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Drittes Kapitel.

Das Dienstmädchen, das erst ein paar Tage im Hause war, hatte ein ganz erregtes Aussehen.

»Wer?« fragte Fritz noch einmal und stand etwas verblüfft auf.

»Ja, ja, gnädiger Herr – Fürstin Bredow.«

Fritz schüttelte den Kopf. »Na, ich werde rasch Mama wecken. Führen Sie die Dame vorläufig herein.«

Aber ehe das Dienstmädchen noch die Thür erreicht hatte, steckte sich schon ein blonder lachender Kopf ins Zimmer.

»Angeführt!« jubelte er auf. »Was, Fritzchen? Fürstin Bredow – puh, wie das klingt! Und dabei gibt's die ja gar nicht. Nein – so was!«

Er hatte sich von seinem Staunen erholt, während das Dienstmädchen noch mit offenem Munde dastand.

»Natürlich. Du mußt ja immer irgend einen Ulk machen, kleine Hexe. Ich denk' wunder wer da kommt –«

Sie schüttelte sich noch immer vor Lachen.

»Weißt du, das kam mir aber wie der Blitz, als ich das neue Mädchen sah. Und famos gelungen ist es doch! Ach, übrigens – Servus, Fritze; habe dich ja noch gar nicht begrüßt.«

»Servus, Kleine. Nett von dir, daß du dich auch mal wieder blicken läßt; aber nimm dich mal zusammen und mach keinen Radau. Mama schläft im Nebenzimmer.«

»Bravo. So oft ich komme, geht's Mama hier und Mama da, und Mama vorn und Mama hinten – Jesus, ich glaube wirklich, du schließt deine Mama noch mal in den Glasspind ein.«

»Aha,« brummte er und verzog vergnügt das Gesicht, »wußt' ich's doch! Wenn du da bist, geht das Zanken los.«

»Aber auch das Lachen, alter Brummbär du! Wenn man dich nicht mal von deinen Scharteken fortbringt, wirst du selbst ganz staubig. Na ja! Was der Mensch hier nun wieder für Schmöker hat: ›Reisen im Kongolande‹, ›Stanley in Afrika‹, ›Algier‹ – Herrgott, reise doch lieber mal durch Berlin. Ich begreif' das gar nicht, das ist doch viel amüsanter.«

Da sich gegen diese unbestreitbare Thatsache nichts einwenden ließ, kramte sie hastig weiter.

»Reisen im Kongolande«, ereiferte sie sich dann von neuem, »was der Mensch nur immer da unten zu thun hat! Weißt du, einmal hat mir Papa gesagt, ich soll für die armen Schwarzen und die Mission auch was arbeiten; na, und ich gutmütiges Schaf setz' mich auch wirklich hin und fang' an Pulswärmer zu stricken, bis mir einfällt, daß es da unten ja eigentlich heiß genug ist. Und dann verdienen die Kerle es ja auch nicht. Für Menschenfresser rühr' ich überhaupt keinen Finger! Du brauchst gar nicht so dumm zu lachen – du!«

Aber dabei strahlte ihr eigenes Gesichtchen vor lauter heller Fröhlichkeit.

Dann nahm sie sich vor dem Spiegel den leichten Sommerhut ab, steckte die große Nadel mit dem einfachen schwarzen Glasknopf hindurch und strich sich hastig das Haar glatt.

»So,« sagte sie, »und jetzt, bitte, recht ernst, denn jetzt kommt ein feierlicher Augenblick und überhaupt der Zweck meines ganzen Besuches.«

Und mit einer ehrwürdigen Miene, die ihrem lieben Gesichtchen einen zu drolligen Ausdruck gab, stellte sie sich vor ihn hin, machte einen tadellosen Knicks und hub an: »Ich, Else Weidenberg, sechzehn Jahre, etliche Monate und Tage alt, erlaube mir im Namen meines Papas, Frau Doktor Berger nebst Herrn Sohn für übermorgen abend zu einer Tasse Thee ganz ergebenst einzuladen. U. A. w. g. – und zwar sofort.«

»Dankend angenommen,« nickte er, »das heißt natürlich, wenn Mama nichts dagegen hat und mitkommt. Was ist denn bei euch los?«

»Hast du wieder mal Furcht, daß eine große Gesellschaft da ist? Na, du kannst dich trösten, wir sind ganz unter uns und wollen nur mal einen Abend gemütlich plappern. Und dann du: außer der Tasse Thee gibt's noch was Feines, ich sag' dir – aber ich darf vorher nichts ausplaudern.«

»Gottlob, daß ihr euch nicht gleich wieder zwei Dutzend Menschen eingeladen habt, wie vorigen Winter. Schrecklich!«

Sie zuckte die Achseln. »Du bist doch ein sonderbares Huhn, Fritzchen. Wie kann man nur so menschenscheu sein? Wenn junge Damen da sind, sprichst du kein Wort; wenn Herrengesellschaft ist, verziehst du's Gesicht; wenn – na hör' mal, wie das später werden soll, begreif' ich nicht.«

»Ich langweile mich,« verteidigte er sich. »Ja, euch und Mama, die ich genau kenne – das ist ganz was andres. Aber wenn so eine allgemeine Abfütterung stattfindet, fühle ich mich riesig unbehaglich –«

»Und möchte mich am liebsten an Mamas Schürze festhalten – so soll's doch weiter gehen? Nicht? Ach ja, du bist ja auch noch so klein, du Schoßkindchen, so ganz klein –«

Sie wiegte sich lächelnd und spöttisch vor ihm auf den Fußspitzen.

»Ich versteh' nicht,« sagte er halb ärgerlich, »was du eigentlich haben willst. Weil ich eben meine Mama sehr lieb habe –«

»Papperlapapp!« schnitt sie ihm das Wort ab und ließ gewohnheitsgemäß ihre Hand durch die Luft schlenkern, »davon redet ja kein Mensch. Denkst du denn, ich hab' meine Eltern nicht lieb? Aber du als Junge darfst doch dabei kein verweichlichtes Muttersöhnchen werden! Ich sag' dir ja, wenn's nach dir ginge, sperrtest du deine Mama überhaupt von allem Verkehr ab, um sie ganz allein für dich zu haben. Stimmt's? Denk nur mal an früher: weißt du, wenn wir beide zusammen spielten und ich mal von deiner Mama einen Kuß bekam – brrr, dann hast du mich immer angesehen mit einem Blick – na, so vielleicht wie die Herrschaften aus deinem geliebten Kongolande, wenn sie einen auffressen wollen, und hast so lange gequält, bis ich vom Schoß 'runter mußte und du 'raufkamst. Rede nicht – so war's doch!«

»Kinder sind alle so,« erwiderte er mit kraus gezogener Stirn. »Und übrigens ist ja in ein paar Monaten mein Examen da. Dann, wenn ich erst auf der Universität bin, ist's immer noch Zeit, sich mehr nach draußen zu wagen.«

»Haha,« lachte sie kurz auf. »Daß du hier von Berlin weggehst, mach' doch einem andern weis. Da kenn' ich meine Pappenheimer besser.«

Sie setzte sich zum erstenmal und fing an ein Liedchen vor sich hin zu trällern. Sie war gerade in der Mitte, als Frau Trude die Thür öffnete. Wie der Blitz hing die kleine Hexe ihr am Halse und küßte sie stürmisch.

»Ich muß doch Fritzchen a bissel ärgern,« kicherte sie nach der ersten Begrüßung. »Wir haben uns nämlich schon wieder gezankt.«

»Ich hab's gehört,« nickte Frau Trude. »Das scheint zwischen euch beiden überhaupt unumgänglich nötig zu sein.«

»Aber sag' selber, Tantchen – verdienen thut er doch mal eine Gardinenpredigt. Sonst ist's mit ihm überhaupt nicht mehr auszuhalten.«

»Weil ich am Bummeln kein Vergnügen finde und lieber zu Hause bleibe, bekomme ich meine Auspauke. Und wenn's umgekehrt wäre, kriegt' ich sie jedenfalls auch.«

»Bummeln – bummeln! Wer hat denn davon schon gesprochen? Aber meinetwegen, ein bißchen Bummeln kann dir sicher nichts schaden. Ein ordentlicher Junge muß mal über die Stränge schlagen, und immer so fürchterlich solide sein, niemals eine Dummheit machen – nee, weeßte, det jefällt mir jar nich.«

Sie hatte absichtlich mit drollig verzogenem Munde im reinsten Berliner Dialekt gesprochen, und als Fritz und Frau Trude laut auflachten, stimmte sie herzlich mit ein.

»Laß mir meinen Jungen zufrieden, Else,« antwortete die Hausfrau dann, und es lag ein Leuchten in ihren Augen. »Er macht mir ja Freude, wo er kann.«

Sie strich ihm das Haar aus der Stirn und küßte ihn, daß er über das ganze Gesicht strahlte.

Else Weidenberg aber zuckte die Achseln. »Aergern kann man sich doch darüber! Wenn meine Brüder ihn Tugendlamm nennen und die ganze Prima und Sekunda ihn für einen schlappen Kerl erklärt, soll man ruhig bleiben. Paul und seine Kameraden haben erst gestern wieder bei uns darüber geulkt, na, und ich hab' dabeistehen müssen und konnte nichts sagen.«

»Gelt, kleine Hexe, du hast ja doch meine Stange gehalten, nicht?«

»Kunststück, deine Stange halten. Du bist doch mal ein Muttersöhnchen und Bücherwurm, und wenn du nicht mal eine energische Frau kriegst, geht dir's wahrhaftig noch schlimm. Warte,« schloß sie halb lustig, halb ärgerlich, »ich – ich sollte dich nur erziehen!«

»Wer weiß, was noch geschieht,« scherzte Frau Trude, »ihr gäbt ein ganz hübsches Paar ab.«

Else kam darüber vor Lachen rein aus dem Häuschen. »Wir? Wir beide? Denkmal, Fritzchen: ich und deine Frau!« Sie konnte sich gar nicht beruhigen und stellte sich vor den Spiegel. »Ich muß mich doch betrachten, wie ich als Frau Berger aussehen werde. Frau Else Berger – nein, das ist gottvoll. Ich mache Ihnen mein Kompliment, gnädige Frau.«

Und sie verbeugte sich, knixte und steckte alle mit ihrer tollen Lustigkeit an.

Fritz war hinter sie getreten und sah ihr über die Schulter. Aus dem Glase schaute ihm ihr Bild entgegen.

Das gesunde strahlende Gesichtchen wiegte sich hin und her. Die roten Lippen spannten sich zum Lächeln, und die Augen blitzten vor lauter Jugend und Lebenslust. Auf der Stirn, ganz oben, hatte sie ein kleines rosiges Mal, und in den hastigen Bewegungen, die ihr eigen waren, fiel ihr manchmal eine Flechte darüber. Sie hatte starkes, braunes Haar mit einem eigenen kaum sichtbaren Goldton.

Und von ihrem Gesicht und ihrem Haar, von ihrem weißen Kleid und dem zierlichen Medaillon, das an dünner Kette vom Nacken auf den herzförmigen Ausschnitt fiel, schweifte sein Blick hinüber zu seiner angebeteten Mutter. Der lange Köppen hatte recht: sie war so schön, so jung, so gut, so – ach, er wußte gar nicht, was ihm besonders gefiel an ihr, denn bei ihr war alles, alles vollkommen.

Frau Trude bemerkte seinen zärtlichen Blick, und über ihre vornehmen Züge, die noch etwas mädchenhaft Weiches hatten, zog nur ihm bemerkbar ein leichtes Lächeln des Glücks.

Nachher plauderten sie; wenigstens Else und ihr »Tantchen«. Bald über ein paar Bekannte, bald über Wirtschaftliches, wie es gerade kam. Fritz lehnte sich derweilen in den Sessel zurück und wandte keinen Blick von den beiden lieben Menschen. Er gestand sich jetzt selbst leise und mit stillem Lächeln, daß die kleine Hexe, das »Prinzeß Sonnenscheinchen«, wie man sie genannt hatte, doch recht haben könnte, denn er hätte es wirklich fertig gebracht, jetzt ganz still bis in alle Ewigkeit zu sitzen und weiter nichts zu thun, als die beiden anzusehen.

Aber er sollte bald gestört werden.

Else war gerade dabei, die sommerlichen Reisepläne zu entwickeln, als sich Herr von Röhren melden ließ.

Fritz sah, wie seine Mutter einen Augenblick rot ward. Dann nickte sie.

Er hatte plötzlich eine ärgerliche Empfindung, stand auf und schickte sich an, mit seinen Büchern das Zimmer zu verlassen.

»Wohin willst du denn, Kind?«

»Ins Bibliothekzimmer. Ich – ich – hier kann ich ja doch nicht arbeiten.«

»Aber mußt du denn immer über den Büchern hocken?« fragte Else ärgerlich.

»Ja, das – das ist auch gleich ungemütlich, wenn ein Fremder dabei sitzt. Also bis nachher.«

Frau Trude sah ihm nach, bis er durch die Seitenthür verschwunden war, sagte aber kein Wort.

Nachdenklich und mit sich selbst unzufrieden schritt er durch zwei, drei Stuben. Er hörte noch, wie der Ankömmling begrüßt wurde. Dann öffnete er die Thür zum Bibliothekzimmer und setzte sich an die Arbeit. Aber es wollte gar nicht recht vorwärtsgehen damit, so sehr er sich auch anstrengte.

Wie schön und behaglich das doch vorhin zu dreien gewesen war! Die quecksilberne Beweglichkeit der kleinen Hexe, daneben wie zur Ergänzung die ruhige Sicherheit seiner schönen Mama, und er selber von beiden verhätschelt, wenn Else das auch auf eine ganz absonderliche Art that – das war so wunderbar nett gewesen. Und da mußte diesen Herrn von Röhren der Teufel reiten, gerade jetzt vorzusprechen und die Harmonie zu stören! Er wünschte ihn wirklich ins Pfefferland und trommelte ärgerlich seufzend auf der Tischplatte herum.

Vielleicht hätte er gar nichtweggehen, sondern ruhig bleiben und erst abwarten sollen; vielleicht war der Besucher ein ganz angenehmer Mensch. Aber es war ihm nun einmal nicht gegeben, sich mit Fremden gleich auf einen vertraulichen Fuß zu stellen. Er wußte ja: er hätte nur wieder geschwiegen und sich heimlich über seine eigene Schüchternheit geärgert.

Mißmutig klappte er die Bücher zu und stützte den Kopf in die Hand. Wenn wenigstens die kleine Hexe 'rüberkäme und ihm Gesellschaft leistete! Ob er sie durch das Dienstmädchen rufen ließe? Aber nein – das ging nicht gut. Wie würde das aus sehen!

Er stand auf und trat ans Fenster. Es war ein herrliches Frühlingswetter, das mit Macht nach draußen lockte. Er wollte auch nicht im Zimmer bleiben, sondern Else lieber vor dem Hause erwarten.

Befriedigt nickte er vor sich hin und klinkte die Thür auf, um durch das Vorzimmer nach dem Korridor zu gehen, wo sein Ueberzieher hing. Dabei sah er sich vor, daß er nur ja kein Geräusch machte. Herr von Röhren brauchte es nicht zu wissen, daß er ihn vermied. Deshalb ging er auf den Fußspitzen über die Teppiche. Er hörte das Plaudern drinnen und einmal das helle Lachen Elses, das ihn einen Augenblick wieder ganz unzufrieden machte. Wenn sie nur nicht allzulange blieb!

Leise nahm er dann den dünnen Paletot vom Haken und wollte schon die Korridorthür öffnen, als ihm einfiel, daß er vielleicht länger wegbleiben und seine Mutter sich um ihn ängstigen könnte. Er wollte dem Mädchen lieber Bescheid sagen.

Aus der Küche drang eine laute Unterhaltung durch die angelehnte Thür.

»Lieber Himmel, unsre Gnädige ist ja noch gar nicht alt. Paß nur mal auf, in ein paar Wochen oder Monaten gibt's Verlobung. Na, mir kann's egal sein, denn ein feiner Mann ist er, das muß man sagen. Gleich beim erstenmal, als ich ihm den Paletot hielt, gab's 'nen blanken Thaler.«

»Mumpitz,« antwortete das Küchenmädchen im reinsten Berliner Dialekt, »det jloob ick nich. Ja, wenn se keen'n Sohn hätt –! Aber so is die Sache doch man sehr mau.«

»Daß ihr geliebtes Fritzchen ihr dabei unbequem ist, na ja, das ist ja klar,« erwiderte das Stubenmädchen in ihrer schnippischen Art, »aber schaden thut's auch nichts. Und man kommt nicht umsonst alle naselang und die Gnädige wird nicht umsonst so rot, wenn ich nur den Namen nenne.«

Fritz stand starr da, den Hut noch in der Hand. Sein Kopf glühte. Alle seine Muskeln spannten sich zum Zerreißen an. Im ersten Augenblick wollte er vorstürzen, wollte diese Frauenzimmer erwürgen, die so von seiner Mutter zu sprechen wagten, von seiner heiligen, angebeteten Mutter.

Dann bezwang er sich und ging zurück, geradeswegs ins Bibliothekzimmer.

Er konnte es noch gar nicht fassen, was er da gehört hatte. Nicht, als ob er daran glaubte. Eher hätte er an einen sofortigen Weltuntergang oder an weiß Gott was alles geglaubt. Aber schon der Gedanke daran erschien ihm wie ein schändliches, unsühnbares Verbrechen. Ein unsäglicher Ekel packte ihn, ein Ekel vor dieser Welt, die alles Reine, Hohe, Glänzende in den Schmutz hinabziehen mußte, die nicht eher ruhte, als bis es bestaubt und besudelt dalag. Sogar bis an seine Mutter wagte sich die Gemeinheit und Verleumdung heran – ah, er hätte aufschreien mögen vor Wut und Schmerz, wenn er nur daran dachte.

Erregt, mit brennender Stirn, ging er auf und ab.

Umsonst wird die Gnädige nicht immer rot, wenn nur der Name genannt wird – so hatte dieses Frauenzimmer ja gesagt.

Er preßte die Lippen zusammen.

Mit einemmal blieb er dann stehen, starr, plötzlich. Er dachte an vorhin, als Röhren kam. Die Blutwellen tosten empört nach seinem Haupte, und sekundenlang ging ein Zittern durch seinen Körper.

Was sollte das heißen? Zweifelte er etwa selbst an seiner Mutter? Er – er? Aber weshalb war ihm denn jetzt die Erinnerung gekommen, daß es mit dem Rotwerden seine Richtigkeit hatte? Mußte er sich nicht schämen bis ins Innerste seines Herzens, daß er auch nur flüchtig die Möglichkeit erwogen hatte, halb unbewußt? Schändete er nicht schon dadurch sie, die Heilige, Reine, die Tage und Nächte an seinem Krankenbett gewacht hatte, deren ganzes Leben nur ihm geweiht, die der Inbegriff alles Großen und Guten, alles Edlen und Schönen für ihn war?!

Er stöhnte auf und sah sich um.

Hier das Zimmer – die Schränke voller Bücher – der Lehnstuhl dort – dieser große Schreibtisch – alles erinnerte ihn an seinen Vater; an seinen Vater, der nur für seine Familie und seine Wissenschaft gelebt, der in seiner stillen Herzensgüte von hier aus so viel Glück gespendet hatte. Und war dieser entsetzliche Gedanke, den er nicht auszudenken, geschweige denn auszusprechen wagte, der Gedanke an das, was die beiden Mädchen in ihrer Unterhaltung angedeutet, war der nicht eine Sünde gleichzeitig gegen das Andenken an diesen edlen Vater, eine Schmach, die auch dem Toten zugefügt ward?

Er kam sich vor wie ein Tempelschänder. Vergessen war die kleine Else, die er nach Hause bringen wollte, vergessen seine Bücher, die vor ihm lagen. Er wußte nicht aus noch ein, so gärte und drängte es in ihm.

Und dann packte ihn plötzlich wieder eine Wut gegen die beiden Frauenzimmer, daß er am liebsten hinausgelaufen wäre und sie geschlagen hätte, ohne Rücksicht und Besinnung. Und danach wieder wollte er seiner Mutter zu Füßen stürzen und ihre Kniee umfassen, denn es war ihm immer, als hätte er eine Sünde begangen, die sich gar nicht wieder gut machen ließe.

Die Uhren schlugen, der Klang eines Klaviers kam von fern. Alle Augenblicke hörte er auch die Pferdebahn rasseln, die nach dem Brandenburger Thor fuhr. Aber seine Gedanken waren ganz wo anders.

Mit zusammengepreßten Lippen stand er am Fenster und preßte die Stirn dagegen – wie lange, wußte er selbst nicht.

*


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