem Sinn die immanente Tragik jeder geistigen Form, daß sie diese innere Spannung nicht zu überwinden vermag. Mit der Auflösung der Spannung wäre auch das Leben des Geistigen erloschen; denn dieses besteht eben darin, das Geeinte zu trennen, um dafür um so sicherer das Getrennte vereinigen zu können.


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