Max Burckhard
Scala santa
Max Burckhard

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Die Schlacht von Bologna

Von allen möglichen Schlachten lernt man in der Schule, von der Schlacht bei Gaugamela angefangen oder vielleicht von noch älteren an – nur von der Schlacht bei Bologna habe ich nirgends etwas gelesen. Und darum will ich sie selbst beschreiben, soweit meine schwachen Kräfte dies vermögen. Denn diese Schlacht habe ich selbst mitgemacht. Als Zuschauer wenigstens. Freilich mag dieser Umstand mich etwas parteiisch stimmen und mir die fragliche Schlacht als so besonders bedeutend und interessant erscheinen lassen – weil es ja die einzige ist, deren Verlauf ich mit eigenen Augen gesehen habe.

Also es war in Bologna. Ich hatte als kunsteifriger und wissensdurstiger Reisender schon gründlich alles betrachtet und studiert, was es dort für Reisende zu betrachten und zu studieren gibt. Die Palazzi und die schiefen Türme, die Universität und die etrurischen Gräber. Und die Grabmale und die Fresken in den Kirchen und die herrliche Sammlung von Majoliken und Vasen im Museum und die schönen alten Bilder in der 24 Galerie, sogar auch die schrecklichen neuen Bilder, die dort in einer besonderen Abteilung hängen. Ja, auch nach den kleinen Füßen der Bologneserinnen hatte ich ausgelugt, von denen Heine, um den Schönen von Göttingen etwas anhängen zu können, rühmend berichtet hat, und mit einer echten Mortadella di Bologna hatte ich mir, in offenbarer Überschreitung der für den Konsum dieses Genußmittels von der Natur gezogenen Grenze, sogar den Magen verdorben. – Kann man seine Zeit gründlicher und gewissenhafter verwenden? Und doch kann es geschehen, daß man mit all seinen Studien fertig ist, und dennoch der Zug noch nicht abgeht, mit dem abzureisen man sich vorgesetzt hat. Und so ging es mir.

Die Bologneser haben für solche Menschen, wie ich einer bin, die sich gern vorzeitig auf dem Bahnhofe einfinden, weil der Zug ja doch einmal einige Stunden früher abgehen könnte, als der Fahrplan es in Aussicht stellt, eine herrliche Einrichtung getroffen. Ganz bei dem Bahnhof nämlich haben sie einen prächtigen Stadtpark angelegt, und in diesem Stadtpark wandelte ich denn, nachdem ich mich vergewissert hatte, daß der Schnellzug fahrplanmäßig von Venedig abgedampft sei und ganz gewiß nicht seine Fahrzeit boshaft verkürzt habe, gemächlich auf und ab.

Das war ein Park nach meinem Geschmack! Viel Luft, wenig Bäume und gar keine Menschen. Wenigstens damals war es so. Vielleicht sind die 25 Bäume inzwischen gewachsen, und vielleicht hatte ich nur gerade eine so günstige Stunde getroffen, wo die breitesten Wege sich verlassen in der Frühlingssonne dehnten und auf den geräumigsten Gartenbänken kein menschliches Wesen mir durch seine Anwesenheit den Raum und die Lust, mich gelegentlich auszuruhen, beschränkt oder geraubt hätte.

Aber halt! Dort stand eine Bank, die war doch besetzt. Und wie besetzt noch dazu! Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben junge Mädchen. Eigentlich noch Kinder, sich gerade erst der Grenze nähernd, wo die holde Mädchenhaftigkeit beginnt. Freilich, bei denen, die da saßen, mochte wohl die Zeit solch duftigen Reizes, wie er für die feineren Seelen schon in dem Worte Mädchenhaftigkeit liegt, überhaupt nie kommen. Es waren Kinder, die nicht den besseren Ständen angehörten. Die Kleider verschmiert und verrissen, die Haare vernachlässigt, das Schuhzeug vertreten und die Strümpfe – oh, diese Strümpfe ! An den Strümpfen kann man doch gleich Bildung und feine Sitten erkennen.

Nur eine saß unter ihnen, die war offenbar ein feineres Mädchen. Ein feines Mädchen sogar. Nett, fast etwas kokett gekleidet, die Haare sorgsam gekämmt und mit einer Knospe geschmückt, zierliches Schuhzeug, überhaupt alles an ihr reinlich und adrett. Sie war auch schon größer als die anderen, offenbar schon ein 26 wirkliches Mädchen, wenn sie auch noch ein ziemlich fußfreies Kleid trug.

Wie sie wohl in die Gesellschaft dieser Fratzen gekommen war? Schien sie doch sogar ganz befreundet mit ihnen. Zur Rechten und zur Linken saßen sie ihr und die nächsten waren ganz dicht an sie herangerückt und die Augen aller hingen an ihren Lippen, da sie ihnen jetzt gerade irgend eine Geschichte erzählte. Sie mußte wirklich ganz interessant sein, die Geschichte, denn die Kinder begleiteten sie mit dem ausdrucksvollsten Mienenspiel, die einen atemlos gespannt, die anderen gelegentlich in Rufe des Erstaunens und Entzückens ausbrechend.

Auch die Erzählerin war von ihrer Geschichte offenbar sehr in Anspruch genommen. Denn als ich, in dem Wunsche, etwas davon zu hören, mich im Vorbeigehen der Bank so weit zu nähern suchte, als dies möglich war, ohne durch auffallendes Benehmen etwa die Sprecherin zu stören, bemerkte sie mich überhaupt nicht. Sonst hätte sie ja nicht, gerade als ich vorüberging, mit denkbarster Ungeniertheit ihr Strumpfband, das ihr etwas gerutscht sein mochte, hinaufgezogen, oder was nun sonst an ihm in Ordnung zu bringen war.

Mein Manöver hatte mir übrigens nur wenig genützt, denn die junge Dame sprach so schnell und, offenbar dem niederen Stande, dem die Zuhörerinnen angehörten, Rechnung tragend, so 27 stark im Dialekt, daß es mir bei aller Aufmerksamkeit und Mühe nur gelang, einige ganz zusammenhanglose Worte zu erhaschen. Und als ich nach einer angemessenen Weile meinen Versuch wiederholte, ging es mir nicht besser. Alles war wieder wie das erste Mal: die junge Dame richtete gerade wieder ihr Strumpfband, und verstehen konnte ich abermals nichts von dem, was in rasendem Flusse von den Lippen der beredten Erzählerin strömte.

Als ich mich aber das dritte Mal der Bank mit den sieben Mädchen näherte, da hatte sich der Sachverhalt schon völlig verändert. Die Erzählerin war verstummt, die dichte Reihe hatte sich gelockert, und die einzelnen blickten, die einen hierhin, die anderen dorthin, jede möglichst unbefangen und harmlos darein, so, als gehörten sie gar nicht zusammen und wären nur durch einen Zufall dort, wo sie saßen, vereint worden.

Aber die Mädchen waren nun auch nicht mehr die einzigen, die außer mir von den städtischen Anlagen Gebrauch machten. Da kam des Weges geschlendert eine Schar junger Bürschchen. Auch hier die meisten ziemlich verwahrlost in der Erscheinung, so von der Art, die man in Norddeutschland Straßenjungen, in Süddeutschland Gassenbuben zu nennen pflegt, ohne daß im Wesen ein Unterschied feststellbar wäre; von der Art, wie sie überhaupt allenthalben die gleiche ist, wo die segnende Tätigkeit der Kultur 28 erkennbar wird, indem sie Unterschiede in die gleichförmigen Massen bringt.

Auch unter den Jungen aber zeichnete sich einer nicht nur durch einen sichtlichen Altersvorsprung, sondern auch durch weit bessere, fast vornehme Kleidung sowie durch die Aufmerksamkeit und Rücksicht aus, die ihm von den anderen bewiesen wurde. Hatten von diesen einige nicht einmal Schuhe an, so war er, abgesehen von einigem Staub und etlichen kleinen Flecken auf dem Anzug, die wohl erst der laufende Tag gebracht hatte, tadellos gekleidet vom Fuße bis zum Kopfe, auf dem ein leichter feiner Strohhut etwas nach rückwärts geschoben saß. Die Kameraden hatten sich in zwei Linien rechts und links von ihm gereiht, wobei der Knabe zur Rechten zwischen seiner Linken und der rechten Seite des Führers so viel Raum frei ließ, daß dieser nicht behindert war, das zierliche Rohrstöckchen im Kreise zu schwingen, das er abwechselnd zwischen den Fingern drehte und im Fluge durch die Luft sausen ließ.

Nun war der kleine Zug – es waren just auch sieben – bis in die Richtung der Bank gekommen; aber die Burschen schienen der Mädchen gar nicht zu achten und marschierten stolz an ihnen vorüber. Der junge Nobile, der sie führte – er mochte wohl den ersten Jahrgängen irgendeiner Mittelschule angehören oder als Müßiggänger sich an dem Tische seiner Eltern 29 gütlich tun – schwang nur etwas energischer sein Stöckchen im Bogen, als sie gerade an der Bank vorbeischritten, aber mit keinem Auge sah er zu den Mädchen; ganz angelegentlich betrachtete er vielmehr im Vorübergehen die schlanken Zweige eines emporgeschossenen Bäumchens an der anderen Seite des Weges, und nur einer der Knaben konnte sich nicht enthalten, nachdem die Schar schon vorübergezogen war, sich rasch einmal umzuwenden und einen Blick über die Mädchen streifen zu lassen. Aber empfand das junge Fräulein dort auf der Bank in vornehmem Zartgefühl das allein schon als eine Unzukömmlichkeit, oder hatte sie das Auftauchen der Schar der Jungen überhaupt als eine Belästigung angesehen – gerade in demselben Augenblick sprang sie auf, ihre Gefährtinnen erhoben sich mit ihr, und eilig zog diese andere Schar davon, in gerade entgegengesetzter Richtung von dem Wege, den die Knaben verfolgten.

Aber die Wege in Parkanlagen haben nun einmal das Eigentümliche, daß sie rund im Kreise herumführen, und man braucht daher in derlei Gärten eigentlich nur jemandem, den man nicht treffen will, in der entgegengesetzten Richtung von der, die er eingeschlagen, auszuweichen, und man wird sicher sein können, ihm bald wieder zu begegnen. So war es auch hier, und ich vermochte bald wahrzunehmen, wie sich die Wege der zwei kleinen Scharen nun hier, nun dort 30 kreuzten, und es war ganz leicht zu sehen, wie sie immer mit gespielter Anteilslosigkeit aneinander vorbeimarschierten, während doch einem geübteren Auge unmöglich entgehen konnte, daß hier irgendwelche Beziehungen vorhanden waren, und daß in beiden Gruppen immer eine gewisse Bewegung zugleich entstand und zugleich zu verbergen versucht wurde, wenn man sich einander näherte und aneinander vorbeikam.

Das machte mir natürlich großen Spaß, und da man den Ort der Begegnung schon meistens im vorhinein berechnen konnte, suchte ich es immer so einzurichten, daß ich in dem Augenblick des Defilierens in der Nähe des Kreuzungspunktes eintraf, so daß nun da immer eigentlich drei Abteilungen zusammenstießen. Aber jede Strategie hat bekanntlich stets ein Loch. Das ist das Loch, durch das der Feind entkommt oder in dem er unvermutet erscheint, oder in dem man selbst stecken bleibt, kurz, in dem irgend eine streng logische Berechnung durch die alberne Regelwidrigkeit der Tatsachen Lügen gestraft wird.

So hatte ich all meine Aufmerksamkeit auf den bestimmten Punkt gerichtet, an dem wir drei Abteilungen uns nach den physikalischen Gesetzen über »Zeit und Weg« hätten treffen sollen – aber ich war der einzige, der zur richtigen Zeit dort erschien. Und darum war auch die richtige Zeit für mich zur unrechten geworden. 31 Denn über dem Bestreben, rechtzeitig an dem vorausberechneten Punkt der Kreuzung einzutreffen, hatte ich auf die tatsächlichen Bewegungen der zwei anderen Abteilungen nicht geachtet, und so war mir auch die Wendung, Schwenkung, oder was es nun sonst für ein Manöver gewesen sein mochte, entgangen, das von dem einen Teil oder vielleicht auch von beiden Teilen ausgeführt worden war – und als ich nun erstaunt im Kreise herumblickte, sah ich die beiden Gruppen an einer ganz anderen Stelle als an der von mir in Aussicht genommenen einander in Reih und Glied Angesicht im Angesicht gegenüberstehen.

Ich hütete mich natürlich, durch neugierig-ungestümes Hinzurennen die Dinge, die sich da vorbereiteten oder vollzogen, zu stören. Und ich konnte umso gemächlicher, und daher eigentlich fast unbeachtet, mich nähern, als das Terrain freien Überblick gestattete und ich meine Beobachtungen im Heranschlendern ganz gut beginnen konnte. Schon die Aufstellung der beiden Truppen war ganz eigentümlich. Wie nach irgendeiner geheimen Verabredung oder nach einem alten, überkommenen Gesetz bildeten die Parteien zwei schräge Linien, in der Weise, daß die Führer ungefähr einander gegenüber Posto genommen hatten – allerdings in einem gewissen Abstand – aber dadurch das ganze Interesse aller auf sich vereinigten, daß ihre Anhänger je in einer Reihe nach den zwei entgegengesetzten 32 Seiten hin abfielen. Wie in einer natürlichen Stellung der Ehrerbietung hatten nämlich die Gefolgschaften in beiden Linien zur Linken der Kommandierenden Stellung genommen, und so standen diese einander Auge in Auge gegenüber, während die beiden Flügel durch keinerlei Geplänkel die Vorgänge stören konnten, die sich zwischen den eigentlichen Heeresleitungen abspielten.

Als ich näher kam, nahm ich deutlich wahr, daß es ein Redekampf war, der da statthatte. Nicht etwa irgendwelche Verhandlungen, Erzählungen, Vorträge: nein, wohlgesetzte, lange Reden wurden gehalten. Jetzt sprach das eine; und während es sprach, achtete das andere das Recht der Rede und schwieg, mochte die Rede auch noch so lange dauern. Und wenn das eine fertig war, dann erst ergriff das andere das Wort. Aber es war doch ein Kampf der Reden. Das zeigte nicht nur die Lebhaftigkeit des Ausdrucks und ein oder der andere Ausruf, zu dem gelegentlich der führende Teil der Gegnerschaft sich verleiten ließ, es bewiesen es auch die ungeheure Spannung in den beiden Massen, das lebhafte Mienenspiel und die Rufe der Zustimmung und Ablehnung, die nicht nur immer am Ende, sondern auch wiederholt im Laufe des Vortrages erschollen und manchmal so lebhaft waren, daß nur das Eingreifen der Führer sie verstummen machen konnte, wobei freilich stets eine einfache 33 Bewegung der Hand, eine halbe Wendung der Gestalt, ein Blick, wenn es viel war, ein kurzes Wort genügte.

Immer lebhafter, immer leidenschaftlicher wurde der Ton der Reden, aber die Formen des Redekampfes wurden stets noch inne gehalten. Ich war nun, soweit es möglich war, nahegetreten – aber, leider, von dem Inhalt dessen, was da gesprochen wurde, verstand ich fast gar nichts. Nur eine Wendung ward mir schließlich klar, weil sie sich immer wiederholte und auch mit besonderer Emphase hervorgehoben wurde, oder wohl vielmehr, weil sie stets in erhöhtem Tone und, offenbar um besonderer Eindringlichkeit willen, mit getragener Breite gesprochen wurde. Es war wie ein Refrain, wie ein zusammengefaßter Abschluß von Gruppen der schwerwiegendsten Vorwürfe, wenn das Mädchen in längeren Zwischenräumen, sich nach ihren Gefährtinnen umwendend und zugleich nach ihren Gegnern weisend, mit der ganzen Wucht der Verachtung, die sie in ihre Worte zu legen vermochte, herausschleuderte: »Und so etwas wagt es, mir von Liebe zu sprechen.«

So oft sie diesen Einschnitt in ihre Rede setzte, lief ein beifälliges Gemurmel durch die Reihen der Ihren, und die Gegner machten Miene, entrüstet vorzudringen – wenn auch eine leichte, wie zum Abwarten mahnende Handbewegung ihres Führers sie rasch wieder in die Schranken wies. Aber doch war mit jeder Wiederholung das 34 Vordringen heftiger und drohender geworden, und wie ich früher die Kreuzungspunkte vorausberechnet hatte, meinte ich nun schon den Zeitpunkt bestimmen zu können, wo das Gefecht der Worte jäh in eine regelrechte Schlacht der Fäuste und Nägel übergehen würde.

Als das Mädchen sich zum vierten oder gar fünften Male zu den Ihren zurückgewandt und ihrer Entrüstung darüber Ausdruck verliehen hatte, daß ein Wesen wie ihr Widersacher sich unterfangen habe, einem Wesen wie ihr seine Liebe zu gestehen, und nun die Gegner besonders erbittert vorzudringen suchten und auch eine lebhaftere, kampfbereite Bewegung durch die Reihen der jugendlichen Amazonen ging, da glaubte ich schon, jetzt sei der Augenblick gekommen, wo es keine Zurückhaltung und kein Zurückhalten mehr geben werde. Aber nochmal drängte der Jüngling sein Heer zurück; diesmal freilich mußte er hiezu schon beide Arme wie eine Wegsperre nach beiden Seiten halten. Und so weit bewahrte er selbst, trotz der tiefen Erregung, die schließlich auch ihn erfaßt hatte, die Achtung vor der Kampfordnung, vor dem gesprochenen Wort, vor dem Weib, daß er, da es nicht ganz klar war, ob das Mädchen die Rede schon geschlossen oder nur abermals einen Absatz gemacht habe, mit erkennbarer Selbstbeherrschung fragte, ob jetzt endlich er sprechen dürfe.

»Ja, jetzt darfst du reden,« lautete die Antwort.

35 Und jetzt trat er vor, noch einen Schritt näher. Einen kleinen Schritt. Und jetzt zog er die Luft ein, wie um tief Atem zu schöpfen zu einer langen Rede. Aufregung lief durch die Reihen, aber festen Auges erwiderte das Mädchen seinen Blick, da er es jetzt ansah. Ich spannte meine Aufmerksamkeit aufs höchste. Aber der Knabe sprach nur wenige Worte – oder vielmehr er spie nur wenige Worte aus. Denn anders war die Art seiner Rede, seiner begleitenden Gebärden nicht zu nennen. Was er sagte, konnte ich freilich wieder nicht verstehen – aber es war offenbar fürchterlich. Selbst die Schar der Freunde erblaßte und erstarrte, die Mädchen aber schlugen mit Zeichen des Entsetzens die Hände zusammen und blickten, sich aneinander drängend, angstvoll auf die Führerin, was diese wohl erwidern werde. Auch sie war bleich geworden und einen Schritt zurückgewichen.

Jetzt war die Schlacht offenbar zu dem entscheidenden Augenblicke gekommen. Sieg und Niederlage mußten sich nun rasch entscheiden. Die Gefahr des Handgemenges freilich war offenbar überwunden. Es war klar, hier standen höhere Fragen auf dem Spiele, bei denen nicht mehr rohe Gewalt der Taten, nur Beweis und Gegenbeweis oder eine das Vorgebrachte noch überbietende Anklage den entscheidenden Ausschlag zu geben vermochten. Und jetzt hatte auch die Jungfrau sich offenbar wieder gesammelt, die 36 Sachlage erkannt und ihren Entschluß gefaßt. Wieder trat sie den Schritt vor, den sie zurückgetan, dann maß sie den Gegner von der Spitze des etwas kotbespritzten zierlichen Knöpfelschuhes an bis hinauf zur Krempe des Florentinerhutes. Und dann drehte sie ihm mit plötzlicher Wendung den Rücken, zog mit raschem Rucke das fußfreie Kleid hoch empor und blieb einen Augenblick in dieser Stellung- stehen. Einen Augenblick nur; nur so lange, daß kein Zweifel darüber bleiben konnte, was sie etwa sonst noch an sich trug und was nicht. Und schon schritt sie stolz und majestätisch davon. Wie eine Königin das Schlachtfeld verlassen mag, wenn der Feind vernichtet und zerschmettert die Walstatt bedeckt. Und hinter ihr zog ihr Gefolge, jede erhobenen Hauptes, jede selbst eine Art Königin in Haltung und Gebärde. Nicht ein Blick fiel auf die Besiegten zurück. Nicht ein Gedanke war da an die Möglichkeit einer Verfolgung durch den Feind. Als wäre dieser überhaupt nicht mehr vorhanden, so ruhig und sicherheitsbewußt zogen die Sieger ab, im Gefühle eines mit außerordentlichen Mitteln gewonnenen außerordentlichen Sieges, das geschlagene Heer seinem Schicksale überlassend.

Das geschlagene Heer. Ja. Denn ein solches war es, das auf dem Kampfplatz zurückblieb. Sprachlos, mit schlotternden Beinen und weitgeöffnetem Munde, wie entgeistert blickte der Feldherr den Abziehenden nach, Und zerknirscht 37 und geknickt, bis in das tiefste Mark der Seele getroffen von Schmach und von Schande, standen seine Getreuen um ihn. Aber nicht lange. Denn gesenkten Hauptes schlich sich einer nach dem anderen davon. Und nun stand der Führer allein. Nur einer war bei ihm geblieben, und der trat jetzt näher an ihn heran, offenbar um ihn zu trösten. Aber da zog jener den Arm hoch und in dem nächsten Augenblicke flog dem Tröster ein kräftiger Schlag mit der flachen Hand in das Angesicht. »Tu! tu!« schrie der Feldherr, und jedes dieser »tu!« wog eine ganze Anklageschrift wegen Aufreizung und Anzettelung auf. Zu den Vorwürfen selbst kam es vorläufig nicht, denn schon wälzten sich die beiden, in einen Klumpen geballt, ringend auf dem Kies.

Was aber weiter geschah – ich weiß es nicht. Denn in dem Augenblicke, da beide hinstürzten, hörte ich den mahnenden Pfiff einer Lokomotive, mir kam nun plötzlich zum Bewußtsein, daß ja die Zeit für die Abfahrt des Schnellzuges schon unmittelbar bevorstehen müsse. In fliegendem Laufe stürzte ich zum Bahnhof, und richtig, als ich den Perron betrat, fuhr mein Zug eben schnaubend und rollend hinaus auf den knackenden, klirrenden Schienen: ich hatte ihn versäumt. Aber wenigstens habe ich die Schlacht von Bologna gesehen. Und das ist auch etwas. 39

 


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