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Neuntes Kapitel.

In den riesigen, verdämmernden Straßen hing der Septembernebel. Es war Abend. Dunkel und drohend ragten die Häuser empor, an denen die Menschen in wilder Jagd vorüberhuschten.

Fritz irrte allein durch die Gassen. Wohin er ging, wußte er nicht. Er hatte seinen Paletot mitzunehmen vergessen. Aber es fröstelte ihn fast gar nicht. Er lief weiter und weiter, die Königgrätzerstraße hinunter, bis er ans Wasser kam, an den Kanal. Am andern Ufer hob sich in dunklen Umrissen ein Kahn ab, vielleicht ein Obstkahn, der von Schlesien her die Oder herabgeschwommen war. Dann leuchteten von der Belle-Alliance-Brücke die ersten Laternen auf. Sie warfen durch die nebelige Luft auf das Wasser einen irren, flackernden Schein, schillernde Streifen, die in einem Zittern blieben.

Da stand er denn also am Geländer. Seine Hand umkrampfte den dünnen Eisenstab, daß es aus dem kalten Metall fröstelnd an ihm emporschlich. So ähnlich mußte es sein, wenn der Tod kam – kalt, langsam, alle Glieder durchschauernd, alle Adern füllend, bis die Pulse stockten.

Er sah regungslos auf das Wasser. Nur wenige Menschen gingen hier vorbei an ihm; der ganze Strom wogte drüben an der andern Seite, wo das Trottoir war und sich die Fenster dunkler Häuser langsam erhellten. Und wie er so dastand und es kalt in ihm emporkroch, fiel ihm plötzlich ein, wie es wohl sein müßte, wenn er jetzt stürbe. Er würde nichts mehr denken, nichts mehr fühlen, er läge da, still und ruhig wie sein Vater, mit dem er zusammen wäre. Und das war ja der einzige, der ihn geliebt hatte. Denn wer fragte noch nach ihm, wer hielt ihn? Seine Mutter? Ah, sie hatte sich losgerissen von ihm um jenes Fremden willen; sie hatte ihr Kind vergebens bitten und flehen lassen, als es vor ihr auf den Knieen lag! Wenn er jetzt nun allem ein Ende machte, wenn er sich über das niedrige Gitter schwänge, gerade hier nach unten, wo die schmalen Lichtstreifen spielten? Es würde nicht lange dauern und dann war's vorbei. Und wer würde weinen? Seine Mutter – nun ja, aber doch nicht so wild, als wenn es dem – dem andern ans Leben gegangen wäre. Und die kleine Else! Ja, die würde sogar bittere Thränen vergießen – das gute Ding. Aber das war dann auch alles; denn die große Welt – du lieber Gott, die würde weitergehen, einen Tag wie alle Tage, und dann schließlich würden auch seine Mutter und Else aufhören, an ihn zu denken. Ihm fielen die Zeilen ein von den Toten, die tief und fern liegen und nichts von unsrer Lust wissen.

Ein stärkerer Wind strich vorüber. Aus den trüben Dunstschleiern sahen die Laternen. Das Klingeln der dahinrollenden Ringbahn tönte gell an sein Ohr.

Und er dachte sich, daß hier wohl viele Tausende schon gestanden hatten, schmerzdurchtobt wie er, daß viele Tausende hier gerungen hatten um Tod und Leben. Und doch – die meisten waren feige gewesen und umgekehrt, nur wenige hatten all den Schmerz von sich geworfen und waren still geworden hier unten in der kühlen Flut.

Feige! Ja, er war auch feige, auch er konnte es nicht. Ihn schauderte, und langsam ging er weiter, den Kopf gesenkt wie in Scham.

Er schritt über die Belle-Alliance-Brücke. Die weißen Statuen drohten geisterhaft aus dem Nebel, der sie umwob; vom Halleschen Thore her rollten die Wagen und schimmerten die erleuchteten Bazare, und weiter noch, drüben, wo die Friedrichstraße begann, stieg die Siegessäule empor aus einem Kranz bleicher Lichter.

In dem brausenden Leben umher befiel ihn ein fürchterliches Gefühl seiner eigenen Verlassenheit. Als ob er ihm entfliehen könnte, rannte er dahin. Und dann wieder war ihm, als ob die dunklen Häusermassen Leben erhielten, ein gespenstisches Leben, als ob die zwei, drei beleuchteten Fenster ihn ansahen wie große Augen, als ob all die schweren verschwimmenden Mauern, die sich so gar nicht abzeichneten gegen den grauen dämmernden Himmel, sich vornüber neigen und mit den andern krabbelnden Menschlein auch ihn begraben wollten.

Jetzt ward ihm glühend heiß. Und immer dunkler wurden die Straßen, immer sparsamer die Laternen, immer leerer die Trottoirs – und jetzt, als er aufsah, lag das Tempelhofer Feld vor ihm, wüst, öde, dunkel, und dabei ein geheimnisschweres Rauschen, als ob der Wind durch dürre Gräser ging.

Hier war er so oft gewesen, wenn die Sonne blitzte und die Regimenter defilierten, wenn die fremden Offiziere dahersprengten und der junge Kaiser seine Garden besichtigte. Da spielte die Musik, da blickte er lächelnden Auges von der Tribüne hinab und hatte mit seiner Mutter und den andern um die Wette das Tuch geschwenkt, während das Hurra durch die Luft brauste – er und seine Mutter. Und heute: alles leer, tot, die Sonne versunken, seine Mutter für ihn verloren, er selber verirrt, heimatlos und müde, so sterbensmüde …

Er schauderte zusammen. Durch seinen leichten Anzug drang der kalte Abendwind.

Drüben ragte der Kreuzberg. Das Denkmal verlor sich im Nebel.

Er kehrte um. Aber wohin sollte er gehen? Was blieb ihm übrig? Ach, wie ihn fror! Er hätte schlafen mögen, ganz tief und traumlos schlafen. Ob er ein Hotel aufsuchte? Aber als er in die Tasche faßte, hatte er so gut wie gar kein Geld bei sich. Ein paar arme Groschen.

Er stöhnte leise auf. Irgend wohin mußte er doch, vielleicht zu Bekannten – zur kleinen Else.

Es fing ganz fein an zu regnen, in dünnen Strichen; der Dunst um die Gaslaternen ward dichter; hie und da glühten auch vor den Geschäften weißleuchtend elektrische Kugelglocken.

Und da, wie er so die unendlichen Zeilen hinuntersah, wo ein Licht neben dem andern war, bis sie alle in weiter Ferne zusammenrückten und verschwammen, hatte er ein Gefühl, als irrte er durch ein Labyrinth, als gäbe es hier keinen Ausweg und kein Ende, als müßte er wandern und wandern, Meilen über Meilen, Stunden über Stunden, und nur immer neue Lichter tauchten auf und neue Straßen, wo fremde Menschen hasteten, die sich nicht um ihn bekümmerten, und als müßte er in diesem Gewirr endlich untergehen, heimat- und namenlos.

Der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. Eine unbezwingbare Sehnsucht überkam ihn nach vertrauten Gesichtern. Er stürzte wieder die Königgrätzerstraße hinab, weiter, weiter – und endlich, da draußen, da lag der Tiergarten – und gleich vorn sein Haus und Heim.

Aber nein, das war ja nun vorbei. Und doch stand er davor wie ein Bettler, der vom Zaun aus einen sehnsüchtigen, leidvollen Blick in den ruhigen Frieden jener reichen Gemächer thut, wo Glückliche wohnen.

Er sah die Lampe brennen, die Vorhänge waren nicht heruntergelassen. Doch nichts regte sich, und diese Ruhe that ihm weh, marterte ihn. Das Haus lag genau so da wie sonst, wenn er von einem Spaziergang heimkehrte. Er hätte es wie einen Trost empfunden, wenn da innen fieberhafte Unruhe geherrscht hätte, wenn Lichter durch all die Gemächer geirrt, wenn rufende Stimmen bis zu ihm gedrungen wären und verweinte Augen in die Nacht hinausgespäht hätten.

Aber so still und vertraut alles – hatte ihn denn seine Mutter gar nicht ein bißchen lieb? bekümmerte sie denn sein Fortgehen so wenig? Was that sie in dieser Minute? dachte sie an ihn?

Da – jetzt trat ein Schatten vor die Lampe und jetzt klirrte das Fenster. Er sprang ein paar Schritte zurück und verbarg sich im Dunkel der ersten Bäume. Irgend jemand spähte hinaus. Er erkannte nicht, ob es seine Mutter war oder das Dienstmädchen. Einen Augenblick wurde er schwach. Er wollte hingehen, er wollte sein altes heimliches Stübchen aufsuchen, wollte schlafen – schlafen, anstatt hier draußen zu stehen in Wind und Regen.

Aber dann schlich er doch fort, die Tiergartenstraße hinunter, immer weiter.

Endlich hielt er still und schöpfte tief Atem. Hier wohnten Weidenbergs, hier lachte die kleine Else, hier war Friede. Vielleicht gab man ihm eine Lagerstatt. Er öffnete die Gitterthür und durchschritt den Vorgarten. Von den Thürpfosten sahen die Karyatiden auf ihn herab, achtlos schweifte sein Blick drüber hinweg. Dann zog er die Klingel. Geräuschlos sprang die Thür auf. Er trat ein. An die Glasscheibe preßte sich das dicke Gesicht der Portiersfrau. Sie erkannte Fritz und sagte ihm guten Abend. Er nickte nur. Und dann stieg er die teppichbelegten Treppen hinauf. Sein Herz schlug sonderbar laut, als er den Griff faßte, der aus dem blanken Löwenmaul hing. Was suchte er eigentlich hier?

Das Dienstmädchen kam.

»Herr Geheimrat zu sprechen?« Er stotterte ordentlich.

»Gewiß,« sagte das Mädchen und sah ihn erstaunt an.

Er klopfte und trat ein. Er durfte ja kommen, wann er wollte.

Sie saßen alle gerade beim Abendbrot: auf dem Sofa der alte Geheimrat mit den klugen Augen, neben ihm seine Frau, dann Else und die beiden Jungen, die dasselbe Gymnasium besuchten wie er.

»'n Abend, Mensch, wo kommst du'n jetzt her?« rief Otto, der Sekundaner.

»Aber wie siehst du denn aus, Fritzchen?« fragte Else erstaunt und sprang auf, »ganz patschenaß – ja, was ist denn los?«

Er begrüßte sie alle der Reihe nach.

»Onkel,« bat er dann, »ich möchte gern mal mit dir allein reden.«

Der Alte schüttelte den Kopf und schob seine Brille auf die Stirn hinauf.

»Was ist denn los, Junge? Ach so – nun wart einen Augenblick. Alles zu seiner Zeit, keine Ueberstürzung. Nur ruhig – ja ruhig. Wir wollen erst essen. Bringst du was Gutes, dann können wir uns nachher freuen, und ist's was Schlechtes, dann verderben wir uns nicht den Appetit.«

»Wie er zittert! Gleich mußt du eine Tasse Thee trinken. – Anna!«

Und als das Mädchen nicht hörte, lief Else selber zur Thür hinaus.

Erst jetzt, wo er im erwärmten Zimmer saß, fühlte er, wie müde er war. Der heiße Thee that ihm wohl. Er trank ihn schweigend, während die Blicke des Mädchens ängstlich auf seinem Gesicht ruhten.

Dann stand der alte Herr auf, nahm Fritz unter den Arm und führte ihn in sein Zimmer.

»So,« sagte er, »und nun setze dich und erzähle.«

Der Jüngling war ganz verwirrt. Wieder überkam es ihn, was er eigentlich wollte. Das Wasser aus seinen Kleidern verdunstete leicht in dem warmen Zimmer.

»Ich möchte dich fragen, ob ich nicht nur heute, sondern einige Tage und Wochen, bis sich eine andre Art der Regelung gefunden hat, bei euch wohnen könnte.«

Der Geheimrat hatte alles andre erwartet, nur das nicht. Er war zuerst ganz sprachlos. »Junge,« sagte er, »ist das dein Ernst? Was ist denn vorgefallen? Wo ist deine Mutter?«

Fritz sah düster vor sich hin. »Ich habe keine Mutter mehr,« brachte er hart heraus.

»Fritz, was sprichst du da?«

»Die Wahrheit. Du wirst es ja früh genug hören. Thu mir die einzige Liebe an, Onkel, und red' nicht davon; wenigstens heute nicht. Ich … ich bin todmüde. Darf ich hierbleiben?«

Händereibend ging der Alte im Zimmer auf und ab. »Ich hätte dich für vernünftiger gehalten, Junge,« begann er dann; »du weißt ja gar nicht, was du für eine Mutter hast! Such dir erst eine zweite, Kind, und dann sprich wieder. Ihr habt euch gezankt – gut! Du sollst in letzter Zeit überhaupt launisch geworden sein – ja launisch. Aber möglich, daß sich diesmal deine Mutter irrt, wir sind alle Menschen. Doch sie, die keinem ein Haar krümmen kann, wird dir am allerwenigsten unrecht thun. Geh zurück, Fritz, thu mir den Gefallen. Sieh mal, ich bin ein alter Mann und mein's gut mit dir. Du bei deiner Jugend weißt ja noch nicht, was man an einer Mutter hat. Du müßtest ihr die Hand küssen und ihr täglich danken wie deinem Herrgott – gerade du, denn ich hab's mit angesehen, wie sie dich gepflegt und deinetwegen tausendmal Todesqualen ausgestanden hat – ja Todesqualen. Und dafür läufst du einfach weg, wenn sie dir mal nicht den Willen gethan hat. Nun, zu meiner Zeit wagten es die Kinder nicht, den Eltern auszurücken. Denk doch daran, was dein Vater selig dazu gesagt hätte.«

»Ich hab' ja gerade an meinen Vater gedacht.«

»Das versteh ein andrer. Und du bist wirklich fortgelaufen und hast deine Mutter so einfach von dir gestoßen? Ja, aber –«

»Meine Mutter hat mich verstoßen,« unterbrach er ihn rauh.

»Deine – Mutter?«

»Ich habe sie angefleht auf den Knieen. Aber sie hat sich nicht darum gekümmert.«

»Das ist unmöglich – ja unmöglich. Ich muß alles wissen. Ich will – aber erst mußt du zu Bett, du fieberst ja ordentlich. Natürlich bleibst du heute bei uns.«

Er gab schnell einige Anweisungen, und in einer knappen halben Stunde lag Fritz zähneklappernd in den Kissen. Else brachte ihm noch einmal eine Tasse Thee. Ihr Vater hatte ihr verboten zu fragen, und so saß sie still auf dem Stuhl neben ihm.

»Du wirst uns doch nicht krank werden, Fritzchen, nein, aber –« Sie streichelte seine Hand, und er litt es geduldig. Vor Erschöpfung fielen ihm fast die Augen zu. »Also auf morgen. Und nun gute Nacht.« Sie küßte flüchtig seine Stirn und schlich leise fort.

Der alte Geheimrat hatte sich inzwischen schon den Mantel genommen, fuhr zur Vorsicht, der feuchten Straßen wegen, in seine Ueberschuhe und ging in Gewaltschritten nach Bergers Wohnung.

Frau Trude begegnete ihm schon auf der Treppe. Als sie ihn sah, ging ein Leuchten über ihr Gesicht. »Fritz ist bei Ihnen, Herr Geheimrat – nicht?« Sie hing ängstlich an seinen Blicken.

»Ja,« sagte er und zog sie wieder mit sich ins Zimmer hinein, »er ist bei mir.«

Ohne weiter etwas zu reden, stellte er seinen Schirm in den Korridor, hing seinen Hut auf und zog sich sehr vorsichtig seine Ueberschuhe aus. Den Mantel knöpfte er nur auf. Dann ging er nach seiner Art drei-, viermal durch die Stube.

»Erklären Sie mir um Gottes willen, beste Frau Trude, was hier vorgeht. Fritz kommt durchnäßt, fiebernd, ohne Mantel vor einer Stunde zu uns und bittet mich, ihn aufzunehmen. Natürlich – reden will er nicht, dazu ist er auch heute kaum im stande; nur Andeutungen macht er, daß Sie ihn verstoßen hätten und ähnliches krauses Zeug, aus dem ich nicht klug werden kann.«

Sie stand mit zusammengepreßten Lippen da. »Sie müssen es ja doch erfahren und hätten es so wie so morgen oder übermorgen gehört. Nun denn: ich habe mich heute mit Herrn von Röhren verlobt.«

Der Geheimrat hatte seine in der ganzen Familie berühmte Dose vorgenommen, um sich in aller Diskretion ein Prischen zu genehmigen. Aber überrascht und fassungslos blieb seine Hand, die eben dabei war, besagtes Prischen an seinen Bestimmungsort zu führen, auf halbem Wege stehen, und mit großen Augen starrte er die junge Frau einen Moment an. Dann ließ er die feinen Körnchen fallen, klappte den Deckel der Dose energisch zu und nahm seine Wanderung durch das Zimmer wieder auf.

»So – so,« brummte er dabei, »mit Herrn von Röhren. Also deshalb.« Plötzlich blieb er dann stehen und sagte: »Da muß ich wohl gratulieren, gnädige Frau?«

»Gnädige Frau? Ah, also auch in Ihren Augen habe ich unrecht gethan?« Ein schmerzliches Zucken flog über ihr Gesicht, das aber bald trotzig ward. »Herr Geheimrat, Sie sind meines Mannes bester Freund gewesen – ja?«

»Ja,« antwortete der alte Herr bedächtig.

»Sie haben in den Jahren unsrer Ehe fast tagtäglich bei uns verkehrt; zu Ihnen wird mein Mann auch gesprochen haben. Und deshalb frage ich Sie auf Ehre und Gewissen: habe ich nicht alles gethan, um meinen Gatten glücklich zu machen? Hat er sich seines Heims gefreut? Ist er zufrieden gewesen? Antworten Sie mir.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Nur die Lampe knisterte.

»Ja,« scholl es dann wieder.

»Nun denn, Herr Geheimrat, dann mögen Sie heute erfahren, daß meine beste und heiligste Liebe doch nie meinem Gatten gehört hat, sondern dem Manne, den ich heute endlich gefunden habe. Ich war meinem Gatten eine gute Genossin, ich sah, daß er mir alles von den Augen ablas, und da that auch ich, was ich konnte. In all den Jahren lernte ich ihn kennen, sein stilles, edles Wesen, sein reines Herz, seine Liebe und Güte, und daraus erblühte für mich ein bescheidenes Glück. Ich war zufrieden und hab' ihn tief und ehrlich betrauert, als er starb. Aber vor ihm liebte mich mit erster Leidenschaft schon Horst – Herr von Röhren – und ich ihn. Das hat bittere Kämpfe gekostet, ehe ich meinem Vater den Willen that und den andern nahm. Ich hab's getragen. Doch nun hat es Gott gefügt, daß Horst wiedergekehrt ist. Ich und du – so sagte er – wir haben auch ein Recht auf Glück. Wollen Sie mir das wirklich abstreiten?«

Der Alte war ans Fenster getreten und blickte in die Nacht hinaus, durch die dunstverschleierte Lichter leuchteten. Dann trat er auf sie zu.

»Na, so muß ich schon wirklich gratulieren, Frau Trude,« sagte er mit gutmütigem Lächeln und streckte die Hand hin.

Sie drückte sie kräftig. »Es ist der erste Glückwunsch. Möge er mir zum Segen gereichen. Aber was soll nun geschehen?«

Jetzt hatte sich der Geheimrat so weit gesammelt, daß er die Prise, um die er vorhin gekommen war, behaglich nehmen konnte.

»Ich sagte es schon zu Fritz,« begann er, »und ich kann es nur wiederholen: zu meiner Zeit liefen die Kinder ihren Eltern nicht weg. Wir hatten den Mund zu halten und durften nicht einmal bei Tisch ein Wort ungefragt reden. Aber heutzutage – nun seh' einer an, stecken diese Jungens ihre Nase sogar schon in die eigenen Herzensangelegenheiten ihrer Eltern, anstatt in die lateinische Grammatik, und laufen fort, wenn es darin nicht nach ihrem Wunsch geht. Das find' ich bezeichnend – ja bezeichnend. Aber, Frau Trude, ist zu meiner Zeit mal einer aus dem Hause gegangen, dann sind ihm die Eltern nicht nachgerannt.«

»Also?«

»Also Sie lassen Ihren Fritz heute ruhig bei mir. Sie brauchen sich nicht zu ängstigen; er wird ein tüchtiges Schnupfenfieber kriegen oder hat es schon, und das ist alles. Na, und gut aufgehoben ist er ja bei uns.«

»Und ich soll ihn niemals zu sehen bekommen?« fragte sie erschrocken. »Wie wird denn das enden?«

»Keine Besorgnis, Frau Trude. Und wenn Sie's eben nicht aushalten können, gehen Sie morgen mal zu ihm. In die Schule kann er vorläufig doch nicht. Das Weitere wird sich dann schon finden. Und nun gute Nacht, und machen Sie sich keine Gedanken. Mein seliger Vater – es war sonst ein strenger Mann – pflegte immer zu sagen: Es wird nichts so heiß gegessen, wie's gekocht wird.« –

Fritz fühlte sich am andern Morgen wie zerschlagen. Seine Stirn brannte, und die Lippen waren ihm so trocken, daß sie aufsprangen. Kurz vor acht Uhr kam Otto, der Sekundaner, zu ihm herein.

»Also du bleibst heute zu Bett, Fritz?«

»Ich muß wohl, Dicker. Entschuldige mich doch beim Direktor.«

» Bon. Werde in der Pause mal zum Chef 'rangehen, obwohl er mich nicht leiden kann. Ich mach' den Paukern zu viel Dummheiten. Na, aber du Musterknabe – wenn du fehlst, wird wohl ein großes Jammern und Wehklagen sein. Langweile dich man nicht zu sehr hier. Soll ich Else herschicken?«

»Laß nur. Ich möchte noch ein bißchen schlafen. Du, und dann sei doch so gut und frag' nach den Arbeiten. Vielleicht den Strehlen – kennst du ihn?«

»Natürlich – haben ja zusammen den Kommers mitgemacht damals, wo du wieder den Drückeberger gespielt hast. Netter Kerl. Also gut, wird besorgt werden. Morgen, Fritze!«

Er ging. Seine Schritte verhallten. Es wurde still. Und nun nahmen die Gedanken des Einsamen wieder den alten Gang, und zum Hundertstenmal krampfte sich sein Herz wild und weh zusammen, wenn er sich vorstellte, wie seine Mutter ihr eigenes göttliches Bild, das er von ihr in seinem Herzen trug, in Scherben geschlagen, wie sie sich, seinen Vater, ihr Kind entwürdigt hatte.

Seine Augen starrten dabei unablässig auf eine bunte Decke, die vom Tisch herabhing, bis sie stark schmerzten und er sie schließen mußte. Und dazwischen wartete er, ohne es sich selbst eingestehen zu wollen, heimlich auf den Schritt, auf die Stimme seiner Mutter und fürchtete sich doch wieder davor.

Es schlug neun, langsam und stockend, von der alten Wanduhr drüben, die schon heiser war. Und immer weiter rückte der große Zeiger, von einer Zahl auf die andre, und noch immer kam niemand zu ihm, selbst die kleine Else nicht. Nun, Otto hatte ihnen gewiß gesagt, daß er allein bleiben und schlafen wolle. Aber unrecht war es doch, besonders von seiner Mutter. Oder hatte sie in ihrem sündigen Glückstaumel gar nicht gemerkt, daß er das Haus verlassen? Kümmerte sie sich nicht darum, ob er in der Gosse übernachtete oder sonst wo? Nicht einmal der Mühe für wert hielt sie es, bis hierher zu kommen und nachzufragen, ob er hier wäre – so wenig, so ganz wenig machte sie sich aus ihm.

Er quälte sich mit diesen Vorstellungen ununterbrochen. Es war ihm eine schmerzliche Wollust, sich selbst so bemitleiden zu können. Seine Augen füllten sich mit Thränen; aber trotzig nahm er das Tuch und trocknete sie mit hastiger Bewegung. Wenn seine Mutter so schlecht und lieblos war, sich so gar nicht um ihn bekümmerte, dann verdiente sie auch keine Throne mehr. Und doch horchte er atemlos, wenn draußen ein Geräusch hörbar ward, wenn eine Thür ging oder ein Wagen unten auf der Straße rollte und in der Nähe hielt.

Die Uhr stand auf zehn, als Frau Trude kam. Sie wollte allein mit ihm bleiben.

Erst klopfte sie leise.

Als er den bekannten Schritt gehört, hatte er das Gesicht zur Wand gekehrt. Er gab auch keine Antwort.

Dann trat sie ein, still und ohne Gruß, ohne ein einziges Wort sagen zu können.

»Fritzchen.« Sie hielt den Atem an, aber ihr Kind fand nicht einen Ton. Nur die alte heisere Wanduhr tickte.

»Ich bin's ja, Fritz – deine Mutter.« Sie hatte ihn so lieb, daß sie fast demütig bittend zu ihm sprach.

Als sie wieder vergebens auf eine Antwort wartete, ging sie dicht an sein Bett heran und legte die schmale Hand, von der sie den Handschuh gezogen, auf seinen Kopf. »Hast du wirklich nicht ein einziges Wort für mich, Kind?«

Er zog die Decke höher und preßte sie sich gegen den Mund. Es ging wie ein Schauer durch seinen ganzen Körper.

»Also nicht,« sagte sie trüb. Ihre Hand sank langsam von seinem Haupte, und zwei schwere Thränen traten ihr in die Augen.

Aber sie versuchte es noch einmal; sie konnte und wollte es nicht glauben, daß ihr Sohn sie so würde von sich gehen lassen.

»Komm doch zurück, Fritz, laß mich nicht allein, mein Junge. Bald zwanzig Jahre sind wir zusammen gewesen, und du warst ja während der ganzen Zeit mein Ein und Alles. Und nun, wo du groß bist, läßt du mich allein, gehst du in hellem Trotz fort von mir, bloß – bloß weil ich auch mal für mich ein bißchen Glück haben möchte. Mach mich und dich doch nicht elend, Kind – sieh mich doch mal an – Fritz –«

Sie schwieg und zuckte in verhaltenem Weinen.

Er atmete krampfhaft in der Anstrengung, die Thränen, die ihm heiß emporschossen, hinunterzuschlucken. Seinen Kopf wandte er jedoch nicht nach ihr um.

»Antworte mir,« bat sie leise.

Da stieß er zwei Worte hervor: »Geh fort!« – nichts weiter, und dann zog er die Decke wie ein furchtsames Kind über den Kopf, um nur ja nichts mehr zu sehen und zu hören.

Langsam, ganz langsam ging seine Mutter zurück; ganz langsam öffnete sie die Thür. Aber er wartete, und hörte doch nicht, daß sie zugemacht wurde. Denn mit der Klinke in der Hand, halb an einen Pfosten gelehnt, wie in schwerer Müdigkeit, stand Frau Trude noch immer und wartete auf ein einziges Wörtchen. Vergebens. Und dann endlich machte sie die Thür ganz langsam zu.

Er rührte sich nicht, bis er vernahm, wie ihre Schritte sich entfernten.

Dann setzte er sich mit plötzlichem Ruck in den Kissen auf. Hier hatte sie gestanden, hier zu ihm gesprochen, hier ihn gebeten – und er hatte sie fortgehen lassen. Er wollte ihr nachschreien, flehend, verzweifelt: »Mutter!«, aber er unterließ es doch.

Und wie er so dasaß und mit großen Augen nach der Thür starrte, durch die sie verschwunden war, stürzten ihm plötzlich die hellen Thränen von neuem hervor, gewaltsam und unaufhaltbar, und er drückte seinen Kopf in die heißen Kissen, um sein Schluchzen darin zu ersticken.

Diesmal hatte er nicht mehr den Trotz von vorhin – allein bei ihm geblieben war sein Elend.

*


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