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Achtzehnter Abschnitt.


Erstes Kapitel.

Lebe wohl, Du schönes Land. Kanaan der Verbannten und Ararat für so manche zerschellte Arche! Glückliche Wiege eine Geschlechtes, für welches das unbegrenzte Erbe einer Zukunft, die kein Weiser vermuthen, kein Prophet voraussagen kann, ferne liegt im goldenen Hoffnungslichte der Zeit! – bestimmt vielleicht, aus den Sünden und Sorgen einer mit ihren eigenen Elementen des Zerfalls ringenden Civilisation die Jugend der Welt zu erneuern und die große Seele Englands durch die Kreise eines endlosen Wechsels zu tragen. Alle Klimata, welche die Erzeugnisse der Erde am besten zur Reife bringen oder die wechselnden Charaktere der verschiedenen Familien des menschlichen Geschlechts am besten auszubilden vermögen, lassen ihre ›Einflüsse herabregnen‹ vom Himmel, der so wohlwollend Denen zulächelt, welche ehedem in ihren Lumpen sich vor dem Winde bargen oder mit der Sonne haderten. Dort die strenge Luft der kalten Mutterinsel, hier tropische Glut oder die milde Wärme eines italienischen Herbstes. Und mit den Strahlen jeden Klima's gleitet sanft die Hoffnung nieder. Von ihr gilt, was ein zu wenig geschätzter Dichter in jenen schönen Versen von dem Lichte sagt:

»Gleich eines klaren Bächleins Rieseln
Durchdringst sanft gleitend Du die Elemente,
Die alle Poren Dir erschließen –

   

Aller Glanz der Welt, der das Auge erfreut,
Ist nur Dein vielfach wechselnd Kleid;
Der Färbung reiche Pracht durch Dich entsteht,
Wenn Deines Pinsels flücht'ger Hauch durch die Gefilde geht« Cowley's Ode an das Licht. [ Anm.d.Verf.].

Lebe wohl, meine freundliche Wärterin und liebevolle Pflegemutter! – ein langes und letztes Lebewohl! Niemals würde ich Dich verlassen haben, wäre nicht jene lautere Stimme der Natur an mein Herz gedrungen, welche das Kind zum Vater zurückruft und uns durch den Schall der Sabbathglocken der Heimath von den liebsten Beschäftigungen hinweglockt.

Niemand kann sagen, wie theuer die Erinnerung an das wilde Buschleben Demjenigen wird, welcher sich mit einem geeigneten Geiste darin versucht hat. Wie oft umspukt sie ihn auf den Gemeinplätzen civilisirter Länder, jene Erinnerung an das Gefühl frischer Gesundheit, an die Gefahren, die Abenteuer, die Pausen sorgloser Ruhe, an den wilden Galopp durch ein Meer von weiten, wallenden Ebenen, an den nächtlichen Gang durch die immergrünen Wälder unter einem Monde, klar wie das Sonnenlicht, dessen Strahlen schräg durch die Blüthenbüschel brechen. Mit welcher Mühe gewöhnen wir uns wieder an die alltäglichen Sorgen und verdrießlichen Freuden, an das »tägliche Wechselfieber kalter Unverschämtheiten,« zu welchen wir zurückkehren. Wie scharf und kräftig hat mein Bleistift folgende Stelle des schon erwähnten Dichters bezeichnet:

»Hier sind wir inmitten der großartigsten, edelsten Naturscenen, dort umgarnt von den erbärmlichen Ranken der Politik, hier wandeln wir auf den lichten, offenen Wegen der göttlichen Güte, dort tappen wir umher in dem dunkeln, wirren Labyrinth menschlicher Bosheit.« Cowley über Stadt und Land (Abhandlung über den Ackerbau). [ Anm.d.Verf.]

Doch, ich ermüde Dich, Leser. Die neue Welt verschwindet – jetzt noch eine Linie – jetzt nur noch ein Punkt; wenden wir das Antlitz der alten zu!

Wie Viele befinden sich unter meinen Reisegefährten, die unzufrieden, enttäuscht, verarmt und zu Grunde gerichtet in die Heimath zurückkehren und auf's Neue den nichts ahnenden Verwandten zur Last fallen, welche auf immer mit den unglücklichen Taugenichtsen fertig zu sein geglaubt hatten. Denn, lieber Leser, nicht jedem Auswanderer nach Australien ist das Glück so hold als es Pisistratus gewesen. Obgleich der arme Arbeiter und hauptsächlich der arme Handwerker von London und den großen Handelsstädten (welcher in der Regel eine raschere Auffassungsgabe besitzt und sich den neuen Verhältnissen besser anzupassen weiß, als der einfache Landbauer) mit ziemlicher Sicherheit auf einen günstigen Erfolg rechnen darf, so ist dagegen in der Klasse, welcher ich angehöre, das Fehlschlagen weit häufiger und ein Gelingen eher zu den Ausnahmen zu zählen – ich habe dabei junge Männer im Auge, welche mit einer gelehrten Erziehung die Gewohnheiten von Gentlemen verbinden und mit einem kleinen Kapital und großen Hoffnungen die Wanderung antreten. Neunundneunzigmal unter hundert liegt jedoch die Schuld nicht an der Colonie, sondern an den Emigranten selbst. Man bedarf nicht sowohl vielen Verstandes, als vielmehr einer besonderen Art oder Richtung desselben und einer glücklichen Vereinigung körperlicher Eigenschaften, eines ruhigen Temperamentes und eines raschen Mutterwitzes, um aus einem kleinere Kapitalisten ein vom Glück begünstigter Buschmann zu werden Wie wahr sind folgende Bemerkungen: –»Thätigkeit ist das erste und hauptsächlichste Erforderniß eines Colonisten, der sich mit Viehzucht und Ackerbau beschäftigen will. Bei einem jungen Manne ist die Richtung seines Geistes weit wichtiger, als alle seine früheren Studien und Gewohnheiten. Ich habe Männer von einem regsamen, thatkräftigen, genügsamen Sinne gekannt, die, obwohl sie in Wohlstand und Luxus erzogen worden, sich weit besser fortbrachten, als der stets nach Bier und Brod hungernde Landmann Alt-Englands …… Wer sich Träumereien hingibt, statt nach seinem Vieh zu sehen, kann nicht weiter kommen …… Es gibt gewisse Leute, die, zu träge oder zu ausschweifend, um in Europa ihr Glück zu machen, in dem Wahne nach Australien segeln, man könne dort durch eine Art von Hexerei in kürzester Zeit sich ein Vermögen erwerben; sie verbrauchen oder verlieren sehr bald ihr Kapital und kehren nach England zurück, um über die Colonie, ihre Bewohner und alles, was damit zusammen hängt, zu schmähen.« – Sidney's Handbuch über Australien – bewunderungswürdig um seines lehrreichen Inhalts und seiner gedrängten Fassung willen. [ Anm.d.Verf.]. Und wenn Du die Haifische sehen könntest, die in Gestalt von Gaunern und Betrügern Jeden umschwimmen, der mit ein- oder zweitausend Pfund in der Tasche in Adelaide oder Sidney geankert hat! Eile aus den Städten, so schnell Du kannst, mein junger Auswanderer; verschließe, vorderhand wenigstens, Dein Ohr allen Mäklern und Spekulanten; befreunde Dich mit einem erfahrenen alten Buschmann; gehe für einige Monate auf dessen Station, ehe Du Dein Kapital auf's Spiel setzest; bringe einen heitern Sinn mit, der alles erfragt und über nichts seufzt; thue, was Du thust, mit ganzem Herzen – und ob Du dann Schafe weidest oder Vieh züchtest, Dein Erfolg wird früher oder später gesichert sein.

So viel ich übrigens auch der Natur zu verdanken hatte, so war ich doch nicht minder vom Glücke begünstigt worden. Ich kaufte meine Schafe für nicht viel mehr, als für sieben Schillinge das Stück, und als ich abzog, war keines weniger, als fünfzehn Schillinge, die fetten sogar ein Pfund werth Damit dies nicht als Uebertreibung erscheine, erlaube ich mir, aus einem an mich gerichteten Briefe des Mr. George Blakeston Wilkinson (Verfasser von » Süd-Australien«) einen Auszug folgen zu lassen.

»Als Beispiel nenne ich einen Mann, der in England Farmer gewesen war und vor sieben Jahren mit ungefähr 2000 Pfund auswanderte. Bei seiner Ankunft fand er, daß der Werth der Schafe von ungefähr 30 Schillingen auf 5 oder 6 Schillinge für das Stück gefallen war, und kaufte einige in gutem Stand befindliche Heerden zu den genannten Preisen. Er war so glücklich, gute und ausdehnte Weideplätze zu erwerben, widmete seine ganze Zelt der Pflege seiner Thiere, und ermuthigte seine Schäfer durch Belohnungen, so daß nach etwa vier Jahren die ursprüngliche Zahl seiner Schafe von 2500 Stücken (welche ihn 700 Pfund gekostet hatten) zu 7000 angewachsen war. Die Zucht und die Wolle hatte er in einem Grade veredelt, daß er 2000 fette Schafe das Stück zu einem Pfund und die übrigen 5000 zu je 15 Schillingen verkaufen konnte – und dies zu einer Zeit, da der allgemeine Preis der Schafe von 10 bis zu 16 Schillingen stand. Hierdurch allein vermehrte er sein ursprünglich auf Schafe verwendetes Kapital von 700 auf 7500 Pfund. Der Ertrag der Wolle deckte alle seine Auslagen, sowie den Lohn für seine Dienstleute.« [ Anm.d.Verf.]
. Ich hatte einen trefflichen Schäfer, und Tag und Nacht war meine ganze Sorge auf die Veredelung der Heerden gerichtet. Ein Glück war es auch für mich gewesen, daß ich nach Australien kam, ehe das fälschlich sogenannte »Wakefield-System« Ich hegte von Anfang an die Ueberzeugung, daß dieses System unmöglich den Ideen Mr. Wakefields entsprechen könne, dessen ungewöhnliches Verständniß und vielseitige Menschenkenntniß die Voraussetzung verbieten, als wäre die plumpe Ausführung einer Theorie, welche für einen gesellschaftlichen Zustand, wie dasjenige Australiens, so durchaus unanwendbar ist, von ihm ausgegangen. Ich freue mich, zu sehen, daß er sich selbst gegen diese wenig ehrenvolle Urheberschaft verwahrt hat, obwohl ich mit Bedauern bemerke, daß er an einem Hauptirrthum des Systems festhält, indem er von dem Erwerb kleinerer Grundstücke abräth und die wichtige Frage umgeht: »Was sollte der niedrigste Preis des Landes sein?« [ Anm.d.Verf. – Zu Wakefield siehe Anm. 339.] den Zufluß von Arbeitskräften vermindert und den Preis des Landes erhöht hatte. Als dieser Wechsel eintrat, vergrößerte er in bedeutender Weise den Werth meines eigenen Besitzthums, leider aber auf Kosten der Gesammtinteressen der Colonie, welcher ein schwerer Schlag versetzt wurde. Ich hatte außerdem Glück mit meiner Viehstation und der Pferdezucht gehabt, so daß sich in den fünf Jahren, während welcher ich mich damit abgegeben, die darauf verwendete Summe verdreifachte, abgesehen von dem vortheilhaften Verkauf der Station »Der Ertrag einer Viehstation ist geringer, als der durch die Schafzucht erzielte Gewinn, wenn man Glück bei der letzteren hat, wovon natürlich viel abhängt; allein die Viehzucht ist als Spekulation viel sicherer und erfordert weniger Sorgfalt, Kenntniß und Gewandtheit. 2000 Pfund, auf 700 Stück Vieh verwendet, können, unter Voraussetzung guter Weideplätze, das ursprüngliche Kapital in fünf Jahren zu 6000 Pfund vergrößern, abgesehen davon, daß der Eigenthümer von dem Geschäfte seinen Unterhalt zu bestreiten und den Arbeitslohn für seine Leute zu bezahlen im Stande ist.« – Ungedruckter Brief des G. B. Wilkinson. [ Anm.d.Verf.]. Ferner war mir, wie ich bereits berichtet habe, jene Spekulation sehr geglückt, da ich auf Onkel Jack's Zureden mehrere Länderstrecken kaufte und mit großem Nutzen wieder losschlug. Und schließlich entging ich durch meine zeitige Abreise einer sehr unheilvollen Krisis in den Colonialangelegenheiten, die ich einzig und allein den unseligen Grillen englischer Theoretiker zuzuschreiben mir die Freiheit nehme, welche alle Uhren nach der Greenwicher Zeit richten möchten, wobei sie vergessen, daß es in einem Theil der Welt Morgen ist, wenn in dem andern die Abendglocke geläutet wird.


Zweites Kapitel.

Wieder in London! Wie fremd, einsam und wild erscheine ich mir in den Straßen. Ich schäme mich fast meiner Kraft und Gesundheit, wenn ich die schmächtigen Gestalten, die gebeugten Rücken und die blassen Gesichter betrachte. Ich suche mir mit der barmherzigen Aengstlichkeit eines gutmüthigen Riesen einen Weg durch das Gedränge und scheue mich, Jemand anzustoßen, aus Furcht, den Betreffenden in dem Zusammenstoß zu tödten. Während ich einem Zwirnwickel von einem Commis ausweiche, ist es ein Wunder, daß ich nicht von den Omnibussen überfahren werde, obwohl ich das Gefühl habe, als könnte ich sie selber über den Haufen rennen! Auch bemerke ich, daß in meiner Erscheinung etwas Fremdes, Auffallendes und Gesetzloses liegen muß. Beau Brummell Siehe Anm. 157. würde mir sicherlich alle Ansprüche auf das Aussehen eines Gentleman abgesprochen haben, denn unter zehn Vorübergehenden bleiben neun stehen, um mir nachzusehen. Ich ziehe mich in meinen Gasthof zurück und schicke nach Schuhmacher, Hutmacher, Schneider und Haarkünstler. Ich humanisire mich vom Kopf bis zu den Füßen. Selbst Ulysses muß seine Zuflucht zu den Künsten der Minerva nehmen und, ohne Metapher gesprochen, »sich herausputzen, ehe die treue Penelope sich herabläßt, ihn anzuerkennen.

Die Künstler versprechen die größte Eile. Inzwischen suche ich die Bekanntschaft mit meinem Mutterlande wieder anzuknüpfen, indem ich alte und neue Nummern von Times, Post, Chronicle und Herald durchfliege. Alles kömmt mir erwünscht, Artikel über Australien ausgenommen; von diesen wende ich mich ab mit dem verächtlichen Achselzucken eines praktischen Mannes.

Die Leitartikel sind nicht mehr mit dem Lob oder Tadel Trevanions angefüllt. »Percy's Sporn ist kalt.« Lord Ulverstone spielt nur noch in den Hofcirkularien oder in den » Berichten aus der vornehmen Welt« eine Rolle. Lord Ulverstone gibt einem Prinzen des königlichen Hauses zu Ehren ein Diner, speist seinerseits bei diesem Prinzen, ist nach der Stadt gekommen oder hat dieselbe verlassen. Höchstens spricht er (schwache platonische Erinnerung an sein früheres Leben) im Hause der Lords einige Worte über irgend eine Frage, keine Parteifrage, ohne von einem »hört!« unterbrochen oder von der Gallerie aus vernommen zu werden, obwohl es sich vielleicht um die Interessen von Tausenden oder Millionen handelt; oder führt Lord Ulverstone den Vorsitz in der Versammlung eines Ackerbauvereins, oder spricht er seinen Dank aus, wenn bei einem Festessen zu Guildhall auf seine Gesundheit getrunken wird. Wie aber der Stern des Vaters untergeht, glänzt immer heller und heller das leuchtende Gestirn der Tochter, obwohl über einer andern Art von Welt.

»Der erste Ball der Saison zu Castleton-House!« Ausführliche Beschreibung der Zimmer, der Gesellschaft und vor allem der Wirthin. Verse auf das Bild der Marquise von Castleton in dem »Buch der Schönheit« von dem ehrenwerthen Fitzroy Fiddledum Englisch fiddle bedeutet auch »schwindeln«., mit den Worten beginnend: »Bist Du ein Engel aus« u. s. w. – ein Artikel, der mich mehr anspricht, über »Lady Castletons Kleinkinderschule zu Raby Park«; dann wieder »Lady Castleton, die neue Patronin von Almaks«; eine Kritik, entzückender, als sie jemals einem lebenden Dichter zu Theil wurde, über Lady Castletons prachtvollen Diamantschmuck, neu gefaßt von Storr und Mortimer Londoner Hofjuwelierunternehmen 1822-1839.; Westmacotts Richard Westmacott (1775-1856), britischer Bildhauer. Büste der Lady Castleton; Landseers Sie Anm. 117. Portrait der Lady Castleton und ihrer Kinder in antikem Kostüm. Nicht eine Nummer der Morningpost, ohne daß Lady Castleton unter der übrigen Frauenwelt sich auszeichnete:

– » Velut inter ignes
Luna minore
.«Horaz, Carm. I, 12, 47f.: »Wie der Mond unter kleineren Lichtern.«

Das Blut stieg mir in die Wangen. War es dieser leuchtende Stern an dem patricischen Himmel, zu welchem ich als ein armer, unbekannter Jüngling den anmaßenden Blick zu erheben gewagt hatte?

Doch, was ist das? »Nachrichten aus Indien – Geschickter Rückzug der Seapoys unter Kapitän de Caxton!« Schon Capitän – von welchem Datum ist die Zeitung? – drei Monate alt. Der Leitartikel erwähnt des Namens mit hohem Lob. Mischt sich kein Neid in die Freude meines Herzens? Wie dunkel war meine Laufbahn gewesen – mein armes Ringen mit dem widrigen Geschick hatte mir keine Lorbeeren gebracht! Pfui, Pisistratus, ich schäme mich Deiner. Hat diese verwünschte alte Welt mit ihrem fieberhaften Ehrgeiz Dich schon angesteckt? Eile nach Hause, in die Arme Deiner Mutter, an das Herz Deines Vaters – höre Rolands leise Segenswünsche, weil Du beigetragen hast zu dem Ruhme jenes Sohnes. Willst Du dem Ehrgeize Raum geben, so laß ihn nicht von dem Kothe Londons befleckt werden, sondern frisch und kühn in die ruhige Luft der Weisheit entströmen, genährt, wie mit Thau, von der treuen Liebe der Heimath.


Drittes Kapitel.

Die Sonne ging eben unter, als ich mich durch die Trümmer des Schloßhofes stahl, denn ich hatte meinen Wagen am Fuße des Berges zurückgelassen. Obwohl die Meinigen wußten, daß ich in England angekommen war, erwarteten sie mich meinem Briefe zu Folge doch erst am andern Tage. Ich wollte sie überraschen; allein wie sehr mich auch die Ungeduld vorwärts gedrängt hatte, scheute ich mich nun gleichwohl, einzutreten – ich fürchtete mich, in den Gestalten, für die in meiner Erinnerung die Zeit stillgestanden war, die Veränderung zu erblicken, welche mehr als zehn Jahre hervorgebracht haben mochten. Roland war schon, als wir uns trennten, vor der Zeit alt gewesen. Mein Vater stand damals im Mittag des Lebens – jetzt näherte er sich dem Abend desselben. Und meine Mutter, die so schön vor meinem innern Auge schwebte, als ob die Frische ihres Herzens das sanfte Roth der Wangen erhalten hätte – ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie nicht länger jung sein sollte.

Blanche endlich,welche ich als Kind verlassen – Blanche, meine beständige Correspondentin während der langen Jahre der Verbannung, deren ausführliche Briefe all' die kleinen Einzelnheiten enthielten, in welchen die Beredtsamkeit des Briefschreibens besteht, so daß ich in jenen Episteln allmälig ihren Geist harmonisch mit den Buchstaben sich heranbilden sah, anfangs unbestimmt und kindlich – dann etwas steif mit dem ersten Anflug einer geläufigen Hand – dann fließend frei und leicht – und im letzten Jahre meiner Abwesenheit so bestimmt und doch so lustig, so regelmäßig und doch so ungezwungen – obgleich ich in der That, nachdem die Kalligraphie einen solchen Grad der Vollkommenheit erreicht, mich halb ärgerte, halb freute über die Wahrnehmung, daß sich eine gewisse Zurückhaltung in den Styl einschlich, die Wünsche für meine Rückkehr weniger in ihrem eigenen Namen, als vielmehr im Auftrag Anderer ausgedrückt wurden, Worte der alten kindlichen Vertraulichkeit verschwanden, und das »bester Sisty« der kalten Form des »lieber Vetter« weichen mußte. Diese Briefe, welche mich an einem Orte erreichten, wo Mädchen und Liebe in das Reich der Mythen und Phantasien gehörten, hatten sich allmälig in die geheimsten Winkel meines Herzens eingeschlichen, und aus den Trümmern eines früheren romantischen Traumes erhob sich in stiller Einsamkeit das feenhafte Gebäude einer nicht weniger romantischen Zukunft.

Meine Mutter hatte in ihren Briefen nie versäumt, von Blanche zu sprechen – von ihrer Sorgsamkeit und liebevollen Thätigkeit, von ihrem warmen Herzen und sanften Gemüthe; sie schilderte mir in mancher kleinen Skizze aus der Heimath, wie sie nicht »Bilder in dem Krystall sah,« Siehe hierzu das sechste Kapitel des dreizehnten Abschnitts. sondern mit meiner Mutter die Armen im Dorfe besuchte, die Jugend unterrichtete und das Alter pflegte, oder mit Hülfe eines alten Meßbuches aus meines Vaters Sammlung coloriren lernte, um meinen Onkel mit einer neuen Stammtafel überraschen zu können, auf welcher alle Schilde und Fächer in Gold, Schwarz und Silber gemalt waren – oder aber, wie ihr leichter Tritt meinen Vater umschwebte, und sie, wenn er nach einem Buche sich umsah und zu träge war, selbst darum aufzustehen, im nächsten Augenblick dasselbe ihm brachte. Denn Blanche hatte einen neuen Katalog gemacht und denselben auswendig gelernt, so daß sie sogleich wußte, aus welchem Winkel dieser Heraclea sie den Geist beschwören mußte.

Aller dieser kleinen Züge hatte meine Mutter ausführliche und lobende Erwähnung gethan, sich jedoch – wenigstens während der letzten zwei Jahre – niemals darüber ausgesprochen, ob Blanche hübsch oder häßlich sei. Dies war eine traurige Versäumniß. Oftmals hätte ich gerne diese einfache Frage gestellt oder sie wenigstens zart und diplomatisch angedeutet; allein ich wagte es nie – denn Blanche würde sicherlich den Brief gelesen haben, und was ging es mich eigentlich an? Und wenn sie wirklich häßlich war, – wie ungeschickt mußte alsdann meine Frage erscheinen! Nun hatten aber Blanche's Züge in der Kindheit eben so guten Grund zu der Vermuthung gegeben, sie würden sich im jungfräulichen Alter zu hoher Lieblichkeit entwickeln, als zu der Annahme berechtigt, sie möchten mit der Zeit grimmig, hexen- und greifenartig werden.

Ja, Blanche, es ist vollkommen wahr! Wenn jene großen, ernsten, schwarzen Augen in einem wilden Feuer funkelten, statt in einem sanften Lichte zu glänzen – wenn die Nase, welche damals noch unschlüssig zu sein schien, ob sie gerade oder adlerartig werden wollte, die letztere Richtung einschlug und den kriegerischen, römischen, gebieterischen Charakter von Rolands mannhaftem Proboscis Griech.–lat. »Rüssel«. annahm – wenn sie in dem in der Kindheit nur allzu schmächtigen Gesichte die Röthe der Jugend auf zwei hervorspringende Punkte unter den Schläfen beschränkte (die Cumberländer Luft ist berühmt dafür, daß sie die Ausbildung der Lockenknochen begünstige!) – wenn dieses alles eintreffen sollte – und wie leicht könnte es der Fall sein! dann, o Blanche, wünschte ich, Du hättest mir niemals jene Briefe geschrieben, und ich würde klüger gethan haben, mein Herz nicht so eigensinnig gegen Ellen Boldings hübsche blaue Augen und seidene Schuhe zu stählen.

Fassest Du nun alle diese Zweifel und Besorgnisse zusammen, so wirst Du Dich nicht wundern, lieber Leser, daß ich so verstohlen durch die Trümmer des Hofes nach der andern Seite des Thurmes hinschlich, sehnsüchtig auf die hohen von der Abendsonne beleuchteten Fenster der Halle blickte (leider zu hoch, um hineinsehen zu können), und dennoch mich scheute, einzutreten – gleichsam mit meinem eigenen Herzen kämpfend.

Tritte! – der Gehörsinn wird so scharf in dem Buschland! Tritte, obwohl so leicht, wie der Zephyr Die gleichnamige Windgottheit der antiken Mythologie verkörpert den milden Westwind., der leise die Blätter der Bäume bewegt! Ich verberge mich in dem Schatten des großen mit Epheu bewachsenen Strebepfeilers. Eine Gestalt kömmt aus einer kleinen Thüre der Ruine – eine Frauengestalt. Ist es meine Mutter? Nein, sie ist größer, und der Tritt classischer. Sie geht um das Gebäude herum, sie blickt zurück, und eine sanfte Stimme – fremd und dennoch bekannt – ruft zärtlich und verweisend zugleich einem Faullenzer, der träge zurückbleibt. Armer Juba! er schleppt seine langen Ohren auf dem Boden und ist augenscheinlich sehr beunruhigt in seinem Gemüthe; jetzt bleibt er stehen und schnuppert mit der Nase in der Luft. Armer Juba! ich verließ dich so schlank und behend –

»Die Gestalt, nicht ätherisch, wie die einer Fee,
Hat an Rundung beträchtlich gewonnen.« Aus Walter Scotts Gedicht » Song«.

Die Jahre haben Dich seltsam nüchtern, fett und Primminsartig gemacht. Man sorgte zu gut für Deine körperliche Bequemlichkeit, o sinnlicher Mauritanier Spielt an auf die Bereicherung der europäischen Küche durch die Mauren (bzw. Araber).! Dennoch scheinst du mit jenem mystischen Verstande, welchen wir Instinct nennen, etwas zu wittern, was die Jahre nicht aus Deiner Erinnerung verwischt haben. Du bist taub für die Stimme Deiner Gebieterin, trotz ihres Lockens und Scheltens. Recht so – nur näher – komm näher, Bäschen Blanche, damit ich dich betrachten kann. Die Pest über den Hund – er entflieht ihr, er hat die Spur gefunden, er eilt auf den Strebepfeiler zu! Jetzt ist er gefangen und drückt in ungalantem Winseln sein Mißvergnügen aus. Soll ich das Gesicht noch immer nicht sehen? – es ist in Juba's schwarzen Locken begraben. Und nun vollends Küsse! Böse Blanche! an ein unvernünftiges Thier zu verschwenden, was, wie ich von Herzen hoffe, manchen guten Christen außerordentlich erfreuen würde! Juba kämpft vergeblich und wird fortgetragen. Ich glaube nicht, daß ein wildes Feuer in diesen Augen brennt, und Rolands Adlernase würde nimmermehr zu dieser sanften Stimme passen, welche mich an das Girren einer Taube erinnert.

Ich verlasse meinen Versteck und schleiche der Stimme und ihrer Eigenthümerin nach – wohin mag sie gehen? Nicht weit. Sie eilt den Hügel hinan, auf welchem einst die Herren des Schlosses Gericht hielten – jenen Hügel, welcher das Land weithin beherrscht, und von dem aus man die letzten Strahlen der untergehenden Sonne erblickt. Wie anmuthig ist jene Haltung in ihrer gedankenvollen Ruhe! Welche zarte Wellenlinien bilden Gestalt und Gewand! Wie weich und doch bestimmt zeichnet sich die biegsame Gestalt am purpurfarbenen Himmel ab! Und wieder tönt die süße Stimme in heiteren Trillern, gleich denen eines Vogels – jetzt eine Strophe aus einem Liede singend, dann wieder neckisch den trägen vierfüßigen Freund anredend. Sie sagt ihm etwas, worüber er seine schwarzen Ohren spitzt, und ich verstehe eben noch die Worte: »Er kömmt,« und »Heimath!«

Von meinem Hinterhalt aus in dem Gestrüpp unter den Ruinen kann ich die Sonne nicht untergehen sehen, allein die frischere Luft der Dämmerung und die tiefere Stille des Abends verkünden mir das Verschwinden des leuchtenden Gestirnes. Siehe! Hesperus Antike Bezeichnung für den Abendstern, den Planeten Venus (!). kömmt hervor; auf sein Signal erscheint, einer nach dem andern, das Heer der Sterne –

» Ch' eran con lui, quando l'amor divino,
Mosse da primà quelle cose belle!
« Dante Alighieri, La Divina Commedia, Inferno I, 39f.: »Als Gottes Lieb' aus ödem Nichts herauf / Die schöne Welt berief zu Sein und Leben«. (Nach der Übersetzung von Karl Streckfuß, 1824/26)

Und die süße Stimme verstummt.

Langsam steige ich auf der entgegengesetzten Seite des Hügels hinunter – die Gestalt ist meinen Blicken entschwunden, und die Dämmerung hat ihren Zauber verloren! Sieh, dort schleicht sich wieder der leise Tritt durch die Trümmer über den einsamen Hof. Ah, treues Herz, errathe ich die Erinnerung, welche Dich leitet? Ich trete durch das Pförtchen, gehe thalabwärts an den Lorbeerbäumen vorbei und erblicke das Antlitz, das zu den Sternen aufschaut – das Antlitz, das sich im Schmerze des Abschieds vor vielen, langen Jahren an meine Brust geschmiegt hatte? Auf dem Grabe, wo wir gesessen, ich als Jüngling, Du als Kind, dort erst, o Blanche, wird mir der Anblick Deiner Züge (schöner, als der lieblichste Traum, der jemals meine Verbannung erheitert) zu Theil!

»Blanche, mein Bäschen! wieder ist Seele mit Seele allein inmitten der Todten! Blick auf, Blanche, ich bin's!«


Viertes Kapitel.

Gehe zuerst hinein und bereite sie vor, liebe Blanche; ich will an der Thüre warten. Lasse sie angelehnt, damit ich hineinsehen kann.«

Roland steht mit dem Rücken gegen die Wand; über dem grauen Haupte des Kriegers ist eine alte Rüstung aufgehängt. Ich werfe nur einen einzigen Blick auf die dunkle Wange und die hohe Stirne – keine Veränderung zum Schlimmen, kein neues Zeichen von Abnahme. Roland scheint im Gegentheil eher jünger, als zur Zeit meiner Abreise. Seine Stirne ist ruhig – sie weiß nichts mehr von Schande; und die Lippen, einst so zusammengepreßt, lächeln mit Leichtigkeit – sie finden es nicht mehr schwer, »nicht zu klagen«, Der eine Blick zeigt mir dies alles.

» Papae!« sagt mein Vater, und ich höre das Fallen eines Buches. »Ich kann keine Zeile lesen. Morgen kömmt er – morgen! Wenn wir das Alter Methusalems erreichten, Kitty, so könnten wir doch nie den Menschen mit der Philosophie in Einklang bringen – das heißt, wenn der arme Mensch mit einem guten, liebevollen Sohne geplagt ist!«

Mein Vater steht auf und geht im Zimmer umher. Noch eine Minute, Vater – und ich liege an deiner Brust! Auch an Dir ist die Zeit schonend vorübergegangen, wie an Allen, für welch die Sense nicht geschärft ist durch wilde Leidenschaften und zehrende Weltsorgen. Die breite Stirne sieht etwas breiter aus, denn die Locken sind dünner und spärlicher geworden; doch noch immer keine Furche!

Woher kömmt dieser kurze Seufzer?

»Wie viel Uhr ist es, Blanche? Hast du nach der Thurmuhr gesehen? Du könntest wohl noch einmal hingehen und nachsehen.«

»Kitty,« bemerkte mein Vater, »Du hast nicht nur in den letzten zehn Minuten dreimal gefragt, wie viel Uhr es ist, sondern hast auch meine Taschenuhr, Rolands großen Chronometer und die Schwarzwälder Uhr aus der Küche vor Dir versammelt; und sie alle vereinigen sich, um dir dasselbe zu sagen – heute ist nicht morgen.«

»Ich weiß, sie gehen alle unrichtig« entgegnete meine Mutter mit milder Bestimmtheit; »sie sind nie richtig gegangen, seit er fort ist.«

Nun kömmt ein Brief heraus – denn ich höre das Rascheln – dann gleitet ein Tritt nach der Lampe hin, – und da ist es, das liebe, sanfte Frauengesicht – schön noch immer, schön für mich zu jeder Zeit – schön, wie damals, als es sich in meiner ersten Kinderkrankheit über mich beugte, oder als wir uns an sonnigen Nachmittagen mit Blumen auf der Wiese warfen!

Jetzt flüstert Blanche etwas und nun die Verwirrung, das Auffahren, der Ruf – »Es ist wahr! es ist wahr! Deine Arme, Mutter. Fest, fest um meinen Hals, wie in alten Zeiten. Vater! Roland! O Freude! Freude! Freude! Wieder in der Heimath – in der Heimath bis zum Tode!«


Fünftes Kapitel.

Aus einem Traume vom Buschland, heulenden Dingres Dingres – der Name, welchen die Eingeborenen Australiens den wilden Hunden geben. [ Anm.d.Verf.] und dem Kriegsgeschrei der Wilden erwachend, sehe ich die Sonne freundlich durch den Jasmin hereinscheinen, den Blanche selbst um das Fenster gezogen hat. Zierlich an den Wänden geordnet erblicke ich meine alten Schulbücher, Fischruthen, Ballrakete, Rappiere und die altmodische Flinte. Meine Mutter sitzt neben dem Bette, und Juba winselt und scharrt, um heraufzukommen. Habe ich Deinen gemurmelten Segen für den Kriegsruf der Schwarzen gehalten, meine Mutter, und Juba's leises Winseln für das Geheul der Dingres?

Und nun folgen Tage ruhigen, seligen Entzückens in dem Austausch zwischen Herz und Herzen! Wieder begleite ich Roland auf seinen Gängen, und wir sprechen von ihm, der, einst unsere Schande, jetzt unser Stolz ist. Und wie schlau der alte Mann es einzuleiten weiß, daß wir dabei das Dorf berühren, damit die guten Leute uns anreden und fragen mögen, ›was wir für Nachricht haben von seinen Ehren, ihrem tapfern jungen Herrn?‹

Ich bemühe mich, meinen Onkel für meine Plane zur Ausbesserung der Ruinen und zum Anbau der ausgedehnten Sumpf und Moorländer zu gewinnen. Warum aber wendet er sich ab und blickt verlegen zu Boden? Ah, ich errathe es! – sein wahrer, rechtmäßiger Erbe ist ihm jetzt wieder zurückgegeben. Er kann nicht gestatten, daß ich das Kapital, welches ich, wenn das große Buch einmal gedruckt ist, zu nichts Anderem mehr brauche, in ein Haus und in Ländereien stecke, die einst in den Besitz seines Sohnes übergehen. Ebenso wenig duldet er, daß ich das Vermögen dieses Sohnes, welches noch immer in meiner Verwaltung steht, dazu benütze. Allerdings kann es die Laufbahn meines Vetters mit sich bringen, daß er das Geld zu andern Zwecken bedarf. Aber ich, der ich keine Laufbahn habe – pah, die Bedenken könnten mir die Hälfte des Glückes rauben, welches mir so viele Jahre der Mühe und Arbeit erkaufen sollten. Ich muß suchen, die Sache auf andere Weise zu Wege zu bringen. Wie, wenn er mir Haus und Moorland in einem langen Kulturpacht überließe? Und was das Uebrige betrifft, so ist ein hübsches kleines Besitzthum ganz in der Nähe zu verkaufen, auf welches ich mich zurückziehen könnte, wenn mein Vetter, vielleicht mit einer Gattin, als Familienerbe zurückkehrt, um in dem Thurme zu wohnen. Ich muß mir dies alles überlegen und mit Bolt darüber sprechen, so bald mir das Glück des Wiedersehens Muße läßt, mich solchen Dingen zuzuwenden. Inzwischen halte ich mich an mein Lieblingssprüchwort – »Wo der Wille ist, fehlt auch das Mittel nicht.«

Wie mancher Tag ist ausgefüllt von dem sorglosen Geplauder mit meiner Mutter, die nicht müde wird, unter Lächeln und Thränen tausend Fragen an mich zu stellen! Gar zu gerne möchte sie wissen, ob ich im Busch nie mein Herz verloren – ich antworte ihr jedoch ausweichend zur Strafe dafür, daß sie mir nicht mitgetheilt, wie lieblich Blanche sich entwickelt habe.

»Ich vermuthete in Blanche das Ebenbild ihres Vaters wiederzufinden, der allerdings einen schönen Soldatenkopf hat, sich jedoch in Weiberkleidern nicht sehr vortheilhaft ausnehmen dürfte! Wie konntest du so schweigsam über einen so anziehenden Gegenstand sein?«

»Ich mußte es Blanche versprechen.«

Weßhalb? das möchte ich wissen! Und damit verfiel ich in Nachdenken.

Stille, frohe Stunden verbringe ich mit meinem Vater in seinem Studirzimmer oder an dem Teiche, wo er noch immer Karpfen füttert, die inzwischen zu wahren Leviathanen im genus cyprinus herangewachsen sind. Die Ente ist leider aus dem Leben geschieden – das einzige Opfer, welches der grimmige König gefordert hat; so traute ich zwar, ergebe mich jedoch willig in diese milde Einforderung des großen Tributs an die Natur.

Was das große Buch betrifft, so muß ich zu meinem Leidwesen sagen, daß es nur langsame Fortschritte gemacht hat und noch keineswegs reif für die Veröffentlichung ist; es soll nämlich nicht, wie früher beschlossen gewesen, in einzelnen Theilen, sondern totus, teres, atque rotundus Horaz, Satiren II, 7, V. 86: »in sich selbst vollständig glatt und gerundet«. erscheinen. Der Stoff hat sich weit über die ursprünglichen Grenzen hinaus erstreckt; nicht weniger, als fünf Bände – und diese sehr umfangreich – werden die Geschichte des menschlichen Irrthums enthalten. Wir sind jedoch schon am Ende des vierten, und man darf Minerva Minerva, griech. Athene: Schirmherrin der Künste und der Wissenschaften. nicht zur Eile antreiben.

Mein Vater ist entzückt über Onkel Jacks »hochherzige Handlungsweise«, wie er sich ausdrückt, macht mir jedoch Vorwürfe, daß ich das Geld genommen, und hat halb im Sinne, es wieder zurückzugeben. In solchen Dingen ist mein Vater ebenso quixotisch, wie Roland. Ich sehe mich gezwungen, meine Mutter als Schiedsrichterin herbeizurufen, und sie bereinigt die Sache schnell, indem sie sich an das Gefühl ihres Gatten wendet.

»Ah, Austin, liegt nicht eine Demüthigung für mich darin, wenn Du zu stolz bist, von meinem Bruder anzunehmen, was er Dir schuldig ist?«

» Velit, nolit, quod amicaEr stimmt in seinem Wollen oder Nichtwollen mit seiner Gefährtin überein. erwiederte mein Vater, indem er seine Brille abnahm und die Gläser putzte – »was heißen will, Kitty, daß, wenn ein Mann verheirathet ist, er keinen eigenen Willen mehr hat. Denken zu müssen,« setzte Mr. Caxton gedankenvoll hinzu, »daß man in dieser Welt nicht einmal mit der einfachsten mathematischen Definition sicher gehen kann! Du siehst, Pisistratus, die Winkel eines so entschieden schiefen Dreiecks, wie dasjenige Deines Onkels Jack, können doch am Ende denen eines rechtwinkligen gleich werden!« Da ich keine Gelegenheit haben werde, auf Onkel Jack zurückzukommen, so möge mir der Leser gestatten, ihn mittelst einer Anmerkung davon zu benachrichtigen, daß Jack fortfährt, überraschend gute Geschäfte in Australien zu machen, obgleich ›Tibbets Heil‹ aus Mangel an Arbeitern stille steht. Ungeachtet einiger Schwankungen habe ich bis zu dem gegenwärtigen Jahre (1849) nichts für seine ferneren Erfolge gefürchtet; nun aber zittere ich bei dem Gedanken, welche Wirkung die Entdeckung der Goldgruben in Californien auf seine lebhafte Einbildung ausüben wird. Wenn Du dieser Falle entgehst, Onkel Jack, res age, tutus eris, so bist du geborgen für Lebenszeit! [ Anm.d.Verf. – Das lateinische Zitat bedeutet: »Sei geschäftig, und du bist gerettet.«]

Die lange Entbehrung der Bücher hat alle meine Lust an denselben wieder hergestellt. Wie vieles habe ich nachzuholen! was für umfassende Pläne, zu lesen und zu studiren, haben wir, mein Vater und ich, nicht entworfen! ich sehe genug vor mir, um alle freie Zeit meines Lebens auszufüllen. Doch ich weiß selbst nicht, wie es zugeht, das Griechische und das Lateinische steht stille, und nichts hat einen größeren Zauber für mich, als das Italienische. Blanche und ich lesen den Metastasio Pietro Metastasio (1698-1782), italienischer Dichter und Librettist; seine Werke wurden u.a. von Gluck und Mozart komponiert. zur großen Entrüstung meines Vaters, welcher diese Lectüre »Unrath« nennt und Dante an deren Stelle setzen möchte. Ich habe jedoch im gegenwärtigen Augenblick keine Gemeinschaft mit den Seelen

» Che son contenti
Nel fuoco;
« Dante Alighieri, La Divina Commedia, Inferno I, 118f.: »die im Feuer zufrieden sind«.

ich gehöre bereits zu den » beate gente.« Aber trotz Metastasio ist der Verkehr zwischen Blanche und mir kein so vertraulicher und ungezwungenen wie er zwischen »Vettern und Bäschen« sein sollte. Sind wir zufällig allein beisammen, so werde ich so stumm, wie ein Türke, so förmlich, wie Sir Charles Grandison The History of Sir Charles Grandison (1753), Briefroman von Samuel Richardson., und neulich ließ ich mir sogar einfallen, sie Miß Blanche zu nennen!

Daß ich Dich nicht vergesse, ehrlicher Squills, noch Dein Entzücken über meine Gesundheit und meine Erfolge, noch Deinen Ausruf des Stolzes (indem Du die eine Hand auf meinen Puls legst und mit der andern die feste Muskulatur meines Armes untersuchst) – »dies rührt alles von meinem citronensauren Eisen her. Nichts Besseres für Kinder! Es wirkt auf die Gehirnentwicklung der Hoffnung und der Kampflust.« Auch die arme Mrs. Primmins darf ich nicht ganz übergehen; sie nennt mich noch immer Master Sisty und härmt sich fast zu Tode, weil ich die neuen Flanellleibchen nicht tragen will, welche sie mit so vieler Freude für mich gemacht hat. »Junge Gentlemen, im Wachsen begriffen, werden so leicht eine Beute der galoppirenden Schwindsucht!« »Sie kannte, als sie in Torquay lebte, einen jungen Mann, gerade wie Master Sisty, welcher dahinwelkte und auslöschte, wie ein glimmender Docht, nur, weil er kein Flanellleibchen tragen wollte.« Dabei macht meine Mutter ein ernstes Gesicht und sagt: »Man kann nicht zu vorsichtig sein.«

Plötzlich geräth die ganze Nachbarschaft in Bewegung. Trevanion – ich bitte um Entschuldigung – Lord Ulverstone kömmt, um seinen bleibenden Aufenthalt in Compton zu nehmen. Täglich sind fünfzig Hände beschäftigt, um Haus und Garten so schnell als möglich in Ordnung zu bringen. Pack- und andere Wagen haben alle die nothwendigen Dinge ausgeladen, deren ein großer Mann an dem Orte bedarf, wo er zu essen, zu trinken und zu schlafen gedenkt – Bücher, Weine, Bilder und Möbel. Auch hierin erkenne ich meinen alten Gönner wieder. Es ist ihm Ernst mit allem, was er thut. Mein Freund, der Gutsverwalter, sagt mir, Lord Ulverstone finde seinen Lieblingssitz bei London zu vielen Störungen ausgesetzt; überdies habe er dort alle Verbesserungen, welche sich durch Reichthum und Thatkraft erzielen lassen, vollendet, und daher weniger Gelegenheit, seinen landwirthschaftlichen Liebhabereien, welchen er immer mehr Interesse zuwende, obzuliegen, als auf dem großen und fürstlichen Besitzthum, welches bisher das Auge des Herrn entbehrt hatte.

»Er ist ein tüchtiger Farmer, so weit die Theorie geht,« bemerkt der Verwalter; »aber ich glaube nicht, daß wir hier im Norden von den vornehmen Herrn zu lernen brauchen, wie wir den Pflug führen müssen.«

Der Verwalter fühlt sich in seiner Würde verletzt; er ist jedoch ein ehrlicher Mensch und freut sich wirklich, seine Herrschaft nach dem alten Familiensitze zurückkehren zu sehen.

Sie sind angekommen – und mit ihnen die Castletons und eine ganze Schaar von Gästen. Die Grafschaftszeitung ist voll von vornehmen Namen.

»Warum in aller Welt gab sich Lord Ulverstone den Anschein, als wolle er lästigen Besuchen aus dem Wege gehen?«

»Mein lieber Pisistratus,« erwiedert mein Vater auf diesen Ausruf; »nicht die Besuche, welche kommen, sondern diejenigen, welche wegbleiben, stören am meisten die Ruhe eines abgetretenen Ministers. In der ganzen Procession sieht er nur die Bilder von Brutus und Cassius Die Häupter der Verschwörung gegen Cäsar, die zu dessen Ermordung führte. – welche nicht da sind! Zudem, verlasse Dich darauf, macht es nicht Lärm genug, sich so in die Nähe von London zurückzuziehen. Du siehst, ein abtretender Staatsmann gleicht jenem schönen Karpfen – je größer der Sprung aus dem Wasser, desto stärker ist das Geplätscher, mit dem er in das Schilf niederfällt! Doch,« fuhr Mr. Caxton in reuigem Tone fort, »dieses Scherzen ziemt uns nicht, und wenn ich mich dazu verleiten ließ, so geschah es nur, weil ich herzlich froh bin, daß Trevanion jetzt vielleicht seinen wahren Beruf erkennen wird. Sobald die vornehmen Leute, welche er mitbringt, wieder fort sind, und er allein in seiner Bibliothek ist, wird er sich, wie ich zuversichtlich hoffe, diesem Berufe zuwenden und glücklicher werden, als er bis jetzt gewesen.«

»Und dieser Beruf wäre –?«

»Die Metaphysik!« erwiederte mein Vater. »Er wird sich in Berkeley Siehe Anm. 6. ganz heimisch fühlen und Betrachtungen darüber anstellen, ob der Sprecherstuhl und die amtlichen rothen Logen wirklich Dinge sind, deren Begriffe von Form, Ausdehnung und Härte nur in der Einbildung bestehen. Es wird ihm ein großer Trost sein, mit Berkeley übereinzustimmen und zu finden, daß er nur durch wesenlose Phantasmen geneckt wurde!«

Mein Vater hatte vollkommen Recht. Der mißvergnügte, scharfsinnige, die Wahrheit auf das Strengste abwägende Trevanion, der sein Gewissen zwang, alle Seiten einer Frage in's Auge zu fassen (denn die unbedeutendste hat mehr als zwei Seiten und ist zum mindesten ein Sechseck), war viel geeigneter, den Ursprung der Begriffe zu erforschen, als Kabinete und Nationen zu überzeugen, daß zweimal zwei vier sei – ein Satz, in Betreff dessen er ohne Zweifel mit Abraham Tucker Siehe Anm. 206. einverstanden gewesen wäre, wenn dieser geistreichste und gedankenvollste aller englischen Metaphysiker bemerkt: »Obwohl ich überzeugt bin, daß zweimal zwei vier ist, so würde ich doch, wenn Jemand, dessen Achtbarkeit, Redlichkeit und Verständniß keinen Zweifel zuließe, die Wahrheit dieser Behauptung ernstlich in Frage stellen sollte, demselben Gehör schenken, denn die Sache ist mir nicht gewisser, als jene andere Behauptung, das Ganze sei größer als ein Theil. Und doch könnte ich selbst einige Bedenken anführen, welche die Richtigkeit dieser Annahme zu bestreiten scheinen« Licht der NaturAbschnitt über das Urtheil. – Vergleiche die sehr sinnreiche Beleuchtung des Zweifels, »ob der Theil größer sei, als das Ganze« – der Zeit oder vielmehr der Ewigkeit entnommen. [ Anm.d.Verf.] Ich kann mir Trevanion so gut vorstellen, wie er Jemand Gehör schenkt, von dessen »Achtbarkeit, Redlichkeit und Verständniß er überzeugt ist,« und der ihm die Unrichtigkeit des Satzes, daß zweimal zwei vier sei, zu beweisen sucht!

Die Kunde von der Ankunft meines alten Gönners und seiner Familie, Lady Castleton mit inbegriffen, versetzte mich in große Aufregung, und ich nahm häufig meine Zuflucht zu langen, einsamen Spaziergängen. Während einer dieser Wanderungen kamen sie Alle nach dem Thurme – Lord und Lady Ulverstone, die Castletons und ihre Kinder. So war ich diesem Besuch entgangen, und bei meiner Nachhausekunft verbot in Anbetracht alter Erinnerungen ein gewisses Zartgefühl meinen Eltern, in meiner Gegenwart viel von diesem wichtigen Ereigniß zu sprechen. Gleich mir hatte auch Roland sich ferne gehalten. Blanche, das arme Kind, welche nichts von den früheren Vorgängen wußte, war am mittheilsamsten und wählte als hauptsächlichstes Thema – Lady Castleton's Anmuth und Schönheit!

Eine dringende Einladung, einige Tage auf dem Schlosse zuzubringen, war in freundlichster Weise an uns Alle ergangen, doch nur ich nahm sie an und schrieb einige Zeilen, daß ich kommen würde.

Ja; ich sehnte mich, die Stärke meiner Selbstüberwindung zu beweisen und die Natur der Empfindungen, welche das Gleichgewicht meiner Seele gestört hatten, genau zu prüfen. Ich hielt es für eine moralische Unmöglichkeit, daß irgend ein Gefühl, welches Liebe genannt werden konnte, für Lady Castleton noch in mir lebe – für die Gattin eines Andern, und noch dazu eines Mannes, der so viele Ansprüche auf meine Zuneigung hatte. So lange jedoch all' die lebhaften Eindrücke der Jugend nicht aus meinem Herzen verwischt waren – so lange Fanny Trevanions Bild als des schönsten und herrlichsten aller menschlichen Wesen mir vorschwebte – konnte ich da die Freiheit fühlen, wieder zu lieben! Durfte ich daran denken, die ungetheilte, jungfräuliche Neigung einer Andern begehren und für immer an mich ketten zu wollen, während noch die Möglichkeit vorhanden war, daß ich vergleichen und bereuen könnte? Nein; entweder mußte ich fühlen, daß Fanny selbst wenn sie noch unvermählt wäre und mir ohne menschliches oder göttliches Hinderniß angehören könnte, aufgehört habe, die Einzige zu sein, welche ich in der Welt auszeichnen würde, oder ich wollte, obgleich ich die Liebe als erstorben betrachten musste, doch in der Erinnerung auch noch ihrer Asche die Treue bewahren. Meine Mutter seufzte und ließ an dem Morgen des Tages, an welchem ich nach Compton gehen sollte, eine große Unruhe blicken. Sie schien sogar – ungefähr zum dritten Mal in ihrem Leben – ärgerlich zu sein und hatte kein Kompliment für Mr. Stultz, als ich mein Jagdwamms gegen einen schwarzen Frack vertauschte, welchen dieser Künstler für »tadellos« erklärt hatte; eben so wenig beehrte sie mich mit jenen kleinen Aufmerksamkeiten in Betreff des Inhalts meines Reisesacks und mit jener Sorge für meine weißen Westen und Halsbinden, die ich sonst von ihrer natürlichen Gabe bei so denkwürdigen Veranlassungen gewohnt war. Endlich lag in ihrem Ton, wenn sie mit Blanche sprach, eine Art klagender, mitleidsvoller Zärtlichkeit, deren Ursache jedoch glücklicher Weise der Fassungskraft des unschuldigen Wesens verborgen blieb, welches nicht sehen konnte, wo am Quell des Lebens die Vergangenheit die Urnen der Zukunft füllte. Mein Vater verstand mich besser. Als ich in den Wagen stieg, drückte er mir die Hand und murmelte die Worte des Seneca –

» Non tanquam transfuga, sed tanquam explorator!« »Nicht als Ueberläufer, sondern um zu erforschen.«

Ganz richtig!


Sechstes Kapitel.

Nach der gewöhnlichen Sitte vornehmer Häuser wurde ich gleich nach meiner Ankunft in Compton auf mein Zimmer geführt, um meinen Anzug zu ordnen oder mich in der Einsamkeit in die gehörige Stimmung zu versetzen. Es fehlte noch eine Stunde bis zum Diner. Ich war jedoch keine zehn Minuten allein geblieben, als die Thüre aufging und Trevanion selbst – wie ich ihn noch immer nennen möchte – vor mir stand. Nachdem er mich überaus herzlich begrüßt und willkommen geheißen, setzte er sich an meine Seite und fuhr fort, in seiner eigenthümlichen, derb beredten und nachlässig gelehrten Weise bis zum ersten Tischläuten zu sprechen: von Australien und dem Wakefield-System – von der Viehzucht – von Büchern – von der Mühe, welche ihm das Ordnen seiner Bibliothek verursachte – von seinen Entwürfen zu Verbesserung seiner Güter und zu Verschönerung seines Gartens – von seiner Freude, meinen Vater so gut aussehen zu finden, und von seinem Entschluß, recht viel mit ihm zusammen zu können, möge sein alter Universitätsfreund wollen oder nicht – kurz von allem, nur nicht von der Politik und seiner eigenen früherer Laufbahn, seine schmerzlichen Empfindungen durch eben dieses Schweigen verrathend. Allein abgesehen von den bloßen Wirkungen der Jahre, erschien er mir noch matter und erschöpfter in seiner Muße, als er in dem vollen Strom des Geschäftslebens gewesen, und die frühere rasche Lebhaftigkeit seines Wesens streifte nun an fieberhafte Aufregung. Ich hoffte in der That, mein Vater werde viel mit ihm zusammen kommen, denn ich fühlte, daß dieser müde Geist der Beruhigung bedürfe.

Es läutete eben zum zweiten Mal, als ich in das Besuchzimmer trat. Es waren wenigstens zwanzig Gäste anwesend – ohne Zweifel jeder ein Planet in der Welt des Ruhmes oder der Mode, der wieder seine eigenen Trabanten hatte. Ich sah jedoch nur zwei Gestalten deutlich – zuerst Lord Castleton mit Stern und Hosenbandorden – etwas stärker und stattlicher von Gestalt und mit einem unverhohlenen Anflug von Grau in den seidenen Locken seines Haares, aber noch immer gleich ausgezeichnet durch jene Schönheit, deren Zauber weniger als jeder andere von der Jugend abhängt, indem er von einem glücklichen Zusammenwirken der Haltung und des Benehmens und von jener ungemeinen Lieblichkeit des Ausdrucks herrührt, welche ihren Weg zum Herzen des Beschauers findet und in einem Grade anspricht, daß demselben die Bewunderung zu einer Lust wird. Von Lord Castleton ließ sich in Wahrheit, wie von Alcibiades Bedeutender athenischer Staatsmann, Redner und Feldherr (451-404 v.u.Z.); Platon schildert im »Symposion« Alkibiades' Verhältnis zu Sokrates, der in jenen aufgrund seiner körperlichen Vorzüge sehr verliebt war., sagen, er sei ›schön in jeden Alter‹. Mein Athem stockte, und ein Nebel trat mir vor die Augen, als mich Lord Castleton durch die Reihen der Geiste führte, und Fanny Trevanion – wie verändert und doch wie blendend – in strahlender Schönheit vor mir stand.

Ich fühlte die leichte Berührung jener schneeigen Hand, allein kein sündiger Schauer rieselte durch meine Adern. Ich hörte die Stimme – melodisch, wie immer, leiser und gedämpfter in ihrem Tone als früher, aber fest und ohne Beben – es war nicht länger die Stimme, welche »meine Seele in das Ohr verpflanzte« Sir Philipp Sidney. [ Anm.d.Verf. – Aus: The Countess of Pembroke's Arcadia. (1655) Sonett 77.]. Das Ereigniß war vorüber, und ich wußte, daß der Traum für immer aus der wachenden Welt entflohen war.

»Noch eine alte Freundin!« sagte Lady Ulverstone, als sie eine kleine Gruppe von Kindern verließ und einen schönen Knaben von neun Jahren an der Hand herbeiführte, während ein anderer, der zwei oder drei Jahre jünger sein mochte, sich an ihrem Gewande festhielt. »Noch eine alte Freundin! – und,« fügte sie nach den ersten freundlichen Begrüßungen bei, »zwei neue Freunde, wenn die alten fort sind.«

Die leichte Melancholie wich aus ihrer Stimme, als sie mir den kleinen Viscount vorgestellt hatte und nun den verschämteren Lord Albert heranzog; um Stirne und Augen erkannte ich in der That etwas von dem feinen, geistvollen Ausdruck seines Großvaters, dessen Namen er trug.

Lord Castleton's wachsamer Takt war schnell bereit, jedweder Verlegenheit ein Ende zu machen, welche diese Vorstellungen mit sich bringen konnten. Er stützte sich leicht auf meinen Arm, zog mich vorwärts und machte mich mit den Gästen bekannt, die mehr zu unserer unmittelbareren Nachbarschaft gehörten und, nach ihrer warmen Herzlichkeit zu schließen, bereits auf meine Einführung vorbereitet schienen.

Man ging jetzt zu Tische und ich erfreute mich des Gefühls der Erleichterung und Absonderung, mit welchem man in einer großen, gemischten Gesellschaft auf seinem eigenen Stuhle Platz nimmt.

Ich blieb drei Tage in Compton. Wie wahr hatte Trevanion von Fanny gesagt, »sie werde eine vortreffliche große Dame sein.« In welch' vollkommenem Einklang stand ihr Benehmen mit ihrer Stellung! Sie hatte von der verführerischen Heiterkeit und bezaubernden Gefallsucht des Mädchens eben genug beibehalten, in die neue Würde der Haltung, die sie unbewußt angenommen – weniger vielleicht als große Dame, denn als Gattin und Mutter – zu mildern, und verband damit jene feine Bildung, die nur im Vergleich mit derjenigen ihres Gatten, die frisch und gesund der Natur entsprang, etwas matt und erkünstelt erschien, von jener erkältenden Herablassung und feinen Unverschämtheit jedoch nichts wußte, welche man so häufig bei den sogenannten »Exclusiven« des niederen Adels findet. Mit welcher Anmuth, frei von alle Ziererei, nahm sie die Schmeicheleien der Umstehenden hin, um sich sodann von ihnen ab zu ihren Kindern zu wenden, oder mit ruhiger Sicherheit an Lord Castleton's Seite zu entfliehen!

Und unbestreitbar war Lady Castleton weit schöner, als es Fanny Trevanion je gewesen.

Alles dieses erkannte ich – nicht mit einem schmerzlichen Seufzer, sondern mit einem reinen Gefühl des Stolzes und des Entzückens. Ich hatte vielleicht thöricht und anmaßend geliebt, wie Knaben zu thun pflegen – allein ich hatte nicht unwürdig geliebt; ich brauchte mich als Mann dieser Liebe nicht zu schämen, und Fanny's Glück heilte vollständig jede Wunde meines Herzens, die nicht vorher schon vernarbt gewesen war. Hätte sie in der Verbindung, welche sie eingegangen, keine Befriedigung und keine Freude gefunden, so wäre ich der Gefahr, über die Vergangenheit zu brüten und den Verlust meines Ideals zu betrauern, mehr ausgesetzt gewesen. Davon war nun aber nicht die Rede; und in der That hatte die Ausbildung ihrer Schönheit den Charakter derselben so sehr verändert, daß Fanny Trevanion und Lady Castleton zwei verschiedene Personen zu sein schienen. Indem ich sie betrachtete und ihr zuhörte, konnte ich leidenschaftslos die Verschiedenheit unserer Charaktere wahrnehmen, welche Trevanion's Behauptung, die mir einst so ungeheuerlich vorgekommen, rechtfertigte, »wir würden nicht glücklich sein, wenn auch das Schicksal unsere Verbindung gestattete.« Obgleich sie in der erkünstelten Welt die Einfachheit und Reinheit ihres Herzens bewahrt hatte, so war doch diese Welt ihr Element; die Interessen derselben beschäftigten sie, und ihr Treiben bildete den Gegenstand ihrer Unterhaltung, wenn sie es auch verschmähte, ihre Skandalgeschichten in dieselbe aufzunehmen. Um mich der Worte eines Mannes zu bedienen, der selbst ein Höfling war und so hoch stand, daß er es wagen durfte, über Chesterfield zu spotten Lord Hervey's Memoiren Georgs II. [ Anm.d.Verf. – John Hervey, 2nd Baron Hervey (1696-1743); seine Memoirs of the Court of George II, herausgegeben von John Wilson Croker, erschienen erst 1848] – »Sie besaß die Routine jenes Styls der Unterhaltung, welche ich eine Art goldenes Laub nennen möchte, das heißt, eine große Verschönerung, wenn es etwas Anderem beigefügt ist.« Ich will nicht hinzusetzen, »obschon es für sich selbst eine sehr dürftige Figur macht,« – denn dies konnte man von Lady Castleton's Unterhaltung gewiß nicht sagen – vielleicht eben, weil sie nicht »für sich selbst« dastand – und das goldene Laub war glücklicher Weise so dünn und durchsichtig, daß es nicht einmal die Oberfläche der sanften und liebenswürdigen Natur, über welcher es sich ausbreitete, zu bedecken vermochte. Gleichwohl war dies nicht der Geist, in welchem ich jetzt bei gereifterer Erfahrung Sympathie mit männlicher Thätigkeit oder Theilnahme an dem Zauber intellektueller Muße suchen würde.

Ich bemerkte an diesem schönen Liebling der Natur und des Glückes eine gewisse Hülflosigkeit, welche in jener hohen Stellung nicht ohne Anmuth war und vielleicht dazu beitrug, Fanny's häuslichen Frieden zu sichern, indem sie zum Glück von der liebevollsten Sinnesart begleitet war und dazu diente, sie an diejenigen zu fesseln, welche Einfluß über sie gewonnen hatten. Wäre jedoch Fanny weniger von den Umständen begünstigt gewesen und weniger geschützt vor jedem rauhen Winde, der sie berühren konnte – hätte sie als die Gattin eines Mannes von untergeordnetem Rang den hohen Sitz und seidenen Baldachin entbehren müssen, welche den verwöhnten Lieblingen des Glücks vorbehalten sind, so wäre vielleicht diese Hülflosigkeit in eine klagende Unzufriedenheit ausgeartet. Ich gedachte der armen Ellen Bolding und ihrer seidenen Schuhe. Fanny Trevanion schien mit seidenen Schuhen in die Welt gekommen zu sein – nicht um da zu gehen, wo Gestrüpp und Steine sich befanden! Aus dem Geplauder meiner Umgebung entnahm ich etwas, das meine Ansicht von Lady Castleton's Charakter bestätigte, während es zugleich meine Bewunderung für ihren Gatten erhöhte und mir zeigte, wie weise ihre Wahl gewesen, und wie entschlossen er sich darauf vorbereitet hatte, die seinige zu rechtfertigen.

Eines Abends saß ich etwas entfernt von den Uebrigen bei zwei Gentlemen aus der Londoner Welt und hörte stillschweigend ihren Gesprächen zu, welche die on dits Gerüchte. und die Anekdoten aus jenen Kreisen, denen ich lange fremd gewesen, zum Gegenstand hatten.

»Ich kann mir in der That kein trefflicheres Geschöpf denken, als Lady Castleton,« begann der eine der beiden Herrn – »so zärtlich gegen ihre Kinder – und ihr Ton gegen Castleton so ganz, wie er sein sollte – so liebevoll und doch beinahe ehrerbietig. Und um so mehr Ruhm gebührt ihr dafür, wenn es richtig ist, was man sagt, daß sie ihn nicht aus Liebe geheirathet (so hübsch er auch ist, so ist er doch allerdings zweimal so alt, wie sie!). Zudem ist keine Frau so sehr von schmeichelnden Lotharios Figur des berüchtigten Verführers in The Fair Penitent (1703), einer Tragödie von Nicholas Rowe. und Damenmördern So wurde damals allenthalben » lady-killer« (Frauenheld) übersetzt. umschwärmt worden, wie Lady Castleton. Ich gestehe zu meiner Beschämung, daß Castleton's Glück mich in Erstaunen setzt, denn es bildet eine Ausnahme zu meinen allgemeinen Erfahrungen.«

»Mein lieber ***,« entgegnete der Andere, einer von jenen weisen Lebemännern, über die wir uns gelegentlich wundern müssen, wie sie bei so vielem Verstande mit einer bloßen Salonberühmtheit sich begnügen mögen – Männer, welche stets müßig zu sein scheinen und doch alles gelesen haben, gegen das, was vor ihren Augen vorgeht, immer gleichgültig sich zeigen und doch den Charakter jedes Einzelnen kennen und seine Geheimnisse errathen – »mein lieber ***,« sagte der Gentleman, »Sie würden nicht staunen, wenn Sie statt Lady Castleton deren Gemahl studirt hätten. Von allen Eroberungen, die Sedley Beaudesert jemals gemacht, um dessen Gunst die zwei schönsten Damen des Faubourg im Bois de Boulogne sich geschlagen haben sollen, kostete ihn keine so viele Mühe, und stellte seine Kenntniß des weiblichen Geschlechts auf eine so schwere Probe, als die Eroberung seiner eigenen Gattin nach der Verheirathung! Er begnügte sich nicht mit ihrer Hand, er wollte ihr ganzes Herz besitzen – und es ist ihm in der That gelungen! Nie war ein Gatte so wachsam und dabei so wenig eifersüchtig – so voll hochherzigen Vertrauens in seine Frau und doch so schnell bereit, sie zu schirmen und zu schützen, wenn sie schwach war! Als im zweiten Jahre seiner Ehe jener gefährliche deutsche Prinz von Leibenfels Lady Castleton so beharrlich mit seinen Aufmerksamkeiten verfolgte, und die Skandalfreunde in der Hoffnung eines Opfers bereits die Ohren spitzten, beobachtete ich Castleton mit eben so viel Interesse, als schaute ich Deschappelles Alexandre Deschapelles (1780-1847), französischer Schachmeister. beim Schachspiel zu. Sie sahen niemals etwas Meisterhafteres. Er zeigte seiner Hoheit gegenüber die ruhige Zuversicht nicht eines blinden Gatten, sondern eines glücklichen Nebenbuhlers, überbot ihn in der Zartheit seiner Aufmerksamkeiten und drängte ihn durch seine sorglose Pracht völlig in den Schatten. Leibenfels hatte die Unverschämtheit, Lady Castleton ein Bouquet von seltenen Blumen, die eben in der Mode waren, zu senden. Eine Stunde vorher hatte Castleton ihren ganzen Balkon mit denselben kostbaren ausländischen Pflanzen angefüllt, als wären sie zu gemein, um in ein Bouquet gebunden zu werden, und nur eben werth, einen Tag für sie zu blühen. So jung und wirklich gebildet Leibenfels auch ist, verdunkelte ihn Castleton doch durch seine Anmuth und seinen Verstand; er legte ihm kleine Fallen, um seinen Schnurrbart und seine Guitarre lächerlich zu machen, veranlaßte ihn, an einer Hetzjagd Theil zu nehmen (obgleich Castleton selbst seit seinem dreißigsten Jahre nicht mehr gejagt hatte), und zog den fluchenden Deutschen mit Schlamm überzogen aus einem Graben. Er machte ihn zum Gespötte der Clubs und brachte ihn vollständig aus der Mode – und alles dies mit so viel Höflichkeit, Liebenswürdigkeit und ruhigem Ueberlegenheitsgefühl, daß Sie niemals ein feineres Stück Komödie spielen sahen. Der arme Prinz, der geckenhaft genug gewesen, mit einem Franzosen über seinen Erfolg bei den englischen Damen im Allgemeinen und bei Lady Castleton im Besondern eine Wette einzugehen, zog mit einem so langen Gesichte ab, wie das des Don Quixote. Sie hätten ihn an dem Abend, ehe er unsere Insel verließ, in S–house sehen sollen, und seine komische Grimasse, als ihm Castleton eine Prise der Beaudesertmischung anbot! Nein, Castleton hat es zur Aufgabe seines Lebens gemacht, eine glückliche Heimath und den alleinigen Besitz des Herzens seiner Gattin sich zu sichern – und dieses Meisterstück seiner Kunst ist ihm, wie gesagt, vollständig gelungen, Die ersten zwei oder drei Jahre, fürchte ich, kosteten ihn mehr Mühe, als sich je ein anderer Mann, wenigstens mit seiner eigenen Frau, gegeben hat; jetzt aber kann er im Frieden ruhen – Lady Castleton ist gewonnen, und für immer gewonnen!«

Als mein Gentleman eben zu sprechen geendet, erhob sich Lord Castleton's edler Kopf über der Gruppe der ihn Umringenden; ich sah, wie Lady Castleton mit einem Ausdruck des Ueberdrusses ihren Blick von einem hübschen jungen Gecken abwandte, der seine Stimme während des Sprechens mit ihr zu dämpfen gesucht hatte, und, den Augen ihres Gatten begegnend, sprach sich plötzlich in jenem Blicke so unverkennbar die Liebe und der Stolz einer glücklichen Frau aus, daß er eine Antwort auf die Versicherung zu sein schien – »Lady Castleton ist gewonnen, und für immer gewonnen!«

Ja, diese Erzählung erhöhte meine Bewunderung für Lord Castleton; sie zeigte mir, mit welchem Vorbedacht und mit welch' ernstem Gefühl seiner Verantwortlichkeit er die Sorge für ein Leben, die Leitung eines noch unentwickelten Charakters übernommen hatte; sie sprach ihn für immer frei von dem Vorwurf der Leichtfertigkeit, deren man Sedley Beaudesert beschuldigt hatte. Zugleich aber fühlte ich mich mehr als je befriedigt darüber, daß diese Aufgabe einem Manne zu Theil geworden, dessen Temperament und Erfahrung ihn so ganz befähigten, dieselbe zu erfüllen. Der Gedanke an diesen deutschen Prinzen machte mich zittern, sowohl aus Theilnahme für den Gatten, als in einer Art Schauder für mich selbst. Wäre diese Episode mir begegnet, so hätte ich niemals »ein Stück Komödie« daraus machen und den fünften Act so glücklich mit einer Prise der Beaudesertmischung schließen können! Nein, nein, für meine einfachen Begriffe von dem Leben und der Beschäftigung eines Mannes lag nichts Verlockendes in der Aussicht, den goldenen Baum im Garten zu bewachen mit einem »Wehe dem Argus, wenn es dem Merkur In den »Metamorphosen« erzählt Ovid, wie Jupiter den Götterboten Merkur aussandte, um Argus zu töten. Jener hielt auf Geheiß Junos, der eifersüchtigen Gemahlin Jupiters, die in eine Kuh verwandelte Geliebte des Göttergatten gefangen. Er bewachte sie mit ›Argusaugen‹, um weitere Schäferstündchen zu verhindern. Merkur gelang es, Argus mit seinem Flötenspiel einzuschläfern, und konnte so den Schlafenden töten. ein einziges Mal gelingt, ihn einzuschläfern!« Meine Gattin soll keines Bewachens bedürfen, es sei denn in Krankheit und Leiden! Dem Himmel sei Dank, daß mich mein Lebensweg nicht auf die rosigen Pfade führt, wo deutsche Prinzen auf meinen Untergang wetten, und feine Gentlemen die Geschicklichkeit bewundern, mit der ich um einen solchen Einsatz Schach spiele! Jedem Rang und jedem Temperament seine eigenen Gesetze. Ich gebe zu, daß Fanny eine vortreffliche Marquise und Lord Castleton ein unvergleichlicher Marquis ist. Aber, Blanche, wenn es mir gelingt, Dein treues, einfaches Herz zu gewinnen, so hoffe ich, mit dem fünften Act der Komödie beginnen und am Altare sagen zu können –

»Einmal gewonnen – für immer gewonnen!«


Siebentes Kapitel.

Ich ritt auf einem Pferde Lord Ulverstone's nach Hause, und Lord Castleton begleitete mich einen Theil des Weges mit seine beiden Knaben, welche mannhaft auf ihren schetländischen Ponies saßen und vor uns hertrabten.

Auf ein Kompliment, welches ich dem Marquis über den Geist und Verstand dieser Kinder gemacht – ein Kompliment, daß sie wohl verdienten – erwiederte jener mit dem geziemenden Stolze eines Vaters:

»Nun, ich hoffe, keiner von ihnen wird seinem Großvater Trevanion Schande machen. Albert (obgleich nicht ganz in Wunder, für welches die arme Lady Ulverstone ihn erklärt) ist etwas zu früh reif, und ich habe Mühe, zu verhindern, daß er durch die Schmeicheleien auf seinen Verstand nicht verdorben wird. Diese sind meiner Ansicht nach noch schlimmer als jene, welche man dem Range zollt – eine Gefahr, der der ältere Bruder mehr ausgesetzt ist, trotz des Erbes, das Albert zu erwarten hat. Für den gemeineren Dünkel des Ranges ist Eton ein sicheres Heilmittel. Ich erinnere mich, wie Lord – (Sie wissen, was für ein anspruchsloser, gutmüthiger Mensch er jetzt ist) als ungeleckter, Junge, das Kinn hoch in der Luft tragend, auf den Spielplatz stolzirte und Dick Johnson mit der Frage auf ihn zutrat: ›Nun Herr, wer zum Henker sind Sie?‹ ›Lord –‹, sagt der arme Teufel in seiner Unschuld, ›ältester Sohn des Marquis von –‹ ›O, wirklich!‹ ruft Johnson, ›dann ist hier ein Fußtritt für den Lord, und zwei für den Marquis!‹ Obwohl ich kein Freund von Treten bin, so glaube ich doch, daß nicht leicht etwas bessere Dienste that, als diese drei Fußtritte! Aber,« fuhr Lord Castleton fort, »wenn man einem Knaben wegen seines Verstandes schmeichelt, so vermag nicht einmal Eton, den Dünkel aus ihm hinauszuklopfen. Mag er der Letzte in der Klasse und der größte Dummkopf sein, der je die Ruthe kostete, immer wird es Leute geben, welche erklären, die öffentlichen Schulen taugen nicht für die Entwicklung eines großen Genies, und in den meisten Fällen läßt man dem Vater keine Ruhe, bis er den Knaben nach Hause nimmt und ihm einen Hofmeister gibt, der einen Fant für Lebenszeit aus ihm macht. Ein Geck im Anzug,« sagte der Marquis lächelnd, »ist ein Tändler, welchen zu verdammen mir übel anstehen würde, und ich läugne nicht, daß mir ein Zierbengel noch lieber ist, als ein Schmutzmichel; aber ein Geck in Ideen – wahrhaftig, je jünger er ist, desto unnatürlicher und unangenehmer erscheint er mir. – Nun, Albert – über diese Hecke, mein Junge!«

»Ueber diese Hecke, Papa? Das wird das Pony nicht können.«

»Dann fürchte ich,« sagte Lord Castleton, indem er höflich seinen Hut abnahm, »daß wir auf das Vergnügen Deiner Gesellschaft verzichten müssen.«

Der Knabe lachte und nahm einen tapfern Anlauf nach der Hecke, obwohl nicht ohne einige Angst, denn ich bemerkte, daß er die Farbe wechselte. Das Pony konnte nicht über die Hecke setzen, besaß jedoch Takt genug, sich auf andere Weise zu helfen, und kletterte über dieselbe hinweg, wie eine Katze, wobei des jungen Reiters raphaelblaues Jäckchen verschiedene Risse davon trug.

»Sie sehen,« bemerkte Lord Castleton lächelnd, »die Knaben müssen bei Zeiten lernen, eine Schwierigkeit auf die eine oder die andere Weise zu überwinden. Unter uns gesagt,« fügte er ernst hinzu, »ich sehe eine ganz andere Welt für die nächste Generation erstehen, als diejenige war, in welcher ich zuerst als Jüngling meine Freuden suchte. Ich werde meine Söhne demgemäß erziehen. Reiche Edelleute müssen heut zu Tage nützliche Menschen sein, und wenn sie nicht über Hecken springen können, so müssen sie sich durch Klettern helfen. Stimmen Sie nicht mit mir überein?«

»Von ganzen, Herzen.«

»Die Ehe macht einen Mann um vieles weiser,« fuhr der Marquis nach einer Pause fort. »Ich lächle jetzt darüber, wenn ich mir vergegenwärtige, wie oft ich bei dem Gedanken an das Aelterwerden seufzte. Ich versöhne mich mit den grauen Haaren, ohne eine Perrücke im Hintergrund zu sehen, und erfreue mich noch immer der Jugend, denn (auf seine Söhne deutend) sie ist hier

   

»Er hat nun das Geheimniß des Saffransacks nahezu gefunden,« sagte mein Vater, indem er sich vergnügt die Hände rieb, als ich ihm dieses Gespräch mit Lord Castleton erzählte. »Der arme Trevanion aber,« setzte er hinzu, während seine Züge einen mitleidsvollen Ausdruck annahmen, »ist, wie ich fürchte, noch weit entfernt, den Sinn von Lord Bacon's Rezept Siehe das zweite Kapitel des sechsten Abschnitts. zu erfassen. Und nach dem, was Du sagst, schlägt seine Gattin aus reiner Liebe zu ihm fortwährend die eine mißtönige Saite an.«

»Du mußt mit ihr sprechen, Vater.«

»Das will ich« entgegnete mein Vater unmuthig; »und nicht nur mit ihr sprechen will ich, sondern ihr auch ganz rückhaltslos ihr Unrecht vorhalten. Thörichte Frau! Ich werde ihr sagen, was Luther dem Fürsten von Anhalt gerathen hat.«

»Und worin bestand Luther's Rath, Vater?«

»Ein Kind in den Fluß zu werfen, welches außer der Mutter fünf Ammen ausgesogen hatte und deßhalb nothwendig ein Wechselbalg sein müsse. In der That, ihr Ehrgeiz wäre im Stande, alle Muttermilch in dem genus mammalium aufzuzehren. Und noch dazu ein so welker, verkrüppelter, boshafter kleiner Wechselbalg! Bei allem, was heilig ist, sie soll ihn in's Wasser werfen!« rief mein Vater, und, die That dem Worte folgen lassend, flog die Brille, welche er während der letzten drei Minuten in großer Entrüstung geputzt hatte, in den Teich, »Papae!« stotterte mein Vater erschrocken, während die Cypriniden, welche das Eintauchen der Brille irrthümlich für eine Einladung zur Mahlzeit hielten, eilig an das Ufer geschwommen kamen.

»Das ist Deine Schuld,« sagte Mr. Caxton, sich wieder fassend. »Hole mir die neue Brille mit dem Schildpatt-Gestell und ein großes Stück Brod. Du siehst, wenn Fische auf einen Teich beschränkt sind, so erkennen sie einen Wohlthäter als solchen, was nie der Fall ist, wenn sie in der weiten Welt eines Flusses nach Fliegen oder Würmern schnappen. Hm! – ein Wink für die Ulverstones. Außer dem Brod und der Brille könntest Du mir auch die alte Abschrift der Fischpredigt des heiligen Antonius Der Legende nach scheiterte Antonius bei einem Versuch, Irrgläubige durch sein Predigen zu bekehren, und wandte sich deshalb an die Fische, die ihm in großer Zahl andächtig lauschten, so dass am Ende auch die Irrgläubigen überzeugt werden konnten. mitbringen.«


Achtes Kapitel.

Einige Wochen sind seit meiner Rückkehr nach dem Thurme verflossen, und Castletons, sowie alle andern heiteren Gäste haben Trevanion verlassen. Seitdem sind häufige Besuche zwischen den beiden Häusern gewechselt worden, und der Verkehr wird immer inniger und vertraulicher. Zweimal hat mein Vater lange allein mit Lady Ulverstone gesprochen (meine Mutter ist nicht so thöricht, sich dadurch beängstigen zu lassen), und der Erfolg dieser Unterredungen ist schon zu Tag getreten. Lady Ulverstone hat aufgehört, sich gegen die Welt und das Publikum zu ereifern und den gekränkten Stolz ihres Gatten durch aufregende Theilnahme zu nähren. Sie ist die treue Genossin seiner jetzigen Beschäftigungen, wie sie es bei den früheren gewesen, und interessirt sich für Landwirthschaft, Gartenbau, Blumen und die philosophischen Pfirsiche von den akademischen Bäumen, welche Sir William Temple Sir William Temple (1628-1699), englischer Staatsmann und Schriftsteller; er erwarb Compton Hall, das er in Moor Park umbenannte, nach dem von ihm bewunderten Herrschaftssitz in Hertfordshire, nach dem er auch die Gärten in Farnham umgestaltete. in seiner anmuthigen Abgeschiedenheit herangezogen hat. Sie thut noch mehr – sie sitzt an ihres Gatten Seite in der Bibliothek, liest die Bücher, die er liest, oder beredet ihn, wenn sie lateinisch sind, sie ihr zu übersetzen. Unmerklich lenkt sie, den Winken meines Vaters folgend, seine Studien von den Blaubüchern ab und

»Lockt ihn ihr nach in schön're Welten.« Aus: The Deserted Village. A Poem (1770) von Oliver Goldsmith.

Sie sind unzertrennlich. Man sieht sie zusammen in der Bibliothek, im Garten oder in dem bescheidenen kleinen Pony-Phaeton, gegen welchen Lord Ulverstone den feurigen Hengst, der einst so gut dem eifrigen, geschäftigen Trevanion gepaßt, vertauscht hat. Ein rührend schöner Anblick! Welch' einen Sieg über sich selbst muß die stolze Frau errungen haben! – nie ein Gedanke, der zu murren scheint, nie ein Wort, das den ehrgeizigen Mann von der Philosophie zurückrufen könnte, in welche sich sein regsamer Geist Zuflucht suchend, versenkt hat. Und dabei ist ihre Stirne so heiter geworden; der Ausdruck von Sorge und Kummer, den ihre feinen Züge einst getragen, verschwindet mehr und mehr.

Was mich aber am meisten bewegt, ist der Gedanke, daß diese Veränderung (welche bereits Glück und Zufriedenheit im Gefolge hat) durch Austins Rath und durch seine Berufung an ihren Verstand und an ihre Liebe herbeigeführt wurde.

»Bei Ihnen,« sagte er, »muß Trevanion nicht nur Trost, sondern Heiterkeit und Zufriedenheit finden. Ihr Kind ist ferne von Ihnen – die Welt fluthet dahin – Sie beide müssen sich alles in allem sein.«

So trafen diejenigen, welche in der Jugend getrennt wurden, und deren Wege so weit auseinander führten, am Abend des Lebens wieder zusammen. Dort, auf demselben Schauplatze, wo Austin und Ellinor sich zuerst kennen gelernt hatten, half er ihr nun, die Wunden zu heilen, welche der Ehrgeiz, der einst ihre Geschicke trennte, geschlagen, und die Bemühungen Beider vereinigten sich, das Glück des begünstigten Nebenbuhlers zu sichern.

Nach all' der Mühe, der Sorge und dem Ehrgeiz eines vielangefochtenen öffentlichen Lebens Trevanion und Ellinor zu sehen, wie sie immer inniger an einander sich anschließen und den Zauber des häuslichen Lebens zum ersten Mal kennen lernen – wahrlich, dies wäre ein Thema, würdig eines Elegien-Dichters, wie Tibull.

Inzwischen aber hat die schöne Sommerzeit eine jüngere Liebe, aus deren Tagebuch keine befleckten Blätter auszutilgen sind, zur Reife gebracht. »Zwei Herzen ohne Arg finden sich, leicht zusammen,« sagt ein Sprüchwort, welches bis auf Confucius zurückgeführt wird. O ihr Tage stillen, sonnigen Lichtes – ihr Orte, mir für immer theuer geworden durch einen Blick, ein Wort, ein Lächeln oder ein entzücktes Schweigen, da mit jeder Stunde mehr und mehr jenes Wesen vor mir sich entfaltete, so zärtlich bei aller Schüchternheit und Zurückhaltung, so heiter bei allem Ernste, durch einfache Sorgen so harmonisch gestimmt für häusliches Glück und dennoch durch Einsamkeit und stilles Nachsinnen mit einer Poesie erfüllt, welche das Alltägliche des Lebens in Musik zu setzen schien und auch der gewöhnlichsten Pflichterfüllung Anmuth verlieh!

Hier trafen Natur und Glück zusammen: Gleichheit der Geburt und der Ansprüche – Uebereinstimmung des Geschmacks und der Neigungen – ein Drang nach gesunder Thätigkeit, aber zufrieden, ein Feld für dieselbe in unmittelbarer Nähe zu finden – weit entfernt, die Reichen zu beneiden oder mit den Großen wetteifern zu wollen – so war Jedes von Natur geneigt, das Leben von der heitern Seite zu betrachten und Quellen der Freude, frisch grünende Stellen zu finden, wo das an den Anblick großer Städte gewöhnte Auge nur eine Wüste mit ihrer Luftspiegelung sieht. Während ich im fernen Lande mit dem Glücke gerungen und jene Mühe und Arbeit durchgemacht, welche dem Herzen Anlaß gibt, sich von seinen Verlusten zu erholen und den Werth der Liebe im ernsteren Sinn der Wirklichkeit des Lebens kennen zu lernen, hatte der Himmel an der Schwelle der Heimath den jungen Baum groß gezogen, welcher das Dach mit seinen Blüthen bedecken und die tägliche Luft meines Daseins mit balsamischen Wohlgerüchen erfüllen sollte.

Es war der sehnliche Wunsch meiner Lieben zu Hause gewesen, daß dies mein Lohn sein möchte, und Jedes hatte in seiner Weise dazu beigetragen, jenes theure Leben zum Schmuck und zur Freude dessen heranzubilden, der es jetzt zu beschützen und wie sein eigenes zu lieben begehrte. Von Roland kam jenes ernste, tiefe Ehrgefühl – männlich in seiner Kraft und weiblich in seiner Zartheit – von Roland der schnell fassende Sinn für alles Edle in der Poesie und alles Liebliche in der Natur – das Auge, welches funkelte, wenn es las, wie Bayard Siehe Anm. 83. allein auf der Brücke stand und ein Heer rettete, oder dessen Thränen das Blatt benetzten, welches berichtete, wie der sterbende Sidney Siehe Anm. 82. den Becher von seinen brennenden Lippen absetzte. Erscheint dies dem Einen oder dem Andern als eine zu männliche Geistesrichtung? Jeder nach seinem Belieben. Ich aber lobe mir die Frau, in deren Brust die edelsten Gedanken des Mannes ein Echo finden! Diesem Auge endlich, gleich demjenigen Roland's, entging keine der feineren Maschen in dem wunderbaren Gewebe der Schönheit. Keine Landschaft war für sie gestern und heute dieselbe; ein tieferer Schatten vom Himmel konnte das Aussehen der Moore verändern; das Aufschießen wilder Blumen, ja, die früher nicht gehörte Stimme eines Vogels verlieh der weiten, steinigten Haide Abwechslung. Ist dies für Manche eine zu einfache Quelle der Freude, um sie als solche zu würdigen? Mag es immer Denen so scheinen, welche jener starken Reizmittel bedürfen, wie große Städte sie darbieten. Wenn wir aber unsere Tage inmitten solcher Scenen zubringen sollen, so ist es gewiß von hohem Werth, keine Eintönigkeit in der Natur zu kennen.

Alles dies kam von Roland, und mit sinniger Weisheit hatte mein Vater genug Bücherkenntniß hinzugefügt, um einen solchen Geschmack anziehender zu machen und der instinktartigen Auffassung des Schönen und Guten die Bildung zu verleihen, welche in dem Schönen einen tiefern Geist erkennt und durch Erhöhung des Standpunktes das Gute zum Bessern erweitert. So besaß sie denn Kenntniß genug, um an dem geistigen Streben des Mannes Theil zu nehmen, nicht aber, um auf seinem eigenen Gebiete, dem der Ansichten, mit ihm zu streiten. Ob übrigens in der Natur, oder im Wissen, immer war

»Ihr Blick das schönste Blumenfeld,
Ihr Geist die reichste Bücherwelt!« Zeilen aus Abraham Cowleys Gedicht » Garden«.

Und doch, o weiser Austin – und Du, Roland, den ich wohl Dichter nennen darf, wiewohl Du niemals einen Vers geschrieben, doch wäre Euer Werk unvollkommen geblieben, hätte nicht eine treue, liebevolle Frauenhand ihre Hülfe Euch geliehen, hätte nicht die Mutter der Tochter ihrer Wahl die letzte Vollendung gegeben durch den Unterricht in den häuslichen Tugenden und täglichen Liebesdiensten, in »dem sanften Worte, welches den Zorn abwendet,« Sprüche Salomons 15, 1. dem engelgleichen Mitleid mit den rauheren Fehlern des Mannes und der Geduld, welche ihrer Zeit harrt und, keine »Rechte der Frauen« Die Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter war zuerst in der Französischen Revolution erhoben wurde; 1848 wurde in den USA die » Declaration of Sentiments« beschlossen, die die Gleichheit von Frau und Mann und somit von deren Rechten postulierte. beanspruchend, mit unsichtbaren, entzückenden Banden uns fesselt.

Erinnerst Du Dich, meine Blanche, jenes milden Sommerabendes, da die Gelübde, die unsere Augen längst ausgetauscht, sich endlich über unsere Lippen stahlen? Komm' an meine Seite, theure Gattin – sieh mir über die Schulter, während ich schreibe. Da, Deine Thränen – (glückliche Thränen, nicht wahr, Blanche?) haben die Schrift ausgelöscht! Sollen wir der Welt mehr sagen? Du hast Recht, meine Blanche, keine Worte sollen die Stelle entweihen, auf welche diese Thränen gefallen sind!


Und hier möchte ich schließen. Aber ah! daß ich in unsere Hoffnungen diesseits des Grabes ihn nicht einschließen kann, von dem wir (selbst an dem Tage, welcher seine Schwester meinen Armen übergab) sehnlich erwarteten, er werde zu dem Herde zurückkehren, wo sein Platz nun leer stand, zufrieden mit den erworbenen Ruhme und endlich geeignet für das ruhige Glück, dessen er sich durch lange Jahre der Neue und Prüfung würdig gemacht hatte.

Im ersten Jahre meiner Ehe und kurz nach einer ritterlichen Betheiligung an einem verzweifelten Kampfe, der seinen Namen mit neuen Ehren bedeckt hatte – als wir eben in der verblendeten Eitelkeit des menschlichen Uebermuths am stolzesten auf ihn waren – kam die verhängnißvolle Kunde! Die kurze Laufbahn war zu Ende. Er starb, wie ich wußte, daß er zu sterben gebetet haben würde – am Schlusse eines Tages, ewig denkwürdig in der Geschichte jenes wunderbaren Reiches, welches Tapferkeit sonder Gleichen dem Throne der Inseln unterworfen hat. Er starb in den Armen des Sieges, und sein letztes Lächeln begegnete dem Blick des edlen Führers, welcher selbst in solcher Stunde in der Fluth des Triumphs bei dem Opfer stille stehen konnte, welches sie an das blutige Gestade geworfen hatte

»Gewährt mir eine Bitte,« stammelte der Sterbende; »ich habe einen Vater zu Hause – auch er ist Soldat. In meinem Zelte liegt mein Testament; es übergibt ihm alles, was ich besitze – er kann es ohne Beschämung annehmen. Doch das ist nicht genug! Schreibt ihm – Ihr – eigenhändig – und sagt ihm, wie sein Sohn gestorben ist!«

Und der Held erfüllte die Bitte, und dieser Brief ist Roland theurer, als die ganze lange Liste todter Ahnen! Die Natur hat ihre Rechte gefordert, und die Vorväter treten zurück vor dem Sohne.

In einer Seitenkapelle der alten gothischen Kirche, inmitten der zerfallenen Gräber Derer, welche bei Acre und Agincourt Acre: Akkon wird beim Kreuzzug 1104 von den christlichen Rittern erobert; Agincourt: bei Azincourt siegen 1415 die Engländer über die Franzosen im Hundertjährigen Krieg. gekämpft, meldet ein neues Täfelchen den Tod Herbert's de Caxton mit der einfachen Inschrift  

 

Er fiel auf dem Schlachtfeld;
Sein Vaterland trauert um ihn,
Und sein Vater ist ergeben.

 

Jahre sind dahin gegangen, seit jene Tafel dort aufgestellt worden, und das Fleckchen Erde, welches unsere kleine Welt in sich schließt, hat inzwischen manche Veränderung erfahren. Schöne Gemächer sind inmitten der öden Ruinen entstanden, und nah und fern erblickt das Auge lachende Kornfelder statt der kalten, traurigen Moore. Das Land ernährt mehr Grundsassen Bauern, die auf eigenen Bauernhöfen arbeiteten, aber Abgaben an den Grundherren leisteten., als je vor Alters um das Banner seiner Barone sich schaarten, und Roland kann von seinem Thurme aus die Besitzungen übersehen, die Jahr um Jahr der Oede entrissen werden, bis ihm die Pflugschaar eine Herrschaft gewonnen haben wird, reicher und ansehnlicher als diejenige, welche die alten ritterlichen Häuptlinge jemals als Schwertlehen inne halten. Und die gastliche Heiterkeit, die aus der Ruine entflohen war, ist wieder in die Halle eingekehrt, und Reiche und Arme, Hohe und Niedere heißen das Wiederaufleben eines alten Geschlechtes aus dem Staub des Verfalls willkommen.

Alle jene Träume aus Roland's Jugend haben sich erfüllt; mehr aber noch freut sich sein Herz an dem Gedanken, daß sein Sohn zuletzt seines Geschlechtes würdig gewesen, und an der Hoffnung daß kein Abgrund die Beiden trennen werde, wenn am Ende der Zeiten der große Kreis abgerundet wird, und die Vergangenheit mit der Zukunft des Menschen zusammentrifft. Nie wurde der Verlorene vergessen – nie sein Name genannt, ohne daß Thränen nach den Augen sich drängten, und jeden Morgen konnte der zur Arbeit gehende Bauer Roland in das Thal hinunter nach dem niedrigen Thürchen der Kapelle sich schleichen sehen. Niemand wagt es, seinen Schritten zu folgen oder seine feierlichen Gedanken zu stören; denn dort, Angesichts jenes Täfelchens, verrichtet er seine Gebete, und die Erinnerung an die Todten bildet einen Theil seines Verkehrs mit dem Himmel.

Doch, der Tritt des alten Mannes ist noch immer fest, die Haltung aufrecht, und der Ausdruck seines Gesichtes gibt Zeugniß davon, daß die Erklärung, »Sein Vater ist ergeben,« keine hohle Prahlerei gewesen. Wer vielleicht zu viel römische Härte in dieser christlichen Ergebung finden möchte, der bedenke, was es heißt, für den Sohn ein Leben der Schande fürchten zu müssen, und frage sich alsdann, ob der ehrenvolle Tod eben dieses Sohnes der bitterste Schmerz für den Vater sein kann!

Jahre sind vergangen, und zwei liebliche Töchter spielen zu Blanche's Füßen oder schleichen sich um Austin's Schemel, geduldig des ersehnten Kusses harrend, wenn er von dem großen Buch aufblickt, welches sich rasch seinem Ende nähert. Sobald jedoch Roland in das Zimmer tritt, vergessen sie alle Bescheidenheit, eilen, uneingeschüchtert durch das schreckliche » Papae,« lärmend auf ihn zu und erinnern ihn an sein Versprechen, sie im Garten zu schaukeln oder ihnen zum fünfzigsten Mal die Geschichte von »Rothkäppchen« Natürlich weiß ein englischer Großvater wie Roland nichts von ›Rotkäppchen‹. Im Original steht vielmehr » Chevy Chase«; in der berühmten Ballade aus dem 15. Jh. geht es um eine Jagd, die schließlich in einen Krieg zwischen Engländern und Schotten mündet. zu erzählen.

Ich für meinen Theil erfreue mich der Güter, welche mir die Götter bescheeren, und bin zufrieden mit Mädchen, welche mich mit den Augen ihrer Mutter anblicken; aber Roland, der undankbare Mann, beginnt zu murren, daß wir die Rechte der männlichen Erben so sehr vernachlässigen. Er ist im Zweifel, ob er Mr. Squills oder uns die Schuld beimessen soll; ja, ich glaube sogar, er hat uns alle Drei im Verdacht, als hätten wir uns verschworen, die Vertretung der kriegerischen de Caxtons auf »die Kunkelseite« Die Kunkel (Spindel) ist in alter Zeit das Zeichen der Frau. überzutragen. Wer übrigens auch der schuldige Theil sein mochte – der unverzeihliche Verstoß gegen die gerade Linie des Stammbaums ist endlich wieder gut gemacht, und wie vor Jahren stürzt Mrs. Primmins, oder rollt vielmehr – mit der kugelartigen Formen natürlichen Bewegung – in meines Vaters Zimmer mit dem Rufe:

»Herr – Herr – es ist ein Knabe!«

Ob mein Vater auch dieses Mal jene die metaphysischen Forscher so verwirrende Frage stellte – »Was ist ein Knabe?« weiß ich nicht; doch vermuthe ich eher, daß er keine Muße zu einer so abstrakten Erkundigung fand, denn die ganze Hausbewohnerschaar stürmte auf ihn ein, und meine Mutter zog ihn in jener Aufregung, welche den Elementen des weiblichen Geistes eigenthümlich ist – eine Art Sonnenscheingewitter zwischen Lachen und Weinen – mit sich fort, um den Neogilos Siehe das zweite Kapitel des ersten Abschnitts. zu betrachten.

   

Einige Monate später findet uns ein traulicher Winterabend Alle in der Halle versammelt, welche noch immer unser gewöhnlicher Aufenthalt ist, da sie Raum genug bietet, um Jedem seine besondere Beschäftigung zu gestatten. Ein großer Schirm hält jede Störung von meinem Vater ferne, und hinter diesem undurchdringlichen Bollwerk, das ihn allen Blicken entzieht, schließt er nun gelassen jene beredte Peroration Eigentlich eine mit besonderem Nachdruck vorgetragene Rede; hier sein umfangreiches Werk., welche die Welt in Erstaunen setzen wird, sobald unter des Himmels besonderer Gnade die Drucker mit der »Geschichte des menschlichen Irrthums« zu Stande gekommen sein werden. In einer andern Ecke hat sich mein Onkel verschanzt, und während er mit der einen Hand seinen Kaffee in derselben Tasse umrührt, welche er vor so vielen Jahren von meiner Mutter zum Geschenke erhalten und die wunderbarer Weise bis jetzt dem gewöhnlichen Geschick aller Töpferwaare entgangen ist, hält er in der andern einen Band des Ivanhoe Walter Scotts berühmter Ritterroman (1819). – jedoch ohne daß der nordische Zauberer ihn zu bannen vermöchte, denn sein Auge ruht nicht auf den Blättern des Buches, An der Wand hinter ihm hängt das Bild Sir Herbert de Caxton's, des Kriegskameraden von Sidney und Drake; am Fuße desselben hat Roland das Schwert seines Sohnes befestigt und den Brief mit der Todesbotschaft unter Glas und Rahmen angebracht. Schwert und Brief sind die letzten, nicht am wenigsten geehrten Penaten der Halle geworden; – der Sohn ist in die Reihe der Vorfahren eingetreten.

Nicht weit von meinem Onkel sitzt Squills und bezeichnet die phrenologischen Abtheilungen auf einem Gypsabguß, den er nach dem Schädel eines australischen Eingeborenen angefertigt hat – ein geisterhaftes Geschenk, welches ich ihm auf seine ausdrückliche Bitte nebst einem ausgestopften »Wombat« Eine Art Beutelthier aus Neuholland. [ Anm.d.Übers.] und einem großen Bündel Sarsaparilla Stechwinde; in der Naturheilkunde früher als Mittel gegen Syphilis gebraucht. mitgebracht habe. (Zur Beruhigung seiner Patienten will ich beiläufig bemerken, daß der Schädel und der »Wombat« – letzterer ist ein Geschöpf, welches zwischen einem winzigen Schwein und einem sehr kleinen Dachs die Mitte hält – nicht gerade mit der Sarsaparilla zusammengepackt waren!) In einiger Entfernung steht – geöffnet zwar aber jetzt unbenützt – das neue Pianoforte, an welchem sich, ehe mein Vater sein vorbereitendes Ha ertönen ließ und sich zu den großen Buche niedersetzte, meine Mutter und Blanche große Mühe gegeben hatten, mich die dritte Stimme in dem Canon von »der Krähe und der Dohle« » The Chough and the Crow to roost have gone«, aus der Oper Guy Mannering, or The Gypsey's Prophecy (1816) von Henry Rowley Bishop (1785-1855), Text von Joanna Baillie. zu lehren – eine vergebliche Arbeit, trotz allen schmeichelhaften Versicherungen, daß ich einen recht schönen »Baß« besitze, wenn ich ihn nur ausbilden wollte.

Zum Glück für die Ohren der Zuhörerschaft mußte jedoch dieser Versuch, wie gesagt, aufgegeben werden, und meine Mutter ist nun eifrig mit ihrer Straminarbeit beschäftigt, da neueste von der Mode begünstigte Muster darstellend, auf welchem ein rothwangiger junger Troubadour unter einem salmfarbenen Balkon die Laute spielt. Die beiden kleinen Mädchen, wie ich vermuthe, frühzeitig in den Troubadour verliebt, sehen ernst und aufmerksam zu, während Blanche und ich uns in eine Ecke geschlichen haben, in welcher wir uns in Folge einer eigenthümlichen Selbsttäuschung unbemerkt glauben In dieser Ecke steht die Wiege des Neogilos. Dies ist jedoch in der That nicht unsere Schuld – Roland wollte es so haben; und das Kindchen ist auch wirklich so gut, es schreit niemals – so behaupten wenigstens Blanche und meine Mutter; jedenfalls schreit es heute Abend nicht.

Das Kind ist wahrhaftig ein Wunder! Es scheint die Gedanken zu wissen, die bei seiner Geburt unsern Herzen am nächsten lagen, und von dem Augenblick an, da Roland (gegen alle Sitte) weder der Mutter, noch der Wärterin, noch irgend einem weiblichen Wesen gestattete, es über den Taufstein zu halten, sondern sein eigenes dunkles Antlitz mit den scharfen Zügen auf den kleinen Christen niederbeugte, an den Adler erinnernd, welcher das Kind in seinem Neste verbirgt und mit Fittigen darüber wacht, die schon manchem Sturme getrotzt haben – von diesem Augenblick an schien der Kleine, der den Namen Herbert erhielt, Roland besser zu kennen, als seine Wärterin oder selbst seine Mutter; er schien zu verstehen, daß wir Roland seinen Sohn wieder zu geben suchten, indem wir ihm diesen Namen beilegten! So oft sich der alte Mann dem Kinde nähert, lacht es und jauchzt und streckt ihm seine kleinen Arme entgegen, seine Mutter und ich drücken uns dann heimlich die Hand und sind nicht eifersüchtig.

Wohlan denn, Blanche und Pisistratus sitzen neben der Wiege und sprechen flüsternd zusammen, als plötzlich mein Vater den Schirm mit den Worten bei Seite schiebt:

»So – die Arbeit ist fertig! – und nun mag sie in die Druckerei wandern, sobald Ihr wollt.«

Glückwünsche überschütteten meinen Vater von allen Seiten; er ertrug sie mit seinem gewöhnlichen Gleichmuth, nahm seinen Lieblingsplatz vor dem Herde ein, steckte die Hand in die Weste und sagte nachdenklich –

»Unter den letzten Blendwerken des menschlichen Irrthums hatte ich Rousseau's Phantasie von dem ›Ewigen Frieden‹ und alle ähnlichen idyllischen Träume zu erwähnen, welche den blutigsten Kriegen vorangingen, die seit mehr als tausend Jahren die Erde erschüttert haben!«

»Und nach den Zeitungen zu schließen,« bemerkte ich, »erneuern sich eben jetzt dieselben Blendwerke. Wohlwollende Spekulanten gehen umher und prophezeien aus dem sibyllinischen Orakel des Lagerbuchs den Frieden als positive Gewißheit, so daß wir keine Kanonen mehr zu kaufen brauchen, wenn wir nur Baumwolle gegen Korn austauschen können.«

Mr. Squills (der sich jetzt beinahe ganz von Geschäften zurückgezogen und in Ermanglung einer bessern Beschäftigung unterschiedlichen »Demonstrationen im Norden« angewohnt hat, seit welcher Zeit er viel vom allgemeinen Fortschritt, vom Geiste der Zeit und von »uns, den Männern des neunzehnten Jahrhunderts« spricht). – »Ich hoffe von Herzen, daß diese wohlwollenden Spekulanten wahre Propheten sind. Im Laufe meiner ärztlichen Praxis habe ich gefunden, daß die Menschen schnell genug aus der Welt gehen, ohne daß es nöthig wäre, sie in Stücke zu backen oder in die Luft zu blasen. Der Krieg ist ein großes Uebel.«

Blanche (an Squills vorübergehend und nach Roland hinblickend). – »Still!«

Roland bleibt stumm.

Mr. Caxton. – »Der Krieg ist ein großes Uebel; aber auch das Uebel ist von der Vorsehung zugelassen, um den physischen und moralischen Zwecken der Schöpfung zu dienen. Das Vorhandensein des Bösen hat schon klügere Köpfe in Verlegenheit gesetzt, als die unsrigen, Squills. Ohne Zweifel aber ist Einer über uns, der seine Gründe dafür hat. Die Beule der Kampflust scheint am menschlichen Schädel eben so allgemein zu sein, als irgend eine andere, und wenn sie zu unserer Organisation gehört, so ist sie sicherlich nicht ohne Grund da. Eben so wenig ist es gerecht gegen das menschliche Geschlecht oder spricht es für eine weise Unterwerfung dem Lenker aller Dinge gegenüber, annehmen zu wollen, der Krieg werde ausschließlich und leichtfertig durch menschliche Verbrechen und Thorheiten hervorgerufen und könne nur zu Bösem führen, während er doch oft aus den in das Netzwerk der Gesellschaft verwobenen Bedürfnissen entspringt und den Planen des Allwissenden gemäß die große Endaufgabe des menschlichen Geschlechts beschleunigt. Nicht ein einziger großer Krieg hat jemals die Erde verwüstet, ohne Saaten zurückzulassen, welche zu unberechenbaren Segnungen herangereift sind!«

Mr. Squills (mit dem Seufzer eines Mannes, der mit einer »Demonstration« nicht einverstanden ist). – »Ob! oh! oh!«

Unglücklicher Squills! Wie wenig hattest Du das Tropfbad oder vielmehr die Douche von Gelehrsamkeit vorausgesehen, welche sich auf Dein Haupt ergoß, als Du mit jenem ungebührlichen oh! oh! an der Feder drücktest! Zuerst kam der persische Krieg mit den Myriaden von Medern, alle auf ihrem Marsche durch das Morgenland ausgetrunkenen Flüsse wieder von sich gebend – alle Künste und Wissenschaften, alle Freiheitsbegriffe, die wir Griechenland verdanken – unaufhaltsam stürmte mein Vater weiter, Squills mit seinen Beweisen überschüttend, daß Griechenland ohne den persischen Krieg niemals die Lehrmeisterin der Welt geworden wäre. Noch ehe das keuchende Opfer zu Athem kommen konnte, überflutheten die Hunnen, Gothen und Vandalen Italien und Squills.

»Wie!« rief mein Vater, »sehen Sie nicht, daß von diesen Stürmen, welche über das entsittlichte Rom hereinbrachen, die Neugeburt der Menschheit ausging, die Wiedertaufe der Erde durch die Reinigung von den letzten Flecken des Heidenthums und der erste Ursprung alles dessen, was von Christenthum besteht, frei von dem Götzendienst, mit welchem Rom den Glauben besudelte?«

Squills hielt die Hände in die Höhe. Nun aber stürzte Karl der Große herunter mit seinen Rittern und Edelknechten! Und hier war mein Vater groß. Welch' ein Bild entwarf er von den brüchigen, mißtönigen, wilden Elementen einer barbarischen Gesellschaft – von der eisernen Faust des großen Franken, der die Völker in Ruhe und Ordnung brachte und das jetzt bestehende Europa gründete. Squills verfiel mehr und mehr in Stumpfsinn oder Betäubung; als er jedoch das Wort »Kreuzzüge« hörte, stammelte er, gleichsam an einem Strohhalm sich festhaltend –

»Ah! hier biete ich Ihnen Trotz!«

»Mir Trotz bieten? Hier?« ruft mein Vater, und man hätte glauben sollen, ein Ocean befinde sich in dem Becken der Douche, mit solch' betäubendem Geräusch stürzte der Wasserstrahl herab. Mein Vater berührte kaum die unbedeutenderen Punkte zur Entschuldigung der Kreuzzüge, obgleich er mit sehr geläufiger Zunge alle die humanisirenden Künste aufzählte, welche in Folge jene Einfälle in das Morgenland nach Europa gekommen waren; er zeigte, welchen Dienst sie der Civilisation geleistet hatten, indem sie der rohen Kraft des Ritterwesens einen Abzugskanal bereiteten, den Keim der Zerstörung in die Tyrannei des Adels warfen, die Städte emancipiren und die Leibeigenschaft brechen halfen. Dann aber schilderte er in Farben, so lebhaft, als wären sie dem Himmel des Morgenlandes entnommen, die weite Verbreitung des Mohammedanismus und die Gefahr, womit er das christliche Europa bedrohte, und bezeichnete die Thaten eines Gottfried, eines Tancred und eines Richard Gottfried von Bouillon, Tankred von Tarent, Richard Löwenherz von England. als ein Bündniß des Jahrhunderts und der Nothwendigkeit gegen die schrecklichen Fortschritte des Schwertes und des Korans.

»Ihr nennt sie Wahnsinnige,« rief mein Vater, »aber der Wahnsinn der Völker ist die Staatsklugheit des Schicksals! Wie können wir wissen, ob ohne den Schrecken, welchen die nach Jerusalem ziehenden Heerschaaren einflößten, der Halbmond nicht auch über andern Reichen geglänzt hätte, als über jenen, welche Roderich Roderichs Niederlage gegen ein arabisch-berberisches Heer in der Schlacht am Río Guadalete, in der er fiel, führte zum Untergang des Westgotenreichs. an die Mauren verlor? Wäre das Christenthum weniger eine Leidenschaft gewesen, und hätte diese Leidenschaft weniger ganz Europa in Aufruhr versetzt – wie können wir wissen, ob die Religion des Arabers ihre Moscheen nicht auch in dem Forum von Rom oder an der Stelle von Notre Dame aufgepflanzt haben würde? Meint Ihr denn, in dem Krieg zwischen Glaubensbekenntnissen – wenn dieselben Eigenthum großer Völkerstämme sind – vermöchte die Vernunft der Weisen einen Kampf mit der Leidenschaft von Millionen zu bestehen? Begeisterung muß der Begeisterung entgegentreten. Der Kreuzfahrer focht für das Grab Christi, aber er rettete das Leben des Christenthums.«

Mein Vater schwieg. Squills verhielt sich ganz ruhig; er kämpfte nicht mehr – die Fluth hatte ihn ertränkt.

»So wird denn,« begann Mr. Caxton ruhiger wieder, »wenn auch in Bezug auf spätere Kriege der Allweise das Gute noch vor unsern Augen verbirgt, was er aus ihren Uebeln hervorgehen lassen will – die Nachwelt ihren Nutzen so deutlich lesen, als wir jetzt die Hand der Vorsehung erkennen, wie sie auf die Grabhügel von Marathon deutet oder Peter den Einsiedler Peter von Amiens, 1096 Anführer des sogenannten Volkskreuzzugs, der von den Seldschucken vollständig aufgerieben wurde. nach den Schlachtfeldern Palästina's leitet. Und wenn wir das Unheil auch nicht in Abrede ziehen wollen, welches der von ihm betroffenen Generation aus dem Kriege erwächst, so müssen wir doch zugeben, daß viele jener Tugenden, welche die Zierde und die Lebenskraft des Friedens ausmachen, zuerst den Erschütterungen des Kampfes entsprossen sind!«

Hier begann Squills eben einige matte Zeichen wiederkehrenden Lebens an den Tag zu legen, als mein Vater eines jener zahllosen Wasserwerke, mit denen sein wunderbares Gedächtniß stets ausgerüstet war, gegen ihn losließ.

»So hat,« sagte er, »nicht mit Unrecht ein wenigstens in weltlicher Erfahrung sehr bewanderter Philosoph die Bemerkung gemacht – (wieder schloß Squills seine Augen und schien ohne Leben zu sein) – ›Es ist seltsam, daß der Krieg, der unter allen Dingen als das wildeste erscheint, die Leidenschaft der heldenmüthigsten Geister sein soll. Aber wird nicht im Kriege das Band der Freundschaft am festesten geschlossen, am meisten gegenseitige Hülfe geleistet, jede Gefahr getheilt und das Gebot der Nächstenliebe vorzugsweise geübt? – denn Heldenmuth und allgemeine Menschenliebe sind fast ein und dasselbe‹« Shaftesbury. [ Anm.d.Verf.]

Mein Vater schwieg abermals und sann eine Weile nach. Squills, wenn er anders noch lebte, hielt es für gerathen, sich noch immer scheintodt zu stellen.

»Uebrigens,« fuhr Mr. Caxton wieder fort, »halte ich es für unsere Pflicht, niemals zu einer Leidenschaft anzufachen, was wir vielmehr als eine schreckliche Nothwendigkeit über uns ergehen lassen müssen. Sie sagen mit Recht, Mr. Squills – der Krieg ist ein Uebel, und wehe Denen, welche unter nichtigen Vorwänden die Pforten des Janustempels öffnen

– ›Den grausen Sitz
Und das grimmige Nahen des wüthenden Gottes.‹« Aus Virgils Aeneis (VI, 842f.), im Original wiederum übersetzt von John Dryden.

Nach einer langen Pause, während welcher Mr. Squills in halbaufrechter Stellung dicht vor dem Feuer unter andern Versuchen zur Wiederbelebung untergetauchter Körper sanfte Reibungen aller einzelnen Gliedmaßen anwendet und häufigen Gebrauch von gewissen dampfenden Reizmitteln macht, welche meine mitleidigen Hände für ihn bereitet haben, streckt er sich endlich und sagt in mattem Tone:

»Mit Einem Wort also, um nicht weitere Erörterungen hervorzurufen. Sie würden in den Krieg ziehen, wenn es sich um die Vertheidigung des Vaterlandes handelte. Halt – um Gotteswillen, halt! Ich bin mit Ihnen einverstanden – bin ganz mit Ihnen einverstanden! Zum Glück jedoch ist wenig Aussicht vorhanden, daß ein neuer Boney Britischer Spitzname Napoleon Bonapartes. in Boulogne Schiffe bauen werde, um uns anzugreifen.«

Mr. Caxton. – »Ich möchte dies nicht so gewiß behaupten, Mr. Squills (Squills fährt entsetzt zurück). Zwar lese ich nicht sehr oft Zeitungen, allein die Vergangenheit hilft mir die Gegenwart beurtheilen.«

Und nun empfahl mein Vater Mr. Squills angelegentlich, gewisse Stellen des Thucydides unmittelbar vor dem Ausbruch des peloponnesischen Krieges sorgfältig durchzulesen (Squills nickte hastig in unterwürfigster Zustimmung), und zog eine sinnreiche Parallele zwischen den Vorboten jenes Ausbruchs und der Besorgniß vor einem kommenden Kriege, die sich in den neuesten Hymnen an den Frieden kund gab. Nach verschiedenen geistreichen und witzigen Bemerkungen, welche zu zeigen beabsichtigten, wo die Elemente des Krieges inmitten erschütterter Zustände und widerstreitender Ansichten bereits heranreiften, schloß er mit den Worten:

»So ist es denn in Anbetracht aller Dinge meine Ansicht, daß wir am besten thun, gerade so viel von dem kriegerischen Geist aufrecht zu erhalten, um nicht eine Sünde darin zu erblicken, wenn wir uns aufgefordert sehen, für Haus und Hof und Hab' und Gut, für unser gutes Recht und unsere Freiheiten zum Schwert zu greifen. Eine solche Zeit muß früher oder später kommen und wenn auch die ganze Welt Baumwolle spinnen und Kattune drucken würde. Wir werden sie vielleicht nicht sehen, Squills, wohl aber jener junge Gentleman, den Sie kürzlich an das Tageslicht befördert haben.«

»Und wenn es so kömmt,« sagte mein Onkel plötzlich, indem er zum ersten Mal das Wort ergriff – »wenn es in der That gilt, Altar und Herd zu vertheidigen?«

Mein Vater sah sich in dem Gewebe seiner eigenen Beredtsamkeit gefangen.

Roland nahm nun das Schwert seines Sohnes von der Wand herunter, schlich sich an die Wiege, legte es in der Scheide an des Kindes Seite und richtete zuerst auf meinen Vater, dann auf uns einen flehenden Blick. Instinktartig beugte sich Blanche über die Wiege, wie um den Neogilos zu beschützen; allein der Kleine, der eben erwachte, wandte sich von ihr ab, legte, von dem Glänzen der Waffe angezogen, schnell ein Händchen auf dieselbe und deutete mit dem andern lachend auf Roland.

»Nur unter meines Vaters Vorbehalt,« sagte ich zögernd, »Für Herd und Altar – für nichts Geringeres!«

»Und selbst in diesem Fall darf dem Schwerte der Schild nicht fehlen!« fügte mein Vater bei, indem er Rolands vielgebrauchte Bibel, welche auf mancher Seite die Spuren heimlicher Thränen zeigte, an die andere Seite des Kindes legte.

Da standen wir Alle, das kleine Wesen – der Mittelpunkt so vieler Hoffnungen und Befürchtungen – umringend, welches in Krieg oder Frieden gleichmäßig dem Kampfe des Lebens entgegen ging. Und das Kind, nichts ahnend von dem, was unsere Lippen stumm und unsere Augen trüb machte, hatte bereits von dem schimmernden Tande des Schwertes abgelassen und seine kleinen Arme um Rolands niedergebeugten Nacken geschlungen.

» Herbert,« murmelte Roland.

Und Blanche zog sachte das Schwert hinweg und ließ die Bibel zurück.


Druck von C. Hoffmann in Stuttgart.


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