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IV. Liebe und Erziehung

Der Einfluss der Liebe im Erziehungswesen, die Bedeutung ihrer hohen bildenden Macht für die kindliche Entwicklung, ist neuerdings der Gegenstand einer zunehmenden Beachtung geworden. Bisher beschränkte sich die Erziehung auf die intellektuelle (und auch die körperliche) Ausbildung. Aber was sich auf die Liebe bezog, das liess man geruhig seine eigenen Wege gehen. Jetzt endlich beginnt man einzusehen, dass gerade die Liebesgefühle einen ungeheuren Anteil haben an dem Ausbau von Gehirn und Körper. Ihre Förderung und Pflege scheint berufen zu sein, künftig eine wichtige Rolle unter den Aufgaben der Schule zu spielen.

Der Begriff der Schulfreundschaften ist jedem geläufig. Wohl jeder erinnert sich, welchen Raum sie in dem Kreise seiner ersten kindlichen Vorstellungen eingenommen haben. Aber man legte ihnen keinerlei Bedeutung bei, und infolge davon trug der beste Teil ihrer Kraft und ihres Wertes keine Früchte. Und doch ist es so handgreiflich, dass die erste Blüte eines gesunden Zuneigungsgefühles beim Knaben oder Mädchen den tiefsten Einfluss haben muss. In vielen Fällen kann ihr so häufiges Vorkommen zwischen älteren und jüngeren Schulkameraden, sowie die naive Schwärmerei eines kleinen Geschöpfes für seinen Lehrer, in ihrer erzieherischen Bedeutung gar nicht hoch genug angeschlagen werden.

Es lässt sich ja nicht leugnen, dass solche Gefühle manchmal beinahe leidenschaftliche und romantische Formen annehmen. Da liegt z. B. ein Brief vor mir, dessen Verfasser als 16jähriger Knabe eine Zuneigung zu einem etwas älteren Jüngling fasste, und über dieselbe urteilt wie folgt:

»Ich wäre imstande gewesen, zehn Leben für ihn hinzugeben. Meine Einfälle und Anschläge zu dem Zwecke, ihm zu begegnen (so dass es aussehen sollte, als ob ich ihm nur zufällig in den Weg käme), glichen denen eines Burschen für sein Schätzchen, und wenn ich ihn traf, schlug mein Herz so heftig, dass ich den Atem anhalten musste und keine Worte finden konnte. Wir sahen uns in ..., und in den Wochen, die er dort verbrachte, dachte ich an nichts andres mehr als an ihn, – musste Tag und Nacht immer an ihn denken, – und als er nach London zurückkehrte, schrieb ich ihm jede Woche, schrieb ihm wirkliche Liebesbriefe, viele Seiten lang. Dennoch fühlte ich nie eine Spur von Eifersucht, obgleich diese Freundschaft jahrelang dauerte. Ich glaube, dass diese Leidenschaft bei aller ihrer Heftigkeit und Ueberschwänglichkeit gänzlich frei war von sexuellen Regungen, und dass sie nur von gesundem und gutem Einfluss auf mich war. Sie trug ersichtlich zu meinem Wachstum bei. Wenn ich an sie zurückdenke und sie analysiere, so gut ich kann, glaube ich zu finden, dass ihre Hauptwirkung darin bestand, mich von dem überaus engherzigen Puritanertum zu befreien, in dem ich erzogen war. Ich lebte auf in seiner sonnenklaren, freimütigen Natur, die nichts von jener Beschränktheit hatte, deren ich selbst mir immer deutlicher bewusst wurde.«

Shelley spricht in seinem fragmentarischen »Essay on Friendship« in den glühendsten Wendungen von einer Brüderschaft aus seiner Schulzeit, und desgleichen Leigh Hunt in seiner Selbstbiographie. Letzterer schreibt:

»Und wenn mir das »Christ Hospital« sonst weiter nichts geboten hätte, diese Schule wird mir doch immer wert bleiben durch die Erinnerung an eine Freundschaft, die ich dort geschlossen habe, und die mir den ersten himmlischen Vorgeschmack gewährte der seelenvollsten aller Sympathien ... Ich werde nie ihren überwältigenden Eindruck auf mich vergessen. Ich liebte meinen Freund um seiner Güte willen, seiner Offenheit und Wahrhaftigkeit wegen, und um seine Ehrenhaftigkeit, seine Freiheit, auch gegenüber meiner mehr lebhaften Art, seine ruhige und besonnene Freundlichkeit ... Ich bezweifle, dass er sich jemals auch nur des zehnten Teils meiner Verehrung und Hochachtung gegen ihn bewusst wurde, und ich muss lächeln, wenn ich daran denke, wie ihn wahrscheinlich meine überschwänglichen Ausdrücke manchmal überrascht haben müssen, wenn er es sich auch nicht anmerken liess. Er erschien mir wie ein überirdisches Wesen.«

Es ist fast überflüssig, sich auf die Autoritäten auf diesem Gebiet zu berufen. Ueber weitere Beispiele vergl. Anhang. Jeder, der sich mit Schulknaben beschäftigt hat, weiss zur Genüge, wie leicht sie diese romantischen und schwärmerischen Freundschaften schliessen, und dass solche Zuneigungen oft das vorhin angedeutete erzieherisch wirksame Element enthalten, d.h. zwischen einem älteren und einem jüngeren Kameraden geknüpft werden. Das sind innerliche Anziehungen, in der Regel ursprünglich ganz frei von Nebenmotiven. Der ältere folgt ihnen ohne irgend welchen persönlichen Zweck. Noch häufiger wohl macht der jüngere den Anfang, der auf kindliche Art die Aeusserungen seiner Bewunderung für den älteren nicht zurückhält. Machtvoll und tief sind diese Gefühle, und sie äussern auf beiden Seiten erspriessliche Wirkungen, an die man lange zurückdenkt.

Dass solche Freundschaften den grössten Nutzen haben können, liegt auf der Hand. Der jüngere Knabe sieht den älteren als seinen Helden an, ist stolz auf ihn, ist glücklich, wenn der andere ihn lobt oder freundlich beurteilt, sucht ihn nachzuahmen, sieht in ihm sein Muster und Vorbild, lernt von ihm Uebungen und Spiele, nimmt seine Gewohnheiten an und ist bestrebt, von ihm zu lernen. Den älteren rührt seine Anhänglichkeit, er wird sein Beschützer und Helfer, er lernt sich selbstlos zu zeigen und entwickelt dem jüngeren gegenüber eine reine Liebe und Zärtlichkeit. Er scheut keine Mühe, um seinen Protégé mit der Ausübung des Sports im Freien vertraut zu machen, ihm zum Verständnis seiner Studien behilflich zu sein, und ist stolz, wenn der andere Erfolg hat. Später bringt er ihn wohl dahin, seine Ideale im Leben, Denken und Handeln zu teilen.

Manchmal wird das Bündnis in entsprechender Weise von dem älteren Knaben ausgehen. Oft knüpft es sich, wie erwähnt, zwischen dem Schüler und seinem Lehrer, oder man beobachtet wenigstens den Keim dazu. Gewiss wäre es schwer zu sagen, welcher Abgrund so tief sein könnte, dass ein solches grosses Gefühl nicht gelegentlich Mittel und Wege fände, ihn zu überschreiten, sei es nun ein Unterschied im Alter, in der Bildung, oder der gesellschaftlichen Stufe. Ich besitze einen Brief, den ein Knabe von elf oder zwölf Jahren einem jungen Manne von etwa vier- bis fünfundzwanzig Jahren geschrieben hat. Es war ein wilder, »ungezogener« Knabe, der seinen (dem Arbeiterstande angehörigen) Eltern schon recht viele Sorge bereitet hatte. Dieser besuchte nun irgend eine Art Abend-Schule und fasste hier (wie aus seinem Briefe hervorgeht) die tiefste Zuneigung zu seinem Lehrer, eben dem erwähnten jungen Manne, ganz von selbst, ohne irgend welche Ermutigung dazu von Seiten des letzteren; und (was ebenfalls wichtig ist) ohne einen Versuch von seiner Seite, sie abzuweisen. Die Folge war ein äusserst günstiges Ergebnis. Die einzige Möglichkeit, um auf den Knaben einzuwirken, hatte sich nun gefunden; und unter diesem Einflusse machte er rasche und günstige Fortschritte.

Der folgende Auszug rührt aus dem Briefe eines älteren Mannes her, der als Lehrer grosse Erfahrungen gesammelt hatte. Er sagt:

»Es ist mir von jeher aufgefallen, dass jene unbewusste Wechselwirkung, die zwischen zwei menschlichen Wesen stattfindet, gleichviel, ob von demselben oder von verschiedenen Geschlechtern, eine Macht ist, die man noch lange nicht genügend berücksichtigt hat, und mit der sich gewiss bedeutende Erfolge erzielen liessen. Plato verstand ihre volle Bedeutung, und war bemüht, den mehr oder weniger sinnlichen Anlagen dazu, die er bei seinen Landsleuten vorfand, eine edlere und erhabenere Richtung zu geben ... Da ich selber viele Gelegenheit hatte, Knaben zu unterrichten und fürs Leben vorzubereiten, bin ich zu der Ueberzeugung gekommen, dass das grosse Geheimnis, ein guter Lehrer zu sein, in der Fähigkeit beruht, eben diese Wechselwirkung zu verstehen. Sie ist nicht nur von rein intellektueller Art, sondern es ist damit auch ein gewisses physisches Element verknüpft, ein persönliches Gefallen, das sich kaum beschreiben lässt, und das zwischen Schüler und Lehrer gepflegt werden muss. Es überträgt die Gedanken und ermöglicht eine Einwirkung, wie sie auf keinem anderen Wege denkbar wäre.«

Jeder wird gewiss zugeben, dass das Bewusstsein, sich einer älteren Persönlichkeit seines Geschlechtes von teilnehmendem und hilfreichem Wesen anzuvertrauen, für das begierige Gemüt eines kleinen Knaben eine unschätzbare Gabe ist. In diesem Alter ist die Neigung zum anderen Geschlechte noch schwerlich ins Bewusstsein getreten, und es liegt auch kein Bedürfnis dazu vor. Der werdende Mensch braucht ein Ideal, das ihm selbst ähnlich ist, an das er sich halten und zu dem er emporwachsen kann. Ebenso klar ist es, dass der Erfolg einer solchen Beziehung vor allen Dingen von dem Charakter des älteren abhängen wird, von dem Masse der Selbstbeherrschung und Freundlichkeit, die in ihm liegt, und von den Lebensidealen, die ihm innewohnen. Darin liegt wohl auch der Grund dafür, dass nach griechischer Sitte, zumal in der frühhellenischen Zeit, Freundschaften zwischen Jünglingen verschiedenen Alters als eine wichtige nationale Einrichtung anerkannt wurden, und ganz bestimmte Gesetze oder Vorschriften dafür bestanden. Der ältere wurde dafür verantwortlich gemacht, dass er dem anderen Leitung und Hilfe gewähre.

So wurde z. B. in Creta Vergl. Müller's »History and Antiquities of the Doric Race.« die Freundschaft unter Vollziehung öffentlicher Formalitäten geschlossen, im Einvernehmen und mit Zustimmung der Verwandten. Die Aufgabe des älteren war dabei genau vorgezeichnet; ihm lag die Erziehung und Ausbildung des jüngeren ob in der Kunst der Waffen, in der Jagd u. s. w. Dagegen konnte der jüngere den älteren gerichtlich belangen, wenn dieser sich eine Beleidigung oder ein Unrecht irgend welcher Art gegen ihn zu Schulden kommen liess. Am Schlusse einer gewissen Prüfungszeit hatte der jüngere das Recht, wenn er wünschte, seinen Kameraden zu verlassen. Wenn nicht, so wurde er sein Knappe oder Gefolgsmann. Dann hatte der andere ihm seine kriegerische Ausrüstung zu liefern, und von nun an fochten sie Seite an Seite in der Schlacht, »von doppeltem Mute beseelt, oder entsprechend der Cretischen Auffassung, von den Gottheiten des Krieges und der Liebe. Müller. Aehnliche Gebräuche herrschten in Sparta, und in weniger ausgebildeter Form auch in den übrigen griechischen Staaten, wie sie auch bei vielen halbbarbarischen Stämmen auf der Schwelle der Zivilisation anzutreffen waren.

Wenn wir uns nun zur gegenwärtigen Lage im modernen Leben zurückwenden und z. B. die heutigen öffentlichen Schulen Eigentlich Erziehungsheime. (Anm. d. Uebers.) betrachten, so wird man zugeben müssen, dass von den vorbeschriebenen Idealen nur herzlich wenig darin zu finden ist, vielmehr wohl ein erschreckender Niedergang zu Verhältnissen, die niemanden begeistern können. Die Freundschaft ist weit davon entfernt, eine Einrichtung zu sein, deren Wert Würdigung und Verständnis fände. Im besten Falle lässt man sie knapp eben gelten, und oft wird sie verkannt oder gar vorsätzlich entmutigt. Und wenn auch Zuneigungen der geschilderten Art vorkommen, so bestehen sie im Verborgenen, gleichsam auf eigene Gefahr hin, und halb erstickt in einer Atmosphäre, die man nur als diejenige der Gosse bezeichnen kann. Irgendwie scheint im Herzen unserer Erziehung das Uebel der geschlechtlichen Frühreife um sich zu greifen; die verwerflichsten Gewohnheiten und Bräuche nehmen heimlich überhand, und (was vielleicht das Schlimmste an ihnen ist) sie verdunkeln und erniedrigen die Auffassung des Knaben von wahrer Freundschaft und Liebe.

Für solche, die mit den Verhältnissen in grossen Schulen vertraut sind, bedarf es keiner Beschreibung der Zustände. Von befreundeter Seite sind mir einige bezügliche Aufzeichnungen zur Verfügung gestellt worden, aus denen hervorgeht, dass unlängst in einer gewissen wohlbekannten solchen öffentlichen Schule eine unglaubliche Masse von Unsauberkeit, Unkeuschheit und schmutziger Unterhaltung vorkam, während zugleich die Knaben in ihrem Verhältnis zu einander ein hohes Mass von inniger, fast heroischer Liebe zeigten. Aber »alle diese Dinge wurden von Lehrern und Schülern in gleicher Weise mehr oder weniger als unheilig angesehen, mit dem Erfolge, dass sie entweder aufgesucht oder verworfen wurden, je nach der Beschaffenheit des Geschlechtstriebes und der Gemütsverfassung des Knaben. Niemand versuchte, eine Unterscheidung zu machen. Ein Kuss galt für eben so unrein wie der Akt der fellatio = sexuelle Unzucht mit dem Munde. (Anm. d. Uebers.), und keiner hatte irgend einen Masstab oder Leitfaden, den unbestimmten Drang des Knaben zu lenken«. Der Schreiber gibt dann Einzelheiten an, die sich hier der Wiedergabe entziehen. Er und andere wurden in die Mysterien der Geschlechtlichkeit durch den Schlafsaaldiener eingeweiht. Die so verdorbenen Knaben missbrauchten sich dann gegenseitig.

Natürlich wird in einer solchen Atmosphäre alle Wahrscheinlichkeit gegen ein Zustandekommen von keuschen und gesunden Freundschaften sprechen. Wenn der ältere Knabe zur Sinnlichkeit neigt, findet er hier die günstige Gelegenheit, sie zu befriedigen. Neigt er aber nicht dazu, so wird die hier massgebende Anschauungsweise jedenfalls auf ihn die Wirkung haben, dass sie ihn argwöhnisch gegen sein eigenes Gefühl macht, bis er zuletzt den besten Teil seiner Natur unterdrückt und preisgibt. Auf beide Arten wird Unheil angerichtet. Die älteren Knaben werden an solchen Plätzen entweder gemein und zügellos, oder lieblos und rechthaberisch. Die jüngeren Knaben, anstatt von den älteren erzogen und gefestigt zu werden, entwickeln sich zu niederträchtigen kleinen Schlingeln, zu selbstgefälligen, mürrischen Schultröpfen. Anm. d. Uebers.: Bei uns sieht die Durchschnittsphysiognomie des Schulbuben etwas anders aus, wenn auch zum mindesten nicht vorteilhafter. Seine körperliche Ausbildung erscheint mehr vernachlässigt, die (beim englischen Knaben etwas reichlich bemessene) Selbstachtung wird bei ihm verkümmert, er wird dem einseitigen lieblosen Verstandesdrill geopfert, ein wahrer Erziehungskrüppel. An mangelnder Herzensbildung und heimlichen Lastern fehlt es bei ihm gewiss nicht minder. Wenn das so weitergeht, wird man versucht sein, nicht mehr an die Möglichkeit gesunder Schulfreundschaften zu glauben; die Lehrer selbst kommen bei solcher Wirtschaft zu der Meinung, dass alle Liebe gemeinsinnlichen Handlungen diene, und tun schliesslich ihr Bestes, das Gefühlsleben vollends zu untergraben.

Der gegenwärtige Stand der Dinge ist geradezu ein verzweifelter. Es hat hier keinen Wert, eine puritanische Miene aufzusetzen, und Knabenstreiche als unverzeihliche Sünden zu bemäkeln. Man könnte weit eher zugestehen, dass ein wenig Leichtsinn immerhin einer gemütslosen Selbstzufriedenheit vorzuziehen ist. Aber jeder empfindet und muss bekennen, der etwas von der Sache gesehen hat, dass die Zustände in unseren Schulen schlechte sind.

Und das ist so, weil in jedem Falle die Reinheit (in dem Sinne von Keuschheit) in erster Linie für die Jugend von Wichtigkeit ist. Die Zeit der Enthaltsamkeit im Leben des Knaben zu verlängern, bedeutet auch eine Ausdehnung der ganzen Entwicklungsperiode und des Wachstums. Das ist ein einfaches und handgreifliches physiologisches Gesetz, und gegenüber allem, was man sonst noch zu Gunsten der Keuschheit anführen könnte, bleibt dieses wohl das wichtigste. Das Auftreten von sinnlichen und sexuellen Gewohnheiten – von denen eine der schlimmsten die Selbstbefleckung ist – in unreifem Alter bedeutet ein Aufhalten des körperlichen und geistigen Wachstums.

Und was noch mehr besagt, es heisst auch die Fähigkeit zur Liebe beeinträchtigen. Ich glaube, dass die Liebe als Zuneigung zu dem einen oder auch dem anderen Geschlechte, gesunder Weise im kindlichen Gemüte zuerst in einer ganz unbestimmten, urbildlichen Gefühlsform erwacht. Eine Art Sehnen und Erschauern wie vor etwas Göttlichem, ohne dass eine bestimmte Vorstellung oder ein deutliches Bewusstsein der Geschlechtlichkeit damit verknüpft wäre. Das Gefühl erweitert sich und erfüllt, vergleichbar dem Anwachsen der Meeresflut, jede Falte des Gemüts und des moralischen Lebens, und je länger (natürlich in angemessenen Grenzen) sein schliesslicher Durchbruch zur Geschlechtlichkeit aufgehalten werden kann, um so länger setzt sich die Periode der Entwicklung und Ausbildung des Gemütes fort, um so vollkommener reift die Läuterung, der Bereich und die Kraft des werdenden Charakters. Immer zeigt die Erfahrung, dass eine verfrühte Regung der Geschlechtlichkeit die Kraft zum Lieben mindert und schwächt.

Eben dieser verfrühte Durchbruch ist in unseren öffentlichen Schulen der Anlass grösster Besorgnis. Es ist in der Tat durchaus nicht unwahrscheinlich, dass die Eigenart des Mannes in unseren mittleren Klassen, der Mangel an zarteren Gefühlen und eine gewisse Roheit und Steifheit vorwiegend durch die Zustände verschuldet wird, die am Orte seiner Erziehung herrschten. Die Griechen mit ihrem wundervollen Feingefühl scheinen auch hier den richtigen Weg gefunden zu haben. Und während sie, wie wir sahen, die Freundschaft ehrten, legten sie der Zurückhaltung der Jugend grosses Gewicht bei. Den Hütern und Lehrern wurde es bei jeder guten Erziehung zur besonderen Pflicht gemacht, bei allen Gewohnheiten des Knaben auf Mässigung zu achten. Vergl. den Zwischenfall am Schlusse von Plato's »Lysis«, wo die Vormünder von Lysis und Menexenus eintreten und die Jünglinge nach Hause schicken.

Wir haben nun also, wie mir scheint, bei der Erziehung (sowohl der Knaben als der Mädchen) im allgemeinen mit zwei grossen Strömungen zu tun, die sich nicht übersehen lassen, und die man gewiss aufrichtig anerkennen und in die rechten Wege zu leiten suchen sollte. Die eine dieser Strömungen ist die Freundschaft. Die andere ist die Wissbegier des jungen Geschöpfes über geschlechtliche Dinge.

Die letztere hat selbstverständlich ein durchaus gerechtfertigtes Interesse. Das sollte man sich wenigstens klar machen. Wenn der Knabe reif wird, hat er natürlich den wohlbegründeten Anspruch zu wissen, was mit ihm vorgeht, und welches der Zweck und die Bedeutung seiner Körperorgane ist. Er wird nicht tiefer auf die Dinge einzugehen wünschen; eine knapp bemessene Aufklärung wird meist genügen, um ihn zufriedenzustellen. Aber die Wissbegierde lässt sich nicht wegleugnen, und man kann mit ziemlicher Sicherheit darauf rechnen, dass ein Knabe von aufgewecktem Verstande und von einigem Charakter gewiss Mittel und Wege finden wird, um ihr auf die eine oder die andere Weise Genüge zu tun.

Dieser Vorgang spielt sich zunächst nur im Intellekte ab. Begierden haben sich – ausser in abnormen Fällen – noch nicht geregt. Im Gegenteil findet sich häufig, ja sogar gewöhnlich, ein entschiedener Widerwille gegen sexuelle Manipulationen. Aber das Bedürfnis nach Belehrung ist da, und ich wiederhole, dass es durchaus gerechtfertigt ist. Ein nützlicher kleiner Leitfaden hierzu ist »How we are born« von Mrs. N. J. (Daniel, London, Preis 2/–). Betreffs allgemeiner Begründung des Wertes der geschlechtlichen Jugendaufklärung vergl. »The training of the Young in laws of Sex«, von Canon Lyttelton, Direktor des Eton College. (Longmans, 2/6.) Bei fast allen menschlichen Gemeinschaften, und wunderbarerweise mit alleiniger Ausnahme der modernen Kulturstaaten, haben Einrichtungen bestanden, um die Jugend beiderlei Geschlechtes in diese Verhältnisse würdig einzuweihen und damit zugleich wurden der erblühten Menschenknospe die Ideale der Mannheit und der Weiblichkeit eingeimpft, Mut und Kühnheit, und die Pflichten als Bürger und Vaterlandsverteidiger. Vergl. J. G. Wood's »Naturgeschichte des Menschen«, Band »Afrika« p. 324 (Die Betschuanen); ebenso Band »Australien«, p. 75.

Aber wie verhält sich dagegen die moderne Schule? Sie verschliesst die ganze Angelegenheit hinter einer Falltüre. Da gibt es nur ein Vertuschen und ein grausiges Schweigen! Und dadurch leitet man die natürliche Wissbegierde auf Hintertreppen, und ein Diebsgelüste schleicht sich ein, wo kein Begehren zuvor bestand. Die Methode der Gosse ist am Ruder. In Ermangelung einer würdigen Aufklärung wird verbotene Lektüre von einem zum andern geschmuggelt. Lose Reden und »Zoten« treten an Stelle der warmherzigen und angemessenen Auseinandersetzung. Die Heiligkeit des Geschlechtes geht dahin, woher sie niemals wiederkommt, und die Schule füllt sich mit frühreifem und krankhaftem Getuschel und Betrachtungen über einen Gegenstand, der von rechtswegen kaum eben erst am geistigen Horizonte aufdämmern dürfte.

Das Zusammentreffen dieser zwei Strömungen, der idealen Freundschaft und der ersten geschlechtlichen Regungen, bedeutet eine höchst kritische Periode, und zwar auch dann, wenn alles seinen richtigen Verlauf nimmt, nämlich zur Zeit der vollendeten Reife. Auch unter den günstigsten Umständen entsteht bei diesem ersten Zusammentreffen ein gewisser innerer Widerstreit. Aber durch die modernen Schulverhältnisse wird dieser Konflikt bei weitem zu früh herbeigeführt, und gleichzeitig erfolgt eine künstliche Unterdrückung der edleren Triebe und eine vorzeitige Herbeiführung jener von der gemeineren Art, wodurch der Verderb der ersteren besiegelt wird. Mit Recht bekämpfen die Lehrer die Unkeuschheit. Aber mit welchen Mitteln versuchen sie das? – Entweder mit grauenvollem Schweigen oder mit allen Grundtönen der Entrüstung. So treiben sie das Geschwür nur tiefer, indem sie den Abzug verstopfen. Wo es ihnen begegnet, zeigt sich sowohl beim Lehrer wie beim Schüler eine Verwechslung zwischen wahrer Liebe und jener, die sie verdammen.

So kam kürzlich der Vorsteher einer grossen öffentlichen Schule, als er eilig aus seinem Zimmer trat, zufällig dazu, als zwei Knaben auf dem Korridor einander umarmten. Möglicherweise, und sogar wahrscheinlich, war das nur der naive und natürliche Ausdruck einer unzweideutigen Freundschaft. Gewiss lag nichts darin, das man an sich als gut oder böse bezeichnen dürfte. Und was tat nun jener? – Er zerrte die beiden unglücklichen Geschöpfe in sein Zimmer und hielt ihnen eine lange Standrede über die Nichtswürdigkeit ihres Benehmens, mit zahlreichen Andeutungen, dass er wohl wisse, was solche Vorkommnisse zu bedeuten hätten, und zu was sie führten, und schliesslich bestrafte er sie beide exemplarisch. Anm. des Uebersetzers: so etwas bezeichnet man im Deutschen mit dem inhaltsreichen Ausdrucke »Seelenmord«! Hätte er nun wohl noch etwas Unsinnigeres tun können? – War ihre Freundschaft rein und natürlich, so hat doch die Prüderie des Schulmeisters nur das geleistet, etwas Unreines und Widernatürliches in sie hineinzulegen, und eine liebliche und ehrenwerte Empfindung zu verunglimpfen. Wenn aber die Handlung – was zum mindesten unwahrscheinlich ist – nur eine Aeusserung sinnlicher Lust war, – dann wäre es doch gewiss das richtigste gewesen, die bessere Möglichkeit anzunehmen, und entweder einzeln oder gemeinsam die Knaben zu belehren und zu versuchen, sie für das bessere Ideal zu erwärmen. Statt dessen nahm der Lehrer tatsächlich an, auch die ehrenhafte Freundschaft müsse zu unerwünschten Folgen führen, und indem er sie bestrafte, kittete er in Wahrheit ihre Liebe um so fester, er gab ausserdem noch einen zwingenden Anlass zu ihrer Verheimlichung und beschleunigte ihren weiteren Verlauf. Und jeder weiss, dass dies die Art und Weise ist, wie der Gegenstand in unseren Schulen behandelt wird. Es ist eine Methode vollkommener Ratlosigkeit. Und da die Lehrer (vielleicht nicht ohne Grund) sich sagen, dass ihnen die Zeit fehlt, die zu einer individuellen Behandlung jedes einzelnen Knaben erforderlich wäre, und keinen Weg sehen, um neue Lebensideale in ihrer kleinen Gemeinde einzuführen, und ferner ihre gänzliche Machtlosigkeit fühlen, die Sachlage zu wenden, so verfallen sie in die Politik des hilflosen Schweigens diesen Dingen gegenüber, die nur zuweilen mit Ausbrüchen einer ungeregelten und unverständigen Härte gemischt wird.

Ich wage zu behaupten, dass die Schule nicht eher imstande sein wird, diesen Schwierigkeiten wirksam zu begegnen, als bis sie freimütig die beiden besprochenen Voraussetzungen ins Auge fasst, und ehrlich daran geht, ihnen in angemessener Weise Genüge zu leisten.

Die Notwendigkeit einer geeigneten Aufklärung, die ganz natürliche Wissbegierde der Knaben (und Mädchen) muss berücksichtigt werden, und zwar erstens durch Einführung eines physiologischen Unterrichts, zweitens durch persönliche Besprechung, insbesondere vertrauliche Mitteilung zwischen älteren und jüngeren Kameraden, bei denen die Freundschaft veredelnd mitwirkt. Mit Bezug auf ersteren Punkt ist zu erwähnen, dass bereits einige wenige Schulen, bei denen die Aufklärung Eingang gefunden hat, einen derartigen Unterricht mit gutem Erfolge eingeführt haben. Und können auch hierbei die Tatsachen der Mutterschaft und der Zeugung nur sehr allgemein behandelt werden, so werden sie bei guter Leitung nicht verfehlen, auf die jungen Gemüter günstig einzuwirken, und ihnen eine weit vornehmere und ehrenwertere Auffassung des Gegenstandes zu vermitteln als es ihnen bisher vergönnt war.

Beim Unterricht wird man sich auf die elementaren Tatsachen der Physiologie und der natürlichen Befruchtungsvorgänge beschränken müssen. Weitere Einzelheiten und überhaupt jede wirksame Unterstützung bei der Lebensführung können nur durch ein sehr inniges Vertrauensverhältnis zwischen Aelteren und Jüngeren vermittelt werden, das sich auf eine gesunde Freundschaft gründet. Es ist klar, dass wahre Hilfe nur von dieser Seite kommen kann, und dass dies die einzige wirklich einwandfreie Hilfe sein würde. Die nächststehenden älteren Freunde sind in diesem Falle, wie man meinen sollte, Vater und Mutter, von denen man wohl erwarten dürfte, dass sie dem empfänglichen Kindergemüte die ersten Begriffe von der Heiligkeit menschlicher Beziehungen einzuprägen verstehen müssten. Das wird in vielen Fällen zutreffen, und man darf wohl hoffen, dass Eltern sich in Zukunft noch unbedenklicher entschliessen werden, diese Rolle zu übernehmen. Aber aus irgend einem unerklärlichen Grunde besteht leider vielfach ein Abgrund von Zurückhaltung zwischen den Eltern und Kindern, und der Knabe, der in erster Linie in der Erziehungsanstalt zu Hause ist, steht mehr unter dem Einflusse seiner älteren Gefährten als unter dem seiner Eltern. Wenn man daher Knaben und Jünglingen nicht die Fähigkeit zutrauen und sie ermutigen dürfte, ehrenhafte und innige Freundschaften miteinander zu schliessen, bei denen sich manche heikle Frage berühren liesse und eine massvolle und männliche Behandlung geschlechtlicher Fragen zur Regel werden würde, – wenn das, sage ich, nicht möglich sein sollte, dann befänden wir uns allerdings in einer schlimmen Lage und würden uns in einem Kreise von Uebeln drehen, aus dem ein Ausweg schwierig erscheinen müsste.

Und darum meine ich, dass man der Notwendigkeit derartiger Freundschaften ein besseres Verständnis entgegenbringen und ihre Aeusserung in jedem statthaften Masse pflegen sollte, indem man der Jugend ein hohes Ideal der Freundschaft ins Herz pflanzt, ein Ideal der Männlichkeit und Mässigung. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man hofft, dass die Schulen mit der Zeit die Freundschaft als eine regelrechte Einrichtung bei sich einführen werden, – die erheblich wertvoller wäre als z. B. das sogen. »fagging«, Anm. d. Uebersetzers: »Fagging« drückt ein unfreiwilliges Abhängigkeitsverhältnis eines jüngeren englischen Schülers gegenüber einem älteren aus. – und die ihren bestimmten Platz im Schulwesen einnehmen würde, sei es beim Spielen oder beim Lernen, und die mit besonderen Pflichten, Verantwortlichkeiten, Vorrechten u.s.w. verknüpft sein würde. Befruchtend würde sie sich durch die ganze kleine Gemeinde verzweigen, würde sie zusammenknüpfen, und in jedem ihrer Mitglieder die Ideale des Heldenmutes und der Milde entzünden, deren Verbindung die Grundlage aller grossen Charaktere bildet.

Aber es muss hier zugegeben werden, dass, wenn wir auf einen Wandel in der Führung unserer grossen Knabenschulen hoffen, die sogenannten öffentlichen Schulen zunächst wohl nicht der geeignete Ort dazu sind, wenigstens nicht, um einen Anfang damit zu machen. In erster Linie sind diese Schulen mit einflussreichen Ueberlieferungen verknüpft, die ihnen naturgemäss einen konservativen Charakter verleihen. Zweitens macht es ihr Umfang und die grosse Zahl der Zöglinge für sie schwer, sich in Kämpfe oder Umwälzungen einzulassen. Die Lehrer sind mit Arbeiten überhäuft, und die (notwendige) Verteilung so vieler Knaben auf verschiedene »Häuser« führt nur dazu, dass ein Lehrer, der wirklich bessere Verhältnisse in dem ihm unterstehenden Hause einführen möchte, dabei befürchten müsste, dass sein Werk durch die ständige und vielleicht schädliche Berührung seiner Zöglinge mit denen der anderen Häuser ja doch wieder zu nichte gemacht werden würde. Nein, der einzige Ort, wo die Sanierung einsetzen kann, das sind die kleineren Schulen, sagen wir von 50 bis 100 Zöglingen, wo der Leiter wirklich auf jeden einzelnen seinen Einfluss zur Geltung zu bringen vermag, und wirklich imstande ist, den Geist, der im Hause herrscht, nach seinem Sinne zu gestalten. Bei dem rapiden Aufschwung, der sich bezüglich des Spielraums und der sozialen Zustände in den staatlichen Tagesschulen vollzieht, könnte sich vielleicht bald ein Umschwung in der verbreiteten Meinung vollziehen, dass es zweckmässig sei, Knaben von 10 bis 14 Jahren in die oberen Klassen von Erziehungsheimen zu schicken. Einem fünfzehnjährigen oder noch älteren Knaben mag solche Anstalt Vorteile gewähren. In diesen Jahren ist er alt genug, um gewisse Fragen zu verstehen; er ist reif genug, um vernünftige Lebensgrundsätze zu haben und sich danach zu richten. Er wird ausser dem Elternhause Disziplin, Ordnung und Selbstvertrauen lernen u.s.w. Aber ein junges, unerfahrenes und unfertiges Geschöpf in einer solchen Schule in ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit tags und nachts seinem Schicksale zu überlassen, das erscheint zum mindesten bedenklich.

Zweifellos sind die ersten Schritte bei jeder Reform dieser Art schwierig; aber die Lehrer werden besonders befangen infolge der Unklarheit, die in der öffentlichen Meinung herrscht, auf die wir schon angespielt haben, und die hartnäckig dabei bleibt, Herzensfreundschaften zwischen Knaben unter einander oder zu ihrem Lehrer dem Verdachte gemeiner Sinnlichkeit preiszugeben. Manche Lehrer sehen auch ganz klar in die Verhältnisse, und doch fühlen sie sich machtlos dieser öffentlichen Meinung gegenüber. Anm. d. Uebersetzers: Auch aus dem deutschen Schulleben ist mir ein Fall erinnerlich, in dem ein Lehrer sich von vielen Seiten der giftigsten Begeiferung ausgesetzt sah, weil er seine Schüler ein wenig wie seinesgleichen behandelte, ihnen ein etwas wärmeres Interesse zeigte und auch mit ihnen ganz offen, wenn auch in wahrhaft vornehmer Art, über ihre kleinen Herzensangelegenheiten, wie Tanzstunden – Schwärmereien u.s.w., zu plaudern pflegte. Er war der Abgott seiner Schüler, bei ihm erledigte sich das Pensum wie spielend und fast ohne die in andern Klassen üblichen fortwährenden Bestrafungen. Wie gerne würden sie der zarten Knospe des jungen Gemütes Licht bieten, und wer wäre dazu besser als ein solcher im Stande, wenn nur die erforderliche Annäherung dazu möglich wäre. Wie der Verfasser des oben mitgeteilten Briefes im Anfange schrieb, glauben auch sie an die Möglichkeit »einer sympathischen Wechselwirkung, die sich kaum beschreiben lässt, die zwischen Schüler und Lehrer spielt, die Gedanken überträgt und einen Einfluss ausübt, der kaum auf irgend einem anderen Wege zu erreichen wäre.« Und begegnet einem solchen Manne nun ein Zögling, der sich hierfür empfänglich zeigt, in dessen beredten Blicken sich die Empfindungen äussern, die ihn beseelen, und den nach jenen tiefen Eindrücken zu dürsten scheint, die er von seinem Lehrer erwartet, so muss dieser sich selbst betrügen, muss sein eigenes Gefühl verleugnen und des Knaben vertrauensvolles Erwarten mit Kälte und Zurückhaltung belohnen. Und warum das? – Nur, weil er eine Vertraulichkeit des Knaben fürchtet, auch wenn er sie zu schätzen weiss. Er fürchtet die innigen und so natürlichen Aeusserungen der Zuneigung des Knaben, weil er weiss, wie eine schiefe Meinung der Leute sie auslegen oder missdeuten wird. Und ehe er sich dieser Gefahr aussetzt, versiegelt er lieber die Quellen des Herzens, hält jene Hilfe zurück, die nur die Liebe allein zu leisten vermag, und knickt mit vollem Bewusstsein die zarte Knospe, die sich gegen ihn öffnet und bei ihm Licht und Wärme sucht. Billigerweise muss man zugeben, dass oftmals auch die Furcht, parteiisch zu erscheinen, hemmend einwirkt.

Die panische Angst, die in England mit Bezug auf jede derartige Intimität herrscht, hat auch ihre komischen Seiten. Das Liebesbedürfnis besteht, und jeder weiss auch, dass es da ist; aber wir müssen unser Gesicht im Sande vergraben, und tun, als ob wir es nicht bemerkten. Und wenn wir zufällig nicht verhindern können, dass wir es sehen, so müssen wir nunmehr ein grosses Verständnis dafür beweisen, indem wir es verachten. Und so werfen wir auf den Kehrichthaufen eines der edelsten und wertvollsten Elemente unserer menschlichen Natur. Gewiss, wenn dies Verleugnen und Verunglimpfen jeder natürlichen Neigung einen Nutzen hätte, so würden wir das in unseren Schulen wohl bemerken. Da wir aber sehen, wie vollständig dies Verfahren zur Reinigung der sittlichen Atmosphäre hier versagt, so erhellt zur Genüge, dass die ganze Methode an sich zu verwerfen ist.

Unsere Ausführungen in diesem Kapitel bezogen sich hauptsächlich auf die Erziehung der Knaben. Aber sie passen im wesentlichen auch auf die Mädchenschulen, wo vielfach ähnliche Misstände herrschen. Der Unterschied besteht aber darin, dass die öffentliche Meinung Mädchenfreundschaften vielmehr ermutigt, anstatt sie ungünstig zu beurteilen. Nur sind diese Freundschaften leider meist von schwächlicher und zimperlicher Art, und weder an sich gesund noch nach ihrer Einwirkung auf die Lebensgewohnheiten. Gerade in den Mädchenschulen sollte man der ganzen Angelegenheit freier ins Gesicht sehen. Der Freundschaft sollten solidere Grundlagen gegeben werden als blosse Empfindelei. Was endlich die Geschlechtlichkeit mit ihrer ungeheuren Bedeutung für das Weib betrifft, so ist eine private und auch öffentliche, vernünftige und konsequente Belehrung ein nicht mehr zu leugnendes Bedürfnis. Vielleicht würde eine gemeinsame Erziehung von Knaben und Mädchen den Vorteil haben, dass erstere sich weniger ihrer Gefühle schämen lernten, während die Mädchen gesundere Ausdrucksformen dafür finden würden.

Auf jeden Fall glaube ich, dass, je mehr man über diese Dinge nachdenkt, um so deutlicher es sich herausstellt, dass eine gesunde Zuneigung schliesslich einmal die Grundlage aller Erziehung werden muss, und dass diese Erkenntnis uns den einzigen Ausweg aus den modernen Schul-Schwierigkeiten eröffnet. Gewiss würde das eine Umwälzung unseres Erziehungswesens bedeuten; aber die ist unter allen Umständen unvermeidlich, und sie wird wahrscheinlich eintreten in gleichem Schritte mit anderen tiefgreifenden Veränderungen, die sich in der Gesellschaft bereits im grossen vollziehen.


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